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Michael Buttler

HORROR 004: Der zweite Sohn Gottes





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

HORROR 004

 

Der zweite Sohn Gottes

 

Michael Buttler:

Dabei wusste er noch gar nicht, dass ausgerechnet er… jene Art von Auserwählter sein sollte, ohne den die Menschheit keine Chance mehr hatte!“

 

Es war scheißkalt. Hannes war schon seit Stunden unterwegs. Mit jedem Schritt sackte er bis zum Knöchel im Schnee ein. Er besaß nur ein paar alte, abgetragene Halbschuhe, und so waren seine Füße trotz des unermüdlichen Laufens kurz vor dem Erfrieren.

Seine Habseligkeiten hatte er auf einem Fahrrad verstaut, das er neben sich her schob. Ein altes, klappriges Ding, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Der Schnee machte ihm das Vorankommen schwer, aber Hannes musste noch durchhalten.

 

Dabei wusste er noch gar nicht, dass ausgerechnet er… jene Art von Auserwählter sein sollte, ohne den die Menschheit keine Chance mehr hatte. Und das kam so…

 

Impressum:

Erstauflage: 2009

Diese Auflage: 2016

Copyright by HARY-PRODUCTION

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Telefon/Fax: 01805 060 343 768 39

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Titelbild: Thorsten Grewe

Covergestaltung: Anistasius


ISSN 1614-3299


1. Kapitel

Die kleinen Dinge des Lebens


Es war scheißkalt. Hannes war schon seit Stunden unterwegs. Mit jedem Schritt sackte er bis zum Knöchel im Schnee ein. Er besaß nur ein paar alte, abgetragene Halbschuhe, und so waren seine Füße trotz des unermüdlichen Laufens kurz vor dem Erfrieren.

Seine Habseligkeiten hatte er auf einem Fahrrad verstaut, das er neben sich her schob. Ein altes, klappriges Ding, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Der Schnee machte ihm das Vorankommen schwer, aber Hannes musste noch durchhalten.

Er war in einem ähnlichen erbärmlichen Zustand wie sein Fahrrad. Auf den Sperrmüll der Gesellschaft abgelegt, wollte kaum ein Mensch noch etwas mit ihm zu tun haben. Er bot keinen besonders Vertrauen erweckenden Anblick. Das lange, braune Haupthaar reichte Hannes bis unterhalb der Schulterblätter. Sein Gesicht war wegen der vielen roten Barthaare kaum zu finden. Jemand hatte ihn einmal mit einem Waldschrat verglichen und Diogenes hatte ihn gestern noch Rübezahl genannt.

Der Winter in diesem Jahr war schnell gekommen und im Verhältnis zu den letzten Jahren besonders unbarmherzig zu Menschen wie ihm, die kein Zuhause, keine Familie und keine Zukunft hatten, und die ihr gesamtes Habe auf einem ollen Drahtgestell mit Rädern transportierten. Zu Leuten eben, denen selbst die kleinen Dinge des Lebens fehlten.

Bis vor wenigen Tagen war Hannes noch in dem alten Lagerhaus einer bankrott gegangenen Firma untergekommen. Sie waren zu fünft gewesen und wollten nicht ins Wohnheim. Dort gab es nur Ärger mit den Fremden, dort wurde geklaut und man fühlte sich beengt in den kleinen Zimmern in denen sie wie die Tiere im Stall lebten und jeder den Ausdünstungen der anderen ausgeliefert war, wo keiner von ihnen den geringsten Freiraum, die geringste persönliche Sphäre hatte.

Schnüffler, der so hieß, weil er nach den Dämpfen von Lösungsmitteln süchtig war, berichtete, er habe im letzten Winter auf einem Bauernhof gearbeitet und war dafür auch gut untergebracht gewesen. Es wäre ganz einfach, die Unterkunft zu bekommen, denn die Bauern könnten immer jemanden zum Arbeiten gebrauchen. Hannes hatte sich vorgestellt, wie angenehm es wäre, eine eigene kleine Kammer unter dem Dach eines Bauernhauses zu bewohnen.

Nun murmelte er einen Fluch und starrte auf den Schnee zu seinen Füßen. Das hatte er nun von seinem kleinen Traum. Es mussten noch fast sechs Kilometer nach Klarenfeld, dem nächsten Ort sein.

Hannes könnte schon längst in seiner warmen Kammer sitzen und seine Füße der Heizung entgegen strecken, aber er war aufgehalten worden. Auf einer öffentlichen Toilette fand er einen Fixer, halb tot, holte Hilfe, musste Erklärungen abgeben und ein Protokoll unterschreiben, das zu formulieren ein Beamter geschlagene zwei Stunden brauchte.

Geld für den Bus hatte Hannes nicht, aber er war der festen Überzeugung, es noch vor dem Abend nach Klarenfeld zu schaffen. Doch nach wenigen Kilometern hatte es so heftig zu schneien angefangen, als wollte eine höhere Macht verhindern, dass er an sein Ziel kam. So etwas hatte Hannes noch nicht erlebt: Innerhalb einer halben Stunde war es nicht mehr möglich, normal voran zu kommen. Und es fiel immer noch Schnee vom Himmel.

Mit seinen behandschuhten Fingern nestelte Hannes eine kleine Flasche mit einer braunen, scharfen Flüssigkeit hervor. Es war nicht mehr viel drin; den Rest trank er in einem Zug aus und schüttelte sich, als er das Brennen in seiner Kehle spürte. Der Schnaps wärmte ihn vorübergehend, und Hannes gab sich gerne der kurzen Täuschung hin. Er wusste, es war eigentlich falsch jetzt Schnaps zu trinken, wusste um die Wirkung, die Alkohol in seiner jetzigen Situation hatte. Der Alkohol würde seine Poren öffnen und ihn später noch wesentlich mehr frieren lassen.

Wütend warf er die Flasche in den Schnee und ging schneller.

Hannes wusste nicht, wie weit es noch bis Klarenfeld war. Aber bei diesem Tempo war er sicher, erst am späten Abend anzukommen. Wenn er bis dahin nicht erfroren war. Und ein Quartier hatte er bis dahin noch lange nicht.

Außer seinem Keuchen und dem Schnarren, das Hannes mit jedem Schritt erzeugte, wenn seine Füße im Neuschnee versanken, war es ruhig. Aus diesem Grund stutzte er, als er ein tiefes Brummen hörte.

Hannes blieb stehen und lauschte. Durch den Schnee war es schwer das Geräusch zu lokalisieren. Hannes schaute sich um, auch nach oben. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Scheinwerfer eines Autos zwischen dem weißen Vorhang aus herabfallenden Schneeflocken erkennen konnte. Der Wagen kam aus der Stadt und nur langsam voran, fuhr nicht viel schneller als Schritttempo.

Vielleicht wollte der Fahrer ebenfalls nach Klarenfeld?

Immer deutlicher erkannte Hannes die Umrisse des Gefährts. Das Auto war etwas höher als ein normaler PKW. Schließlich sah Hannes, dass es sich um ein Pickup handelte, der ihn und vor allem sein Fahrrad problemlos transportieren könnte.

Hannes winkte, hoffte, der Fahrer würde darauf eingehen.

Und tatsächlich: Der Wagen hielt zwei Meter vor Hannes an.

Es war nicht zu erkennen, wer in dem Auto saß. Hinter der Windschutzscheibe war es dunkel.

Die Autotür schwang auf.

Hannes ging das kurze Stück zurück und schaute in den Innenraum des Fahrzeugs. Es handelte sich um einen Zweisitzer. Der Beifahrerplatz war leer. Die Innenbeleuchtung war ausgeschaltet. Auf der Fahrerseite erkannte Hannes nur einen dunklen Schatten.

Leg dein Fahrrad hinten drauf und steig ein.

Es war Hannes, als habe er die Stimme des Fahrers gar nicht gehört, trotzdem waren die Worte verständlich bei ihm angekommen. Die Kälte, dachte Hannes und schüttelte den Kopf. Es war ihm auch egal, dass der Fahrer nicht nach seinem Ziel gefragt hatte. Alles war besser, als diese eisige Hölle hier draußen. Vorsichtig hievte er das Fahrrad auf die offene Pritsche und sah zu, dass seine gut verpackten Sachen nicht herunter fielen.

Für einen Augenblick dachte Hannes daran, dass der Fahrer nun vielleicht los fahren würde, um ihn seiner letzten Habe zu berauben. Aus diesem Grund hielt Hannes sich an der Pritsche fest, bis er die Beifahrertür erreicht hatte. Das gab ihm ein bisschen Sicherheit, obwohl er wusste, dass er nicht dazu in der Verfassung wäre, sich über die Kante zu ziehen, sollte der Fahrer tatsächlich anfahren.

Hannes setzte sich und schloss die Tür. Vom Gebläse strömte ihm ein muffiger, warmer Wind entgegen.

Der Fahrer ließ den Wagen wieder anrollen. Obwohl Hannes nun direkt neben ihm saß, war der andere für ihn nicht mehr als ein grauer Schemen.

„Danke auch“, sagte Hannes. Seine Mundwinkel schienen wie festgefroren und so nuschelte er und war sich nicht sicher, ob sein Wohltäter ihn überhaupt verstanden hatte.

Hannes wartete darauf, dass der Fahrer so etwas wie ‚Keine Ursache‘ oder ‚Wo soll es denn hingehen‘ sagte. Aber er blieb still.

„Ich will nach Klarenfeld. Ich dachte, das ist nicht mehr weit. Da habe ich mich wohl getäuscht. Es wäre prima, wenn Sie mich dort raus lassen.“

Der Fahrer zeigte erneut keine Reaktion. Langsam wurde es unheimlich. Verstohlen schielte Hannes zur Seite. Außer einem undeutlichen zerfaserten Schatten erkannte er nichts. Hannes schüttelte den Kopf, zog sich die Handschuhe aus und rieb sich das Gesicht, anschließend die Augen. Die Kälte und der Alkohol machten ihm offensichtlich zu schaffen. Das mochte erklären, warum er neben sich keine eindeutige Gestalt sehen konnte, nicht aber, weshalb der andere nicht mit ihm redete.

Wahrscheinlich nahm der Kerl normalerweise keine Anhalter mit und hatte nur Mitleid mit Hannes gehabt und bereute es schon wieder.

Oder er redet nicht mit dreckigen Pennern, die er bald aus dem Wagen schmeißt oder nur so zum Spaß alle macht, verdrischt oder überfährt oder beides.

Hannes schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Warum sollte der Fahrer dieses Wagens das tun? Er hätte das vorhin viel einfacher haben können.

Vielleicht ist er ein Genießer, wie ein Schickimicki-Typ im Edel-Fressstall. Viele von Hannes‘ Kumpanen hatte es so oder ähnlich erwischt. Für manche Menschen waren sie Ungeziefer, das man platt trat.

Hannes versuchte den Gedanken zu verdrängen. Er stellte sich eine kleine, gemütliche Kammer bei einem Bauern unterm Dach vor, dachte daran, wie herrlich es sein würde, sich in einem weichen Bett auszustrecken, während der kalte Wind über die Ziegel pfiff.

Die warme Luft, die aus der Heizung des Pickups kam, verwandelte Hannes‘ Fußzehen in schmerzende Klumpen. Ein paar Minuten länger da draußen, und sie wären ihm vermutlich abgefroren.

„Nett von Ihnen, mich mitzunehmen“, sagte Hannes und schaute erneut zum Fahrer, sah aber weiterhin nur einen wabernden Schatten, selbst als er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen kniff und sich konzentrierte. Es war vergeblich. Hannes gab es auf.

Hoffentlich hast du dich nicht zu früh bedankt.

Außer dem gleichmäßigen Brummen des Motors und dem leisen monotonen Blasgeräusch der Lüftung war es still im Wagen. Das leichte Schaukeln, mit dem das Auto durch den Schnee fuhr, wirkte ein bisschen hypnotisierend auf Hannes. Draußen tanzten die Schneeflocken, bis sie von der Windschutzscheibe eingefangen wurden und schmolzen. Sie erschienen Hannes wie aufgescheuchte kleine Zauberwesen, Feen oder Elfen oder wie die Dinger hießen. Mit den Augen versuchte er einzelnen Flocken zu folgen. Hannes hatte bald Mühe, die Augen noch offen zu halten und gab der Erschöpfung schließlich nach.

Als sie von der Landstraße abbogen, wachte Hannes wieder auf und rieb sich die Augen. Er konnte nicht länger als ein paar Minuten geschlafen haben und fragte sich, ob sie sich nun auf der Abzweigung nach Klarenfeld befanden.

Trotz des Schnees erkannte Hannes, dass sie auf einer ziemlich schmalen Straße fuhren, vielleicht sogar nur einem Feldweg. Die Fahrbahn war nur eineinhalb Mal so breit wie der Pickup. Zu beiden Seiten befanden sich zugeschneite Gräben, die tiefer lagen, als der Weg.

Für einen Moment dachte Hannes erneut daran, dass der Fahrer ihn vielleicht doch um die Ecke bringen würde und ihn deswegen ins freie Feld beförderte, doch dann sah Hannes zwischen den dicken Schneeflocken kleine Lichter, die im Takt der Stoßdämpfer auf und nieder hüpften: Häuser und Straßenlaternen.

Sie kamen an einem großen, dunklen Gebäude vorbei, vielleicht einer Scheune. Kurz darauf erfassten die Scheinwerfer des Autos ein Ortsschild, das zwar nahezu komplett zugeschneit war, doch den Namen der Ortschaft konnte man trotzdem noch erahnen:

Klarenfeld

Er hatte es geschafft.

„Danke, falls Sie extra für mich abgebogen sind.“

Noch immer sagte der Fahrer nichts. Nicht mal eine beiläufige Bemerkung über einen Umweg, den er wegen Hannes fuhr.

„Oder wollen Sie sowieso hierher?“

Obwohl er nun wieder mit dem Fahrer sprach, vermied es Hannes, seinen Nebenmann erneut anzusehen.

„Sind Sie zufällig Bauer und brauchen fürs Grobe so einen wie mich? Ich mache fast alles“, sagte er. Im gleichen Moment bereute Hannes seine Worte. Eigentlich wollte er mit diesem unheimlichen Kerl nicht mehr zu tun haben, als dass dieser ihn irgendwo absetzte, wo Hannes alleine zu recht kam.

Sie erreichten das erste Haus, offensichtlich ein Bauernhof mit Wirtschaftsgebäuden und passierten ihn, ließen ihn rechts liegen. Das zweite Haus war etwas kleiner, hatte seinen Hof scheinbar von der Straße abgewandt und stand auf der linken Seite. Auch hier fuhren sie vorbei.

Allmählich sollte er anhalten und mich raus lassen.

Beim dritten Hof hielt der Fahrer den Pickup unvermittelt an. Die Tür auf der Beifahrerseite ging von alleine auf. Zwei Sekunden saß Hannes bewegungslos, glaubte, sein Herz sei stehengeblieben. Dann verlor er die Fassung und stürzte nach draußen, fiel in den Schnee und verharrte so einen Moment auf allen Vieren. Hannes schaute zum Wagen und sah, wie die Tür des Pickups von alleine wieder zuschlug.

Vielleicht ein elektrischer Türöffner. Bei den Fenstern geht das doch auch.

Der Wagen fuhr nicht weiter.

Er wartet darauf, dass du dein armseliges Fahrrad von der Pritsche hebst.

Hannes stand auf und trat an die Ladefläche, hinter dessen Wand ein Lenker, eine Pedale sowie seine auf dem Gepäckträger verstauten Sachen hervorschauten. Mit beiden Händen griff er zu, packte das Rad am Rahmen.

Jetzt fährt er los, in diesem Augenblick. Fährt mir die Füße mit den Reifen platt. Ich werde hier verrecken.

Hannes spannte seine Muskeln, hob das Fahrrad über die Pritschenwand und ging zwei Schritte zurück, doch der Pickup blieb immer noch stehen. Hannes überprüfte, ob er alle seine Sachen beisammen hatte. Eine Plastiktüte, die er lose am Lenker hängen hatte und in der eine Kinderdecke steckte, die ihm als Kopfkissen diente, fehlte. Hannes ließ das Rad vorsichtig in den Schnee ab und wandte sich wieder dem Auto zu.

Der Fahrer wartet, bis ich fertig bin. Woher weiß er, dass mir noch etwas fehlt?

Hannes tastete suchend nach der Tüte, fand sie und zog sie zu sich heran. Dann ging er wieder zurück zu seinem Fahrrad. Der Pickup nahm seine Fahrt wieder auf und zuckelte langsam die Straße hinunter. Hannes schaute ihm nach, bis er hinter dem fallenden Schnee verschwand, den er vor ein paar Minuten für wirbelnde weiße Zauberwesen gehalten hatte. Irgendwann waren die Rücklichter nicht mehr zu sehen, der Motor nicht mehr zu hören.

So dankbar Hannes seinem Wohltäter auch war, so froh war er auch, ihn wieder los zu sein.

Hannes stand vor einem Bauernhof, dessen Wohnhaus, wie bei den anderen Höfen, die er bisher in diesem Dorf gesehen hatte, nur wenige Meter von der Straße entfernt stand. Ob sein Wohltäter wohl meinte, Hannes solle es hier zuerst versuchen?

Ist auch egal. Ein Hof ist wie der andere.

Noch einmal schaute Hannes dort hin, wo der Pickup in die Nacht verschwunden war, und runzelte die Stirn. Der Schnee war glatt und unberührt. Verwirrt schaute er in die Richtung, aus der sie von der Landstraße gekommen waren. Soweit es der fallende Schnee und die Straßenlaterne erlaubten, sah er Spuren im Schnee, allerdings nicht die Reifenabdrücke des Pickups, sondern die von seinem Fahrrad und seinen Schuhen!