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Vorwort

Mitte September 2015 fand die große Fachtagung der Gesellschaft für Analytische Philosophie, GAP.9, in Osnabrück statt. Kurz zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die mutige Entscheidung getroffen, die bundesdeutschen Grenzen trotz der großen Flüchtlingswanderungen über den Balkan nicht zu schließen. Aus humanitären Gründen ließ sie viele Flüchtlinge aus Ungarn einreisen, die dort unter menschenunwürdigen Bedingungen festsaßen.

Wir, d. h. der noch amtierende Präsident der Gesellschaft, Achim Stephan, und sein designierter Nachfolger, Thomas Grundmann, hielten es damals für sehr wahrscheinlich, dass sich das abzeichnende Problem der Flüchtlingsaufnahme nicht so schnell erledigen, sondern über Jahre zu einer großen und fortdauernden Herausforderung für unser Land und für Europa werden würde. Wir wurden uns schnell einig, dass die Philosophie und insbesondere auch die Analytische Philosophie zu diesem Thema nicht schweigen darf, sondern dazu beitragen sollte, den anstehenden politischen Entscheidungen eine normative Orientierung zu geben. So wurde die Idee geboren, eine philosophische Preisfrage »Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?« auszuschreiben (im Originalwortlaut am Ende dieses Vorworts abgedruckt).

Die Formulierung der Frage lässt bewusst einen gewissen Interpretationsspielraum: Die Beiträger sollten selbst entscheiden, ob sie ihren Akzent beispielsweise eher auf den umstrittenen Unterschied zwischen einerseits politisch Verfolgten und Kriegsflüchtlingen und andererseits Klima- und Armutsflüchtlingen legen oder ob sie die regionale Herkunft und kulturelle und religiöse Identität der Flüchtlinge thematisieren wollten. Auch das »wir« in der Frage lässt offen, ob man eher eine persönliche, eine deutsche oder eine europäische Perspektive auf das Problem einnimmt oder von lokalen Begrenzungen ganz absehend einen allgemein-menschlichen Zugang wählt. Die durch eine Jury ausgewählten Essays sollten später in einer großen deutschsprachigen Zeitung veröffentlicht werden.

Zwar wurden auf der folgenden Mitgliederversammlung der ­Gesellschaft für Analytische Philosophie auch Bedenken gegen eine mögliche Politisierung unserer Fachgesellschaft geäußert. Nach einer kontroversen Aussprache gab es schließlich jedoch eine fast ungeteilte Zustimmung für die Idee, alle Philosophinnen und Philosophen deutscher Sprache – vom Studierenden bis zur Professorin – in Form einer Preisfrage dazu einzuladen, sich argumentierend mit dem Flüchtlingsthema zu befassen und damit auch an die ­Öffentlichkeit zu treten. Dr. Hannes Fricke-Sonnenschein vom ­Philipp Reclam jun. Verlag machte dazu spontan den weitergehenden Vorschlag, eine Auswahl der besten Essays in einem Sammelband bei Reclam zu veröffentlichen. So entstand die Idee zu diesem Band.

Seit den Septembertagen des letzten Jahres ist viel passiert. Das Problem der Flüchtlingsaufnahme hat sich weiter zugespitzt. Vermutlich über eine Million Flüchtlinge sind nach Deutschland eingereist, und eine dauerhafte Behebung der Fluchtursachen (vor allem ein Ende des Krieges in Syrien) ist nicht in Sicht. Nach der anfänglich weit verbreiteten Euphorie und Willkommenskultur in Deutschland gibt es inzwischen eine starke Polarisierung der öffentlichen Debatte. Ein Streit zwischen, aber auch innerhalb der politischen Parteien ist entbrannt, und er verschärft sich angesichts anstehender Wahlen Tag für Tag. In vielen Familien und Freundeskreisen wird darüber gestritten, wie unser Land mit der Herausforderung massiver Flüchtlingszuwanderung umgehen soll. Viele Menschen werden bewegt durch das Leid und die humanitäre Katastrophe der Flüchtlinge. Aber viele sind auch in Sorge um unsere sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften, sie fürchten einen Verlust an kultureller Identität angesichts vieler Flüchtlinge aus unterschiedlichen Kulturkreisen mit ganz anderen Wertvorstellungen und starken religiösen Prägungen, und sie sind (vor allem aufgrund der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht und den Reaktionen auf diese) besorgt um die innere Sicherheit in Deutschland.

Inzwischen eskaliert auch die verbale und physische Gewalt gegen Flüchtlinge. Es passieren Dinge in Deutschland, von denen wir gehofft hatten, dass wir sie nach Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu Beginn der 1990er Jahre nie wieder sehen müssten. Flüchtlingsheime brennen. Flüchtlinge werden attackiert. Hassbotschaften kursieren. Doch zugleich sehen wir, dass auch die Hilfsbereitschaft von zahlreichen ehrenamtlichen Helfern, die sich unermüdlich, zum Teil bis zur Erschöpfung für Flüchtlinge einsetzen, nicht abnimmt. Der Riss geht aber nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch Europa. Viele Staaten der EU setzen inzwischen auf nationale Alleingänge und die einseitige Schließung ihrer Grenzen, Dublin-II gilt vielen als gescheitert. Das Europa der offenen Binnengrenzen ist in Gefahr; und mit ihm steht vielleicht sogar die Integrität der Europäischen Union auf dem Spiel.

Angesichts der gegenwärtigen Lage ist einigen Bürgern erkennbar der normative Kompass abhanden gekommen. Ihre Entscheidungen und Haltungen werden immer häufiger durch Ängste, Ungeduld, Egoismen oder Opportunismus bestimmt. Das gilt auch und gerade für einige Politiker, die um Wählerstimmen bei den nächsten Wahlen buhlen oder um Verluste fürchten. Was kann man in dieser verfahrenen Situation ausgerechnet von Philosophinnen und Philosophen erwarten? Kann man überhaupt etwas von ihnen erwarten – oder sind die anstehenden Fragen nicht viel zu konkret für philosophische Antworten?

Es ist unbestreitbar, dass das Problem der Flüchtlingsaufnahme Fragen aufwirft, die nicht allein aus dem Lehnstuhl heraus beantwortet werden können. Welche Langzeitfolgen hätte eine mehrjährige Zuwanderung von etwa einer Million Flüchtlingen pro Jahr für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt? Insbesondere wenn man bedenkt, dass viele Flüchtlinge durch Kulturen und Religionen geprägt sind, die nicht reibungslos mit unserem europäischen Selbstverständnis harmonieren. Wie groß werden die finanziellen Belastungen für unseren Sozialstaat auf lange Sicht sein? Wie viele der Flüchtlinge wird man wenigstens mittelfristig in Arbeit bringen können? Welche Auswirkungen wird diese Entwicklung auf die innere Sicherheit haben? Welche Konsequenzen ergeben sich für Europa und die Weltgemeinschaft?

Wir wissen es nicht – oder wir wissen es nur in einem sehr eingeschränkten Umfang; und ohne empirische Studien, von denen es immer noch viel zu wenige zu diesen Themen gibt, teilweise auch noch gar nicht geben kann, sind auch keine umfassend begründeten Antworten auf diese Fragen zu erwarten. Auch Fragen nach der richtigen Strategie zur Problembewältigung müssen letztlich empirisch beantwortet werden. Und kein verantwortungsbewusst Nachdenkender sollte die möglichen Konsequenzen politischen Handelns ganz aus dem Blick verlieren.

Können Philosophinnen und Philosophen angesichts dieser unübersichtlichen Lage also letztlich nichts Substanzielles über den ständig sich rasant verändernden, tagespolitischen Zusammenhang hinaus zur Flüchtlingsfrage sagen? Thomas Schramme hat in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Praktische Philosophie (Heft 2, 2015) kürzlich die Prognose gewagt, dass die Antworten auf die GAP-Preisfrage ohne Kenntnis politischer, ökonomischer und kultureller Zusammenhänge notwendigerweise trivial und unterkomplex ausfallen müssen. Wir glauben, dass dem nicht so ist. Und diese Überzeugung war von Anfang an die entscheidende Triebfeder hinter der Preisfrage. Auch wenn man von Philosophinnen und Philosophen keine konkreten politischen Handlungsanweisungen in der gegenwärtigen Krise erwarten sollte, kann die Philosophie trotz der vielen noch offenen Fragen über die langfristigen Konsequenzen der Aufnahme vieler Flüchtlinge sehr wohl jetzt bereits dazu beitragen, die richtigen Prioritäten bei den grundlegenden Wertfragen zu ermitteln. Sie kann helfen, Fragen wie die folgenden zu beant­- worten:

 

 

Nur wenn politische Akteure eine grundlegende normative Orientierung hinsichtlich dieser Fragen gewonnen haben, können sie sinnvoll nach Strategien suchen, diese Zielsetzungen und Werte praktisch zu berücksichtigen und zu realisieren.

Das Nachdenken über die normativen Prioritäten in der Flüchtlingsdebatte erweist sich als komplex und schwierig. Deswegen sollte es mit kühlem Kopf und gestützt auf sachliche Argumente erfolgen. Darauf hat die Analytische Philosophie immer besonderes Gewicht gelegt. Gerade einige Wortführer des von einer breiteren Öffentlichkeit als philosophisch wahrgenommenen Diskurses haben in dieser Hinsicht jedoch weitgehend versagt:

Peter Sloterdijks Unsatz, dass wir keine Pflicht zur Selbstzerstörung haben, und Rüdiger Safranskis Menetekel von der »Flutung Deutschlands« durch die Flüchtlinge arbeiten mit Unterstellungen und beschwören Ängste herauf, anstatt sachliche Argumente ins Feld zu führen. Ihre Stellungnahmen mögen als Beiträge zu einer zynischen Vernunft taugen, doch darf von Philosophen sicher mehr erwartet werden als solche »Unbedarftheit des Dahergeredes«, wie Heribert Münkler die Beiträge von Sloterdijk und Safranski so treffend in der ZEIT charakterisiert hat.

Alle Beiträge in diesem Sammelband sind Versuche, die Flüchtlingsdebatte in unserem Land zu versachlichen, argumentativ zu untermauern und grundlegende normative Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Sie ordnen das gegenwärtige Problem zumeist in größere Perspektiven ein und beleuchten verschiedene Detailfragen (etwa: ob es einen substanziellen Unterschied zwischen politischen Flüchtlingen und Armutsflüchtlingen gibt, wie weit der Anspruch anerkannter Flüchtlinge auf sozialstaatliche Leistungen geht und ob die Flüchtlinge vielleicht auch ihrerseits konstruktiv an der Integration mitwirken müssen, um auf Dauer aufgenommen werden zu dürfen). Die Beiträge spiegeln unterschiedliche Einstellungen (von sehr liberal bis eher restriktiv bezüglich der Asylpolitik, und manchmal sogar beides in einem Artikel) wider. Aber sie können natürlich nicht das ganze Spektrum der von Intellektuellen vertretenen Positionen repräsentativ abbilden. Wir haben die Beiträge bewusst nicht nach Sachthemen oder Einstellungen geordnet, weil sie keine solche einfache Zuordnung erlauben, sondern die drei Preisträger-Essays vorangestellt und die folgenden Texte nach den Nachnamen alphabetisch geordnet.

Tatsächlich ist die Preisfrage der GAP auf sehr große Resonanz gestoßen. Es wurden weit mehr als 100 Essays eingesandt, von Studierenden, Doktorandinnen und Doktoranden, PostDocs genauso wie von Professorinnen und Professoren. Die allermeisten Essays waren substanziell und qualitativ hochwertig. Eine internationale Jury, der neben den beiden Herausgebern sieben weitere philosophische Experten angehörten (Prof. Dr. Monika Betzler, Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher, Prof. Dr. Francis Cheneval, Prof. Dr. Frank Dietrich, Prof. Dr. Stefan Gosepath, Prof. Dr. Reinhard Merkel, Prof. Dr. Corinna Mieth), hat aus den Einsendungen in einem vollständig anonymisierten Begutachtungsverfahren die folgenden drei Preisträger ausgewählt:

 

1. Preis: Dr. Matthias Hoesch (Universität Münster)

2. Preis: Marcel Twele (Humboldt Universität Berlin)

3. Preis: Privatdozent Dr. Fabian Wendt (Universität Bielefeld)

 

Die weiteren sieben Beiträge im vorliegenden Sammelband wurden ebenfalls von dieser Jury ausgewählt. Die Arbeits- und Kompetenzbereiche der Autorinnen und Autoren reichen von der normativen Ethik, der angewandten Ethik, insbesondere der Wirtschafts- und Klimaethik, über die Politische Philosophie, neuere Geschichte und Soziologie bis hin zur Rechtsphilosophie, den Rechtswissenschaften und der Europäischen Kultur- und Ideengeschichte.

 

Unser größter Dank gilt unseren Autorinnen und Autoren für ihre engagierte Mitwirkung an diesem Band. Wir möchten uns an dieser Stelle auch ganz herzlich bei allen Jurymitgliedern für ihre ebenso schnelle wie professionelle und zuverlässige Arbeit bedanken. Danken möchten wir auch den Mitgliedern der GAP für ihr beherztes Votum auf der Mitgliederversammlung 2015 in Osnabrück sowie dem gesamten GAP-Vorstand für seine wunderbare Unterstützung. Ohne die Arbeit unseres Geschäftsführers, Dr. Joachim Horvath, und unserer studentischen Hilfskraft, Carina Schleeweit, wäre aus all dem vermutlich nichts geworden.

Wir wünschen uns, dass dieser Sammelband einen nachhaltigen philosophischen Beitrag zur Versachlichung der Flüchtlingsdebatte in Deutschland und zur Orientierung in den damit verbundenen normativen Fragen leistet.

Köln und Osnabrück, im März 2016

Thomas Grundmann & Achim Stephan

Matthias Hoesch

Allgemeine Hilfspflicht, territoriale Gerechtigkeit und Wiedergutmachung: Drei Kriterien für eine faire Verteilung von Flüchtlingen – und wann sie irrelevant werden

Können Philosophen exakt bestimmen, wie viele Flüchtlinge ein Kollektiv aus moralischer Perspektive gesehen aufnehmen sollte? Und Gründe für einen Kriterienkatalog vorlegen, der eine klare Auskunft darüber gibt, welchen Zuwanderungswilligen die Grenzen zu öffnen sind und welchen nicht? Beides ist, aus mindestens zwei Gründen, eine befremdliche Vorstellung. Denn Philosophen verfügen als solche nicht über besondere Kompetenzen zur wissenschaftlichen Beurteilung sei es der Belastbarkeit sozialer Systeme oder der ökonomischen Folgen von Immigration für ein bestimmtes Land. Nicht Philosophen, sondern die Forschungsergebnisse von Sozialwissenschaftlern und Ökonomen stehen deshalb meist im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte über Chancen und Grenzen von Migration. Darüber hinaus scheint uns heute der Gedanke abwegig, man könne quasi wissenschaftlich bestimmen, welchem Kreis von Personen etwas Bestimmtes zugeteilt werden soll und welchen Menschen es vorenthalten werden darf. In modernen Gesellschaften werden Verteilungskonflikte gelöst, indem öffentliche Diskurse und Mehrheitsentscheidungen die Berücksichtigung der Interessen aller sicherstellen. Philosophie, die beanspruchte, in politischen Fragen über letzte Wahrheiten zu verfügen, wäre deshalb reichlich naiv.

Dennoch zeigen beide Aspekte bei näherem Hinsehen, dass eine philosophische Perspektive unverzichtbar ist, wenn die Frage im Raum steht, welche Pflichten wir gegenüber Flüchtlingen haben. Denn die sozialwissenschaftliche Forschung zu Migration bleibt als empirische Forschung bloß deskriptiv, und wo sie in den Dienst bestimmter normativer Zielsetzungen gestellt wird, bedürfen diese ihrerseits der moralphilosophischen Kritik. Und von der Mitwirkung an Mehrheitsentscheidungen in den Ländern, in denen sie Aufnahme finden wollen, sind Flüchtlinge typischerweise ausgeschlossen: Sie haben im Prozess der demokratischen Willensbildung in potentiellen Aufnahmestaaten keine Möglichkeit, die Berücksichtigung ihrer Interessen einzufordern.

Deshalb sind die Bürger demokratischer Staaten moralisch gefordert, die Interessen von Fremden, die Aufnahme begehren, in angemessener Weise in ihre Entscheidungen miteinzubeziehen. Dies wird gegenwärtig dadurch erschwert, dass der enormen Zahl an Flüchtlingen ein sehr hohes Maß an Sozialstaatlichkeit gegenübersteht, das man bewahren möchte. Wir sind aus diesem Grund mit einer historisch neuartigen Situation konfrontiert, in der wir uns nicht auf bewährte moralische Intuitionen verlassen können. Daher ist in besonderer Weise eine ethische Reflexion gefordert.

Greift man zu diesem Zweck auf philosophische Argumentationsformen zurück, so drohen sich die grundlegenden Streitpunkte moralphilosophischer Theoriebildung schlicht am konkreten Beispiel zu wiederholen. Der Erkenntnisgewinn wäre dann reichlich gering. Im Folgenden versuche ich deshalb, solche Meinungsverschiedenheiten weitgehend zu umgehen und Prämissen zugrunde zu legen, die eine relativ breite Zustimmung finden dürften. Aus diesen Prämissen lassen sich meines Erachtens gehaltvolle Prinzipien ableiten.

Mindestens drei Gründe, weshalb wir Pflichten gegenüber (potentiellen) Flüchtlingen haben, können auf solch eine breite Zustimmung rechnen:

 

  1. eine allgemeine Hilfspflicht,

  2. eine Verpflichtung aus dem Prinzip territorialer Gerechtigkeit und

  3. Wiedergutmachungspflichten.

 

Aus diesen drei Gründen sind jeweils unterschiedliche Kriterien dafür ableitbar, welcher Staat in welchem Umfang welche Flüchtlinge aufnehmen sollte. Wären alle potentiellen Aufnahmestaaten bereit, ihren Verpflichtungen in einem angemessenen Umfang nachzukommen, so ließe sich aus diesen Kriterien ein Verteilungsschlüssel ableiten. Wesentlich komplexer wird die Sache aber dann, wenn viele Staaten keine oder nur sehr wenige Flüchtlinge aufnehmen. Dann stellt sich die Frage, ob die übrigen Staaten dies ›auffangen‹ müssen.

Mein Argument ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst skizziere ich die erwähnten drei Verpflichtungsgründe und halte fest, welche Kriterien für die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge aus ihnen folgen. Danach stelle ich dar, was aus diesen Gründen für eine sogenannte ›ideale Theorie‹ folgt, d. h. eine Theorie, in der davon ausgegangen wird, dass alle potentiellen Aufnahmestaaten ihrer Pflicht nachkommen. Abschließend diskutiere ich, welche Pflichten sich im Rahmen einer nicht-idealen Theorie ergeben, welche Pflichten also Staaten wie Deutschland, Österreich und die Schweiz angesichts der Tatsache haben, dass viele andere Länder nicht bereit sind, eine relevante Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen.

1. Verpflichtungsgrund: Allgemeine Hilfspflicht

Es ist ein allgemein anerkannter moralischer Grundsatz, dass Menschen geholfen werden muss, die unverschuldet in eine schlimme Notlage geraten sind. In der Philosophie hat sich das Beispiel eines Ertrinkenden eingebürgert, um diese Art der Verpflichtung exemplarisch vorzuführen: Wer an einem See vorübergeht und bemerkt, wie jemand zu ertrinken droht, ist zur Hilfeleistung verpflichtet. Und das auch dann, wenn er dabei das Risiko einer Erkältung in Kauf nimmt. Von der Hilfspflicht befreit ist nur, wer sich mit dem Rettungsversuch selbst in eine ähnlich gefährliche Lage bringen würde.

Die Situation von (potentiellen) Flüchtlingen ist hinreichend analog: Sie sind ohne eigenes Verschulden in eine Lage gekommen, in der sie auf Hilfe anderer angewiesen sind. Grundsätzlich gilt, dass nicht die Art der Notlage für die Frage relevant ist, ob geholfen werden muss, sondern ihre Schwere. Es geht also aus moralischer Perspektive hier nicht um die Frage, ob jemand politisch verfolgt wird oder unter einer Hungersnot leidet, sondern um die Frage, ob menschliche Grundbedürfnisse akut bedroht sind. Wann dies vorliegt, unterliegt der immer neuen Interpretation durch Humanwissenschaften, Gerichte und Öffentlichkeit.

Allerdings ist nicht ganz klar, zu welcher Art Hilfeleistung andere Staaten dadurch verpflichtet werden. Denn man kann grundsätzlich zwischen zwei Arten von Hilfestellung unterscheiden: Hilfe vor Ort und Hilfe durch Aufnahme in einen anderen Staat. Verschiedene Arten von Notlagen sind in dieser Hinsicht womöglich unterschiedlich zu behandeln. Hungersnöte können oft besser vor Ort bekämpft werden, während politische Verfolgungen oder Bürgerkriege in der Regel nicht durch Einwirken von außen ›abgestellt‹ werden können. Es liegt nahe, von den potentiellen Aufnahmestaaten zu fordern, dass genau diejenigen als Flüchtlinge aufgenommen werden, denen vor Ort nicht angemessen geholfen werden kann. Versucht man, diese moralische Regel in positives Recht zu übersetzen, so wird man um eine möglichst exakte Bestimmung der Bedingungen des Flüchtlingsstatus nicht umhin kommen. Es ist also im Prinzip moralisch legitim, den rechtlichen Status eines Flüchtlings für Personen zu reservieren, die bestimmte Kriterien erfüllen. Man wird aber, wenn man sich an dem genannten moralischen Grundsatz orientiert, auch vielen Bürgerkriegsvertriebenen, Binnenflüchtlingen und Klimaflüchtlingen den rechtlichen Status eines Flüchtlings zuerkennen müssen.

Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass die meisten Staaten ihrer moralischen Pflicht, vor Ort zu helfen, nicht ausreichend nachkommen. Natürlich ist es schwer zu sagen, wann genau das gebotene Mindestmaß an Pflichterfüllung erreicht ist. Aber legt man etwa die mit den Millenniumszielen eingegangene Selbstverpflichtung der Industriestaaten zugrunde, im Kampf gegen globalen Hunger wenigstens 0,7% des BIP für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben – ein sehr moderates Maß! – , so gibt es kaum eine Handvoll Staaten, die von sich sagen könnten, ihre Hilfspflicht erfüllt zu haben. Wer jedoch zur Hilfe vor Ort verpflichtet ist, aber dieser Pflicht nicht nachkommt, dem kann abverlangt werden, auf andere Weise Ersatz zu leisten. Daher ergibt sich der Grundsatz:

Potentielle Aufnahmeländer müssen all diejenigen Zuwanderungswilligen aufnehmen, die in ihrem Herkunftsland unverschuldet ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können und denen vor Ort entweder nicht geholfen werden kann oder faktisch nicht geholfen wird.

Zur Hilfe verpflichtet sind grundsätzlich natürlich alle Staaten, die dazu in der Lage sind. Allerdings bleibt die Frage, wie eine faire Verteilung der Lasten, die aus der Hilfspflicht erwachsen, unter den hilfsfähigen Staaten aussieht. Hierfür zieht man in der Ethik üblicherweise das Prinzip heran, dass jeder nach seinen Fähigkeiten helfen muss, d. h. dass derjenige, der besonders gut helfen kann, auch zu größerer Hilfeleistung verpflichtet ist. Gehen zwei Personen an einem See vorbei, von denen die eine gesund und ein hervorragender Schwimmer ist, die andere hingegen schwächlich und an einer Erkältung laboriert, so sollte – ceteris paribus – der erstgenannte ins Wasser springen. Entsprechend gilt für Staaten, soweit sich Pflichten gegenüber Flüchtlingen aus der allgemeinen Hilfspflicht ergeben:

Je besser ein Staat wirtschaftlich dasteht und je erfolgversprechender er Flüchtlinge in die Gesellschaft integrieren kann, einen desto ­größeren Anteil an der Gesamtzahl an Flüchtlingen sollte er übernehmen.

2. Verpflichtungsgrund: Territoriale Gerechtigkeit

Die Erdkugel ist keine Schöpfung der Menschen, sondern sie wird einfach vorgefunden. Entsprechend kann aus moralischer Sicht niemand ein besonderes Recht geltend machen, dass ihm ein größerer Anteil an der Erdoberfläche zustehe als einem anderen. In der philosophischen Tradition ist dieser weit geteilten Intuition oft Rechnung getragen worden, indem ein »ursprünglicher Gemeinbesitz« angenommen worden ist. Zur Erdkugel gehören im Wesentlichen zwei verschiedene Arten von Gütern: die unbewegliche Erdoberfläche, die dauerhaft besiedelt und dazu genutzt werden kann, Nahrungsmittel zu produzieren; und bewegliche natürliche Rohstoffe, die abgebaut, auf dem Weltmarkt verkauft und ›aufgebraucht‹ werden können.

Staaten erheben einen besonderen Anspruch auf beide Arten von Gütern; sie schließen große Teile der Menschheit vom Gebrauch der Erdoberfläche und von dem Profit, den sie aus natürlichen Rohstoffen erzielen, aus. Die grundsätzliche Legitimität dieses Anspruchs soll hier nicht zur Debatte gestellt werden. Vielmehr ist meine These, dass Staaten, die einen Teil der Erdoberfläche für sich beanspruchen, damit eine gewisse Verantwortung dafür übernehmen, dass dem Rest der Menschheit noch ausreichend Erdoberfläche übrig bleibt, die besiedelt und genutzt werden kann. Aus moralischer Perspektive ist der Übergang vom ursprünglichen Gemeinbesitz zu partikularen Gebietsansprüchen deshalb nur dann legitim, wenn sichergestellt wird, dass für die Ausgeschlossenen die Möglichkeit bleibt, andernorts zu siedeln.

Menschen, die am Ort ihrer Herkunft ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können, ist diese Möglichkeit aber nicht gegeben. Ihnen kann deshalb nicht zugemutet werden, dass sie sich länger in ihrem Heimatland aufhalten. Lässt sich die Situation vor Ort nicht ändern, sind Flüchtlinge daher aus dem Prinzip territorialer Gerechtigkeit von anderen Ländern aufzunehmen. Formulieren wir auch hierfür einen Grundsatz:

Menschen, denen das Verbleiben auf dem Territorium ihrer Herkunft nicht zugemutet werden kann, sind aufgrund des ursprünglich paritätischen Rechts auf Nutzung der Erdoberfläche von anderen Ländern aufzunehmen.

Pflichten, die sich aus diesem Grundsatz ergeben, verpflichten die gleichen Staaten und begünstigen die gleiche Gruppe von Menschen wie die Pflichten, die oben aus der allgemeinen Hilfspflicht abgeleitet wurden. Das Interessante an der Verpflichtung aus territorialer Gerechtigkeit ist aber, dass im Hinblick auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge die territoriale Dimension mit in den Fokus gerät. Denn je größer der Anteil an nutzbarer Erdoberfläche ist, den ein Staat gemessen an der Größe seiner Bevölkerung für sich beansprucht, desto größer ist die Verantwortung, die er gegenüber dem Rest der Menschheit übernehmen muss.

Rohstoffe könnten aus dieser Logik herausgenommen werden. Der plausiblen Idee der Rohstoffdividende zufolge, die Thomas Pogge entwickelt hat, müsste ein jeder Staat einen Teil des Profits, den er aus natürlichen Rohstoffen erwirtschaftet, zugunsten der Ärmsten der Welt abgeben. Damit wäre, was Rohstoffe angeht, Gerechtigkeit bereits hergestellt. Solange Staaten aber keine solche Rohstoffdividende entrichten, ist der Rohstoffreichtum eines Landes bei der Frage nach einer fairen Verteilung der Lasten der Flüchtlingsbewältigung miteinzubeziehen. Somit gilt:

Je geringer die Bevölkerungsdichte (gemessen an nutzbarem Land) und je höher der Wert an vorhandenen natürlichen Rohstoffen pro Einwohner, desto mehr Anteil an der Gesamtzahl der Flüchtlinge sollte ein Staat übernehmen.

3. Verpflichtungsgrund: Wiedergutmachung

Ein dritter Grund, weshalb wir gegenüber Flüchtlingen Pflichten haben könnten, sind Wiedergutmachungsansprüche. Der große Unterschied zu den beiden anderen Verpflichtungsgründen liegt darin, dass wir Wiedergutmachung nicht allen Menschen schulden, die bestimmte Kriterien erfüllen, sondern (unabhängig davon, ob eine Notsituation vorliegt!) denjenigen, denen wir zuvor in irgendeiner Form Schaden zugefügt haben. Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte, bei dem eine historische Schuld durch Migrationsangebote ein Stück weit ausgeglichen werden sollte, ist etwa die Aufnahme russischer Juden in Deutschland seit den 1990er Jahren.

Wiedergutmachungsansprüche sind aber nicht auf solche seltenen Beispiele beschränkt, und sie überschneiden sich sehr stark mit Ansprüchen, die (potentielle) Flüchtlinge gegenüber den potentiellen Aufnahmestaaten haben. In drei Hinsichten kann man relativ pauschal davon sprechen, dass Wiedergutmachungsansprüche von konkreten Flüchtlingsgruppen bestehen – auch wenn in allen drei Punkten berechtigte sozialwissenschaftliche Kontroversen darüber zu erwarten sind, in welchem Ausmaß sie zutreffen:

Erstens trägt das globale Wirtschaftssystem, wie beispielsweise mit Bezug auf das TRIPS Agreement oft angemerkt worden ist, allem Anschein nach aktiv dazu bei, dass arme Länder ihre Armut nicht überwinden können. Durch ihre Mitwirkung an der Errichtung und der Erhaltung dieses ungerechten Systems fügen die Industriestaaten den Entwicklungsländern systematisch Schaden zu. Diesen Schaden durch die Aufnahme von sogenannten Armutsflüchtlingen wiedergutzumachen, kann man von ihnen jedenfalls dann moralisch erwarten, wenn sie keine anderen Kompensationsmaßnahmen ergriffen haben.

Zweitens tragen viele potentielle Aufnahmestaaten eine Mitverantwortung am Ausbruch und der Eskalation von Bürgerkriegen. Hierbei spielt das globale Finanzsystem, das Despoten den Aufbau von Armeen erleichtert, ebenso eine Rolle, wie der Waffenhandel und die Außenpolitik vieler Staaten, die allem Anschein nach in der jüngeren Vergangenheit ihre Interessen in anderen Teilen der Welt derart verfolgt haben, dass von einer Mitschuld an Konflikten gesprochen werden kann. Eine Wiedergutmachung dafür kann durch die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen erfolgen.

Drittens tragen die Industriestaaten durch einen überdurchschnittlich hohen Ausstoß von Emissionen in überdurchschnittlichem Maß zum Klimawandel bei, der zahlreiche Gebiete entweder schon unbewohnbar gemacht hat oder doch in absehbarer Zeit unbewohnbar machen wird. Eine Wiedergutmachung dafür kann durch die Aufnahme von Klimaflüchtlingen erfolgen.

Die hier genannten Wiedergutmachungspflichten bestehen gegenüber Teilgruppen von denjenigen, die bereits oben als Flüchtlinge genannt worden sind. Sie begründen daher inhaltlich keine neuen Pflichten, sind aber doch äußerst relevant für die Frage, wie die Last der Flüchtlingsbewältigung unter den Aufnahmestaaten zu verteilen sind. Halten wir daher fest:

Wiedergutmachungsansprüche können bestimmten Flüchtlingen besondere Rechte einräumen, von bestimmten Staaten aufgenommen zu werden. Sofern pauschale Wiedergutmachungspflichten angenommen werden, müssen die Lasten der Flüchtlingsaufnahme nach dem Verursacherprinzip verteilt werden.

Ideale Theorie

In einer Welt aus idealen Staaten gäbe es (fast) keine Flüchtlinge. Wenn hier im Rawls’schen Sinn von einer »idealen Theorie« die Rede ist, so ist daher keine komplett ideale Welt gemeint, sondern eine Welt, in der alle Staaten, die moralisch zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet sind, bereit sind, dieser Pflicht nachzukommen. Sieht man einmal davon ab, dass es große Streitigkeiten über die sozialwissenschaftliche Beurteilung der relevanten Fakten sowie über die Gewichtung der drei Verpflichtungsgründe zueinander geben wird, wäre die normative Beurteilung in einer solchen Welt relativ einfach: Staaten wären moralisch gehalten, eine internationale Organisation (etwa das UN-Flüchtlingshilfswerk) zu beauftragen, Flüchtlinge nach einem Verteilungsschlüssel, der sich an den oben genannten Kriterien orientiert, global auf potentielle Aufnahmeländer zu verteilen. Flüchtlingslager, die nah am Herkunftsstaat situiert sind und zwar das schiere Überleben, aber keine gesellschaftliche Eingliederung ermöglichen, sind nur dann zulässig, wenn die Fluchtursache voraussichtlich nach kurzer Zeit behoben sein wird und zu erwarten ist, dass die Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren können.

Wer aber sollte bei einer solchen Verteilung als Flüchtling anerkannt werden? Aus dem Gesagten ergibt sich, dass all denjenigen der Status eines Flüchtlings zuzuerkennen ist, die in ihrem Heimatstaat ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können (hierin treffen sich der erste und der zweite Verpflichtungsgrund). Dazu zählen insbesondere auch die Flüchtlingsgruppen, die im Zusammenhang mit dem dritten Verpflichtungsgrund genannt wurden, also Bürgerkriegsflüchtlinge, Klimaflüchtlinge sowie – sofern Staaten keine geeignete Entwicklungshilfe leisten und das Welthandelssystem nicht fair gestalten – diejenigen, die oft als Armutsflüchtlinge bezeichnet werden.

Keine