Mami 1816 – Till und sein treuer Wächter

Mami –1816–

Till und sein treuer Wächter

Roman von Eva-Maria Horn

  »Auf keinen Fall wird diese Wohnung an ein Ehepaar mit Kindern vermietet. Unter gar keinen Umständen.« Theodor Brausewetter, der reiche Bauunternehmer, dem Wohnungen und Häuser gehörten, schlug zur Bekräftigung mit der Faust auf den Tisch. Das Glas, in dem Beruhigungstee vor sich hindampfte, schwankte bedenklich.

  »Sieh mich nicht an, Tochter, als wäre ich ein Unmensch«, schnaubte der Mann. Er warf anklagende Blicke zwischen Frau und Tochter hin und her. »Es gibt doch Dinge, die muß jeder begreifen. Haben wir nicht ständig Ärger mit den Wohnungen am Stadtpark? Immer, immer beschwert sich ein Mieter über Lärm und andere Belästigungen. Ständig muß etwas repariert werden. Nee, nee. Diese Wohnung über den Büroräumen bekommt nur der Mieter, den ich sorgfältig unter die Lupe nehme.«

  Luise, das einzige Kind des Ehepaares, das sich sehnlichst fünf Kinder gewünscht hatte, davon natürlich mindestens vier Jungen, musterte das dunkelrot gewordene Gesicht des Vaters aus kühlen Augen. Seine Ehefrau Tilde hütete sich, ihrem Mann zu widersprechen.

  »Gut, es zieht also ein kinderloses Ehepaar ein. Und was machst du, wenn sie Kinder bekommen?«

  Er erregte sich noch mehr. Spürte er doch, daß sein über alles geliebtes, verwöhntes Töchterchen mit ihm nicht einer Meinung war.

  »Denkst du denn, das kalkuliere ich nicht ein?« Triumphierend setzte er hinzu: »Die Wohnung wird nur an ein älteres Ehepaar vermietet. Wenn ich in meinem Büro arbeite, will ich kein Kindergetrappel über meinem Kopf haben. Außerdem habe ich die Wohnung sorgfältig renovieren lassen. Da fehlt aber auch gar nichts. Sie befriedigt die höchsten Ansprüche.«

  »Wenn ich also einmal ein Kind bekomme, darf ich nicht dort wohnen«, Luise drehte den Stift zwischen den Fingern. Ihre blauen Augen sahen den Vater unverwandt an. Die Mutter strich über Luises Oberschenkel, was so viel hieß wie: bitte, halte den Mund, mach keinen Ärger. Die Mutter war immer darauf bedacht zu schlichten.

  Das gerötete Gesicht des Mannes wurde unvermutet weich, sogar die tiefen Falten auf seiner Stirn glätteten sich.

  »Wenn du ein Kind bekommst, Muckelchen«, er hatte schon lange den Kosenamen der Kindheit nicht mehr für sie gehabt, »dann baue ich dir das schönste Haus, ein Haus genau nach deinen Wünschen. Drei Grundstücke am Stadtrand habe ich noch nicht bebauen lassen. Sie gehören dir, du kannst aussuchen, wo dein Haus stehen soll. Ich habe mit Leo einmal darüber gesprochen. Es ergab sich so«, beeilte er sich zu versichern, als er den Ärger in ihren blauen Augen sah. »Denk’ doch nicht, ich will deine Heirat beschleunigen. Wann ihr heiratet, ist ganz allein eure Sache. Ich bin es doch, der verliert. Wenn du heiratest, muß ich auf meine wertvollste Kraft im Büro verzichten. Leo ist ein Mann, der denkt wie ich. Seine Frau gehört ins Haus. Sie hat nicht zu arbeiten, nicht einmal für den Vater.«

  Er schmunzelte, hütete sich aber, seine Tochter anzusehen. Luises aufrührerischen Ideen erschreckten ihn oft.

  »Die Sache ist also klar«, erklärte er energisch, raffte Papiere zusammen und stopfte sie in seine abgewetzte Aktentasche. »Ich muß zum Bau. Wenn ich die Augen nicht überall habe, geht alles schief. Wer sich auch für die Wohnung interessiert, wird an mich verwiesen, klar?«

  Er musterte seine beiden Frauen streng. »Habt ihr das verstanden?«

  »Du sprichst ja laut genug«, murmelte Luise spitz.

  Herr Brausewetter gab keine Antwort, er warf seiner Tochter einen Blick zu, der Bände sprach. »Ich bin bis mittags auf dem Bau. Ich komme nicht zu Tisch. Ich bleibe in der Stadt. Heute abend möchte ich behaglich mit euch zusammen sitzen. Nur in Familie. Leo ist mir natürlich willkommen.«

  Er küßte seine Frau flüchtig auf die Wange, blieb einen winzigen Augenblick bei seiner Tochter stehen, aber er gab ihr nur einen liebevolen Klaps auf die Wange.

  Die Tür schlug lautstark ins Schloß. Man hörte ihn in der Diele laut nach seinem Fahrer rufen.

  Frau Tilde stand auf. Luise betrachtete die Mutter, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Einmal war sie eine bildhübsche junge Frau gewesen. Luise hatte sehr viel Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das sie einmal gewesen war. Jetzt war Frau Brausewetter ein wenig rundlich geworden, sie wirkte kleiner, beinahe unscheinbar, trotz der teuren Kleidung, die sie trug.

  Sie machte sich an den Blumen zu schaffen, die üppig auf der breiten Fensterbank blühten. Zupfte hier ein Blättchen fort, knipste eine verwelkte Blüte ab.

  »Kind«, murmelte sie leise, wie zu sich selbst, »du mußt Vater doch auch verstehen. Diese Wohnung über uns ist wirklich eine besonders schöne Wohnung. Ich stelle es mir auch nicht schön vor, wenn Kinder da oben lärmen und uns stören.«

  Luise strich mit einer resignierten Geste die Haare an den Ohren zurück. Sie hielt ein Schriftstück in der Hand, warf aber nicht einen Blick darauf.

  »Natürlich verstehe ich ihn«, murmelte sie gereizt.

  Frau Brausewetter warf einen verstohlenen Blick auf ihre hübsche Tochter.

  Ja, hübsch war sie. Gertenschlank, wie sie früher auch gewesen war. Sie trug das blonde Haar je nach Laune.

  Es war lang und besaß einen satten, goldenen Schimmer. Das ausdrucksvolle Gesicht war apart, ebenmäßig, die großen blauen Augen, umschattet von dunklen, langen Wimpern, beherrschten das Gesicht, von dem man leider die Gedanken ablesen konnte.

  »Du wirkst in der letzten Zeit so fahrig, ja, so unglücklich. Du bist ganz anders geworden«, wagte Frau Brausewetter einen behutsamen Vorstoß. Luise konnte schrecklich zugeknöpft sein. Wenn man etwas erfahren wollte, mußte man sehr geschickt vorgehen. »Ich will mich auf keinen Fall in dein Vertrauen drängen, Kind. Aber irgendwie bist du anders. Du kannst Löcher in die Luft starren, du wirkst manchmal so in dich gekehrt. Wenn ich dir doch nur helfen könnte.«

  Luise warf das Papier auf den Schreibtisch zurück und lehnte den Rücken an die bequeme Lehne des Sessels.

  »Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist, Mama«, klagte sie. Sie bettete ihr Gesicht in die aufgestützten Hände. »Ich weiß genau, daß ich allen Grund habe, dankbar und zufrieden zu sein.«

  Frau Brausewetter hütete sich, etwas einzuwerfen. Luise sah aus wie ein Mädchen, das Selbstgespräche führte. »Leo ist genau der Schwiegersohn nach Papas Herzen. der Sohn des Bauunternehmers Berger, seine schärfste Konkurrenz. Wenn die beiden Betriebe zusammengelegt werden, schwimmt Papa auf rosaroten Wolken. Wenn Leo nur nicht so gräßlich langweilig wäre«, stöhnte sie unterdrückt und schloß für einen Moment die Augen. Die langen Wimpern warfen dunkle Schatten über ihre braunen Wangen.

  »Was meinst du mit langweilig?« wagte Frau Brausewetter ängstlich zu fragen. Sie hatte längst gewußt, daß bei Leo der Grund für Luises Veränderung zu suchen war.

  Luise knöpfte den obersten Knopf ihrer blauen Bluse auf und wieder zu. Sie sah ihre Mutter nicht an dabei, sie starrte auf die blankpolierte Schreibtischplatte, nahm ein Blatt zur Hand und legte es zurück. Frau Brausewetter befürchtete schon, daß sie keine Antwort bekommen würde.

  »Wenn ich mit Leo rede, glaube ich oft, Papa zu hören. Er hat die gleichen Ansichten wie Papa, er hat die gleiche Meinung. Er ist gräßlich pedantisch, hat keine Fantasie, ach, Mama. Er ist alt, bevor er jung war«, brach es verzweifelt aus ihr heraus. Einen Moment preßte sie die Lippen zusammen.

  »Schau nicht so unglücklich drein, Mama. Ich weiß natürlich, daß Leo für Papa der ideale Schwiegersohn ist.«

  »Ich mag ihn auch«, warf Frau Brausewetter ein. Es schnitt der Mutter ins Herz, ihre Tochter unglücklich zu wissen. Sie hatte sich in dem Gedanken gewiegt, daß zwischen Leo und ihrem Töchterchen alles in Ordnung war.

  »Papa mag ihn in erster Linie, weil er in Leo einen guten Nachfolger bekommt, wenn ich schon die Dummheit machte, ein Mädchen zu werden«, spöttelte sie. »Die beiden Betriebe werden natürlich zusammengelegt. Leos Vater ist froh, wenn er sich zurückziehen kann, woran Papa natürlich nicht im entferntesten denkt. Der bildet sich doch ein, daß ohne ihn nichts läuft.«

  »Sprich nicht in diesem Ton von deinem Vater, Luise. Das hat er nicht verdient. Außerdem ist er wirklich sehr tüchtig.«

  »Das weiß niemand besser als ich. Schließlich arbeite ich schon zwei Jahre in seinem Betrieb. Papa hat es ja hervorragend verstanden, mir meinen Wunsch auszureden. Ich wollte Innenarchitektin werden. Und geworden bin ich das, was er wollte. Seine Sekretärin, sein Mädchen für alles. Bitte, Mama, sei nicht so deprimiert. Ich weiß auch nicht, warum ich dir damit das Herz schwer mache.«

  Sie drehte den Bleistift in ihrer Hand und krauste die Stirn. »Ich will ihm ja auch gar keinen Vorwurf machen, Mama. Es ist nur so«, sie suchte sichtlich nach Worten. »Er setzt einfach immer, immer seinen Willen durch. Er bekommt immer das, was er sich in den Kopf setzt. Manchmal denke ich, er ist wie eine Dampfmaschine, die allen Widerstand niederwalzt.«

  »Kind«, Frau Brausewetter hielt sich entsetzt den Mund zu, als habe sie selbst diese ungeheure Meinung von sich gegeben.

  Luise betrachtete ihre Mutter nachdenklich. Es war dem Mädchen einfach nicht möglich, den Mund zu halten. Die Worte wollten heraus, als hätten sie schon viel zu lange auf ihrem Herzen gelegen.

  »Weißt du, Mama, ich war schon oft wütend auf dich. Ja, wirklich. Es hat mich geärgert, daß du ihm so selten widersprichst. Es hat mich wütend gemacht, wenn du wie ein folgsames Kind immer ja und amen sagtest. Heute weiß ich natürlich, daß du kaum mit deiner Meinung durchgekommen wärst, er hätte sie niedergewalzt. Für Außenstehende führt ihr die ideale Ehe, aber ich glaube, du selbst bist dabei auf der Strecke geblieben.«

  »Nein«, widersprach die Mutter heftig. »Ich habe es sehr gut bei ihm.«

  »Wenn du wüßtest, wie ich mich beherrschen muß, um nicht zu platzen«, schnaubte Luise. Ihre Augen funkelten, die Wangen röteten sich. Sogar jetzt bemerkte Frau Brausewetter, wie hübsch ihre Tochter war.

  »Ich habe es gut bei ihm! Sag’ mal, Mama, besitzt du denn überhaupt kein Selbstwertgefühl? Du bist du! Eine Persönlichkeit. Wer alles tut, bist du! Du tust mehr für ihn…«

  »Luise, ereifere dich doch nicht so. Wir wollten auch nicht von mir und meinem Leben sprechen. Wir wollten über dich und Leo reden.«

  »Ich möchte dich so gern aus diesem Schattendasein herausholen. Ja, sieh mich nicht so verletzt an. Du bist wie sein Schatten. Immer da, wenn du gebraucht wirst. Ohne eigenen Willen, stets freundlich, liebevoll. Du bist genauso, wie er dich in dem Augenblick braucht. Weißt du, Mama, mir ist oft ein Zitat von Shakespeare eingefallen, wenn ich euch beobachtet habe. Du kennst dich in den Klassikern besser aus als ich. Wie heißt es doch:

  Was der Vasall dem Fürsten zollt, das ist die Frau auch schuldig ihrem Gatten. So lebst du. Er soll dein Herr sein… tralala.«

  »Du bist sehr streng mit deiner Meinung, Luise. Aber du läßt außer acht dabei, daß ich mich bei ihm geborgen fühle. Du weißt genau, daß dein Vater unter der rauhen Schale sein weiches Herz versteckt. Wenn er ungerecht oder heftig zu mir war, tut es ihm später immer leid.«

  »Ja, dann schleppt er Schmuck oder Pelze heran«, spöttelte Luise. »Nein, so kann und so will ich nicht leben.«

  »Aber, Liebes. Was hat das alles denn mit deinem zukünftigen Leben zu tun? Du bist anders als ich, und Leo ist anders als dein Vater.«

  »Das ist er eben nicht.« Luises eben noch so heftige Stimme war leiser geworden. Sie ließ den Kopf hängen, das blonde Haar, das wie Seide schimmerte, leuchtete im Licht der Sonne, die ungehindert durch das Fenster fiel. Die helle Leinengardine bewegte sich im Wind, als hätte eine unsichtbare Hand sie berührt. Im Hof wurde ein Auto angelassen, offensichtlich hatte der Fahrer Schwierigkeiten. Das mißtönende Geräusch des Motors füllte die Luft.

  »Leo ist wie Papa. Eine jüngere Ausgabe von Papa. Wenn er mich von etwas überzeugen will, brauche ich nur die Augen zu schließen und höre Papa reden. Er ist bei Eltern aufgewachsen, die leben, wie ihr lebt. Und es ist ja auch so wunderbar gequem, eine Frau zu haben, die keine eigene Meinung hat. Die bewundernd zu dem Herrn der Schöpfung aufsieht.«

  »Bist du nicht ein wenig ungerecht, Luise?«

  »Kann sein«, gab sie bereitwillig zu. »Jedenfalls bringt mich Leos Art auf die Palme. Anfangs habe ich es gar nicht registriert. Aber in der letzten Zeit kann ich manchmal aus der Haut fahren. Ich könnte unter die Decke gehen, wenn er von seinen Erfolgen spricht. Wenn er von mir erwartet, daß ich vor Bewunderung am Boden liege für Dinge, die völlig normal sind. Und was er für Ideen hat«, ereiferte sie sich. Sie zog die hübsche Nase kraus und umklammerte den Bleistift, als wollte sie ihn in Stücke brechen. »Menschen, die keinen Erfolg haben, belächelt er. Sie sind in seinen Augen Versager. Arme Menschen gibt es nicht. Und wenn ihm Armut ins Auge fällt, sind es Menschen, die selbst daran schuld sind. Ich könnte platzen, wenn er diese Weisheit von sich gibt. Und wie er mich dann belächelt, wenn ich meine Meinung vertrete. Als wäre ich ein dummes kleines Mädchen, und es würde höchste Zeit, daß er mich belehrt.