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Maren Elbrechtz

ALLES WAS ICH
MUSS IST WEG

Reiseroman mit Burnout

Ulrike HELMER Verlag

© 2016 eBook nach der Originalausgabe
© 2016 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Atelier KatarinaS unter Verwendung eines Fotos von
© Reika – Fotolia.com

Ulrike Helmer Verlag
Neugartenstraße 36c, D-65843 Sulzbach/Taunus
E-Mail: info@ulrike-helmer-verlag.de

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Kapitel 1:

WÄNDE

TOD. Wenn ich ein Buch schreiben würde, begänne es mit dem Wort Tod. Einfach nur so: Tod. Es wäre ein lustiges Buch. Wenn ich ein trauriges Buch schreiben wollte, begänne es mit dem Wort Sex. Aber das wäre wirklich einfach ein anderes Buch.

Wahrscheinlich beginnt man ein Buch nicht mit dem Wort Tod. Wahrscheinlich beginnt man ein Buch auch nicht mit einem Einwortsatz. Denn das ist ja kein Satz. Zumindest kein richtiger. Und es soll ja ein schönes Buch werden. Bilder sind schön. Ich könnte Bilder in mein lustiges Buch integrieren. Aber im Moment habe ich keine Bilder. Keine Bilder in meinem Kopf. Und keine Bilder vor mir. Ich schließe meine Augen. Nein, wirklich nicht ein Bild. Alles ist schwarz.

Lustig. Das hatte ich noch nie. So lustig wie die Tatsache, dass ich gestern in einem Aufzug stand, dessen Knopf zur richtigen Etage ich schon unzählige Male ohne zu denken gedrückt hatte. Gestern stand ich da, vor den Knöpfen, die Aufzugtür schloss sich und ich stand immer noch vor den Knöpfen. Bewegungslos. Ich wusste nicht mehr, auf welchen Knopf ich drücken musste. Die Tür öffnete sich wieder und meine Kollegin aus unserem Architekturbüro betrat den Aufzug. »Hallo Suza!«, sagte sie und drückte auf den Knopf für die vierte Etage. Richtig, das Büro ist in der vierten Etage. Warum fragt sie sich nicht, warum ich im Aufzug stehe und keinen Knopf gedrückt habe? Vielleicht denkt sie, dass der Aufzug kaputt ist. Oder sie wird denken: »Okay, die Schimmer hat endgültig den Verstand verloren. Wer weiß, wie lange die schon hier steht. Das werde ich mal den Kollegen erzählen, wir werden herzlich lachen.«

Jetzt liege ich im Bett und sehe in mein schwarzes Inneres. Dunkle Aussichten, aber besser als die, die mich mit geöffneten Augen erwarten, denn es ist hell. Es ist vielleicht drei oder vier Uhr. Nachmittags. Also 15 Uhr morgens, wie ich vor ein paar Wochen noch freudig behauptet hätte. Ich liege nicht wieder im Bett, sondern ich liege immer noch im Bett. Ich will nicht aufstehen. Da draußen ist nichts, was ich will. Im Wohnzimmer klingelt das Telefon. Ich lasse es klingeln. Zähle, wie oft es klingelt. Acht Mal. Drei und fünf ist acht. Ich bin 35. Und ich will nicht mehr aufstehen. Ich bin zu jung und gleichzeitig zu alt, um nicht mehr aufzustehen. Mit 18 kann man bis nachmittags seinen Rausch ausschlafen. Mit 85 kann man bis nachmittags schlafen, weil man so gut wie tot ist. Dann würde irgendwann demnächst jemand vorbeikommen, mich in einen Sack packen, mich endlich mal nett schminken, in einen gemütlichen Sarg legen und schließlich kämen alle zusammen, um auf mich zu trinken. Wann bekommt man schon mal so viel Aufmerksamkeit im Leben?

Spontan stellt sich mir die Frage, warum Särge gepolstert sind. Haben Tote Gefühle? Scheinbar. Scheinbar? Jetzt muss ich überraschenderweise an Bier denken. Das Leben ist absurd. Der Tod ebenfalls. Oder nicht? Vielleicht nur das, was Menschen daraus machen. Menschen denken ja auch, dass sie mit Ausländern nicht nur langsamer, sondern auch lauter reden müssen, damit die sie verstehen.

Ausländer im Ausland. Urlaub. Da, wo man sich eine halbe Stunde im Wörterbuch den Satz »Una salchicha por favor!« zurechtgelegt hat und die Fachkraft im Supermarkt mit »Möchten Sie lieber Nürnberger oder Krakauer? Die sind heute im Angebot!« antwortet. Das ist eine gute Situation. Zumindest insofern, dass man die Wurstfrau dann nicht anschreien muss. Wurst. Auch Wurst. Ist mir alles Wurst.

Es klingelt an der Tür. Was wollen die alle von mir?! Die sollen mich in Ruhe lassen! Ich habe Urlaub. Oder so etwas Ähnliches. Eigentlich hatte ich seit … keine Ahnung, wie lange ich keinen Urlaub mehr hatte.

Zurück zum Tod. Das wär jetzt schön, so ein bisschen Tod. Nur für eine Weile. Darf man so etwas denken? Wahrscheinlich nicht. Auf der anderen Seite: Gibt es da Gesetze? Ich brauche einen Plan und ich habe keinen. Endlich mal keinen Plan? Aber was ist dann, wenn man keinen Plan mehr hat? Es ist ein bisschen wie tot sein.

Die Kirchenglocken läuten. Ich öffne die Augen. Irgendwann, irgendwann werde ich wirklich die Kirche verklagen. Wenn der Muezzin nicht laut singen darf, warum darf die Kirche Sturm läuten, zumal der Kirchenturm unmittelbar vor meinem Fenster steht? Oder womöglich in meinem Schlafzimmer? Gut, dass ich die Augen geöffnet habe. Nein, er ist nicht in meinem Schlafzimmer. Und wie schreibt man eigentlich Muezzin?

Ich betrachte die Decke. Ich finde dort nichts. Ich ziehe mir die Decke bis zum Kinn und betrachte die andere Decke weiter. Also, die Zimmerdecke. Zimmerdecke im Bettzimmer, Bettdecke im Zimmerzimmer. Ui. Mein Hirn. Böse. Ich mache mir Sorgen. Sorgen um mein Hirn.

Die Zimmerdecke ist weiß. Allerdings wirkt sie grau. Sie müsste aber weiß sein, denke ich und will mir fragend die Augen reiben, als ich feststelle, dass ich eine Brille aufhabe. Ich nehme sie ab, sehe wieder zur Decke. Jetzt ist sie weiß. Wenn auch unscharf. Dafür sehe ich jetzt, dass ich über Nacht meine Sonnenbrille getragen habe. Kein Wunder, dass ich düstere Träume hatte! Und schon wieder mache ich mir Sorgen um mein Hirn. Aber ich weiß so weiß wie die Wand, dass es für die Sonnenbrille eine Erklärung gibt. Ich erinnere mich leider genau. Warum? Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, was mir mein Steuerberater letzte Woche erzählt hat (ich glaube, es war wichtig), erinnere mich aber daran, dass ich gestern geheult habe und die roten Augen hinter meiner Sonnenbrille verstecken wollte. Aber vor wem?

Mein Fahrrad hat mich gestern um 16 Uhr nach Hause gebracht, um 19 Uhr habe ich das erste Bier geöffnet und irgendwann kurz nach Mitternacht – also um 4 Uhr 13 – bin ich ins Bett gefallen. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe ich in dieser Zeit nicht einen Menschen gesehen, vor dem ich mein Antlitz hätte verbergen müssen …

Alkohol. Alkohol reduziert das Wesentliche in Richtung Nullpunkt. Das Unwesentliche bleibt. Ich bin mir manchmal einfach selbst zu viel. Oder zu wenig? Ich erfülle die Anforderungen nicht. Die der anderen. Oder meine? Jetzt funktioniere ich gar nicht mehr. Für niemanden. Ich gucke unter die Decke. Ich habe meinen Schlafanzug an. Also funktioniere ich doch zumindest ein wenig. Wobei, den Schlafanzug habe ich mir gestern um kurz nach vier nachmittags angezogen. Keine Meisterleistung, dann damit auch im Bett zu landen.

Tod. Ich habe immer Angst vor dem Tod gehabt. Nicht, weil er nicht sehr erholsam sein könnte, sondern weil keiner weiß, was danach ist. Ich mag Dinge nicht, die ich nicht verstehe. Willkommen im Leben! Wir beschäftigen uns mit dem Tod, solange wir leben.

Ich finde, die Wände meines Schlafzimmers wirken kalt, aber es ist eine beruhigende Kälte. Man muss über Wände nicht nachdenken. Zumindest nicht, wenn sie schon tapeziert sind und die Bilder hängen. So lange, bis sie einen erneut fordern, weil sie vergilben. Ich will von Wänden nicht gefordert werden. Ich gucke auf die Yucca-Palme, die auf der Kommode gegenüber meinem Bett steht. Es ist eine nette Palme. Sie hat sich daran gewöhnt, dass ich den Gießrhythmus vorgebe. Grün genug. Aber sie will gegossen werden. Zumindest ab und zu. Ich merke, wie sich mein Brustkorb zusammenzieht. Der Gedanke ans Gießen bereitet mir Stress. Großen Stress. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass die Wände immer näher zusammenrücken. Schön für sie, zusammenrücken ist eine feine Sache. Aber vielleicht doch nur für Menschen und Erdmännchen – oder Murmeltiere. Wenn ein Mensch sich zwischen zusammenrückenden Wänden wähnt, sollte dieser jener schnell den Raum verlassen. Und vor allen Dingen sollte er den Wänden nicht die Schuld geben.

Ich verzichte also auf Schuldzuweisungen und springe auf. Langsam. Ich springe langsam auf. Beim Aufspringen gibt es nichts zu gewinnen. Im Idealfall höchstens einen Zeitgewinn von 0,02 Sekunden oder per Zufall Erfahrungen in der Bandscheibenthematik. Im Wohnzimmer scheinen sich die Wände noch ganz normal zu verhalten. Ich sacke auf das Sofa. Mein Mund fühlt sich trocken an. Ich habe Durst. Aber zum Kühlschrank ist es mir gerade zu weit. Statt etwas zu trinken, starre ich Löcher in die Luft. Ich friere. Meine Wohnung ist kalt. Zum Heizkörper war es gestern wohl auch zu weit. Ist es immer noch. Und genaugenommen machen die gestarrten Löcher die Luft auch nicht wärmer.

Auf dem Sofa liegt eine Decke. Ich ziehe die Knie zum Kinn und die Decke über den Kopf. Tod. Ich schaffe es noch nicht einmal, einen einzigen Gedanken anständig zu Ende zu denken. Aber jetzt versuche ich es und danach werde ich mich mit der Realität beschäftigen. Vielleicht.

Tod. Also, ich habe ein Problem mit dem Tod. Mit 35 kann man nicht tot sein. Das passt einfach nicht zusammen. Alte Indianer können einfach auf einen Berg gehen und sterben. 93-jährige Süddeutsche können das wohl auch. Wahrscheinlich kriegen ähnlich alte Dänen es ebenfalls hin. Aber mit 35 geht das ums Verrecken nicht. Nirgends. Zumal da oben nämlich auch noch keiner wirklich ist, der auf einen wartet. Keiner, mit dem man sich vorstellen kann, die Seele über die Wolken schweben zu lassen und dabei das Leben laut lachend Revue passieren zu lassen. Es tut mir leid für alle, die vor 35 gehen müssen, ehrlich. Aber die meisten haben sich das auch nicht ausgesucht, sind wir alle doch einfach nur Natur.

Lebenstechnisch bin ich zunächst aber einmal verpflichtet, mir Dinge aussuchen zu müssen. Ich muss Entscheidungen treffen. Jeden Tag. Viele Entscheidungen. Und nur, weil ich das jetzt fast nicht mehr kann, ist es auch ein Ding der Unmöglichkeit, über so Dinge wie den Tod zu entscheiden. Ich luge unter der Decke hervor und betrachte meine Wohnung. Sie ist wie immer. Das Sonnenlicht fällt durch die Fenster, wirft schöne Strahlen und Schatten auf das Parkett, aber ich kann damit nichts anfangen. Ein Dialog fällt mir wieder ein:

»Du hast einen Schatten!«

»Ja«, sage ich, »und ich stehe dazu. Mein Schatten auch!«

»Schön, dass ihr euch einig seid!«

»Meistens. Aber manchmal will er in die Sonne und ich in den Schatten und dann kommt es zu großen Auseinandersetzungen und dann ist nix mehr mit drüberspringen und so …«

Wann war das? Warum? War ich nüchtern? Und mit wem habe ich gesprochen? Ich weiß es partout nicht mehr und schon ist der Gedanke auch wieder weg.

Je älter man wird, umso mehr weiß man. Erinnerungen, Erkenntnisse, Erlebtes, Erlerntes, Erfahrenes – all diese E-Wörter vereinigen sich beim Synapsen-Zusammenknall zu einer großen Wolke im Hirn, die sich den Weg Richtung Hirnlüftung, also dem Mund, bahnt. »Test. Test. Test«, flüstere ich leise. Die Stimmbänder knarzen dabei. Ich versuche es mit einem etwas schwierigeren: »Deeeeepressssssionen.« Hm. Reibeisen. Warum heißt es so? »De«. Und »Pressure«. Bei Dezentralisierung heißt das »De« doch auch »Ent«. Depression übersetze ich also mit De gleich Ent. Pressure gleich Spannung. Macht: Entspannung. Ha! Ich Genie! Ich weiß schon einiges! Und ich weiß auch um diese Unterabteilung der Depression, welche sich bis zur totalen Erschöpfung inklusive dem Löschen von Fähigkeiten jeglicher Art erstrecken kann. Ich spreche es laut aus: »Vielleicht habe ich mich tatsächlich in einen Burnout gefahren?« Ich wünschte, es gäbe den Begriff nicht. Dann könnte ich’s auch nicht haben. Krutzematze kann man auch nicht haben. Weil es das eben nicht gibt. (Zumindest noch nicht.)

Ob es auf dem Boden besser als auf dem Sofa ist? Unterm Teppich habe ich auch schon mal gelegen. Aber da habe ich auch noch mehr getrunken. Samt Decke rolle ich mich probeweise von der Couch auf den Teppich. Es ist anders. Ein bisschen. Es ist weder gut noch schlecht und ich tue mir leid. Oder auch nicht? Ist mir eher egal. Mir ist gerade nahezu alles egal. Hat jemand eine Kugel für mich? Wär mir auch egal. Solange die Knarre besser funktioniert als ich: her damit! Da könnte ich was übers Funktionieren lernen. Würde ich auch. Versprochen! In den Bruchteilen von Sekunden, bevor die Kugel eintrifft. Einfache Mechanik gleich Schlüssel für Funktion. Damit wären wir wieder beim Thema Tod. Und mal ganz ehrlich, ich habe gerade das Gefühl, ich habe gerade das Gefühl … ich habe das Gefühl vergessen, was ich gerade habe. Ich beiße in den Teppich. Ich beiße wirklich in den Teppich! Wer beißt schon in einen Teppich? »Lieber in den Teppich beißen als ins Gras«, denke ich und kann nicht fassen, was ich denke. Das ist wirklich erbärmlich. »Sollte ich jemals ein Buch schreiben, würde ich diesen Satz niemals zu Papier bringen!«, das verspreche ich mir selbst.

Ich schäle mich aus meiner Decke und weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Aber wie soll es weitergehen? Über genau diese Antwort habe ich die Kontrolle verloren. Ich richte mich auf und stehe nun in meinem lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Es ist ein wundervoller Spätsommer, die Vögel zwitschern ihre Unterhaltung durch mein offenes Fenster. Es gibt eine Welt. Außerhalb meiner eigenen vier Wände. Ich wünschte, ich würde für sie funktionieren können. Ich wünschte, ich hätte Liebeskummer, ein Drogenproblem, Insolvenz, ein gebrochenes Bein oder einen Job in der Fernsehbranche. Damit könnte ich leben, weil ich wüsste, wie es weiterginge damit.

Ich gehe zum Computer. Ich habe Angst vor ihm. Vielleicht nicht direkt vor ihm, aber vor möglichen Mails, die ich bearbeiten oder zumindest beantworten müsste. Beim Ton des sich ladenden Betriebsprogramms zucke ich zusammen. Kennwort. Ich starre auf den Bildschirm. Es fällt mir nicht ein. Also beschließe ich, einen Kopfstand zu machen. Nicht, weil ich denke, das könnte die Lösung bringen, sondern weil mir in dem Moment einfällt, dass ich seit geschätzten zwanzig Jahren keinen mehr gemacht habe. Wenn das Schiff sinkt, sollte man sich an den letzten Strohhalm klammern.

»Frau Schimmer, können Sie sagen, welche Projekte Sie dieses Jahr verwirklicht haben?«

»Nein, aber ich kann einen Kopfstand machen!« …

Enthusiastisch gehe ich mein Vorhaben an. Und weiß kurze Zeit später: Ich kann es nicht. Keinen Kopfstand. Der Bruchteil einer Sekunde, in dem die Füße zur Zimmerdecke ragen, zählt nicht. Das Hintenüberkippen schon. Das Geräusch, mit dem ich lande, wird sicher auf der Liste vermerkt, die die empfindlichen Nachbarn unter mir führen und mir bei jedem zehnten Strich unter die Nase halten. Na ja, und der wütende Schrei, der meiner Landung folgte, dürfte ein weiterer Strich sein. Leise und niedergeschlagen setze ich mich wieder vor den Computer. Ich versuche meine Aufmerksamkeitsspanne länger als ein paar Sekunden zu halten. Schwierig. Es reicht aber so weit, dass ich alle in Frage kommenden Passwörter mal eintippe, um Zugang zu meinem digitalen Reich zu erlangen. Es klappt! Jetzt habe ich einen Lauf und das könnte der Gedanke des Tages sein: Ich muss mein Mail-Programm gar nicht öffnen! Stattdessen klicke ich sofort auf das Browser-Symbol und tippe ein paar Schlagworte, die ich aus den hinteren Hirnwindungen krame, in die Suchmaschine: Antriebslosigkeit, Reizbarkeit, Sinnentleerung, Konzentrationsschwäche. Eine Krankheit kann das nicht sein, denke ich. Es ist eine Stunde an jedem meiner Tage – direkt nach dem Aufstehen!

Depression. Ja, das nehme ich jetzt schon ein wenig ernster. Wer jede Nacht bis in die Puppen wacht und in den Nachmittag schläft, kann sich mit Schluckspecht- und Murmeltiergenen nicht herausreden. Angeblich sei Schlaf die Flucht vor Depression, lese ich. Okay. Ich wähne mich bereits bei den Anonymen Depressiven. Ist man da dann nur anonym depressiv und darf ich eine Flasche Wein mit in die Sitzung bringen, um mit ihr ein wenig Gesellig- und Fröhlichkeit vortäuschen zu können? Was auch immer. Eigentlich habe ich den Sinn des Lebens darin gesehen, das Leben zu leben. Es zu erforschen, neugierig stets Neues zu erfahren. Das ist mir klar geworden, als ich dreizehn war. Ich finde, das ist keine depressive Einstellung, und sie besteht nach wie vor. Nur als Karl Lagerfeld kürzlich äußerte, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst sei, war meine Stimmung schwer getrübt. Das ist doch meine Erkenntnis gewesen!

Es hilft nichts, ich höre auf, mich dumm zu stellen: Laut Definition und untrüglicher Vorahnung habe ich ganz schlicht und einfach ein fucking Burnout. Das ist noch nicht einmal Deutsch! Warum können Krankheiten, die englische Namen haben, nicht da bleiben, wo der Name erfunden wurde? Immerhin heißen Mobiles oder Cellulars in Deutschland auch anders, nämlich Handys, und sie konnten sicher erst durch den neuen deutschen Namen Fuß fassen in diesem ehrenwerten Land. Ich hätte auf jeden Fall lieber Schulden. Tausche Burnout gegen Schulden. Oder: mein Handy verloren. Wenn ich mal länger als drei Tage eine Erkältung habe oder einen Hexenschuss, ticke ich aus, weil mein Körper nicht so funktioniert, wie ich es will. Er hat zu funktionieren, sagt dann mein Hirn. Jetzt will mein Hirn nicht mehr. Wie bringe ich meinen Körper dazu, dem Hirn auf die Sprünge zu helfen? »Wie steuert man Körper ohne Hirn« tippe ich langsam in die Suchmaschine und rücke ganz nah an den Bildschirm, im Glauben, ich könne dann besser verstehen, was ich lese. Wie ein Auto ohne Motor, wie ein PC ohne Prozessor … Fisch ohne Fahrrad, Vogel ohne Schwanz und der gelbe Wagen ohne Schwager. Blödsinn. Es ist viel zu schwierig alles. Ich kann lesen, was da auf dem Bildschirm steht, aber ich verstehe es nicht! Beim dritten Wort habe ich das erste wieder vergessen. Eigentlich würde ich gerne wieder in die Welt der Träume entschwinden. Meine Träume sind manchmal gut. Zumindest die, an die ich mich erinnere. Ich klappe den Laptop zu.

Wenn ich jetzt schlafe, bin ich mitten in der Nacht wieder wach und wüsste im Leben nicht, was ich dann mit mir und der Dunkelheit anfangen sollte. Ich beschließe, für alle Fälle Alkohol im Haus haben zu wollen, damit ich mein Gehirn im Wachzustand betäuben kann. Nur für den Fall. Was soll ich sagen? Wenn die Kacke am Dampfen ist, bricht die Kuh durch’s Eis. Oder so ähnlich …

Kapitel 2:

REGALE

Wie es der Zufall so will, habe ich noch einen leeren Kasten Bier in der Küche, der dazu dienlich sein wird, den erwarteten Endbetrag für den Neueinkauf zu minimieren. Auch wenn es Selbstbetrug ist, trifft das Argument wirklich zu. Heute ist der Einkauf pfandbedingt einfach billiger. Und das ist auch gerecht, denn schließlich muss ich für die Arbeit, den Kasten durch das Treppenhaus, über die Straße in den Supermarkt zu tragen, belohnt werden. Vielleicht kaufe ich auch keinen neuen Kasten, sondern nur neue Flaschen. Das wird noch billiger. Aber das lässt sich gerade nicht entscheiden, es ist schon schwer genug, weder Hose noch Schuhe noch Geld beim Rausgehen zu vergessen. Zum Glück begegne ich diesen Abläufen arbeitsbedingt fast täglich, so dass ich sie nur abrufen muss: Schlüssel, Geld, Handy. Alles scheint verstaut, demnach habe ich auch meine Hose mit ausreichend vielen Taschen nicht vergessen. Die Mütze verdeckt die vergessene Haarpflege.

Ich ergreife den Kasten und gehe los. Das Treppenhaus hinunter. Genau drei Stufen. Dann ist es vorbei. Mein ganzer Körper zittert, ich habe Schnappatmung und kann den Kasten nicht mehr halten. Den leeren Kasten! Ich stelle ihn ab und versuche mich zu beruhigen. Was mir aber nicht gelingt. Wie auch? Ich verstehe nicht, was vor sich geht. Dabei sehe ich aus dem Flurfenster. Keine Ahnung, warum. Vielleicht, um die Situation zu ignorieren.

Auf der Straße herrscht geschäftiges Treiben. Menschen gehen zielstrebig hin und her, Hunde schnüffeln an Bäumen, die unbeteiligt auf den Bürgersteigen stehen, und pinkeln sie an. Aus dem vierten Stock sehen alle so klein aus, so entfernt. Ich habe nichts mit ihnen zu tun und vermutlich wird mir keiner von ihnen den Kasten zum Supermarkt tragen. Wobei es wahrscheinlich sogar der kleine Junge könnte, der sein Schulzeug auf eine Parkbank wirft und einem Ball hinterher rennt, den ein anderer in ein Blumenbeet geschossen hat. Ich habe es sogar mal geschafft, zwei volle Kästen vom Supermarkt bis zu mir in den vierten Stock zu tragen! Über wurzelgestörte Betonpflaster und schiefe, unregelmäßige Treppenstufen. Okay. Ich muss mich zusammenreißen. Ist ja schön und gut, dass ich für andere und für mich nicht funktioniere, aber dem leeren Bierkasten gegenüber möchte ich mir diese Blöße bloß nicht geben. Ich hebe ihn noch einmal. Es geht. Nicht gut, aber es geht. Nach fünf Stufen bin ich wieder außer Atem, meine Füße setzen laut auf den Stufen auf, meine Knie schlackern da unten rum. Immer wieder setze ich den Kasten ab, auf den Stufen und schließlich auf dem grauen Asphalt der Straße. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelange ich aber zu meinem Ziel und knalle das sperrige Ding in einen Einkaufswagen. »Hürde überwunden!«, denke ich noch gemäßigt und kurzfristig guter Dinge, als ich vor einem großen neuen Problem stehe.

Ich finde mich vor einem Regal wieder, das nicht bereit zu sein scheint, mir die Produkte automatisch in den Wagen zu katapultieren. Ich stehe und starre. Wie bin ich vom Eingang bis zu diesem Gang gekommen? Ich habe keine Bilder mehr dazu. Und was will ich hier? Es sind so viele Packungen vor meinen Augen, dass ich keine einzelne fixieren kann. Gehört das zum Brennaus? Das habe ich nicht gegoogelt. Die Produkte sehe ich nicht, dafür aber im Augenwinkel etwas Beängstigendes: Da will tatsächlich jemand in denselben Gang gehen, in dem ich mich befinde! Wäre ja nun eigentlich kein Problem, aber ich bekomme Panik. Mein Herz rast, meine Hände sind von jetzt auf gleich schweißnass. Das ist mir zu nah! Mein Tanzbereich, oder wie sich das auch nennen mag, hat sich auf einen Radius von 15 Metern ausgeweitet. Ich gehöre definitiv nicht zu denen, die ständig mit ihrem Umfeld in Körperkontakt stehen müssen. Eine Umarmung finde ich zwar ehrlicher als einen Wangenluftkuss, aber Urheber- wie Nutzungsrechte für Klammerblues, ununterlassene Fummelei und Berührungen in jeder Situation gehören ausschließlich hormonverseuchten Teenagern. Meine Unterlippe zittert. Ich klammere mich an den Griff des Einkaufwagens und schiebe ihn schnell aus dem Gang. Der Wagen gibt mir ein wenig Sicherheit. Zumindest nach vorne. Die böse Person scheint mich nicht zu verfolgen, mein Herzschlag normalisiert sich wieder. Ich konzentriere mich mit aller Kraft darauf, zum Bier zu gelangen, zwölf Flaschen einzupacken und auf dem Weg zur Kasse schnell noch vier Bananen. Bananen werde ich wohl noch erkennen und mir holen können, da bin ich optimistisch.

Den leeren Kasten kann ich nicht in den dafür vorgesehenen Automaten stellen, da jemand bereits einen Haufen alter Flaschen in ihm los wird. Ich setze den Kasten irgendwo in der Nähe der Abgabestelle aus. Es wird sich schon jemand darum kümmern. Das Pfandgeld hat aufgrund der bedrohlichen Situation seine Bedeutung für mich verloren.

Da ich mir nicht vorstellen kann, mich in die Schlange an der Kasse zu stellen, zwischen distanzlose Wesen, die Fertig-Penne und Pudding kaufen, warte ich, bis sich eine Kasse weitestgehend leert. Zu lange darf das nicht dauern. Ich muss nach Hause. Ich fühle mich hochgradig unwohl und bedroht. Endlich kann ich die Ware auf das Band legen. Wie in Trance beobachte ich, dass die Flaschen rollend, kontradiktorisch zur Laufbandbewegung, ihre Stellung wahren und sich keinen Zentimeter der Dame an der Kasse nähern. Während ich denke, dass dieser Stillstand in der Bewegung beruhigend auf mich wirkt, vernehme ich dumpf eine Stimme. Ich schrecke auf.

»Flaschen. Drehen. Hallo?!«

Irritiert orte ich die Stimme und sehe, dass es die der Kassiererin sein müsste. Zumindest bewegt sie ihre Lippen. Sekundenlang sehe ich sie an. Dann macht es »klick« und ich verstehe: Was mich beruhigt, scheint bei ihr zu Unruhe zu führen. Jaja, so unterschiedlich sind die Menschen! Ich merke, dass ich Angst habe. Auf der einen Seite, weil etwas von mir gefordert ist und ich reagieren muss, auf der anderen Seite kommt mir der Gedanke, dass die dicke Dame an der Kasse nun vielleicht denkt, dass ich sie absichtlich vorführen wollen würde, weil ihre dicken Arme nicht so weit reichen, dass sie die Flaschen heranziehen könnte, was unter anderem daran liegt, dass sich Bauch- und Armfett gegenseitig behindern. Unbewusst lege ich die Bananen, an denen sich meine linke Hand bis eben festgeklammert hat, hinter die Flaschen und sie drehen sich fortan nicht mehr um sich selbst. Mein Mund spricht: »Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht … es tut mir leid, dass Sie so …«, doch das Ende des Satzes will mir nicht über die Lippen kommen. Zu viele Gedanken, keine Kanäle Richtung Zunge. Vielleicht besser so, denn in dem Moment bin ich mir auch nicht sicher, was ich da jetzt gesagt habe. Fragend sehe ich die Kassiererin an, sie ignoriert mich weg und schubst die Flaschen über den Scanner. Vor meinem inneren Auge läuft Bernd, das depressive Brot, durch das Bild. Von links nach rechts. Während ich noch überlege, ob es nun mir oder der Kassiererin ähnlicher sieht oder eine Mischung aus uns beiden ist – mein Gemütszustand im Körper einer Supermarktangestellten –, überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Vielleicht ist sie krank, die Kassiererin, und kann nichts dafür, dass sie ein paar Kilo zu viel hat? Ich reiche ihr einen Zwanzig-Euro-Schein und ergänze für den Fall, dass ich meine Äußerung über ihr Gewicht tatsächlich dummerweise nicht nur gedacht habe: »Ich bewundere Ihre Arbeit und danke Ihnen für Ihren Service!« Die Kassiererin sieht mich verständnislos an, dabei erwidert sie mein Lächeln widerwillig mit einem Blick, der sagt: »Alle verrückt heute. Alle verrückt …«

Voller Stolz packe ich meine Einkäufe in den Rucksack. Ich bin erheblich erschöpft und sehne mich nach meinem Bett. Das System ›Burnout‹ erklärt sich mir langsam. Denken geht – mal wirr, mal klar, mal schwammig, mal bruchstückhaft. Reden fällt eher schwerer. Heißt: Reden braucht mehr Konzentration als Denken. Da sollten mal die Damen aus meinem Büro drüber nachdenken, die den ganzen Tag ihre Müdigkeit bejammern und bequatschen!

Aufgrund der Tatsache, dass ich ein kompetitiver Mensch bin, will ich aber noch einen draufsetzen und meiner Erschöpfung die Stirn bieten. Außerdem muss ich an meine Mama denken, die Schmerz gleich welcher Art mit einem Heilmittel zu lindern wusste: Puddingteilchen!

Unglücklicherweise ist die Schlange an der Brötchentheke kaum kürzer als eine Anakonda, die sich wellenartig der Glasfront nähert, hinter der die Verkäuferinnen nicht müde werden zu fragen, wer denn als nächstes dran sei. Ich stütze mich auf den Einkaufswagen und rolle den darin befindlichen Rucksack an den Menschen heran, den ich für den halte, der vor mir dran sein könnte. Dann döse ich weg. Nur am Rande bekomme ich mit, dass der blonden Großen doch das entsprechende Kleingeld fehlt, nachdem sie drei Mal nachgezählt hat, was sie in den Händen hält; dass der kleine Moppel Unmengen an belegten Brötchen bestellt, die alle frisch hergerichtet werden müssen; und dass auf einmal die alte Dame vor mir behauptet, ihr Portemonnaie sei gestohlen worden. Nun bin ich wieder aufmerksam, wenn auch handlungsunfähig, womit ich mich dem Mann der alten Dame anschließe, der auf seinem Rollator sitzt und die Situation stumm beäugt. Drei Männer hätten hinter der Dame gestanden, wird auf einmal eine allgemeine Meinung laut. Drei Südländer. Zigeuner. Nun seien sie weg und die Tasche der Oma leer. Ich habe diese Herumtreiber nicht gesehen. Obwohl sie einen Meter neben mir gestanden haben müssen. Ich habe niemanden dort hinter der alten Frau stehen sehen, was mich besorgniserregt das weitere Geschehen beobachten lässt. Die Bäckereifachverkäuferin stimmt der These mit den Südländern zu und stürmt aus dem Supermarkt, die andere Bäckereifachverkäuferin ruft zur dicken Supermarktkassiererin hinüber, dass sie die Polizei rufen solle, während sie weiter Brötchen zu verkaufen versucht, der Sicherheitsmann des Marktes nähert sich mit gezielten Fragen der Oma, die durch ihn aber eingeschüchtert wird, woraufhin auch er den Laden verlässt und in die Richtung verschwindet, in der die Bäckereifachverkäuferin die Verbrecher verfolgt. Es herrscht ein großes Durcheinander, was mir gar nicht gefällt. Was mir gefällt ist die Tatsache, dass ich nun ganz unverhofft direkt vor der verkaufenden Bäckereifachverkäuferin stehe, sie ansehe und sage: »Ein Puddingteilchen, bitte!«

Als ich wieder auf der Straße bin, rede ich mir ein, dass es so schlimm alles nicht ist. Immerhin habe ich keine Südländer-Halluzinationen. Es gibt Hoffnung.

»Entschuldigung …«, sagt ein Mann und fast mich am Arm.

»Macht ja nichts«, sage ich und reiße intuitiv meinen Arm aus seinem Griff. »Nein, nein«, sagt der Fremde, »Sie haben nicht bezahlt!« Verdutzt sehe ich den Mann an, der einen weißen Kittel trägt, auf dem ein Aufnäher mit dem Namen des Supermarktes prangt. Unter dem Namen steht »Herr Sauerbier« und darunter »Filialleiter«. »Uups«, denke ich, »Sauerbier …!« Langsam komme ich auf den Trichter, dass meine Gedanken, wenn auch existent, unendlich langsam zu seien scheinen, denn Herr Sauerbier fragt nun: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«

Ich nicke träge und entschuldigend: »Ja, natürlich, also nein, nicht mein Tag diese Woche.« Der Filialleiter schaut mich mitleidig an: »Schon gut, ich sehe Sie ja öfter hier. Geben Sie mir einfach das Geld. Ich mache das.« Ich strecke meine Hand aus und gebe dem Chef das Geld, das ich schon passend abgezählt in der Faust gehalten habe. Er nickt, dreht sich, mir gute Besserung wünschend, auf der Ferse um und verschwindet im Geschäft.

Ich will nur noch nach Hause und nie wieder raus. Für diese Mission wähle ich denjenigen Bürgersteig, auf dem weniger Menschen unterwegs sind, was dazu führt, dass ich versucht bin, die Seite zu wechseln, zumal mir unaufgefordert eine Gruppe schlendernder Rentnerinnen entgegenkommt und diesem Plan eine gewisse Dringlichkeit verleiht. Am Straßenrand zeigt sich aber die Unmöglichkeit dieses Vorhabens: Ich kann nicht einschätzen, mit welcher Geschwindigkeit die Autos sich nähern. 30 Stundenkilometer auf der Hauptstraße sehen für mich aus wie 100. Das machen die doch mit Absicht! Ich verharre bewegungslos am Straßenrand, sehe auf den Boden und warte, bis die Rentnerinnen laut schwafelnd vorbeigezogen sind. Schnell gehe ich dann gesenkten Hauptes weiter. Die Seitenstraße ist zwar eng, doch ruhiger. Als die Haustür ins Schloss fällt, ich mich in Sicherheit wäge und die Treppen hinaufstiefle, läuft mir eine Träne über die Wange. Aus Solidarität wohl schließen sich unzählige an. In meiner Wohnung schmeiße ich meine Einkäufe samt Rucksack in den Kühlschrank und weine. Ab aufs Sofa, ich schließe die Augen. Es ist wieder dunkel.

Kapitel 3:

MAUERN

Ich muss eingeschlafen sein. Als ich aufwache, ist es Abend. Zunächst denke ich, dass ich wohl einen Mittagsschlaf nach getaner Arbeit eingelegt habe. Doch mit jeder Sekunde, die ich wach bin und wacher werde, kommen sie zurück: Die Gedanken an den Horroreinkauf, an die vergangenen Tage, an mein Versagen, an die Vorstellung, dass ich Tod lustig finde, weil eh alles egal ist. Das fühlt sich nicht gut an, aber durch den Schlaf habe ich offenbar auch eine andere Erinnerung heraufbeschworen: Ich weiß, dass ich ein grundsätzlich zuverlässiger Mensch bin und meinen Verpflichtungen nachkomme.

Dazu gehört auch die Verpflichtung zur Kommunikation. Mein Computer ist noch an, ich traue mich und öffne das Mail-Programm. 104 ungelesene Nachrichten. Die meisten werden wohl Spams sein, ich gucke mir nur die der letzten zwei Tage an. Julia hat geschrieben. Vor einer Stunde. Sie fragt, ob es bei unserem Treffen bleibt. Äh, ja. Klar. Spricht ja nichts dagegen, außer dass ich nicht weiß, wann und wo dieses Treffen stattfinden soll. Wie geht das noch gleich? Es ist nur ein Klick bis zur Lösung. Nach einiger Herumklickerei finde ich die vorherigen Mails von Julia. Wir treffen uns direkt um die Ecke. Das ist gut.

Soll ich ihr eine Vorwarnung geben? Oder lieber doch absagen? Oder einfach hingehen? Ich schreibe zurück. »Ja.«

Kurze Zeit später bin ich auf dem Weg. Auf dem Fahrradweg. Ich realisiere allerdings, dass ich kein Fahrrad unterm Hintern habe. Ein Radfahrer klingelt mich zurück auf den Bürgersteig, um dann an mir vorbeizurasen. Während ich die Straße entlanggehe, fällt es mir schwer, die Konturen der angehenden Beleuchtung scharf zu sehen. Ich nehme meine Brille ab, was alles noch unschärfer werden lässt. Ein einfacher Trick. Das funktioniert genauso gut, wie wenn man im Winter friert und sich alle Sachen kurz auszieht, ein paar Schritte nackt über die Straße läuft, um sich dann darüber freuen zu können, wie warm es ist, wenn man die Anziehsachen wieder anhat. Nicht, dass ich das jemals ausprobiert hätte, aber es müsste wirken. 15 Grad wirken im Frühfrühling schließlich auch wärmer als im Frühherbst. Es kommt immer darauf an, aus welcher Richtung man kommt. Und während ich darüber nachdenke, warum man den Lauf des Lebens mit den Jahreszeiten vergleicht, wenn doch als erstes der Winter kommt, der Sommer also demnach schon die dritte Lebensphase, der Herbst des Lebens wäre, gelange ich zur Kneipe. Ich muss mich darauf konzentrieren, die Tür nach außen zu öffnen, damit ich mich nicht zum Affen mache. Das ist gut so, denn so rückt der Jahreszeiten-Gedanke mir nichts dir nichts unmittelbar in die Vergangenheit.

Julia sitzt an einem Tisch in der Nähe der Tür. Wir begrüßen uns mit einer Umarmung und bevor ich mich setze, sage ich ihr: »Alles ist für irgendetwas gut!« Doch Julia hört mich gar nicht. Hektisch versucht sie direkt, die Kellnerin herbeizuwinken, damit schnell auch ein Bier vor mir stehen kann. Wie aufmerksam. Oder bin ich ohne einfach nicht zu ertragen? Die Kneipe ist nicht allzu voll. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Julia sich einen Platz drinnen ausgesucht hat, während der Rest der Menschen im Biergarten sitzt. Manchmal vergesse ich selbst, dass ich Raucherin bin, Julia vergisst es immer. Mittlerweile beschweren sich militante Exraucher schon an der frischen Luft, wenn man zwanzig Meter entfernt raucht, was daran liegt, dass sie durch ihre gnadenlose Disziplin verbittert werden. Dennoch ist draußen zu rauchen immer noch einfacher als in einem geschlossenen Kneipenraum, in dem an jedem Pfeiler, jeder Wand und an der Theke »Rauchen verboten!«–Schilder hängen.

Ich sehe Julia an. Wir sind seit zirka neun Jahren Freunde und kennen uns seit zirka acht Jahren. Oder umgekehrt. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Es ist so lange her. Während eine schöne Brünette mir mein Bier vor die Nase stellt, hat Julia bereits begonnen, mich zuzulabern. Sie streicht sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht, lächelt und zeigt mir irgendetwas auf ihrem Handy. Ich nicke nur stumm, besinne mich dann aber eines Besseren und füge ein »Toll!« hinzu. Da ihr Gesicht so fröhlich scheint, ihre Grübchen beim Lächeln um die Wette tanzen, denke ich, dass eine positive Äußerung angebracht sein sollte. Sie redet weiter, ich sehe ihr ins Gesicht.

Könnte ich dieses Gesicht blind malen? Ich weiß es nicht. Würde ich sie vermissen, wenn sie morgen nicht mehr in meinem Leben wäre? Unwahrscheinlich. »Oh, wie ungerecht«, denke ich im nächsten Moment, aber das Gefühl ist authentisch. Ich vermisse mich, weil ich nicht mehr in meinem Leben bin. Logischerweise kann mein Ich sich eben nicht um andere kümmern, da es ja gar nicht da ist!

Julia schweigt und starrt mich fragend an.

»Was denn?« frage ich.

»Hast du noch mal von ihr gehört?«

Oh, wie kommen wir denn vom Handy zu ihr? Wie lange hat Julia geredet? Und ja, stimmt ja, Julia und ich sind uns doch so nah, dass sie eigentlich alles von mir weiß. »Da gibt es nichts Neues.«

Julias Blick beinhaltet nun einen Schwung Mitleid. »Ich verstehe das nicht, wie kann man nur.«

»Warum?« frage ich. »Es ist einfacher, das Komplizierte auszublenden.« Für ein paar Sekunden sehe ich Julia nur an, dann ergänze ich: »Das Leben geht weiter. Augen zu und mal gucken. Ich habe tolle Freunde. Das wiegt mehr.« Eigentlich denke ich in dem Moment aber, dass ich aus genau diesem Grund damit leben könnte, dass jeder Freund, jede Freundin sich aus meinem Umfeld wann auch immer entfernen mag; schließlich hat es meine große Liebe getan, was soll mich schwerer treffen als das?

»Tut es noch weh?«, fragt Julia.

»Nein«, lüge ich, »ist okay.« Julia hebt die Hand, um der Kellnerin verstehen zu geben, dass wir mehr Bier brauchen.

»Ich kenne eh keinen, der mit neunundzwanzig die Liebe für den Rest des Lebens findet.« Ich habe gehört, was Julia mir da gerade gesagt hat, aber verstehen tue ich es nicht. Julia sieht das große Fragezeichen auf meiner Stirn. »Ich kenne welche, die haben sich mit siebenunddreißig gefunden und sind heute mit vierundsiebzig noch zusammen. Also warte einfach so lange.« Tja, was soll ich dazu sagen? Ich versuche es mit einem großen: »Aha. Wen kennst du denn siebenunddreißig Jahre lang? Bist doch selbst erst … wie alt noch mal?« Julia lacht. Sie ignoriert meinen Aussetzer und hält ihn wohl für einen Scherz.

»Na was denn, ich versuche hier, dir Hoffnung zu machen! Sehe doch, dass es dir nicht gut geht.« Sie hat keine Ahnung und irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, ihr von meinen Panikattacken, meinen Depressionen, den Löchern im Denken und diesem ganzen Gedöns zu erzählen. Ich will gehen, sofort, aber traue mich nicht. »Ich muss mal kurz verschwinden«, sage ich und meine eigentlich: »Ich muss mich mal kurz für länger in Luft auflösen.« Julia nickt und ich erhebe mich. Dabei wird mir etwas schwindelig. Ich stütze mich auf die Stuhllehne und bin erleichtert, dass mein Schwanken unbemerkt bleibt, weil zwei gutaussehende Männer die Kneipe betreten haben und Julia sie schmachtend mit den Augen verfolgt. Während ich den engen Treppengang zur Toilette hinunterwatschele, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich an unserer Freundschaft nicht einfach aus Gewohnheit und Bequemlichkeit festgehalten habe. Warum kommt Julia jetzt schon wieder mit diesem Thema? Ich habe all meine amourösen Abenteuer, die manch andere Liebe nennen mag, verarbeitet und bin mir dessen bewusst, dass man auch zu zweit seinen Kopf alleine durch die Welt tragen muss. Das Herz folgt zwangsläufig dem Kopf, denn es hängt ja irgendwie eine Etage tiefer unten dran. Und sterben muss man schließlich auch alleine. »Schatz, kommst du mit?«, funktioniert da nicht. Ich stelle mir vor, wie ein Mensch aussähe, dessen Herz oben auf den Schultern schlägt, und bekomme einen Riesenschreck.

Immer, absolut immer in dieser Lokalität bekomme ich einen Riesenschreck auf der Toilette, wenn die Tür zum sogenannten Kinder-WC offen steht. Eine Miniaturtoilette steht einsam mit roten Sitzpolstern zwischen den Kacheln und darüber hängt an langen Schnüren ein Marionettenclown, der der sich kümmernden Mutter zum dazugehörigen Kind auf dem Klo wohl stets im Gesicht baumelt. Der ganze Anblick hat etwas so dermaßen Morbides, dass ich mir sicher bin: Die Betreiber dieser Kneipe können keine Eltern sein. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint …