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Kirschrot

Lisa Gibbs

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Kirschrot
Lisa Gibbs

© 2016 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864436376
ISBN eBook-mobi: 9783864436383
ISBN eBook-epub: 9783864436390

www.sieben-verlag.de

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Abby Hobbs hatte ihren Hintern eigentlich gemocht.

Es war eines der wenigen Körperteile, mit denen sie nicht gehadert hatte. Vielleicht, weil sie ihn selten angesehen hatte.

Bis jetzt.

Jetzt stand sie vor dem bodenlangen Spiegel in der Arztpraxis von Dr. Stew in Detroit und betrachtete über ihre Schulter ihre linke Pobacke. Sie war nie der Typ Frau gewesen, der seinen Arsch gekonnt in Szene setzte, sie trug lieber Panties statt Tangas. Aber gerade hatte auch sie ihre Unterhose zwischen ihre Pobacken geklemmt, um das volle Ausmaß der Neuerung zu betrachten.

„Die Insulinpumpe ist gut eingestellt. Sie müssen nur regelmäßig ihren Blutzucker messen und Einheiten abgeben. Gesunde Ernährung ist natürlich ab jetzt Pflicht. Das ist Ihnen doch klar, Ms. Hobbs?“

Sie murmelte irgendein Geräusch, aber es schien ihm auszureichen.

„Momentan ist an Ihrem Po einfach das meiste Fettgewebe, deshalb rate ich Ihnen, den Port dort zu tragen.“

Fett. Alles klar.

Sie begutachtete den münzgroßen Katheter-Port, der auf ihrer linken Pobacke prangte und in einen dünnen Schlauch mündete, der Insulin von einer Pumpe in ihren Körper schleuste.

„Später können Sie den Port auch am Bauch, Oberarm oder am Schenkel tragen.“

Interessanter Vorschlag.

Sicher, Dr. Stew konnte nichts dafür, dass sie Diabetes bekommen hatte. Trotzdem konnte ihr der Tipp gestohlen bleiben. Wenn sie in ihrem Leben schon auf dieses Teil angewiesen war, dann war ihr Arsch schon der richtige Platz dafür.

Sie zog ihre Unterhose zurecht, ihre Hose nach oben und steckte die pagergroße Pumpe in ihre Hosentasche. Während sie versuchte, den Schlauch durch ihren Gürtel zu fädeln, reichte ihr Dr. Stew die Hand.

„Sie müssen erst einmal wieder Gewicht zunehmen, Abby. Wissen Sie denn schon, wie es weitergehen wird?“

Nein, sie hatte keine Ahnung. Sie hatte noch nicht einmal begriffen, was in den letzten Wochen passiert war.

Sie schüttelte kurz den Kopf, versuchte ein knappes Lächeln und verabschiedete sich.

„Und auf die gesunde Ernährung achten, ja?“

Abby drehte sich nicht mehr um, biss sich auf die Lippen und ging.

„Hi Jack. Einen doppelten Scotch, bitte.“

Abby schwang sich auf den in die Jahre gekommenen Barhocker und hob die Hand, als Jack zu einer Frage ansetzte. „Ich habe ein Kabel am Hintern, mein Job ist im Arsch. Also frag nicht.“

Jack hob die Augenbrauen und wagte ein mildes Lächeln, als er ihr das Glas Scotch vor die Nase setzte.

„Da dreht sich aber momentan viel um dein hübsches Hinterteil.“

Abby kippte den Scotch in einem Zug runter und knallte das Glas hustend wieder auf den Tresen. „Noch einen.“

Jack zuckte die Schultern und goss nach.

Sie mochte Jack, den Besitzer der Bar, aber sie hatte keine Lust zu reden, sie brauchte einen Augenblick Zeit, um zu begreifen, was alles geschehen war.

Drei Jahre lang war sie auf der Michigan State Police Training Academy gewesen, hatte sich in die Ausbildung gestürzt, trainiert und gelernt. Jetzt war auf einen Schlag alles vorbei. In den letzten Wochen war sie immer schwächer geworden. Obwohl sie sonst eine der sportlichsten Kadetten war, wurde ihre Kondition immer schlechter.

Sie magerte mehr und mehr ab und trank unglaublich viel.

Diagnose Diabetes Typ Eins.

Untauglich, offiziell galt sie sogar als behindert.

„Ms. Abby. Alles in Ordnung bei Ihnen? Wo ist Grandpa Graham?“

Big Sam stand mit einem Wischmopp bewaffnet in der Tür der Herrentoilette und warf einen skeptischen Blick auf das Glas in ihrer Hand.

Big Sam hieß nicht nur so, er war es. Er war mindestens zwei Meter groß und von gewaltiger Statur. Vom Wesen her konnte er keiner Fliege etwas zuleide tun.

Abby hatte den mittlerweile über vierzig Jahre alten Afroamerikaner immer gemocht.

Sie stellte das Glas ab, bezahlte und lächelte Sam an.

Es war ihr fast unangenehm, dass er sie so sah.

„Alles in Ordnung, Sam. Ich hole Graham gleich ab, er spielt eine Partie Schach mit einem Freund.“

Diese Antwort gefiel Sam, er lächelte sie an und machte sich mit dem Mopp wieder an die Arbeit.

Abby lebte, seit sie fünf war, bei ihrem Großvater Graham in Detroit. Ihre Mutter hatte sie bei ihm abgeladen, bevor sie zurück nach Kuba gegangen war. Graham war ihr Großvater väterlicherseits. Er sprach nie über seinen Sohn, und da Abby ihren Vater niemals zu Gesicht bekommen hatte, vermied sie das Thema. Vielleicht auch, weil die Wut, die sie hatte, zum Verdrängen ausreichte.

Graham hatte gut für sie gesorgt, mittlerweile war sie sogar der Meinung, dass ihr nichts Besseres hätte passieren können. Umso wichtiger war es ihr gewesen, dass sie ihm nicht noch länger auf der Tasche lag. Sie hatte sich beweisen wollen, dass sie den Sprung schaffen konnte. Unabhängig, einen eigenen Job. Erwachsen genug, um sich irgendwann um ihn zu kümmern.

Sie blieb vor dem Eingang des Sanatoriums stehen und suchte den Garten vor dem Gebäude ab.

Graham saß mit einem anderen Mann vor einem Schachbrett auf einem kleinen Tisch. Vor fünf Jahren hatte er die Diagnose Demenz erhalten. Zuerst hatte er es zu verstecken versucht, doch ihr waren die Aussetzer schon vorher aufgefallen.

Da war dieser Mann, dem sie so unfassbar viel zu verdanken hatte, jetzt hätte sie etwas zurückgeben können und was passierte?

Sie versagte auf ganzer Linie.

Sie setzte ein Lächeln auf und ging zu dem Tisch.

„Abby, ist es schon so spät? Hast du dieses Ding bekommen?“

Sie nickte, küsste Graham auf die Stirn und begrüßte den anderen Spieler, bevor sie die Pumpe kurz aus der Tasche zog und etwas ungelenk damit herumwedelte.

„Alles okay. Wollen wir gehen? Oder braucht ihr noch einen Moment?“

„Ha, dieser Schweinehund braucht Jahrzehnte, um diese Partie zu spielen.“ Graham stand auf und nahm seinen Hut, während der Gegenspieler nur mürrisch abwinkte.

„Komm, lass uns gehen.“ Graham nahm ihren Arm und legte ihre Hand auf seine.

Das machte er oft. Es hatte den Anschein, als würde er mit ihr schick flanieren. Dabei setzte er seinen Hut leicht schräg, und immer wenn sie auf der Straße jemanden trafen, grüßte er höflich, indem er seine Hand zur Hutkrempe führte. Dabei machte er keinen Unterschied zwischen Sergio dem Pizzaverkäufer oder Rosa, der leicht molligen Prostituierten des Viertels.

So war er einfach, und dafür mochten ihn die Leute in Downtown.

„Keine zehn Pferde bekommen mich in so ein obskures Sanatorium. Der arme Albert, er ist noch schlechter im Schach geworden, und das will was heißen. Wie hast du es nur die Tage in diesem Krankenhaus ausgehalten, Kleines?“

Er hatte ihren Wunsch respektiert und sie nicht besucht. In der Woche Krankenhaus hatte sie ihn vermisst, aber sie hatte auf keinen Fall gewollt, dass er sie so sah. Erst als er sie am Telefon gelöchert hatte, hatte sie ihm von der Diagnose erzählt, mehr jedoch nicht.

Ihr Zögern dauerte zu lange, er runzelte die Stirn und sah sie verschwörerisch an. „Kleines, erzähl mir alles. Die Chancen stehen gut, dass ich es sowieso wieder vergesse.“

Sein Grinsen war ansteckend.

Da gingen sie nun die Straße entlang, ein Demenzkranker und eine Diabetikerin, ohne Job, dafür aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

„Ich kann die Polizeiausbildung vergessen.“

Graham raunte ihr nur bestätigend zu und streichelte ihren Handrücken, als wäre ihm diese Tatsache klar gewesen.

„Ich kann etwas anderes machen … es wird schon gehen. Mrs. Hooper sucht noch jemanden zum Haarewaschen für ihren Laden.“

Er runzelte die Stirn und stieß ein leises Zischen durch die Zähne.

„Haare waschen … Wenn es das ist, was du willst.“

Nein, natürlich war es das nicht und Graham wusste das.

Sie hatte die Vorstellung gemocht, für die Polizei zu arbeiten. Nicht, weil es ein sicherer Job war oder sie auf Uniformen stand. Sie wollte etwas tun, das ihr sinnvoll und richtig vorkam.

Wer in dieser Ecke Detroits aufwuchs, geriet schnell in die falschen Kreise. Downtown gab es viel Kriminalität. Dealer und Schläger, von der Mafia ganz zu schweigen. Man konnte noch so gut behütet aufwachsen, spätestens in der Pubertät, wenn man sich aus dem Haus stahl, um auf Konzerte zu gehen, kam man mit dem ganzen Mist in Kontakt.

Das Seltsame war, die Behörden und die Polizei wussten davon. Graham hatte oft davon gesprochen, wie korrupt das System war. Dass alles an dem schlechten Bildungssystem, der Arbeitslosigkeit und den Politikern lag. An der Frustration der Menschen, die sich einfach nicht mehr zu helfen wussten. Der letzte Bürgermeister saß immer noch im Knast wegen Korruption.

Für sie war Cop zu werden, zumindest ein Weg etwas zu verbessern. Etwas von dem ganzen Mist von den Straßen zu bekommen und das System zu bekämpfen.

Graham hatte niemals Witze über den Wunsch seiner Enkelin gemacht. Er hatte sie gefördert, wo es ging.

„Es wäre zumindest ein Job, bis ich was anderes gefunden habe.“

Graham blieb stehen, klopfte auf ihre Hand und deutete nach oben auf das heruntergekommene Schild. Mr. Hobbs – House Cleaning Services stand in vergilbten Lettern über den Stufen des Eingangs seines Hauses. Das alte Backsteingebäude war wie so viele in den vergangenen Jahren stark zerfallen, früher war es noch der Stolz der Straße gewesen. Oben wohnten sie, im Erdgeschoss hatte er früher sein Geschäft untergebracht. Graham hatte den Laden aufgegeben, als seine Diagnose feststand. Seitdem lebte er von seinen Ersparnissen, und Abby hatte keine Ahnung, wie lange die noch reichen würden.

„Manchmal geht das Leben eigenartige Wege. Da schließen sich Türen, anderswo gehen welche auf … stand mal auf einem Glückskeks.“

Abby lächelte ihn an und ging mit ihm die alten Stufen nach oben.

„Ich mache uns Pasta, in Ordnung?“

Sie rief durchs halbe Haus, während sie in den Küchenschränken nach der Dose passierter Tomaten kramte.

Als die Nudeln gekocht waren und Graham immer noch nicht am Tisch saß, nahm sie die Töpfe vom Herd und ging in den alten Flur. Doch anstatt die Treppe hochzugehen und nach Graham zu suchen, blieb sie vor der Tür des alten Ladens stehen.

Es war die einzige Tür im Haus, an die sie früher immer klopfen musste, bevor sie reingehen durfte.

Ein leicht wehmütiges Lächeln stahl sich auf ihre Miene, als sie den Schlüssel drehte und die Tür öffnete. Früher hatten sich hier immer alle getroffen. Manchmal, wenn sie von der Schule gekommen war, hatte sie den Trubel schon von der Straße aus durch das große Fenster sehen können. Bei Hobbs bekam jeder einen Kaffee, man diskutierte über alles und besprach seine Sorgen.

Eigentlich hätte Graham anstelle eines Hausreinigungsservice besser ein Café betreiben sollen.

Sie schaltete das Licht an.

Es war verrückt, alles sah aus wie früher, als hätte man die Zeit zurückgedreht.

In der Mitte des ungefähr zwanzig Quadratmeter großen Raumes stand ein runder Besprechungstisch aus Holz. Rundherum unterschiedliche Stühle. An den Wänden standen hohe weiße Schränke, in denen Graham seine Aktenordner stapelte. Das ganze Putzmittel und Equipment stand in der Garage.

Dann gab es noch den kleinen Tresen, eigentlich das einzige Möbelstück, das an ein Büro erinnerte. Früher war ihr der Tresen hoch vorgekommen. Jetzt sah er einfach klein und etwas deplatziert aus. Nur ein Telefon, ein Kugelschreiber und ein Abreißblock lagen darauf.

Sie ging zum Fenster und linste durch die Scheibe, während sie die alte Leuchtschrift anschaltete.

Alle Buchstaben leuchteten noch.

Vielleicht kam es gar nicht darauf an, welchen Beruf man machte, sondern wie man ihn machte.

Graham hatte nie unglücklich gewirkt oder sich dafür geschämt, dass er fremde Häuser putzte. Wieso auch?

Es war schade, dass der Laden einfach geschlossen worden war.

Graham hatte etwas aufgebaut, und dann hatte man einfach den Schalter ausgemacht und die Tür geschlossen.

Was, wenn sie die Tür wieder öffnen würde?

Aber sie hatte keine Erfahrung in diesem Dienstleistungsbereich. Auf der Academy hatten sie Kriminalistik, Schießtraining, Sport … Alles Dinge, für die sie gelernt und trainiert hatte. Um die es auch bedauerlich wäre, wenn sie einfach verlernt werden würden. Wie bei einer Metamorphose, in der aus einer Puppe ein Schmetterling wurde, schlüpfte langsam eine Idee aus einem Gedanken.

Was, wenn sie beide Teile verbinden würde?

Wenn sie das anbieten würde, was sonst niemand machte?

Tatorte reinigen.

„Um Himmels willen, was machst du da?“

Abby zuckte zusammen, als Graham mit festen Schritten auf sie zukam und schroff auf den Schalter schlug, um die Leuchtschrift auszumachen. „Die darfst du nicht anmachen.“ Er war sauer.

„Warum?“

Er suchte kurz nach einer Erklärung, wischte die Frage dann aber wortlos beiseite und ging zur Tür zurück.

Irritiert blieb sie einen Augenblick stehen. Was war das denn gewesen? Sie kam sich vor, als hätte sie die Familienjuwelen verhökert oder sonst was gemacht.

„Ich bin furchtbar hungrig …“, murmelte er.

Sie folgte ihm aus dem Laden. Er löschte das Licht und schloss hinter ihnen ab. „Hattest du nicht was von Nudeln gesagt?“

Fünf Minuten später saßen sie am Tisch, aßen Pasta und sprachen kein Wort. Wahrscheinlich hatte er sie nur angefahren, weil ihm der Laden viel bedeutet hatte und es ihm schwergefallen war zu schließen. Vielleicht war da jede Erinnerung ein bisschen Salz für die Wunde. Komisch war sein Verhalten trotzdem, aber es war auch wiederum Nahrung für ihre Idee. Es wäre möglich, dass sich Graham sogar freuen würde, wenn sie den Laden wieder aufmachen würde. Oder er würde ernsthaft an ihrem Verstand zweifeln …

Erst als sie das Besteck beiseitelegten, räusperte sich Abby. Sie hatte nicht die richtigen Worte gefunden, aber noch längeres Schweigen war die reinste Folter.

„Tatortreinigung!“ Sie hatte zwar ungefähr fünfzig passende Satzanfänge im Kopf, entschied sich dann aber für den spontanen Start. Leider sprudelte das Wort so schnell aus ihrem Mund, dass es eher so klang, als hätte sie ein Problem mit ihrer Zunge.

„Was?“ Graham sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Tatortreinigung“, wiederholte sie deutlich.

Seine Miene änderte sich nicht. Auch nicht, als sie ausholte und ihm erklärte, wie sie auf die Idee gekommen war. „So könnte man beide Berufsfelder kombinieren“, beendete sie ihre Erklärung. Sie stand auf und räumte den Tisch ab.

Seine Meinung war ihr immens wichtig, sie hatte Angst davor, dass er die Idee lächerlich fand. Eine gefühlte Ewigkeit saß er einfach am Tisch und schwieg.

„Okay.“

Mit einem Poltern fiel Abby der Teller in die Spüle. „Was okay?“, fragte sie unsicher. Sie trocknete ihre Hände ab und ging zum Tisch.

„Ich schenke dir den Laden. Die Idee ist außergewöhnlich, aber gut. Mach es!“ Er stand auf und machte Anstalten zu gehen.

„Ist das dein Ernst?“ Sie hatte mit Kritik, einer Diskussion oder sonst was gerechnet.

„Was denn sonst?“ Er nickte ihr zu. „Du kannst den Transporter nutzen, die Reinigungsmittel …“ Für einen Augenblick verfolgte er einen Gedanken, den er nicht laut aussprach.

Vielleicht wurde ihm klar, dass das ein ziemlich dreckiger und morbider Job war.

„Aber die Leuchtschrift muss erneuert werden, du brauchst Werbung und wahrscheinlich ein Haufen dieses neuen technischen Zeugs, oder?“

„Na ja ein Rechner wäre gut … aber das kommt mit der Zeit alles …“

O Gott, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie musste auch erst recherchieren, wie man so ein Geschäft am besten aufzog. Ob, und wenn wer so etwas in der Richtung überhaupt in Michigan anbot. Warum hatte sie plötzlich eine so trockene Kehle?

„Die Pasta!“

„Was ist damit?“ Graham sah etwas verstört aus der Wäsche.

Abby fummelte die Pumpe aus ihrer Hosentasche und gab Einheiten Insulin ab. Daran würde sie sich niemals gewöhnen, dass sie an alle Kohlenhydrate denken musste. Damit wurde jedes Essen zu einer Erinnerung an ihr neues Handicap. Es war nicht einmal etwas, das man sehen konnte. Keine Narbe, mit der sie prahlen konnte.

„Nein, ich …“

„Aber du sagtest doch was von der Pasta.“

„Ich muss darüber nachdenken.“

In ihrem Kopf vollführten die Gedanken regelrechte Purzelbäume.

„Tu das.“ Graham ging in den Flur.

Bevor er außer Hörweite war, fiel ihr auf, dass sie sich nicht einmal bedankt hatte.

„Danke, Grandpa. Das würdest du wirklich machen? Mir deinen Laden geben?“

Im schlecht beleuchteten Flur konnte sie nur seine Silhouette erkennen.

„Das habe ich gerade getan. Und eines kannst du mir glauben, Kleines. Es ist eine unglaubliche Ehre für mich, ich vertraue dir und bin unendlich stolz auf dich.“

Es zog ihr alle Luft aus den Lungen, nicht nur weil er das sagte, sondern weil er es so liebevoll sagte. Er ging weiter in seine Bibliothek und zog die Tür hinter sich zu. Seine Worte erleichterten sie und schufen ein weiches Gefühl voll neuer Energie. Sie ging in ihr Zimmer, zog ihre Sachen aus und vergaß die Pumpe aus der Tasche zu nehmen. Ein ziehender Schmerz an ihrem Po erinnerte sie daran. Fluchend versuchte sie, den Schlauch aus dem Gürtel zu fädeln und sich die Hose von den Beinen zu schütteln. Ihre Füße verknoteten sich in den Hosenbeinen, und sie fiel der Länge nach auf den Holzfußboden. Für einen Augenblick blieb sie einfach liegen und atmete tief durch. Nichts konnte ihr heute Abend diesen Anflug von Euphorie nehmen. Ruhig stand sie wieder auf, nahm die Pumpe ab und ging duschen. Danach stieg sie direkt ins Bett.

Vielleicht war das eine Chance.

Graham hatte gesagt, außergewöhnlich, aber gut. Das war ein Anfang.

*

Nolans Finger brannten, als er den Plastikkaffeebecher in der Hand haltend auf dem menschenleeren Flur des Detroiter Police Departements stand. Er ging zu der Tür, auf der ein namenloses Schild prangte, und öffnete.

Leer.

„Detective Nolan, das Departement hat noch nicht mit Ihnen gerechnet.“ Ein junger uniformierter Polizist stürmte hinter ihm in den Raum. „Das Mobiliar, die Technik, es wird erst morgen geliefert. Ich bin Officer McRooster.“ Er streckte ihm seine Hand entgegen, dann deutete er in das Zimmer. „Ihr Büro.“

Nolan stellte den zu heißen Kaffee auf dem Fensterbrett ab und gab McRooster die Hand.

„Warum sind Sie hier?“

Perplex blieb McRooster vor ihm stehen und zog die Augenbrauen nach oben.

„Eine Neuigkeit spricht sich hier schnell rum, wissen Sie?“

Meistens wurden solche Neuerungen wie ein neuer Kollege auch erst mal beäugt, gerade bei der Polizei. Es gab feste Teams, die langjährig zusammenarbeiteten, da war ein neuer Detective vor allem eines: Jemand der störte und dem man zeigen musste, wie der Hase lief. Nolan hatte die längste Zeit undercover gearbeitet. Ihm war dieses Gerangel um Macht und Position ziemlich fremd. Sein Job war ihm wichtig, alles andere war gelinde gesagt scheißegal.

„Ich halte nicht viel von Gerede.“ Und er hielt noch weniger von um den heißen Brei herumreden. „Wo sind hier das Trainingsareal und der Schießstand?“

Interessanterweise nickte McRooster lächelnd. Dann deutete er in die Richtung, in die er ihm folgen sollte.

„Es geht mich ja nichts an, Detective. Aber Sie kommen aus LA, nicht? Was verschlägt Sie nach Detroit?“

Er folgte Rooster einen Gang entlang, bis sie vor einer Panzertür anhielten.

„Sie haben recht. Es geht Sie nichts an.“ Er nickte Rooster zu und ging in den Übungsbereich.

Seiner Meinung nach erkannte man sein Dienstumfeld besonders gut an den internen Einrichtungen. Wenn der Schießstand gut besucht und sauber war, war das ein gutes Zeichen. Dieser hier war fast leer.

„Nolan?“

Er nickte dem älteren Mann, der hinter Rooster aufgetaucht war, zu.

„Chief Nock. Gut, dass Sie schon da sind …“ Der Chief reichte ihm kurz die Hand, dann lief er auch schon los und bedeutete ihm, dass er ihm folgen sollte. „Falk war nicht gerade begeistert, Sie zu verlieren.“

Falk, sein ehemaliger Chief, hatte lange versucht, sein Versetzungsgesuch zu ignorieren. Was eigenartig war, da sie oft genug aneinandergeraten waren.

„Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, gleich einzusteigen. Wir haben eine tote Nutte und sind unterbesetzt. Sie können Rooster mitnehmen, er hat mit den Kollegen vor Ort gesprochen.“

Rooster lächelte ihn immer noch an, während er Wagenschlüssel hochhielt.

Nolan schüttelte den Kopf.

„Wir nehmen meinen Wagen.“

Er arbeitete gern allein, es ging nicht um Rooster persönlich, er war einfach ein Einzelgänger.

„Das ist ein normaler alter Chevy.“ Rooster stand wie vom Donner gerührt neben Nolans schwarzem Chevy und sah ihn irritiert an.

Keine Ahnung, was der erwartet hatte.

„Wo ist der Tatort?“ Unbeeindruckt stieg Nolan in seinen Wagen.

„Temple Street, fünf Minuten von hier.“ Rooster schnallte sich hastig an, während Nolan den Wagen startete.

Das Temple Hotel lag an der Temple Street, relativ verlassen neben einer Hochhausruine. Wie ein schlecht gesetzter Offkommentar erklärte Rooster, was er von den Kollegen im Vorfeld erfahren hatte. „Eine billige Absteige. Eher Drogensumpf als Unterkunft. Das Opfer ist weiblich, Mitte dreißig, sie wurde wohl erschlagen.“

„Wer sagt das?“

Kein Gerichtsmediziner würde so eine vage Aussage über die Todesursache eines Gewaltverbrechens machen.

„Ein Kollege vor Ort, der den Tatort gesichert hat.“

„Wo bleibt die Gerichtsmedizin?“

„Ist unterwegs.“

Nolan parkte auf der Straße, stieg aus und sah sich den Hof an. Ein Polizeiwagen parkte neben dem Müllcontainer. Was zur Hölle hatte der Kollege gesichert? Hier war nicht mal eine Absperrung.

„Wer hat das Opfer gefunden?“

„Der Betreiber des Hotels. Das Zimmer ist wohl in einem ziemlich beschissenen Zustand.“

„Ich will ihn sprechen.“

„Jetzt?“ Rooster sah ihn irritiert an.

„Jetzt.“

„Aber Sie haben sich das Zimmer noch nicht angesehen.“

„Darum geht es. Ich möchte ihn jetzt sprechen und dann noch einmal, wenn ich mir den Tatort angesehen habe.“

Rooster zuckte die Schultern und holte den Zeugen.

Auf dem heruntergekommenen Areal gab es keine Kameras, auch in der Umgebung nicht. Vielleicht konnte man die Tankstellen und Geldautomaten in der Nähe überprüfen, aber das Ergebnis wäre zu uneindeutig. Entweder dieser Ort war Schauplatz einer Straftat im Affekt geworden oder er war vorsätzlich ausgesucht worden. Wenn er einen Mord planen würde, dann wäre das hier kein schlechter Platz dafür.

„Detective, das hier ist der Zeuge, der die Frau gefunden hat.“

Neben Rooster lief ein untersetzter Weißer Ende vierzig, Glatze, weißer Ziegenbart, dreckiges Muskelshirt, karierte Freizeithose.

„Kannten Sie das Opfer?“

„Nein, hab sie noch nie gesehen.“

„Sie vermieten die Zimmer stundenweise?“ Der Hotelbetreiber nickte und zog die Augenbrauen misstrauisch zusammen.

Nolan fragte weiter: „Wer hat bezahlt? Ich nehme an, dass Sie den Freier nicht gesehen haben?“

Wenn er jemanden gesehen hätte, hätte er es längst erwähnt.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Da war niemand. Die kam rein, bezahlte bar für fünf Stunden. Danach kam keiner mehr.“

„Wo ist das Zimmer?“

„Sie wollte eines ganz oben.“

„Das heißt, Sie haben nichts gehört?“

Wieder schüttelte er den Kopf. „Scheiße, nein. Die machte einen guten Eindruck, nicht wie so eine Junkiebraut, wissen Sie? Ich habe gedacht, okay Mann, die macht vielleicht ihr eigenes Ding und hat keinen Bock, dass ihr Zuhälter was mitkriegt.“

„Woher wussten Sie, dass sie eine Prostituierte ist?“

Der Mann stutzte einen Augenblick, dann zuckte er die Schultern. „Keine Ahnung.“

Er log.

„Wann hat sie das Zimmer genommen?“

„Etwa sieben Uhr gestern Abend.“

„Sie hatte das Zimmer doch nur für fünf Stunden gemietet, aber Sie haben erst heute um neun angerufen.“

„Ist nicht unüblich, dass jemand überzieht, dann muss nachgezahlt werden.“

Hier stimmte was nicht.

„Sie waren nicht hier.“ Nolan sprach den Gedanken laut aus und sah ihn im Gesicht des Mannes bestätigt.

„Sie haben die Frau abkassiert und waren danach gar nicht mehr hier, sonst wäre Ihnen aufgefallen, dass gar kein Freier gekommen war. Warum sonst sollte eine Prostituierte allein länger als fünf Stunden auf dem Zimmer bleiben und nachzahlen.“

„Ich war eine Stunde weg, ich hatte was zu erledigen.“

Nolan nickte und wies den Mann an, vor Ort zu bleiben.

Dann ging er mit Rooster im Schlepptau ins Hotel.

„Lassen Sie den Müllcontainer sichern.“

Rooster nickte, während er Nolan die Treppe hinauffolgte. Aus Zimmer einundzwanzig kam ihnen ein uniformierter Kollege entgegen. Kreidebleich im Gesicht nickte er ihnen zu. Die weibliche Leiche lag auf dem Bett, sie wirkte platziert. Das war das Erste, was ihm auffiel. Um das Bett herum war überall Blut. Auf dem Boden, an den Wänden. Dafür war wenig davon auf dem Bett. Und nicht eine Spur davon auf ihrem weißen Kleid. Es war etwas verdreckt, aber sie hatte es definitiv nicht während eines Kampfes getragen. Die Frau war blondiert, der dunkle Ansatz sichtbar. Eine große, klaffende Wunde am Kopf färbte das Laken unter ihr rot. Ein paar vereinzelte Hämatome im Gesicht, am Hals, Anzeichen einer Strangulation.

„Wurde eine Waffe gefunden?“

„Nein, Sir.“

„Auch kein dünnes Seil?“

Wieder nur ein Kopfschütteln.

„Wo bleibt die Spurensicherung?“

Rooster wurde immer kleinlauter. „Ist unterwegs.“

„Genauso wie die Gerichtsmedizin?“

Nolan wusste, dass Rooster nichts dafürkonnte, aber langsam kam der Verdacht auf, dass die Jungs hier nicht schnell arbeiteten oder dass sie den Fall nicht ernst nahmen.

„Die Frau wurde gewürgt. Sie hat sich gewehrt, erst dann wurde sie erschlagen. Dann hat man sie post mortem angezogen und hierher gelegt.“ Angesichts ihres Körpergewichtes handelte es sich wahrscheinlich um einen männlichen Täter.

Während sich Nolan über ihr Gesicht beugte, fragte Rooster: „Warum sollte man so was machen? Sie anziehen?“

„Weil er es schön findet. Das ist kein Lippenstift, auch kein Blut. Da ist was auf ihren Lippen.“

„Die Gerichtsmedizin ist da.“

Der ältere Gerichtsmediziner, der Nolan angenehm wortkarg und sachlich vorkam, bestätigte seine Vermutung.

„Tod durch dumpfe Gewalteinwirkung am Hinterkopf. Eingetreten zwischen einundzwanzig und null Uhr.“

„Dann war der Penner länger weg als eine Stunde.“ Roosters Aussage ließ den Gerichtsmediziner unbeeindruckt.

Aber Nolan musste ihm recht geben, den Spuren nach zu urteilen, musste es laut geworden sein. Der Hotelbetreiber hätte etwas hören müssen, also war er nicht hier, als es passiert war.

„Diese Substanz auf den Lippen muss ich ins Labor schicken. Die endgültigen Untersuchungsergebnisse habe ich morgen im Laufe des Tages für Sie.“

Als der Gerichtsmediziner den Arm der Toten anhob, fiel Nolan eine kleine Tätowierung unter ihrem Ellbogen auf.

„Was ist das?“

Es sah aus, wie zwei übereinander geschobene Halbkreise, die in ihrer Mitte eine Blattform bildeten.

„Das ist nicht unüblich, eine Art Brandzeichen. Die Zuhälter markieren ihre Mädchen. Manche sind neuerdings sogar gechipt.“

Daher wusste der Besitzer des Motels, dass sie eine Prostituierte gewesen war. Die Spurensicherung kam in Form von zwei Kollegen.

„Sichern Sie den Tatort. Ich komme morgen wieder.“

Rooster brummte zustimmend, wies die Kollegen an und sah wieder zu Nolan. Mit Rooster im Schlepptau ging er zu dem Betreiber zurück. Er stand rauchend vor dem Müllcontainer. Der Typ würde nur so viel sagen, wie er unbedingt musste. Also tat Nolan so, als wüsste er, welcher Zuhälter so ein Brandzeichen nutzte.

„Die Tätowierung … sie war also eines von seinen Mädchen.“

Sofort warf er die Kippe auf den Boden, trat sie aus und fuchtelte mit den Händen.

„Passen Sie auf, ich bekomme einen Scheißärger, wenn Scott mitbekommt, dass ich eines seiner Mädels bei mir hatte.“

Scott.

„Warum haben Sie ihr überhaupt ein Zimmer gegeben?“

„Sie hat bar gezahlt!“

„Was hatte sie an?“

Angestrengt fuhr er sich durch die Haare. „Ein blaues Kleid, eine beige Jacke.“

Das klang eher nach Vermutung als nach Erinnerung, aber zumindest sagte er nichts von einem weißen Kleid.

„Handtasche?“

Der Typ prustete verächtlich und zuckte die Schultern. Nolan wollte sich schon umdrehen und gehen. Aber etwas hielt ihn zurück. Ein Detail stimmte nicht. „Sie haben die Leiche angefasst.“

Wenn sie eine Jacke getragen hatte, konnte er die Tätowierung erst oben im Zimmer gesehen haben.

„Ich habe ihren Puls gefühlt, mehr nicht.“

„Geben Sie Ihre Schuhe ab.“

Nolan bedeutete einem Officer, dass er dem Hotelbesitzer die Schuhe abnehmen sollte, dann ging er mit Rooster zum Wagen zurück.

„Er hat sofort gesehen, dass sie tot ist. Lassen Sie seine Sachen durchsuchen. Wahrscheinlich wohnt er in dem Hotel. Da werden wir die Handtasche finden.“

Nolan stieg ein. Überrascht stellte er fest, dass es ihm Rooster gleichtat.

Nach einer langen Sekunde, in der er seinen jungen Kollegen wortlos anstarrte, fragte der: „Und jetzt? Was denken Sie?“

Es war halb acht, den Schlüssel zu der alten Werkstatt, die er gemietet hatte, hatte er schon, seine Tasche lag auf dem Rücksitz.

„Gehen wir was trinken.“ Nolan startete den Wagen.

„Alles klar. Wohin wollen wir? Die Jungs …“

„In welcher Bar finden wir wohl Scott?“

Keine Ahnung, ob er bei Rooster Ehrgeiz oder was anderes erkennen sollte. Für ihn zählte dieser Fall.

Nachdem sie ein paar Bars erfolglos abgeklappert hatten, machten sie für den Tag Schluss.

Nolan setzte Rooster ab und fuhr zu der Werkstatt, die er im Netz gefunden und gemietet hatte, ohne sie vorher gesehen zu haben. Von außen sah das Gebäude auf der La Salle Street aus wie eine alte Lagerhalle. Die Tür quietschte und der Lichtschalter klackte laut, bevor Nolan erkennen konnte, was er gemietet hatte. Eine Zentimeter dicke Staubschicht lag auf einer alten Hebebühne in der Mitte der Halle. Zwei große Fenster, die mit Holzpanelen abgedeckt waren, eine große Lampe an der Decke. In der linken Ecke eine Kochzeile. Zumindest ein kleiner Kühlschrank, zwei Herdplatten und eine Kaffeemaschine. Rechts führte eine Tür zu einem kleinen Badezimmer. Eine Toilette, ein Waschbecken und eine nachträglich eingebaute Dusche. Neben der Hebebühne lag ziemlich viel Zeug. Alte Reifen und Tonnen. Der Geruch von Diesel lag noch immer in der Luft.

Er mochte es. Erst jetzt fiel ihm das alte Dachfenster oberhalb der Hebebühne auf. Das Glas war an manchen Stellen trüb geworden, aber man konnte den Himmel erkennen. Aus drei Paletten baute er eine Unterlage für seine Isomatte und den Schlafsack. Am Wochenende kam der Container aus LA, in den er die paar Sachen gepackt hatte, die nicht in seinen Wagen gepasst hatten. Eine Matratze, Decken. Sein Rechner und Kisten mit Kram, den er nicht mal auf dem Schirm hatte. Wahrscheinlich würde er die Kisten einfach verpackt lassen und abwarten, ob etwas fehlte. Wenn nicht, war der Inhalt auch nicht wichtig. Purer Ballast, den man nicht brauchte und den man nicht zum nächsten Ort mitschleppen musste.

*

Das Schicksal war kein plüschiges Kätzchen, bei dessen Anblick alle entzückt juchzten. Nein, das Schicksal war eine in die Jahre gekommene hässliche Hyäne, die sich einen Spaß daraus machte, alles in Stücke zu reißen und danach stand sie da und lachte ihr perverses glucksendes Lachen.

Abby saß in dem Ladenraum vor dem Telefon und starrte Löcher in die Luft.

Es klingelte nicht.

Seit Tagen tat sich nichts.

Bislang hatte sie eine Anzeige online und eine in einer Zeitung geschaltet. Außerdem hatte sie ein paar Freunden aus der Academy Bescheid gegeben. Offensiv geworben hatte sie dort noch nicht, weil sie es erst anders versuchen wollte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass tausend Menschen anrufen würden. Aber niemand? Mit jedem Tag, an dem nichts passierte, schwand ihr Mut ein wenig mehr. Sie war sogar bei der Bank gewesen, um nach einem Kredit für eine Geschäftseröffnung zu fragen, aber die hatten den Antrag abgelehnt. Sie hatte Graham nichts davon gesagt, weil sie nicht wollte, dass er dachte, dass sie nicht für sie beide sorgen konnte.

Aber wenn sie ehrlich zu sich war, dann schwammen ihr die Felle davon. Sie konnte nicht monatelang hier sitzen und das Telefon anstarren und bei jedem Mail-Eingang panisch auf ihr Smartphone drücken.

Sicher, man durfte die Hoffnung nicht aufgeben, aber man musste auch realistisch bleiben. Die Idee hatte ihr gefallen, aber im Grunde war es wohl illusorisch. Sie atmete tief durch, stand auf und machte sich auf die Suche nach Graham.

Er war in seiner Bibliothek, so nannte er den Raum, in dem er Bücher stapelte. Er hielt nichts von Regalen. Er saß auf seinem alten Sessel mit einem Koffer auf den Knien.

„Grandpa, wir müssen reden …“

„Ich habe etwas für dich.“ Er klang ernst, während er mit den Händen auf den Kofferdeckel tippte und die Stirn in Falten zog. „Ich möchte, dass du es nimmst und nicht aufgibst, in Ordnung?“

Sie ging zu ihm und hockte sich vor ihn.

So nachdenklich war Graham selten.

„Szenenraten?“ Dieses Spiel hatte sich zwischen ihnen etabliert, manchmal zitierte einer von ihnen einen Satz aus einem ihrer Lieblingsfilme und der andere musste raten, aus welchem Film das Zitat stammte. Eigentlich wusste sie, dass es kein Spiel war, sie stellte die Frage nur, um diesen ernsthaften Ausdruck von seinem Gesicht zu vertreiben. Aber die Falten auf seiner Stirn verschwanden nicht. Stattdessen drückte er auf die Knöpfe des Koffers. Mit einem lauten Klacken klappte der Deckel nach oben.

„Heilige Scheiße!“ Der ganze Koffer war voller Geldscheine.

Abby kippte nach hinten und fiel auf ihren Hintern, direkt auf den Port. Dann sprang sie auf und stand fassungslos vor ihren Großvater. „Sind das Hunderter? Woher kommt das?“

Noch niemals in ihrem Leben hatte sie so viel Geld auf einem Haufen gesehen.

„Nimm es, es gehört dir.“ Graham streckte ihr den Koffer entgegen, doch Abby schloss nur die Klappe und blieb vollkommen verdattert stehen. „Ich weiß, dass du bei der Bank warst, du musst dir keine Sorgen machen …“

„Woher weißt du das?“

„Marias Sohn arbeitet dort …“ Er klang, als hätte ihr diese Tatsache klar sein müssen.

„Haben die denn keine Schweigepflicht?“ Ihre Stimme klang schrill, während sie den Satz mit einer Geste wegwischte, um zum Kern dieser Unterhaltung zurückzufinden. Einem Haufen Geld.

Sie musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass hinter diesem Koffer eine Geschichte liegen musste, die ihr Graham verheimlicht hatte. Und das war seltsam, denn normalerweise war er ihr oft vertrauter, als sie es sich selbst war. „Woher kommt es?“

„Ich habe gespart.“

Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Es war derselbe, wie der, den er trug, wenn er zu viel Rotwein getrunken hatte und so tun wollte, als wäre er nüchtern.

„Niemals.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Eigentlich war es seine Sache, aber er hatte es zu ihrer gemacht, weil er es ihr angeboten hatte.

„Ich habe viel gearbeitet. Viel gespart …“

„Nie im Leben hast du die ganzen Jahre das Haus instand gehalten, mich miternährt und einen Haufen Kohle gespart, das ist nicht möglich.“

Komisch, sie hatte sich früher nie gefragt, wie seine Firma wohl lief. Es war ein Reinigungsservice, das war’s.

„Du wirst nicht lockerlassen?“

Langsam, aber bestimmt schüttelte sie den Kopf.

Er atmete tief durch, schloss den Koffer und legte beide Hände darauf ab.

„Vielleicht gibt es etwas, von dem du nichts weißt …“

Seine Stimme nahm zum Ende des Satzes an Tonhöhe zu, als würde er abschätzen, wie sie auf diese Information reagierte.

„Vielleicht …“ Sie nickte ihm zu. „Bist du der Pate Detroits, oder was? Ist das Blutgeld?“

O Gott, bitte sag, dass es nicht so ist.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemandem etwas getan.“

Puh, innerlich atmete sie auf.

„Aber es ist sicherlich auch nicht legal …“

„Um Himmels willen, wo kommt das Geld her, Graham?“

Sie hörte sich an wie eine hysterische Furie, aber nach all den beschissenen Neuigkeiten, wäre ein Stück Normalität einfacher zu handhaben gewesen.

„Na ja, ich habe schon geputzt …“

„Nicht mal der Hausmeister des Vatikans bekommt so viel Kohle mit Putzen zusammen, Graham.“

Mittlerweile ließ er ganz schön die Schultern hängen.

Abby versuchte, sich zu beruhigen. „Hast du Geld gewaschen?“

„Wo denkst du hin …“

„Keine Ahnung, sag du es mir.“ In ihrem Kopf schlummerten die heißesten Theorien, sie hoffte nur, dass die Wahrheit nichts war, was ihr Graham entfremdete.

„Wir sind … deine Idee … Ich habe als Cleaner gearbeitet.“

„Aha.“ Sie war erst mal froh, dass er etwas ohne zu stottern gesagt hatte. Jetzt saß sie nickend vor ihm und hatte keinen blassen Schimmer, was ein Cleaner war.

„Du weißt nicht, was ein Cleaner ist, oder?“

Ihr Nicken ging fließend in ein Kopfschütteln über.

„Ein Cleaner räumt sozusagen auf, nachdem ein Verbrechen geschehen ist. Wie ein Tatortreiniger sozusagen. Nur eben nicht ganz offiziell …“

Abby kam sich vor, als wäre ihre Leitung zu lang. „Du hast Tatorte gereinigt …“

Graham nickte.

„Aber nicht für die Polizei?“

Jetzt schüttelte er den Kopf und biss sich auf die Lippen. Das war wie Jeopardy, finde die Antwort mit der richtigen Frage.

„Für Mörder?“ Wieder dieser schrille Tonfall in ihrer Stimme.

Er machte ein zögerliches leises Geräusch, als wäre sie zwar auf der richtigen Spur, aber die Wortwahl war unpassend. „Um Himmels willen, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“ Sie stand auf und begann, auf und ab zu gehen. Das war definitiv nicht ihr Tag, so viel stand fest.

„Es gibt eine Kontaktperson, Frank …“ Graham schlug einen beruhigenden Ton an.

„Frank?“ Das hörte sich nach einem guten Kumpel an, nicht nach einem Auftragskiller, der ihren Grandpa darum bat, die blutigen Spuren eines Mordes zu beseitigen.

„Frank, ja. Nur er hat mit dem Kunden zu tun. Ich schätze, es ist zum Teil Mafia. Einmal dachte ich sogar, es waren die Bullen selbst …“

„Die Bullen?“ Seit wann nahm Graham solche Worte in den Mund?

„Es gibt einfach Dinge, um die sich jemand gekümmert hat, und ich habe dann dafür gesorgt, dass es keine großen Wellen schlägt. Nimm Rosas alten Zuhälter. Der wollte dreizehnjährige Mädchen auf den Strich schicken. Rosa ist zur Polizei, aber die haben nichts getan. Als sie zurückkam, hat er sie dermaßen verprügelt, dass sie ihn erschossen hat. Was glaubst du, wer ihr dann letztendlich geholfen hat?“ Er hob die Hände nach oben, als stünde die Erklärung fest. „Frank.“

„Bitte sag mir, dass du keine Leichen unter dem Haus begraben hast.“

„Natürlich nicht, sag mal, Abby.“ Vehement schüttelte er den Kopf. „Wir sind Gentlemen und haben einen Kodex. Wir unterstützten keine Mörder, wir haben nur dieses fatale System auf unsere Weise bekämpft.“

Wahrscheinlich kam er gleich noch mit einem versteckten Schrank um die Ecke, in dem Kostüme hingen. Nachts schoss Mr. Hobbs also mit einem Cape durch Detroit, um mit einem Schrubber gegen die Korruption zu kämpfen.

„Wir. Das bedeutet also, Frank und du?“

Er sah sie einen Moment an, dann nickte er. „Aber darum sollte es gar nicht gehen. Geld ist Geld, Abby. Ich habe niemanden getötet, die waren alle schon tot. Das Geld ist da, du weißt nicht, wie es weitergeht, also nutze es. Ich brauche es nicht.“

„Warum hast du es gemacht? Du hast dir nie viel aus Geld gemacht, warum dieser Job?“

Für einen Augenblick sah er sie ernst an, als würde er abwägen, wie viel er ihr überhaupt noch erzählen wollte. Dann atmete er schwer aus und strich sich mit einer Hand übers Kinn.

„Mein Traum war es immer, ein eigenes Geschäft zu haben. Deine Großmutter, Gott hab sie selig, war Zimmermädchen in dem Hotel, in dem ich als Parkwächter gearbeitet habe. Im Gegensatz zu mir hatte sie eine Ausbildung. Wir waren so naiv, als wir heirateten und den Kredit für dieses Haus aufnahmen …“ Ein leichtes Lächeln spielte um seinen Mund. „Eleonore war so hingerissen von der Idee, eine Familie zu gründen, es war wunderbar. Aber unsere Gehälter reichten bei Weitem nicht, also beschlossen wir, dass wir versuchen wollten, ein eigenes Geschäft zu gründen. In der Umgebung gab es keinen Reinigungsservice, und Eleonore bot zusätzlich noch Kinderbetreuung an. Zuerst lief es ganz gut. Dann kam alles anders …“

So viel hatte er noch niemals über seine Vergangenheit erzählt. Abby hatte sich oft alte Bilder angesehen, daher wusste sie genau, wie ihre Großmutter ausgesehen hatte, aber mehr war nie zur Sprache gekommen. Und von ihrem Vater hing nicht einmal ein Bild im Haus.

„Eleonore starb, ich war verloren ohne sie, und das Geschäft lief immer schlechter. Dann rief Frank an. Er hatte eine konkrete Anfrage, das Geld war verlockend, also probierte ich es. Zuerst stellte ich Regeln auf, ich beschrieb mich als Dienstleister mit Niveau und stellte klar, dass Frank mir keine Angebote machen sollte, an denen Unschuldige zu Schaden gekommen waren. Frank war einverstanden. Und was soll ich sagen, ich machte das ganz gut. Und so kam eines zum anderen, bis ich in Rente gegangen bin.“

„In Rente …“

„Ja, ein Demenzkranker macht sich nicht so gut, wenn es darum geht, fehlerfrei zu arbeiten.“

Die trockene Art, in der er das sagte, brachte sie zum Lachen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

„Es hat sich gut angefühlt, für etwas geachtet zu werden. Und ja, es ist kein Job wie jeder andere, aber es ist ein Job. Du hast selbst mit dem Gedanken gespielt, nur eben auf eine etwas andere Weise.“

„Es ist kriminell.“

„Kriminell ist die Politik hier, Abby. Das ist alles Auslegungssache.“