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Eine Bierleiche

zum Dessert

 

14 Kriminalgeschichten rund um den Gerstensaft

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage April 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Lektorat: Stephan Naguschewski

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © plainpicture/Johner

Rückseitenfoto: © ginger/photocase.de

Druck: CPI Ebner & Spiegel, Ulm

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-707-0

 

Inhalt

Lucas Bahl – Das Bier, das Blut und das Böse

Jan Beinßen – Das Gebot der Stunde

Veit Bronnenmeyer – Nebenwirkungen

Angela Eßer – Strohmänner

Peter Freudenberger – Giftpils

Tommie Goerz – Ahmoll bringinern nu umm

Thomas Kastura – Das perfekte Verbrechen

Lotte Kinskofer – Bis zum letzten Tropfen

Killen McNeill – Ein schöner Tod in Irland

Petra Nacke – Schwarzes Gold

Alexander Pfeiffer – Tränen und Bier

Horst Prosch – Ein Bier in einer Bar

Regina Schleheck – Hell, schlank und immer blank …

Elmar Tannert – Vermisst in Pilsen, Krimi in 21 Bierdeckelepisoden

Die Autorinnen und Autoren

 

Lucas Bahl – Das Bier, das Blut und das Böse

I. Das Bier

 

Weihnachten 1924 sollte für die Schutzpolizei der Kreisstadt Münsterberg, heute Ziębice in Polen, zu einem Fest werden, das den Beamten den Appetit verdarb. Falls Sie, verehrte Leserin, geehrter Leser, einen nervösen Magen haben, kann ich Ihnen nur empfehlen, die Lektüre an dieser Stelle abzubrechen.

Ich will keine Verantwortung übernehmen, wenn Ihnen schlecht wird, Sie auf die Auslegware oder wohin auch immer speien und Sie Ihre Kleidung in die Reinigung bringen müssen. Ich übernehme keine Haftung, weil ich im Folgenden nichts abmildern oder verschweigen werde. Das, was ich schildere, beruht auf Tatsachen. Nebensächliches mag erfunden sein, das Wesentliche aber hat sich so zugetragen, wie es hier zu lesen ist. Weder die Namen der Opfer habe ich verändert, noch den des Täters, das heißt, Sie können den Wahrheitsgehalt jederzeit überprüfen. Für diesen Fall gestatten Sie mir den Hinweis, dass ich mich auf historisches Material stütze. Einige kleinere Abweichungen, wie sie Ihnen in naheliegenden Quellen, etwa Wikipedia, auffallen werden, dürften damit zu tun haben, dass Autoren gerne voneinander abschreiben, und zwar mitsamt den Fehlern und Ungenauigkeiten, die sich bereits eingeschlichen haben.

Ich erzähle Ihnen diese Geschichte aber nicht, um Sie zu schockieren oder weil sie als Parabel auf die Bösartigkeit der Menschen taugt, sondern weil wir an ihr die Ambivalenz unserer eigenen Hilflosigkeit angesichts kaum beschreibbarer Gräueltaten erfahren können. Ich meine, dass wir uns nicht nur verdammt schwertun, das Geschehene zu begreifen, sondern auch immer wieder vor der Einsicht zurückschrecken, wie gut sich das »Böse« in unserer unmittelbaren Umgebung zu tarnen vermag und wie dünn andererseits der Firnis zivilisierten Verhaltens ist, der uns von der Amoralität schlimmster Verbrechen zurückhält. Mit anderen Worten: wie leicht der schmale Graben, der das Gute vom Bösen trennt, zu überwinden ist.

Sie sind noch dabei? Gut, dann weiter im Text, auf Ihre Gefahr!

Es begann am frühen Morgen mit dem unschönen Anblick von »Vatter Denke«, der tot in der Arrestzelle lag. Jeder in Münsterberg nannte Karl Denke so, und die Tatsache, dass man eine respektable Person wie ihn tags zuvor in Schutzhaft genommen hatte, sorgte für Proteste und Gesprächsstoff in der Kleinstadt, die einst Friedrich II. von Preußen nach dem Siebenjährigen Krieg zur Garnisonsstadt gemacht hatte. Vatter Denkes Tod wurde trotz der merkwürdigen Lage der Leiche als Selbstmord erklärt. Um seinen Hals war ein Taschentuch geschlungen, das in zwei Teile zerrissen zu einer Schlinge zusammengeknotet worden war. Das Tuch wiederum war an einem eisernen Ring befestigt, der sich an der Wand befand und eigentlich dazu diente, renitente Gefangene anzuketten. Der gewichtige, ältere Mann musste sich also – nimmt man Selbstmord an – selbst zu Tode stranguliert haben.

Wenige Tage vor den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1924 rannte der Landstreicher Vinzenz Olivier, heftig aus einer Kopfwunde blutend, laut schreiend aus dem Haus in der Teichstraße Nr. 10. Aufgeschreckte Anwohner versuchten, ihn zu beruhigen. Schließlich brachten sie ihn zur Polizeiwache. Schon auf dem Weg dorthin erhob er schwere Anschuldigungen gegen Vatter Denke.

Kennengelernt hatten sich die beiden am Vormittag desselben Tages in der Schankstube der Herberge zur Heimat, in der Olivier übernachtet hatte. Denke lud ihn zu einem Bier ein, was er gerne annahm, schließlich war er völlig abgebrannt. Normalerweise wurde in der Herberge zur Heimat das sogenannte Einfachbier der Kirchner-Stadtbrauerei ausgeschenkt, doch einmal in der Woche trafen auch ein paar Fässer Export ein, und zwar aus einer der ältesten Brauereien weit und breit, und so ließen sie sich das Bier mit dem schönen Namen »Zum großen Meerschiff« munden, das seit 1635 von der Brauerei Erich Vogel im sechzig Kilometer entfernten Breslau gebraut wurde.

Vinzenz Olivier erzählte Denke, dass er vorhabe, Münsterberg noch an diesem Tag wieder zu verlassen. Vatter Denke bestellte ein weiteres Bier für den jungen Mann. Dann verriet er ihm, dass es ringsum einige wohltätige Familien gebe, bei denen Olivier sein Glück versuchen und milde Gaben erbitten könne, und Denke nannte sogar einige Namen. So kam Olivier etwa eine Stunde später auch zu jenem Gebäude, wo Denke selbst wohnte: zu der Teichstraße Nr. 10. Tatsächlich hatten ihm hier und da einige Leute ein paar Groschen gegeben, und Denke sagte ihm, er könne ihm ebenfalls zwanzig Pfennig mit auf den Weg geben und einen weiteren Schluck Bier aus der Kanne, die er sich zuvor in der Schankstube hatte füllen lassen und mit nach Hause genommen hatte. Doch er, Vinzenz, man war jetzt beim »Du«, müsse ihm dafür einen Gefallen tun, nämlich einen Brief schreiben, er selber tue sich mit dem Schreiben schwer.

So betraten sie Denkes Wohnung im Erdgeschoss des Hauses, das Glas wurde wie versprochen gefüllt, Papier und Bleistift lagen bereit. Olivier beugte sich über das Blatt, und Denke hinter ihm begann zu diktieren: »Adolf, du dicker Wanst …«

Unwillkürlich musste Vinzenz lachen, und das rettete ihm das Leben. Denn während er lachte, bewegte er sich zur Seite, und die Hacke verfehlte ihn um wenige Zentimeter, streifte aber noch seinen Kopf. Er war kurz wie bewusstlos. Allerdings kann diese Benommenheit höchstens eine Sekunde gedauert haben. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass Denke gerade zum zweiten Schlag ausholte. Olivier umklammerte den Arm des schweren, aber um einiges älteren Mannes. Sie rangen miteinander, schließlich stürzten sie beide zu Boden. Olivier konnte Denke die Hacke entwinden und lief laut schreiend auf die Straße, wo ihm ein Lehrer, der in der Nähe wohnte, die Hacke abnahm.

Sie gingen noch einmal kurz in Denkes Wohnung, da Olivier bei seiner überstürzten Flucht seinen Hut zurückgelassen hatte. Einige Nachbarn nutzten die Chance, einen Blick in die Wohnung im Erdgeschoss zu werfen. Denke bat sonst nie jemanden zu sich herein. Sie sahen, wie Vatter Denke zitternd an der Wand stand, während sein Gesicht knallrot angelaufen war. Mühsam keuchend brach es aus ihm heraus, Vinzenz habe ihn bestehlen wollen. Während des Kampfes war das Glas umgekippt, und das Bier hatte sich über den Tisch verteilt, war quer über das fast leere Blatt gelaufen. Nur die obere Ecke war noch trocken, und dort stand: »Adolf, du …«

Sonst fiel niemandem etwas Besonderes auf.

Noch am selben Tag wurde der junge Landstreicher dem Amtsrichter vorgeführt, der ihm – ebenso wie die ­Polizisten auf der Wache – keinen Glauben schenkte. Dennoch beharrte er vehement auf seiner Darstellung, weshalb der Richter anordnete, dass auch Vatter Denke in Schutzhaft zu nehmen sei, bis die Vorwürfe geklärt wären. Vinzenz Oli­vier wurde wegen Bettelei zu vierzehn Tagen Haft verurteilt. So konnte er Weihnachten und Neujahr zumindest im Trockenen und einigermaßen sicher im Warmen verbringen und bekam wegen der Feiertage auch besseres Essen als die sonst übliche Gefängniskost.

Ein Fehlurteil, geboren aus Vorurteilen. Es gab in diesem Fall jedoch noch einen weiteren Justizirrtum von wesentlich größerer Tragweite, gegen den sich die Strafe, zu der Olivier verdonnert worden war, ausnimmt wie ein laues Lüftchen gegen einen Orkan. Doch dazu später.

Während der Landstreicher noch vor dem Amtsrichter stand, führten Polizisten unter lautstarkem Protest der Nachbarn Karl Denke ab. Das Wort eines ehrbaren Bürgers gegen das eines Herumtreibers! Andere begannen jedoch, der Polizei auch seltsame Dinge über Vatter Denke zu erzählen. Dazu gehörte, dass Denke seit vielen Jahren regelmäßig in der Herberge zur Heimat wandernden Gesellen und Handwerksburschen auf der Durchreise ein, zwei Glas Bier spendierte und sie anschließend zu sich nach Hause einlud. Eine Frau behauptete: »Ich sah, wie sie seine Wohnung betraten, aber wie sie herauskamen, sah ich nie.« Denkes Tod brachte schließlich alles ans Tageslicht.

Einige Polizisten gingen zur Wohnung des Toten, um den Nachlass aufzunehmen. Seine Geschwister weigerten sich nämlich, für die Bestattungskosten aufzukommen. Schon seit Jahren pflegten sie keinen Kontakt mehr zu ­ihrem Bruder. Als die Beamten seine Papiere durchsuchten, stießen sie auf zahlreiche Ausweise, Reisedokumente und ­Handwerksbücher – etwa von jenen Menschen, die Denke auf ein Bier eingeladen hatte? In einem Schuppen neben der Wohnung fand ein Polizist etliche Zuber und Töpfe voll mit gepökeltem Fleisch.

 

 

II. Das Blut

 

Auf den Tag genau fünfzehn Jahre, bevor Vinzenz Olivier dem Amtsrichter vorgeführt wurde, am 21. Dezember 1909, verschwand aus dem Flecken Neuhof bei Münsterberg die Arbeiterin Emma Sander, die sich gerade auf dem Weg zu ihrer Arbeit im nahe gelegenen Heinrichau befand.

Kurz vor Weihnachten 1909 wurden dann zwischen Neuhof, Heinrichau und später auch in Münsterberg selbst Teile einer weiblichen Leiche gefunden, von denen sich schließlich herausstellte, dass es sich um die sterblichen Überreste der Vermissten handelte. Zuerst stießen Forstarbeiter in einem Waldstück bei Neuhof auf einen menschlichen Torso, dem Kopf, Arme und die Beine ab den Knien fehlten. Da wusste man noch nicht, dass es sich um Emma Sander handelte. Zwei Tage später fand man in einem anderen Wäldchen einen Kopf, daneben lagen die Arme. Angehörige erkannten sie wieder. Wieder zwei Tage darauf wurden ihre Unterschenkel und Füße in der Nähe des Münsterberger Bahnhofs gefunden.

Schon beim Rumpf war den obduzierenden Ärzten aufgefallen, dass es sich um einen vollkommen blutleeren Körperteil handelte. Das galt auch für alle anderen, später aufgefundenen Leichenteile. Der linke Unterschenkel wies noch eine Besonderheit auf: Über die gesamte Länge des Schienbeins bis hinab zu den Zehen hatte der Täter einen breiten Streifen Haut herausgeschnitten. Neben der ungewöhnlichen blutleeren Blässe fiel bei allen Körperteilen auf, dass die Schnitte sauber und glatt und mit chirurgischer Präzision durchgeführt worden waren. Der Mörder hatte die Arme so sachgemäß aus dem Schultergelenk herausgelöst, dass keiner der Gelenkköpfe beschädigt worden war. Die Gerichtsmediziner erkannten das Werk eines Profis.

Ein Metzgermeister, mit dem sich einer der Ärzte unterhielt, sagte, der Tod der Frau könne durch einen sogenannten Hammelstich herbeigeführt worden sein, mittels dessen sich ein Tier nicht nur vollständig ausbluten lasse, sondern auch dergestalt ausblute, dass weder der Schlachter noch das Fell durch Blut besudelt würden. Je länger die Gerichtsmediziner darüber nachdachten, desto wahrscheinlicher erschien ihnen diese Vorgehensweise des Täters.

Zuvor aber musste der Mörder sein Opfer bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt haben, denn neben Strangulationsspuren am Hals waren die beiden Endspitzen des Zungenbeins gebrochen. Die eigentliche Todesursache jedoch musste der Hammelstich gewesen sein. Zu den Merkmalen einer zu Ohnmacht oder Tod führenden Strangulation gehört, dass die Opfer meist die Kontrolle über ihre Schließmuskeln verlieren, was dazu führt, dass sie urinieren und sich einkoten.

Die Schlussfolgerung, zu der die Experten nach der Obduktion kamen, war, dass nur ein geübter Fleischer, Schlachter oder Chirurg die Tat begangen haben könne. Nachdem die Polizei zuerst einige Männer aus der Familie des Opfers verdächtigt hatte, die aber über Alibis verfügten, wurde schließlich Eduard Trautmann aus Neuhof verhaftet. Der Tatverdacht, der letztlich auch zu seiner Verurteilung führte, beruhte auf einer Vielzahl von Indizien. Zeugen sagten aus, er habe Emma Sander einen Heiratsantrag ­gemacht, sie aber habe ihn abgewiesen. Allgemein galt er bei allen, die ihn kannten, als gewalttätig. Eine andere Zeugin, der Trautmann ebenfalls einen Heiratsantrag gemacht haben soll, erklärte, der Beschuldigte habe ihr gedroht: »Wenn du in der Ehe mit mir zankst, mache ich Presswurst aus dir.« Außerdem soll er hinzugefügt haben, dass er ihr den Kopf abschneiden würde, ginge sie ihm auf die Nerven. Leider wurde die Reaktion des Gerichts auf diese Zeugenaussage nicht protokolliert. Doch ein derartiger »Heiratsantrag« dürfte auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Verwunderung gesorgt haben.

Einem anderen Zeugen zufolge hatte Trautmann angeblich geäußert: »Wenn ich die Sander unter vier Augen treffe, dann schlage ich sie tot.« Tatsächlich belastend war jedoch die Aussage eines Großschlachtmeisters aus Breslau, dass Trautmann im Jahr 1892 für vier Monate als sein Gehilfe in der Schlachterei gearbeitet habe und während dieser Zeit wiederholt der Hammelstich praktiziert worden sei. Allerdings werde er von Schlachter zu Schlachter unterschiedlich ausgeführt. Bei ihm, so der Zeuge, sei das ein seitlicher Stich in die Halsschlagader, also kein Schnitt, es gebe nur die Einstichwunde, der Hals werde nicht ganz durchstoßen.

Ein anderer Fleischer, bei dem Trautmann in den 1890er-Jahren als Gehilfe gearbeitet hatte, schilderte, dass in seiner Schlachterei der Hammelstich genauso durchgeführt werde wie bei Emma Sander. Trautmann war also mit der Methode, mit der sie ermordet worden war, bestens vertraut.

Während des langen Indizienprozesses behauptete er hartnäckig, nicht ihr Mörder zu sein. Er sei zwar ein Schurke und schlechter Mensch, aber er habe sie nicht getötet. Doch die Zeugenaussagen und die Indizien reichten dem Gericht in Glatz, um ihn schließlich im Februar 1911 zu zwölf Jahren Zuchthaus zu verurteilen.

 

 

III. Das Böse

 

Die Ärzte, welche die bei Karl Denke sichergestellten Fleischvorräte zwischen Weihnachten und Silvester 1924 untersuchten, kamen zu dem Schluss, dass es sich dabei um Menschenfleisch handele. Inzwischen fand die Polizei immer mehr Beweise, dass der nach außen zwar verschlossene, aber ehrbare Mann, der sich nur durch seine Marotte hervorgetan hatte, reisenden Burschen gerne mal ein Bier zu spendieren, und sich ansonsten nie in Kneipen oder Gasthäusern herumgetrieben hatte, neben seiner von den Münsterberger Bürgern geachteten Existenz, ein weiteres, ein Schattendasein geführt haben musste.

In einem nicht mehr genutzten Stall fanden die Beamten einen Holzzuber, gefüllt mit eingesalzenen Fleischstücken. Unter ihnen lagen das auf den ersten Blick identifizierbare Stück einer behaarten Männerbrust sowie Teile eines menschlichen Unterleibs. Neben dem Zuber stand ein Fass, das menschliche Fingerglieder, Zehen, Röhren- und Gelenkknochen enthielt. Und dann folgte eine grausige Entdeckung auf die nächste.

Eine Sammlung mit dreihunderteinundfünfzig Zähnen wurde sichergestellt. Ein Emailletopf enthielt ausgelassenes Menschenfett. Hautstreifen waren zu Hosenträgern, Gürteln und Schnüren verarbeitet worden. Die Schnüre, mit denen der Täter die Kleiderbündel seiner Opfer zugebunden hatte, bestanden ebenfalls aus menschlicher Haut. Wie sich herausstellte, trug Denke auch in der Arrestzelle Hosenträger und Schnürsenkel aus Menschenhaut.

Unmittelbar vor der Verhaftung hatte er wohl versucht, Beweisstücke zu vernichten. Die Beamten sahen, dass das Zugloch des Ofens mit frischem Lehm verschmiert war, und öffneten es. Im Ofen selbst befanden sich fünfzehn blutverschmierte und mit Streifen aus Menschenhaut zu Bündeln verschnürte Westen. Schließlich zogen sie noch fünf Notizblätter aus dem Zugloch, auf denen Karl Denke einunddreißig Daten mit Namen aufgelistet hatte.

Viele dieser Namen tauchten auch auf einem anderen Zettel auf, der das »Schlachtgewicht« dieser Menschen verzeichnete. In einer weiteren Statistik ermittelte er die Gewichte der einzelnen abgetrennten Körperteile und das daraus gewonnene Fleisch.

Währenddessen befragte die Polizei die Nachbarschaft. Und auf einmal erinnerten sich die Leute an zum Teil viele Jahre zurückliegende Vorkommnisse. Da war davon die Rede, dass Denke immer wieder eimerweise Blut im Hof ausgeschüttet habe, das dann durch Röhren in seinen Garten geflossen sei. Selbst in der schlimmsten Inflationszeit soll er über große Mengen Fleisch verfügt haben. Sie vermuteten, dass er heimlich Hunde schlachtete, was zwar verboten sei, aber deshalb wäre niemand zur Polizei gegangen. Nächtelang hätten die Anwohner Arbeitsgeräusche aus seiner Wohnung vernommen: sägen und hämmern. Doch sie hatten angenommen, er arbeite an Brotkörben, die er auch auf dem Breslauer Markt verkaufe. In etlichen Nächten soll er sich mit seinem vollbeladenen Handkarren in den Stadtwald geschlichen haben, lange dort geblieben und schließlich mit leerem Karren zurückgekommen sein. Also durchkämmten die Polizisten auch diesen Ort und fanden, verborgen von Gebüsch, Gestrüpp und welken Blättern, zahllose menschliche Knochen.

Die gewaltigen Fleischvorräte, aufbewahrt in den unterschiedlichsten Behältern, entsprachen nicht der Anzahl an Knochen. Vor allem fehlten die Köpfe der Opfer, weshalb sich die genaue Zahl der Ermordeten nicht mehr korrekt ermitteln ließ. Auch die Zahnsammlung konnte darüber letztlich keinen Aufschluss geben.

Ein Knochenhändler kam zur Münsterberger Polizei und erzählte, dass Denke ihm vor vielen Jahren eine Schubkarre voller Knochen angeboten habe. Er habe den Ankauf jedoch abgelehnt, da er in ihnen menschliche Knochen zu erkennen glaubte. Weshalb er nicht bereits damals zur Polizei gegangen war, ist nicht überliefert. Auch nicht, ob er und die vielen anderen Zeugen in irgendeiner Weise zur Verantwortung gezogen wurden, die jetzt – da Denke tot war – plötzlich Aussagen machten und dies nicht schon früher getan hatten. Umgekehrt lässt sich die immerhin denkbare Möglichkeit, dass in der Vergangenheit sehr wohl Aussagen vor der Polizei gemacht worden waren, die dann infolge von Behördenschlendrian oder bewusster Vertuschung unter den Teppich gekehrt worden waren, heute ebenfalls weder bestätigen noch ausschließen.

Denkes Notizen, die ganz nebenbei beweisen, dass der Mann sehr wohl schreiben konnte und sich gegenüber seinen Opfern möglicherweise einfältiger gab, als er war, offenbaren zumindest ansatzweise das Ausmaß seiner Taten.

Bei den einunddreißig dort verzeichneten Personen handelt es sich um vier Frauen und fünfundzwanzig Männer. Zum 9. März 1917 notierte er nur die Abkürzung »A. T.«, während der letzte Eintrag, datiert auf den 17. November 1924, freigeblieben ist. Anscheinend hinkte er mit der Statistik seiner Taten hinterher.

Die Liste beginnt mit dem 21. Februar 1903. Der erste Name, der dort auftaucht, lautet »Ida«. Es könnte sich um die seinerzeit als vermisst gemeldete und später für tot erklärte Ida Glauber handeln. Doch der Fall lag damals schon zu lange zurück, um das noch schlüssig nachweisen zu können. Am 21. Dezember 1909 folgt »Emma«. Neben dem dritten Datum, dem 21. Februar 1911, steht: »Köhler 63 – Arbeiter – Rückers«. Dann folgt am 6. März 1912 wieder nur ein weiblicher Vorname, nämlich »Agnes«. Bis zum 24. Februar 1916 handelt es sich dann nur noch um Männer. Denke notierte neben den Vor- und Nachnamen oft auch Angaben zum Wohnort, zum Beruf und die Geburtsdaten. Mit einer »Marie« – verzeichnet vor der bereits erwähnten Abkürzung A. T. – taucht dann der letzte weibliche Name in der Liste auf.

Er achtete auch sonst auf seine Buchhaltung und notierte die Kosten für das Bier, das er den Landstreichern und wandernden Handwerkern spendiert hatte, bevor er sie in seine Wohnung lockte. Der Unterschied zwischen Handwerkern, die auf der Suche nach Arbeit von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt wanderten, und Landstreichern dürfte in der wirtschaftlich äußerst schwierigen Situation der 1920er-Jahre fließend gewesen sein.

Viele der männlichen Opfer ließen sich schnell ermitteln. Ihre Namen auf Denkes Liste deckten sich mit den in seiner Wohnung gefundenen Ausweisen. Sie alle galten seit den von Denke notierten Daten in ihren Heimatgemeinden als vermisst. Daten gleich Taten. Unter den vielen Kleiderbündeln befanden sich Jacken und andere persönliche Gegenstände, die von einigen Hinterbliebenen eindeutig als Besitz der Verschwundenen identifiziert werden konnten. So erkannte etwa die Ehefrau des Fellhändlers Rochus Pawlik aus Breslau das Jackett ihres Mannes anhand eines Flickens, mit dem sie ihm kurz vor seinem Verschwinden von innen eine der Taschen ausgebessert hatte. Da seine Papiere nicht in Denkes Wohnung gefunden wurden, Pawlik aber seit der letzten Novemberwoche 1924 als vermisst gemeldet war, handelt es sich bei ihm wahrscheinlich um das einunddreißigste und letzte Opfer, dessen Platz auf der Liste bereits vorgesehen war.

In Denkes Aufzeichnungen machte der Name »Emma« die Beamten stutzig, da der dort verzeichnete 21. Dezember 1909 mit dem Verschwinden der Arbeiterin Emma Sander aus Neuhof zusammenfiel, deren Leiche man wenig später zerstückelt an verschiedenen Orten, so auch in der Nähe von Denkes Wohnung, gefunden hatte. Der für den Mord an Emma Sander zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilte Eduard Trautmann war ein Jahr, bevor Karl Denkes Mordserie entdeckt wurde, freigelassen worden. Im Rahmen der Neuermittlungen zum Fall Emma Sander stellten sich immer mehr Ungereimtheiten heraus, die das Gericht seinerzeit übersehen hatte. Etwa die Berechnungen, wann genau Trautmann die Tat überhaupt hätte begehen können. Dabei blieb letztlich nur ein Zeitfenster von etwa fünf Minuten übrig, für das Trautmann kein Alibi hatte. Fünf Minuten, die für ein solches Verbrechen niemals ausgereicht hätten. Immerhin hatte der Täter das Opfer mit dem Hammelstich völlig ausbluten lassen, nachdem er es zuvor bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hatte.

Zudem hatten Zeugen, deren Aussagen aber im Verfahren gegen Trautmann nicht herangezogen worden waren, Vatter Denke in der Nähe eines der Fundorte der Leichenteile beobachtet – mit einem Handkarren.

Hinzu kam, dass auch auf Denke zutraf, was bei der Verurteilung Trautmanns am schwersten gewogen hatte. So bezeugte ein Fleischer, dass Denke vor Jahren in seiner Metzgerei ausgeholfen und sich insbesondere für das Zerteilen des Schlachtguts interessiert hatte. Auch hier wurde der Hammelstich in der beschriebenen Form durchgeführt.

Nicht zuletzt deutete Denkes penible Buchführung auf seine Täterschaft im Fall Emma Sander hin. Während auf der chronologischen Opferliste »Emma« an zweiter Stelle auftaucht, fehlt auf der Gewichtsliste zu ihr jegliche Angabe. Sie war die Einzige, deren Fleisch er nicht verarbeitet und gegessen hatte. Das könnte daran liegen, dass Denke, als er mit seinem grausigen Treiben begann, bei ihr, dem zweiten von ihm aufgelisteten Opfer, noch ungeübt im »Handwerk des Tötens« war. Die mit ihrem eigenen Urin und Kot verschmutzte Tote hatte ihn möglicherweise so angeekelt, dass er auf die Zubereitung ihres Fleisches verzichtet hatte. Einzig den Hautstreifen, den er von ihrem Unterschenkel abgezogen hatte, schien er behalten zu haben.

Auf den Marmorklippen

Er schildert darin den Anblick einer Scheuer, die auf einer Rodung, dem Köppelsbleek, stand. Zu den ersten Eindrücken gehörten ein Schädel, der an die Wand der Scheune genagelt worden war, sowie weitere Totenköpfe, die am Rand der Lichtung in den Bäumen hingen und zum Teil schon Moos angesetzt hatten; dann eine auf eine Schinderbank im Innern der Scheuer aufgespannte Haut sowie Fliegenschwärme über undefinierbaren bleich-schwammigen Massen, die weiter hinten auf »dem finstren Grund« lagen, während draußen bereits ein Geier »mit ausgezackten Schwingen« niederging. Schließlich der Anblick eines »Männleins« im grauen Rock, das ein »Liedchen pfeifend« unter »Pochen und Schaben« an der Schinderbank arbeitete, wozu »die bleichen Schädel an den Bäumen im Chore klapperten … Zugleich trieb mit dem Winde ein zäher, schwerer und süßer Hauch der Verwesung an …«