Johanna Spyri

 

Heimatlos

 

Zwei Geschichten für Kinder und solche, die Kinder lieb haben

 

Impressum

Covergestaltung: Helga Graziella Schwaiger

Digitalisierung: Gunter Pirntke

Illustrationen: Helga Graziella Schwaiger

2016 andersseitig

ISBN: 9783955019914


andersseitig Verlag

Dresden



(mehr unter Impressum-Kontakt)

Am Silser- und am Gardasee

Im stillen Hause

 

Im Ober-Engadin, in der Straße gegen den Maloja hinauf, liegt ein einsames Dörfchen, das heißt Sils. Da geht man von der Straße querfeldein, und hinten, ganz nahe an den Bergen, liegt ein kleiner Ort, der heißt Sils-Maria. Da standen ein wenig abseits im Felde zwei Häuschen einander gegenüber. Die hatten beide uralte hölzerne Haustüren und ganz kleine Fenster tief in der Mauer drinnen. Beim einen Haus war ein kleines Stück Garten, da wuchs Kraut und Kohl, und es standen auch vier Blumenstöcke darin, die sahen aber mager aus und waren aufgeschossen wie das Kraut. Beim anderen Häuschen war gar nichts als ein kleiner Stall neben der Tür; da krochen zwei Hühner aus und ein. Dies Häuschen war noch kleiner als das andere, und die hölzerne Tür war schwarz vor Alter.

Aus dieser Tür trat jeden Morgen um dieselbe Zeit ein großer Mann, der mußte sich bücken, um hinauszukommen. Der große Mann hatte ganz glänzend schwarze Haare und schwarze Augen, und unter der schöngeformten Nase fing gleich ein so dichter schwarzer Bart an, daß man vom übrigen Gesichte nichts mehr sah als die weißen Zähne, die zwischen den Barthaaren durchblitzten, wenn der Mann einmal sprach; aber er sprach wenig. Alle Leute in Sils kannten den Mann, doch niemand nannte ihn bei einem Namen, er hieß bei allen nur »der Italiener«. Er ging regelmäßig den schmalen Weg querüber nach Sils hin und den Maloja hinauf. Dort wurde viel an der Straße gebaut, und da hatte der Italiener seine Arbeit. Ging er aber den Weg nicht hinauf, so ging er hinunter, dem Bade St. Moritz zu. Dort baute man Häuser, und er fand dort auch seine Arbeit. Dann blieb er den Tag über da und kehrte erst am Abend wieder ins Häuschen zurück. Gewöhnlich, wenn er am Morgen aus der Tür trat, stand hinter ihm ein Büblein. Das stellte sich auf die Türschwelle, wenn der Vater draußen war, und schaute mit den großen, dunklen Augen lange hinaus dem Vater nach, oder sonst wohin. Man hätte nicht sagen können, wohin er sah, denn es war, als ob die dunklen Augen über alles wegschauten, was vor ihnen lag, und auf etwas hin, das niemand sehen konnte.

Am Sonntagnachmittag, wenn die Sonne schien, gingen die beiden auch manchmal miteinander aus dem Häuschen und nebeneinander her die Straße hinauf. Und wenn man sie so ansah, so sah man in den zwei Gestalten ganz dasselbe vor sich, nur bei dem Büblein alles im kleinen. Es war ganz wie vom Vater abgeschnitten, bis auf den schwarzen Bart, den hatte es nicht, sondern ein schmales, bleiches Gesichtchen war da zu sehen, mit dem schöngeformten Näschen in der Mitte, und um den Mund herum lag etwas Trauriges, als ob er nicht lachen möchte. Das konnte man beim Vater durch den Bart nicht sehen.

Wenn nun die beiden so nebeneinander hergingen, dann sagte keiner zum anderen ein Wort. Meistens summte der Vater leise ein Lied, manchmal auch lauter, und das Büblein hörte zu. Wenn es jedoch am Sonntag regnete, dann saß der Vater daheim im Häuschen auf der Bank am Fenster, und das Büblein saß neben ihm, und sie sagten wieder nichts zueinander. Aber der Vater zog eine Mundharmonika hervor und spielte eine Melodie nach der anderen, und das Büblein hörte aufmerksam zu. Manchmal nahm er auch einen Kamm oder ein Baumblatt und lockte daraus Melodien hervor, oder er schnitt ein Stück Holz zurecht und pfiff darauf ein Lied. Es war, als gäbe es keinen Gegenstand, dem er nicht Musik entlocken könnte. Aber einmal hatte er eine Geige mit nach Hause gebracht, die hatte das Büblein so entzückt, daß es sie nie wieder vergessen konnte. Der Vater hatte viele Lieder und Melodien darauf gespielt, und das Büblein hatte unverwandt zugeschaut, nicht nur zugehört; und als der Vater die Geige weggelegt hatte, da hatte sie das Büblein leise genommen und probiert, wie man die Melodien herausbringe. Und es mußte es gar nicht so schlecht gemacht haben, denn der Vater hatte gelächelt und gesagt: »So komm!« und hatte seine großen Finger mit der linken Hand auf die kleinen gelegt und mit der rechten die Hand des Bübleins mitsamt dem Bogen in die seinige genommen, und so hatten sie eine gute Zeitlang allerlei Melodien gegeigt.

Die folgenden Tage, wenn der Vater fort war, hatte das Büblein immer wieder probiert und gegeigt, bis es eine Melodie herausgebracht hatte; aber da war auf einmal die Geige verschwunden und kam nie wieder zum Vorschein. Zuweilen, wenn sie so zusammensaßen, fing der Vater auch an zu singen, erst nur leise und dann immer lauter, wenn er einmal dabei war. Dann sang das Büblein auch mit, und wenn es die Worte nicht recht mitsingen konnte, so sang es doch die Töne. Der Vater sang immer Italienisch, und es verstand vieles, aber es war ihm nicht so recht bekannt und geläufig zum Singen. Da gab es eine Melodie, die konnte es besser als alle anderen, denn der Vater hatte sie vielhundertmal gesungen.

Sie gehörte zu einem langen Lied, das fing so an:

» Uno sera
In Peschiera
–«

Es war eine sehr wehmütige Melodie, die einer zu der kurzweiligen Romanze gemacht hatte, und sie gefiel dem Büblein besonders, so daß es sie immer mit Freuden und ganz andächtig absang. Das klang gut, denn das Büblein hatte eine helle, glockenreine Stimme, die floß so schön mit des Vaters kräftigem Baß zusammen. Auch jedesmal, wenn dieses Lied zu Ende gesungen war, klopfte der Vater den Kleinen freundlich auf die Schulter und sagte: »Bene, Enrico, va bene.« So nannte den Knaben aber nur der Vater, bei allen anderen Leuten hieß er nur »Rico«. Da war auch noch eine Base, die mit in dem Häuschen wohnte, die flickte und kochte und hielt alles in Ordnung. Im Winter saß sie am Ofen und spann, da mußte Rico immer überlegen, wie er seine Gänge einrichten könne, denn sobald er die Tür aufmachte, sagte die Base: »Laß doch einmal diese Tür in Ruh', es wird ja ganz kalt in der Stube.« Er war dann oft lange mit der Base allein. Der Vater hatte in der Zeit irgendwo unten im Tale Arbeit und blieb viele Wochen lang fort.

 

 

 

In der Schule

 

Rico war fast neun Jahre alt und hatte schon zwei Winter hindurch die Schule besucht, denn im Sommer gab es da droben in den Bergen keine Schule; da hatte der Lehrer seinen Acker zu bebauen und zu mähen und zu hauen wie alle anderen Leute, zur Schule hatte dann niemand Zeit. Das tat aber Rico nicht besonders leid, er wußte sich schon zu unterhalten. Wenn er sich am Morgen dort auf die Türschwelle gestellt hatte, so blieb er stehen, schaute mit träumenden Augen hinaus und bewegte sich nicht. So konnte er stundenlang stehen, falls nicht drüben am anderen Häuschen die Türe aufging und ein kleines Mädchen herauskam und lachend zu ihm herüberschaute. Dann lief Rico schnell hinüber, und die Kinder hatten sich seit gestern abend, wo sie sich zuletzt gesehen hatten, schon wieder viel zu erzählen, bevor Stineli ins Haus gerufen wurde. Stineli hieß das Mädchen und war genau so alt wie Rico. Sie hatten miteinander angefangen, in die Schule zu gehen, und waren in derselben Klasse, und schon immer waren sie beieinander gewesen, denn es war ja nur ein schmaler Weg zwischen ihren Wohnungen, und sie waren die allerbesten Freunde.

Rico hatte auch nur diese einzige Freundschaft, denn mit den Buben ringsum hatte er keine Freude, und wenn sie sich prügelten und auf dem Boden herumwarfen und sich auf die Köpfe stellten, dann ging er davon und schaute nicht einmal zurück. Wenn sie aber riefen: »Jetzt wollen wir einmal den Rico verprügeln«, dann stand er still und stellte sich gerade hin und machte gar nichts; aber er schaute sie mit den dunklen Augen so merkwürdig an, daß ihn keiner anpackte.

Aber beim Stineli war's ihm wohl zumute. Stineli war wohl kaum neun Jahre alt, aber es war die älteste Tochter und mußte der Mutter überall helfen, und da war viel zu tun. Denn nach dem Stineli riefen aus allen Ecken die Kleinen.

In dem Häuschen aber war noch jemand, der dann und wann nach dem Stineli rief, das war die alte Großmutter. Die rief aber nicht, damit es ihr noch helfe, sondern sie hatte ihm etwa einen Pfennig zu geben, der ihr in die Hand kam, oder sonst etwas, denn Stineli war ihr Liebling, und sie sah mehr als irgend jemand sonst, wieviel das Stineli für sein Alter schon tun mußte, mehr als die meisten Kinder. Darum gab sie ihm gern etwas, damit es sich auch wie andere Kinder auf dem Jahrmarkt etwas kaufen könne, etwa ein rotes Bändeli oder ein Nadelbüchsli. Die Großmutter war auch zu Rico sehr gut und sah die Kinder gern beisammen und tat auch manchmal etwas für das Stineli, damit es mit dem Rico noch ein wenig draußen bleiben durfte.

Jetzt war es Mai, und eine kleine Zeit konnte die Schule noch dauern, lange konnte es zwar nicht mehr sein, denn es grünte unter den Bäumen, und große Strecken waren ganz frei von Schnee. Rico stand seit einer guten Weile vor der Tür und stellte diese Betrachtungen an. Dabei schaute er immer drüben zu der Tür, ob sie noch nicht aufgehen wolle. Jetzt ging sie auf, und Stineli kam herausgesprungen.

»Hast du schon lang dagestanden? Hast du wieder gestaunt, Rico?« rief es lachend. »Siehst du, heut ist es noch früh, wir können langsam gehen.«

Jetzt nahmen sie einander bei der Hand und wanderten der Schule zu.

»Denkst du immer noch an den See?« fragte Stineli im Gehen.

»Ja, gewiß«, versicherte Rico mit ernstem Gesicht, »und manchmal träumt es mir auch davon und ich sehe so große, rote Blumen daran und drüben die violetten Berge.«

 

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»Ach, das gilt nicht, was man träumt«, sagte Stineli lebhaft. »Ich habe auch einmal geträumt, der Peterli klettere ganz allein auf die allerhöchste Tanne hinauf, und wie er auf dem obersten Zweiglein saß, da war's nur noch ein Vogel, und er rief herunter: ›Stineli, zieh mir die Strümpf' an!‹ Jetzt siehst du doch, daß das nicht wahr sein kann.«

Rico mußte heftig nachdenken, wie das sei, denn sein Traum konnte doch wahr sein und war nur wie etwas, das ihm wieder in den Sinn kam. Aber jetzt waren sie nahe beim Schulhaus angelangt, und ein ganzer Trupp Kinder lärmte von der anderen Seite daher. Sie traten alle miteinander ein, und bald danach kam auch der Lehrer. Der war ein alter Mann mit dünnen, grauen Haaren, denn er war schon undenklich lang Lehrer gewesen, so daß ihm darüber die Haare grau geworden und ausgefallen waren. Es ging nun an ein strenges Buchstabieren, und dann kam das Einmaleins an die Reihe, und zuletzt kam der Gesang. Da holte der Lehrer seine alte Geige hervor und stimmte sie, und nun ging es los und alle sangen aus voller Kehle:

» Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh'
–«

und der Lehrer geigte dazu.

Nun schaute der Rico aber so gespannt auf die Geige und des Lehrers Finger, wie dieser in die Saiten griff, daß er darüber ganz das Singen vergaß und keinen Ton mehr von sich gab. Jetzt fiel mit einem Male die ganze Sängerherde einen halben Ton hinunter, da wurde die Geige auch unsicher und fiel nach, und die Sänger fielen noch tiefer, und man kann gar nicht wissen, wie tief hinunter alles miteinander gefallen wäre – aber jetzt warf der Lehrer die Geige auf den Tisch und rief erzürnt: »Was ist das für ein Gesang! Ihr unvernünftigen Schreier! Wenn ich doch wissen könnte, wer so falsch singt und das ganze Lied verdirbt!«

Da sagte ein kleiner Bube, der neben Rico saß: »Ich weiß schon, warum es so geworden ist. Immer ist es so, wenn Rico zu singen aufhört.«

Dem Lehrer selbst war es nicht so ganz unbekannt, daß die Geige am sichersten ging, wenn Rico fest mitsang.

»Rico, Rico, was muß ich hören!« sagte er ernst. »Du bist sonst ein ordentliches Büblein, aber Unaufmerksamkeit ist ein großer Fehler, das hast du jetzt gesehen. Ein einziger unachtsamer Schüler kann einen ganzen Gesang verderben. Jetzt wollen wir noch einmal anfangen, und du paßt auf, Rico!«

Nun setzte Rico mit fester, klarer Stimme ein, die Geige folgte nach, und alle Kinder sangen aus allen Kräften mit, so daß es bis zum Schluß herrlich anzuhören war. Da war der Lehrer sehr zufrieden und rieb sich die Hände, machte noch ein paar feste Striche auf der Geige und sagte vergnügt: »Es ist auch ein Instrument danach.«

 

 

Des alten Schullehrers Geige

 

Vor der Tür hatten sich Stineli und Rico bald aus dem Rudel herausgemacht und zogen zusammen ihren Weg.

»Hast du vor lauter Staunen nicht mehr mitgesungen, Rico?« fragte Stineli jetzt. »Ist dir etwa auf einmal der See in den Sinn gekommen?«

»Nein, etwas anderes«, sagte Rico. »Ich weiß jetzt, wie man spielt ›Ihr Schäflein hinunter‹. Wenn ich nur eine Geige hätte!«

Der Wunsch schien Rico schwer auf dem Herzen zu liegen, denn er kam mit einem tiefen Seufzer heraus. Stineli war gleich voller Teilnahme und unternehmender Gedanken.

»Wir wollen zusammen eine kaufen«, rief es plötzlich voller Freude über die Hilfe, die ihm eingefallen war. »Ich habe sehr viele Pfennige von der Großmutter, etwa zwölf. Wie viele hast du?«

»Gar keinen«, sagte Rico traurig. »Der Vater hat mir ein paar gegeben, bevor er fortging. Aber die Base hat gesagt, ich mache nur unnützes Zeug damit, und hat sie genommen und ganz hoch hinauf in den Kasten gelegt. Da kann man sie nicht mehr bekommen.«

Aber Stineli ließ sich nicht so schnell entmutigen. »Vielleicht haben wir doch genug Geld, und die Großmutter gibt mir schon noch etwas«, sagte es tröstend. »Weißt du, Rico, eine Geige kostet nicht soviel; es ist doch nur altes Holz und vier Saiten darübergespannt, das kostet nicht viel. Du brauchst nur den Lehrer morgen zu fragen, was eine Geige kostet, und dann suchen wir eine.«

So blieb es ausgemacht, und Stineli dachte, es wolle daheim tun, was es nur könne, und ganz früh aufstehen und das Feuer anmachen, bevor nur die Mutter auf sei; denn wenn es so von früh bis spät immerfort etwas tat, steckte ihm die Großmutter gewöhnlich einen Pfennig in die Tasche.

Am folgenden Morgen, als die Schule aus war, ging Stineli allein hinaus. An der Ecke vom Schulhaus stand es still hinter dem Holzhaufen und wartete auf Rico, der jetzt den Lehrer wegen der Geige fragen sollte. Er kam lange nicht heraus und Stineli guckte immer wieder mit Ungeduld hinter dem Holze hervor, allein es waren nur die anderen Buben, die noch da und dort herumstanden. Aber jetzt – richtig, Rico kam um den Holzhaufen herum. Da war er.

»Was hat er gesagt, was kostet sie?« rief Stineli mit angehaltenem Atem vor Erwartung.

»Ich habe nicht fragen können«, antwortete Rico verzagt.

»Oh, wie schade!« sagte Stineli und stand verblüfft da, aber nicht lange. »Das bleibt sich gleich, Rico«, sagte es wieder fröhlich und nahm ihn zum Heimgehen bei der Hand, »du kannst dann morgen fragen. Ich habe auch schon wieder heute früh von der Großmutter einen Pfennig bekommen, weil ich schon auf war, als sie in die Küche kam.«

Nun ging es aber am folgenden Tage wieder genau so und am dritten auch. Rico blieb immer eine halbe Stunde lang vor der Wohnstube des Lehrers stehen und wagte nicht, hineinzugehen und seine Frage zu tun. Da dachte Stineli heimlich: Wenn er noch drei Tage lang nicht fragt, dann frag' ich. Aber am vierten Tage, als Rico wieder nachdenklich und zaghaft vor der Tür stand, ging diese plötzlich auf, und der Lehrer trat eilig heraus und stieß so gewaltig gegen den Rico an, daß das federleichte Büblein ein gutes Stück rückwärts flog. Voller Erstaunen und heftigem Unwillen stand der Lehrer da. »Was ist das, Rico?« fragte er jetzt, als der Kleine wieder am Platze stand. »Warum kommst du an die Tür und klopfst nicht an, wenn du etwas auszurichten hast? Wenn du aber nichts auszurichten hast, warum entfernst du dich nicht? Solltest du mir aber etwas zu berichten haben, so kannst du's gleich hier sagen. Was wolltest du?«

»Was kostet eine Geige?« stürzte Rico vor lauter Angst hastig hervor.

Des Lehrers mißbilligendes Erstaunen wuchs sichtlich. »Rico, was soll ich von dir denken?« fragte er mit strenger Miene. »Kommst du deshalb an die Tür deines Lehrers, um unnütze Fragen an ihn zu richten? Oder hast du eine Absicht? Was hast du damit sagen wollen?«

»Ich habe nichts sagen wollen«, entgegnete Rico schüchtern, »nur fragen, was eine Geige kostet.«

»Du hast mich nicht verstanden, Rico. Paß jetzt auf, was ich dir sage: Ein Mensch spricht etwas aus und denkt sich dabei einen Zweck; oder er denkt sich nichts dabei, das sind dann unnütze Worte. Nun paß auf, Rico: Hast du soeben diese Frage gemacht aus gar keinem Grunde oder aus Neugierde, oder hat dich jemand geschickt, der gern eine Geige anschaffen will?«

»Ich möchte gern eine kaufen«, sagte Rico ein wenig herzhafter; aber er erschrak sehr, als der Lehrer ihn mit einem Male voller Zorn anfuhr: »Was? Was sagst du da? So ein – verlorenes, unvernünftiges, welsches Büblein, wie du eins bist, eine Geige kaufen? Weißt du denn, was eine Geige ist? Weißt du, wie alt ich war und was ich gelernt hatte, bevor ich eine Geige anschaffen konnte? Lehrer war ich, fertiger Lehrer, zweiundzwanzig Jahre alt und stand in meinem Beruf! Und jetzt so ein Büblein, wie du es bist! Und jetzt will ich dir sagen, was eine Geige kostet, dann kannst du deinen Unverstand ermessen. Sechs harte Gulden habe ich dafür bezahlt; kannst du dir die Summe vorstellen? Wir wollen sie gleich einmal in Pfennige auflösen: Enthält ein Gulden 100 Pfennige, so enthalten sechs Gulden 6X100 – gleich? – gleich? – Nun, Rico, du bist doch sonst keiner von den Dummen – gleich?«

»Gleich 600 Pfennige«, ergänzte Rico leise, denn der Schreck versagte ihm die Stimme, als er die Summe überschaute und Stinelis zwölf Pfennige damit verglich.

»Und dann, Büblein«, fuhr der Lehrer weiter fort, »was denkst du dir? Meinst du, man nimmt eine Geige nur in die Hand und spielt? Da muß einer anders dran, bis er soweit ist. Komm gleich einmal hier herein« – und der Lehrer machte die Tür auf und nahm die Geige von der Wand. »Da, nimm sie einmal in den Arm und den Bogen in die Hand. So, Büblein, und wenn du mir nun c d e f herausbringst, so geb' ich dir gleich einen halben Gulden.« Rico hatte wirklich die Geige im Arm; seine Augen leuchteten wie Feuer auf. C d e f – spielte er fest und ganz richtig. »Du Erzblitzbub«, rief der Lehrer vor Bewunderung aus, »woher kannst du das? Wer hat dich's gelehrt? Wie kannst du die Töne finden?«

»Ich kann noch etwas, wenn ich's spielen darf«, sagte Rico und schaute voller Verlangen auf das Instrument in seinem Arm.

»Spiel's!« nickte der Lehrer. Jetzt spielte Rico voller Sicherheit und mit freudestrahlenden Augen:

»Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh',
Der Tag ging schon unter,
Für heute ade!«

Der Lehrer hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen und die Brille aufgesetzt. Er schaute jetzt mit ernster Prüfung auf Ricos Finger, dann auf seine funkelnden Augen, dann wieder auf die Finger. Rico hatte fertiggespielt.

Der Lehrer rückte seinen Stuhl ins Licht, und Rico mußte sich gerade vor ihm aufstellen. »So, nun muß ich ein Wort mit dir reden. Dein Vater ist ein Italiener, Rico. Siehst du, dort unten gibt es allerhand Dinge, von denen wir hier in den Bergen nichts wissen. Nun sieh mir in die Augen und sag mir ehrlich und der Wahrheit gemäß: Wie bist du dazu gekommen, die Melodie ohne Fehler auf meiner Geige zu spielen?« Rico schaute den Lehrer mit ehrlichen Augen an und sagte: »Ich habe, sie Euch in der Singschule abgelernt, wo wir sie soviel singen.«

Diese Worte gaben der Sache eine ganz andere Wendung. Der Lehrer stand auf und ging einige Male hin und her. So war er selbst der Urheber dieses erstaunlichen Talentes, es waren also keine Schwarzkünste dabei im Spiel. Mit versöhntem Gemüt zog er jetzt einen Beutel hervor: »Da ist ein halber Gulden, Rico, er gehört dir mit Recht. Nun mach weiter so und sei recht aufmerksam beim Geigenspiel, solange du zur Schule gehst, dann kannst du's zu etwas bringen. In zwölf bis vierzehn Jahren wird es so weit sein, daß du dir auch eine Geige anschaffen kannst. Jetzt darfst du gehen.«

Rico warf noch einen Blick auf die Geige, dann ging er mit betrübtem Herzen davon.

Stineli kam hinter dem Holzstoß hervorgerannt: »Diesmal bist du aber lang geblieben, hast du gefragt?«

»Es ist alles umsonst«, sagte Rico, und seine Augenbrauen kamen vor Leid so nah zusammen, daß ein dicker, schwarzer Strich über den Augen war. »Eine Geige kostet sechshundert Pfennig, und in vierzehn Jahren kann ich eine kaufen, wenn schon lange alles tot ist. Wer sollte in vierzehn Jahren noch am Leben sein! Da, das kannst du haben, ich will's nicht.« Damit drückte er den halben Gulden in Stinelis Hand.

»Sechshundert Pfennig!« wiederholte Stineli voller Entsetzen. »Aber woher hast du das viele Geld hier?« Rico erzählte nun alles, wie es bei dem Lehrer gegangen war, und endete wieder mit den kummervollen Worten: »Jetzt ist alles verloren.«

Stineli wollte ihm wenigstens als einen ganz kleinen Trost seinen halben Gulden aufdrängen; aber er war so zornig über den unschuldigen halben Gulden und wollte ihn nicht einmal ansehen.

Da sagte Stineli: »Dann will ich ihn zu meinen Pfennigen tun, und dann wollen wir das Geld miteinander teilen, und alles gehört uns zusammen.«

 

 

Der ferne schöne See ohne Namen

 

Als Stineli am Sonntagmorgen die Augen aufmachte, hatte es eine große Freude im Herzen und wußte zuerst gar nicht warum, bis es sich besann, daß es Sonntag war und die Großmutter noch spät am Abend gesagt hatte: »Morgen sollst du auch Sonntag haben, der ganze Nachmittag gehört dir!«

Als das Mittagessen vorbei war und Stineli alle Teller weggetragen und den Tisch abgewaschen hatte, rief Peterli: »Komm zu mir, Stineli!« Und die zwei anderen im Bett schrien: »Nein, zu mir!« Und der Vater sagte: »Das Stineli muß nach der Geiß sehen.«

Aber nun ging die Großmutter in die Küche hinaus und winkte dem Stineli nach. »Geh du jetzt los«, sagte sie, »für die Geiß und die Kinder will ich schon sorgen, und wenn's zur Betglocke läutet, kommt heim.« Die Großmutter wußte schon, daß es zwei waren.

Jetzt schoß Stineli wie ein Vogel davon, dem man die Käfigtür aufgemacht hat, und drüben stand Rico, der hatte schon lange gewartet. Nun zogen sie aus über die Wiese hin, der Waldhöhe zu. Die Sonne schien an allen Bergen, und der Himmel lag blau darüber. Auf der Schattenseite mußten sie noch ein wenig im Schnee gehen bis hinauf, aber da kam die Sonne von vorn und flimmerte über den See, und da waren schöne trockene Plätzchen am Abhang, steil über dem Wasser. Da setzten sich die Kinder hin. Es pfiff ein scharfer Wind über die Höhe und sauste ihnen um die Ohren. Stineli war lauter Freude und Glück. Immer wieder rief es aus:

»Sieh, sieh, Rico, die Sonne, wie schön! Jetzt wird's Sommer. Sieh, wie es auf dem See glitzert. Es kann gar keinen schöneren See geben, als der ist«, sagte es jetzt voller Überzeugung.

»Ja, ja, Stineli, du solltest nur einmal den See sehen, den ich meine!« und Rico schaute so verloren über den See hin, als finge, was er ansehen wollte, erst dort an, wo man nichts mehr sah.

»Siehst du, dort stehen nicht so schwarze Tannen mit Nadeln, da gibt es glänzende grüne Blätter und große rote Blumen. Die Berge stehen nicht so hoch und schwarz und so nah, nur in der Ferne liegen sie ganz violett. Am Himmel und auf dem See ist alles golden und so still und warm. Dort pfeift der Wind nicht so, und die Füße hat man nicht so voll Schnee, dort kann man immer so am sonnigen Boden sitzen und zuschauen.«

Stineli war ganz hingerissen. Es sah schon die roten Blumen und den goldenen See vor sich, das mußte doch so schön sein.

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»Vielleicht kannst du wieder einmal dahin gehen an den See und alles wieder sehen. Kennst du den Weg?«

»Man geht auf den Maloja. Dort bin ich schon mit dem Vater gewesen. Da hat er mir die Straße gezeigt, die geht den ganzen Weg hinunter, immer so hin und her, und weit unten ist der See, aber noch so weit, daß man fast nicht hinkommen kann.«

»Ach, das ist doch leicht«, meinte Stineli, »du müßtest nur immer weitergehen, so kämst du sicher zuletzt dahin.«

»Aber der Vater hat mir noch etwas gesagt. Siehst du, Stineli: Wenn man auf dem Wege ist und in ein Wirtshaus hineingeht und ißt und schläft da, so muß man immer bezahlen, und dafür muß man wieder Geld haben.«

»Oh, Geld haben wir jetzt soviel!« rief Stineli triumphierend. Rico jedoch triumphierte nicht mit.

»Das ist geradesoviel wie nichts, das weiß ich noch von der Geige«, sagte er traurig.

»So bleib du lieber daheim, Rico, sieh, es ist doch daheim so schön.«

Eine Weile saß Rico nachdenklich da, seinen Kopf auf den Ellbogen gestützt, und seine Augenbrauen kamen wieder ganz zusammen. Jetzt kehrte er sich wieder zu Stineli, das inzwischen von dem weichen grünen Moos ausrupfte und ein Bettlein machte, zwei Kissen und eine Decke, die wollte es dem kranken Urschli bringen. »Du meinst, ich sollte lieber daheim bleiben, Stineli«, sagte er mit gefalteter Stirne. »Weißt du, mir ist es geradeso, als ob ich nicht wüßte, wo ich daheim bin.«

»Ach, was sagst du da!« rief Stineli und warf vor Erstaunen eine ganze Hand voll Moos weg. »Hier bist du daheim, natürlich. Man ist doch immer dort daheim, wo man seinen Vater und seine Mutter –« hier hielt es plötzlich inne. Rico hatte ja gar keine Mutter, und der Vater war schon so lang wieder fort, und die Base? – Stineli kam der Base nie zu nah, sie hatte ihm nie ein gutes Wort gegeben. Es wußte gar nicht mehr, was es sagen sollte. Aber Stineli konnte in einem so unsicheren Zustand nicht lange bleiben. Rico hatte wieder angefangen zu staunen; auf einmal faßte es ihn am Arm und rief: »Nun möchte ich doch wissen, wie heißt der See, wo es so schön ist?«

Rico besann sich. »Ich weiß es nicht«, sagte er, selbst darüber verwundert.

Da schlug Stineli vor, sie wollten jemand fragen, wie er heiße, denn wenn Rico doch einmal viel Geld hätte und gehen könnte, so müßte er ja den Weg erfragen und einen Namen wissen. Nun fingen sie an zu beraten, wen man fragen könnte: den Lehrer oder die Großmutter. Da fiel es Rico ein, der Vater werde es am besten wissen, den wolle er fragen, sobald er heimkomme.

Inzwischen war die Zeit vergangen, und auf einmal hörten die Kinder in der Ferne ein leises Läuten. Sie kannten den Ton, es war die Betglocke. Sie sprangen gleich beide vom Boden auf und rannten miteinander Hand in Hand durch Gestrüpp und Schnee die Halde hinunter und über die Wiese hin, und es hatte noch nicht lange ausgeläutet, so standen sie schon an der Tür, wo die Großmutter auf sie wartete.

Stineli mußte nun gleich ins Haus hinein, und die Großmutter sagte nur schnell: »Geh du auch gleich hinein, Rico, und bleib nicht mehr vor der Tür stehen.«

Das hatte die Großmutter noch nie zu ihm gesagt, obwohl er es immer tat. Er hatte nie große Lust, in das Haus hineinzugehen, und stand immer erst eine Zeitlang vor der Haustür, bevor er's tat. Er gehorchte aber der Großmutter aufs Wort und ging gleich hinein.

 

 

Ein trauriges Haus, aber der See hat einen Namen

 

Die Base war nicht in der Stube, so ging er wieder hinaus und machte die Küchentür auf. Da stand sie: Aber ehe er nur eintreten konnte, hob sie den Finger in die Höh' und machte: »Bst! Bst! Mach nicht alle Türen auf und zu und keinen Lärm, als kämen vier. Geh in die Stube hinein und halte dich still. Der Vater liegt oben in der Kammer. Sie haben ihn auf einem Wagen gebracht, er ist krank.«

Rico ging hinein und setzte sich auf die Bank an der Wand und bewegte sich nicht. So saß er eine gute halbe Stunde. Die Base fuhr noch immer in der Küche herum. Da dachte Rico, er wolle leise in die Kammer hineinschauen, vielleicht wolle der Vater auch etwas zu Abend essen, es war schon lange die Zeit dazu.

Er schlich hinter dem Ofen die kleine Treppe hinauf und kroch in die Kammer hinein. Nach einiger Zeit kam er wieder und ging sofort in die Küche hinaus und bis nahe zur Base heran. Dann sagte er leise: »Base, kommt!«

Diese wollte ihn eben tüchtig anfahren, als ihre Blicke auf sein Gesicht fielen. Es war völlig ohne Farbe, Wangen und Lippen weiß wie ein Tuch, und aus den Augen schaute er so schwarz, daß ihn die Base fast fürchtete.

»Was hast du?« fragte sie hastig und folgte ihm unwillkürlich.

Er ging leise das Treppchen hinauf und in die Kammer hinein. Da lag der Vater mit starren Augen auf seinem Bett. Er war tot.

»Ach, du mein Gott«, schrie die Base und lief schreiend zur Tür hinaus, die auf der anderen Seite auf den Gang führte, die Treppe hinunter und gleich hinüber in die Stube hinein und rief, der Nachbar und die Großmutter sollten herüberkommen. Dann lief sie zum Lehrer und zum Gemeindevorsteher.

So kam eins ums andere und trat in die stille Kammer hinein, bis sie voll von Menschen war, denn einer hörte draußen vom anderen, was geschehen sei. Und mitten in dem Gewimmel und den vielen teilnehmenden Worten von all den Nachbarn stand Rico an dem Bett, lautlos und unbeweglich, und schaute den Vater an. – Die ganze Woche durch kamen noch täglich Leute ins Haus, die den Vater ansehen und von der Base hören wollten, wie alles geschehen sei, so daß es Rico immer wieder aufs neue hörte: Sein Vater hatte drunten im St. Gallischen an einer Eisenbahn Arbeit gehabt. Beim Steinsprengen hatte er eine tiefe Wunde in den Kopf bekommen, und da er nun doch nicht mehr arbeiten konnte, wollte er heimgehen, um sich zu pflegen, bis es besser würde. Aber die lange Reise, teils zu Fuß, teils auf offenen Fuhrwagen, hatte er nicht ertragen können, und war am Sonntag gegen Abend daheim angelangt und hatte sich auf sein Bett gelegt und war nicht wieder aufgestanden. Ohne daß ihn jemand gesehen hatte, war er verschieden, denn Rico hatte ihn schon starr ausgestreckt auf dem Bett gefunden. Am Sonntag darauf wurde der Mann begraben. Rico war der einzige Leidtragende, der dem Sarge folgte, einige gute Nachbarn hatten sich noch angeschlossen. So ging der Zug hinüber nach Sils. Dort hörte Rico, wie der Pfarrer in der Kirche laut vorlas: »Der Verstorbene hieß Enrico Trevillo und war gebürtig aus Peschiera am Gardasee.«

Da war es Rico, als höre er etwas, das er sehr gut gewußt, aber nicht mehr hatte zusammenfinden können. Immer hatte er auch den See vor sich gesehen, wenn er mit dem Vater gesungen hatte:

»Una sera
In Peschiera –«

Aber er hatte nicht gewußt, warum. Leise mußte er die Namen wiederholen, eine Menge alter Lieder stiegen damit vor seinen Augen auf.

Als er allein zurückgewandert kam, sah er die Großmutter auf dem Holzstumpf sitzen und neben ihr das Stineli. Sie winkte ihn zu sich. Dann steckte sie ihm ein Stück Birnbrot in die Tasche, wie sie vorher dem Stineli auch getan hatte, und sagte, nun sollten sie spazierengehen. Heute solle Rico nicht allein sein. Da wanderten die Kinder zusammen in den hellen Abend hinaus. Die Großmutter blieb auf ihrem Holze sitzen und schaute mitleidig dem schwarzen Büblein nach, bis sie nichts mehr von den Kindern sehen konnte. Dann sagte sie leise für sich:

»Doch was Er tut und läßt geschehn,
Das nimmt ein gutes End!«

 

Ricos Mutter