Heimatkinder 15 – Alles dreht sich ums Annerl

Heimatkinder –15–

Alles dreht sich ums Annerl

Kleiner Spatz, einmal wird alles wieder gut

Roman von Harald M. Wippenbeck

Es sah ganz danach aus, als sei in jenen Tagen der Winter noch einmal in das obere Inntal zurückgekehrt, um sein hartes Regiment erneut zu beginnen. Die wenigen Leute auf dem Friedhof von Imst zogen fröstelnd ihre Schultern zusammen, denn Graupel und Schneeregen hatten eingesetzt. Hinzu kam ein heftiger, beißender Wind, der von den Bergen niederfuhr ins Tal und an den Kleidern zerrte. Die Osterglocken, die mancherorts schon erblüht waren, ragten mit hängenden Köpfen aus der dünnen Schneedecke.

Barbara Renz spürte den festen Druck der kleinen Kinderhand in ihrer. Dann fiel der Blick des zierlichen dunkelhaarigen Mädchens auf das kleine Dirndl an seiner Seite. Groß und flehend sahen die Blauaugen in Barbaras Gesicht.

Verlass mich net, so schienen sie zu betteln, und der Druck der Kinderhand verstärkte sich, während der Geistliche Annerls Mutter mit weihevollen Worten aussegnete.

Erst ein paar Tage war es hergewesen, dass Dora Preisinger diese Lungenentzündung bekommen hatte. Nun, zuerst hatte man es als eine Lungenentzündung nicht erkannt. Daher hatte sich Dora auch ganz hartnäckig geweigert, einen Doktor kommen zu lassen. So lag sie droben in der kleinen, zugigen Kammer auf dem Lutzhof, die sie mit Barbara Renz teilte, denn Barbara und Dora arbeiteten als Mägde bei Babette Lutz.

Von irgendwoher war Dora vor gut drei Jahren gekommen. Genaues wusste man nicht von ihr. Ihr Kind war damals gerade zwei Jahre alt gewesen, als Dora Preisinger diese Anstellung auf dem Lutzhof fand. Die Lutzin selbst war weder gut noch böse. Sie war seit Jahren Witwe, und man konnte sagen, dass sie das Leben eigentlich recht bitter und herb gemacht hatte.

»Was stehst denn jetzt noch umeinander, Barbara?«, hörte das junge Mädel nun die unangenehme Stimme der Dienstherrin. »Es ist rum, und wir können wieder nach Hause gehen. Daheim hab ich noch etwas mit dir zu bereden.«

Barbara warf einen letzten Blick über die Schulter, als sie, das Kind an der Hand führend, den Kirchhof verließ. Schweigend gingen Barbara Renz und Babette Lutz nebeneinander her.

Der Schneeregen peitschte ihnen in das Gesicht, und er verwischte wohl auch Barbaras Tränen, die sie um die liebgewonnene Freundin weinte.

Das Kind selbst zeigte keine Trauer. Es war wohl noch zu jung, um zu begreifen, was sich da ereignet hatte. Man hatte dem Kind gesagt, dass die Mama nun im Himmel sei. Aber davon, dass sie niemals wiederkehren würde, hatte man dem Annerl nichts erzählt.

Auf dem Lutzhof war es recht frisch.

»Ob man wohl noch einmal den Ofen anschüren sollt?«, fragte sich die Bäuerin. Sie war hager und für eine Frau recht aufgeschossen. Das schon dünne und angegraute Haar trug sie zu einem Spunt am Hinterkopf befestigt.

»Ach was«, sagte die Lutzin nach einer Weile. »Es ist Ende April, und da kann das Wetter ja net so bleiben. Das Holz sparen wir uns. Ziehen wir uns halt eine Wolljacke drüber.«

»Ich bring das Madl hinauf zum Schlafen«, sagte die dunkelhaarige Barbara mit tonlos klingender Stimme. »Es war ein bisserl viel fürs Annerl. Die Aufregung hat’s Madl müd gemacht.«

»Ja, ja, es ist schon gut«, murmelte Babette Lutz. »Ich richt uns derweil einen heißen Tee. Hernach kommst herunter in die Diele. Dann gibt’s etwas zu reden.«

Barbara führte Annerl nach oben. Ganz am Ende des langen Ganges lag zur Rechten die Kammer, die sie mit Dora und dem Annerl geteilt hatte. Drei Betten standen in dieser Kammer. Außerdem gab es einen wackligen Tisch mit drei ebenso wackligen Stühlen und einen großmächtigen, alten Schrank, an dem ewig die Türen quietschten. Nein, gastlich war dieser Raum weiß Gott nicht. Aber es war immerhin ein Raum. Man hatte ihn ja auch bisher nicht zum Aufenthalt benutzt, sondern war abends nach getaner Arbeit todmüde in die Betten gefallen.

Das Kind hatte schon sehr frühzeitig allein zu spielen gelernt. Auf einem Bauernhof, wie es der Lutzhof war, gab es für ein fünfjähriges Madl hinreichend Abwechslung. Da waren die Tiere, die Wiesen und der nahe Wald. Annerl hatte sich vorwiegend selbst beschäftigt und war an feste Zeiten gewöhnt. Viel Aufhebens hatte ja Dora mit dem Annerl nicht machen können, denn die Lutzin forderte von ihren Dienstboten eine anständige Portion Arbeit für einen nicht allzu großen Lohn.

Barbara Renz hatte mit dem Kind an der Hand die kleine Kammer betreten. Das Bett, in dem Dora gelegen war, hatte man wieder frisch bezogen. Nein, es sah gar nicht so aus, als wäre etwas Einschneidendes geschehen. Man konnte meinen, die lachende Dora würde zu jeder Minute wieder zur Tür hereinkommen, ihr Kindl auf den Arm nehmen, um es zu herzen und zu küssen. Aber Dora würde niemals wieder durch diese Tür treten können …

»Du, Barbara«, begann das Kind nun zu fragen, indem es sich die Augen rieb, »wann kommt denn die Mama aus dem Himmel wieder retour? Sie muss doch kommen, um mir Gutnacht zu sagen, oder net? Wir haben doch alleweil miteinander gebetet, die Mama und ich.«

Diese einfachen Fragen trieben Barbara das Wasser in die Augen. Nur mühsam vermochte sich das Mädel zu beherrschen.

»Ach, weißt du, Annerl«, meinte sie verlegen und gegen die Tränen kämpfend, »wenn man eine Reis’ in den Himmel tut, dann kann das eine ganze Weil’ dauern. Heut kommt deine Mama bestimmt net retour.

Heut bring ich dich ins Bettchen. Zum Nachtmahl hol ich dich wieder herunter, Annerl.«

Das Kind zuckte die Schultern, ging dann auf das Bett zu, um sich in altgewohnter Weise auszukleiden. Sorgsam hängte das fünfjährige Madl seine Kleider über den wackligen, altersrissigen Holzstuhl. Dann zog es die Bettdecke zurück und schlupfte hinein.

»So«, sagte Barbara und ring sich ein Lächeln ab. »Jetzt wird aber erst einmal ein Stündl geschlafen.«

»Z’erst beten«, verlangte Annerl. »Die Mama sagte alleweil, dass man immer beten muss, bevor man die Augen zumacht, damit man wieder richtig wach wird.«

»Ja, ja, z’erst beten, damit man wieder richtig wach wird«, sinnierte Barbara. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und faltete ebenso wie das Kind die Hände.

»Müde bin ich geh zur Ruh’ …«, so begann das Kind zu beten. Barbara brachte kein Wort über die Lippen. Die Kehle war ihr wie ausgedörrt.

»Du hättest auch mitbeten müssen«, sagte Annerl schließlich vorwurfsvoll. »Aber vielleicht kannst du es gar net.«

»Net so richtig«, stammelte Barbara verlegen.

»Gut«, meinte das Kind mit einem tiefen Seufzer, »dann werd ich es dir lernen, irgendwann.«

Und schon fielen die kleinen Äuglein zu. Barbara verharrte noch eine Weile. Wie segnend strich schließlich ihre Hand über die Stirn des kleinen Schlafgesichts.

»Schlaf gut, Annerl. Ja, schlaf nur. Werd mich schon um dich kümmern, so, wie ich es deiner Mama versprochen hab.«

Dann erhob sich Barbara. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, öffnete sie und huschte hinaus auf den Gang. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, blieb sie noch ein paar Augenblicke lauschend stehen, um dann hinunter in die Diele zu gehen.

Dort hatte die Lutzin bereits zwei Tassen Tee auf dem Tisch stehen.

»Jetzt sitz nieder, Barbara«, sagte Babette Lutz. »Nachdem die Dora gegangen ist, werden wir uns baldmöglichst nach einer neuen Kraft umschauen müssen, gell? Zwei Weiberls wie wir schaffen die viele Arbeit net, und ein Mannsbild kommt mir nimmer ins Haus. Das hab ich mir geschworen. Der Florian, der was einmal Knecht bei mir gewesen ist, hat mich um meine ganzen Ersparnisse gebracht. Das kommt mir net noch einmal vor!«

Barbara setzte sich. Sie gab zu den Worten der Lutzin keinen Kommentar ab. Sie fühlte sich müde und unendlich erschöpft. Wie ein Film lief noch einmal alles vor Barbaras Augen ab …

»Ja, und was wird jetzt aus dem Madl?«

Diese harten und herb gesprochenen Worte rissen Barbara aus ihrer Versunkenheit. Wie traumverloren betrachtete sie Babette Lutz.

»Aber – aber das ist doch gar keine Frage«, stammelte sie nun. »Das Annerl bleibt selbstverständlich bei mir.«

Da lächelte die Lutzin halb mitleidig und halb spöttisch.

»Soso, bei dir«, sagte sie und strich dann mit den Händen über die kahle Tischplatte.

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Was heißt das, wie ich es mir vorstelle?«, fragte Barbara verwundert. »Das Madl kann doch grad so gut in der Kammer droben schlafen, wie es bisher auch der Fall gewesen ist.«

»Ich – ich hab ja nix gegen Kinder«, meinte die Lutzin nun. »Aber ich hätt die Dora seinerzeit net grad mit einem Kind eingestellt, wenn ich s’ damals net so notwendig gebraucht hätt, die Dora. Na ja, fleißig ist s’ schon gewesen. Aber ein solches Kind ist halt alleweil ein Hindernis und eine Last.«

»Für mich net!«

Sehr willensbetont und fast ein wenig barsch waren diese Worte über Barbaras Lippen gekommen. Die Lutzin zog die Brauen in die Höhe.

»Barbara«, mahnte sie nun. »Du bist grad zwanzig Jahr’ alt. Willst du dir die Last mit einem fremden Kind hinaufladen?«

»Ich hab’s der Dora versprochen!«

»Mein Gott, ja, du hast’s versprochen. Mit diesem Bewusstsein ist sie auch in die Ewigkeit gegangen. Aber zwischen Versprechen und Halten ist ein weiter Weg. Das sind zwei Paar Stiefel, Madl. Außerdem kommt jetzt doch das Behördliche.

Barbara hob den Kopf und sah ihre Dienstherrin verwundert an.

»Ja, was denn für Behördliches?«, wollte sie wissen.

»Ein Madl, das keine Eltern nimmer hat und erst fünf Jahr’ ist, das kommt in ein Waisenheim.«

»In ein …?«

»Ja, wenn ich es dir sag. Das will das Gesetz so. Du bist viel zu jung, um dich um das Madl zu kümmern. Was meinst du, was die für ein Theater machen? Naa, naa, die tun ein solches Kind net einfach jemandem anvertrauen, und ich möcht net alle Naslang das Jugendamt im Haus haben. Das musst du verstehen.«

»Ich geb aber das Annerl net her!«, beharrte Barbara nun mit fester Stimme. »Nein, ich geb’s net her, weil ich es versprochen hab. Außerdem mag ich das Madl.«

»Barbara, sei doch gescheit. Du kannst gar nix dagegen machen. Sie werden es dir wegnehmen, hörst du?«

»Wegnehmen? Aber man kann mir doch net einfach das Madl wegnehmen, wenn’s mir seine Mutter ans Herz gelegt hat.«

»Herz und Gesetz sind eben zwei Paar Stiefel, das hab ich dir schon einmal gesagt«, meinte nun die Lutzin. »Außerdem wär es mir persönlich überhaupt net recht. Schau, Barbara, wir sind alleweil gut miteinander ausgekommen. Soll jetzt das Kind zum Zankapfel werden? Man kann es doch in ein Waisenheim geben, und du kannst es alleweil besuchen wenn du Zeit hast. In einem Waisenheim hätt es bestimmt auch die Pflege und Wartung, die es braucht.«

»Du redest, als wär das Kind ein Traktor«, sagte Barbara nun sehr trocken. »Von der Lieb’, die ein solches Madl braucht, da sprichst du wohl net.«

Nun senkte die Lutzin beinahe etwas beschämt den Kopf.

»Ich bin ja alleweil mit dir zufrieden gewesen, Barbara. Aber was hat man denn schon von der Dora gewusst? Wer war denn der Vater von dem Kind? Das hat sie uns nie erzählt. Weiß der Teufel, was für ein Erbe in dem Madl schlummert, und wie es sich einmal entwickelt. Du lernst bestimmt auch einmal einen Burschen kennen, der dich gern zur Frau hätt. Ja, und dann hockst du da mit einem Kind, das was net das Deinige ist und das du dir so einfach auf den Hals geladen hast. Madl, das machst mir net. Das sag ich dir gleich.«

»Ich geb das Annerl net her!«, erklärte Barbara Renz nun mit fester Stimme. »Vielleicht fahr ich morgen einmal zum Jugendamt. Die haben doch eine Außenstelle in Imst. Dann werd ich mich erkundigen, wie sich das verhält. Dann werden wir schon sehen, ob man mir das Annerl wegnehmen kann. Und wenn du mich mit dem Kind nimmer behalten willst, dann such ich mir halt einen anderen Dienstplatz.«