Jasmin Kreuz

-21 Grad

Liebesroman

 

 

Mondschein Corona – Verlag

Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

 

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

1. Auflage

Erstausgabe Mai 2016

© 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona

Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Jasmin Kreuz

Lektorat/Korrektorat: Eva-Maria Stuckel

Grafikdesigner: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano

Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

 

ISBN: 978-3-96068-009-3

 

© Die Rechte des Textes liegen beim

Autor und Verlag

 

Mondschein Corona Verlag

Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.mondschein-corona.de

 

 

 

Jasmin Kreuz

Inhaltsverzeichnis

-21 Grad
EPILOG

-21 Grad

Liebesroman

 

 

Jetzt stand ich hier. An dem Ort, an dem niemand stehen möchte. An dem Ort, an dem man nicht lachen durfte. Die Sonne stand hoch am Himmel und erzeugte eine Wärme, die untypisch für diese Jahreszeit war. Sie strahlte, als wollte sie damit meine Gedanken aufhellen. »Welch Ironie«, dachte ich, und fast wäre mir ein Lächeln entschlüpft. In letzter Sekunde unterdrückte ich es. Die Kameras würden alles einfangen. Auch mein unverfängliches Lächeln, das sie nicht als Erinnerung an ihn, sondern als pure Boshaftigkeit interpretieren würden. Leevi hatte die Sonne und die Wärme geliebt. An einem regnerischen Tag war er unausstehlich und spätestens zu Mittag ließ er das auch an jedem aus. Besonders an mir. Dass es das Wetter gerade am Tag seiner Beerdigung so gut mit ihm meinte und ihm keine einzige Wolke bescherte, die einen Schatten auf sein Grab hätte werfen können, fühlte sich tröstlich an. Regen hätte ich heute nicht ertragen. Ich sah hoch, die Sonne blendete mich. Ich richtete meinen Blick trotzdem starr auf das Szenario vor mir. Es erschien mir unwirklich und als wäre ich nicht mittendrin, sondern nur ein ungebetener Zuschauer. Doch das war ich nicht. Der dunkle Sarg wurde gerade hinuntergelassen, verschwand ebenso schnell in den Tiefen der Erde, wie Leevi aus meinem Leben verschwunden war. Die Menschenmassen, die sich vorher noch vor und in der Kirche gedrängt hatten, begannen sich zügig zu lichten. Gemeinsam hatten wir beschlossen, die Beisetzung im kleinen Rahmen zu halten. Natürlich war es uns nicht gelungen, die komplette Presse fernzuhalten. Aber ich musste zugeben, dass sich die Reporter wirklich fair verhielten und sich nicht mit Fragen auf mich stürzten, wie sie es sonst taten. Ich blickte zu Boden, betrachtete den feinen Rasen, der es gerade so schaffte, die braunen Stellen im Boden zu überdecken. Ich weinte nicht. Ich konnte nicht. Als ich vor ein paar Tagen mitten in der Nacht von zwei Polizisten geweckt worden war, die mich zur Identifizierung seiner Leiche mitnahmen, wusste ich, dass ich nicht lange würde weinen können. Mein Körper war seitdem wie gelähmt. Er bewegte sich zwar, pumpte das Blut durch meine Venen, versorgte mein Herz und meine Lunge mit Sauerstoff, aber zu mehr war er nicht fähig. Eine Hand suchte meine, drückte sie. Ich entzog meine Hand nicht. Meine Emotionen waren genauso tot wie der Mensch in dem Sarg. Sie hatten sich tief in meinem Inneren vergraben und sich entschieden, mir die unschönen Szenen zu erleichtern. »Bald hast du es überstanden«, flüsterte Tony mir zu. Ich nickte. Ferngesteuert. Ich fröstelte, obwohl es jetzt im Mai sommerlich warm war. Doch als ich die Schaufel umschloss, die sich kalt und fremd in meiner Hand anfühlte, durchfuhr mich ein ebenso kalter Schauer. Ich nahm ein Stück Erde auf und schüttete sie in das offene Grab, den Blick gesenkt. Ich mochte niemanden sehen. Niemanden in die Augen sehen. Die Beileidsbekundungen hatte ich mit einem mechanischen Lächeln entgegengenommen, mich artig bedankt und die perfekte Witwe abgegeben. In schwarzes Gewand gehüllt, ohne Miene und ohne Regung. Die wenigen Fragen der Reporter beantwortete ich nicht. Wie hätte ich sollen? Ich wusste ja selbst nicht, wie ich mit der ganzen Situation umgehen sollte. Vor einigen Tagen, als mich die Polizisten gebeten hatten, ihnen zu folgen, hatte ich bereits, als sie mitten in der Nacht klingelten, gewusst, dass etwas passiert war. Etwas, dessen Ausmaß ich damals nur erahnen konnte. Ihre Mienen waren versteinert und ihre Körperhaltung angespannt. Leevi war tödlich verunglückt. Autounfall. Man musste ihn aus dem Auto schneiden. So schlimm hatte sich sein Wagen mit einem Baum verkeilt. Die Trauerfeier war endlich zu Ende. Jedoch nicht für mich, ich musste nochmal zahlreiche Hände schütteln, in verweinte und aufgedunsene Gesichter schauen und die falsche Trauer unserer sogenannten Freunde ertragen. Auf die wiederholte Frage nach meinem Wohlbefinden antwortete ich nur mehr mit einem gequälten, lieblosen Lächeln. Was sollte ich auch sagen? Es ging mir nicht gut. Wie könnte es auch. Der einzige Mensch, den ich momentan in meiner Nähe akzeptierte, war Tony. Tony war der Manager von Leevis Band. Oder war der Manager gewesen, auch hier gab es noch zahlreiche Fragen zu klären. Und ich? Ja, ich war die Witwe von Leevi. Dem Rockstar. Oder besser gesagt, dem Frontmann einer sehr bekannten Rock/Pop-Band. Zumindest wurde ich in den Medien als Witwe bezeichnet, aber wir hatten nie geheiratet. Obwohl wir es irgendwie all die Jahre geplant hatten. Nur nie ernsthaft. Immer gab es so viel anderes zu tun. »Wenn du möchtest, fahre ich dich nach Hause«, bot mir Tony an. Ich nickte nur stumm. Eigentlich wollte ich alleine sein, aber ich wusste ganz genau, dass ich nicht allein sein konnte. Nicht jetzt. Tony schob mich sanft über den mit Kieselsteinen gesäumten Weg, vorbei an den Reportern, die wie die Aasgeier vor dem Friedhofstor warteten, und gab mir so ein wenig Deckung, um in den dunklen Wagen steigen zu können, ohne von den Paparazzi drangsaliert zu werden. Als ich mich endlich in den Sitz fallen lassen konnte, atmete ich langsam wieder normal. Tony setzte sich zu mir auf die Rückbank. Ich kannte ihn genauso lange, wie ich Leevi gekannt hatte. Er war einer der Ersten, den mir Leevi vorgestellt hatte. Das war jetzt zwölf Jahre her. »Dass sich diese Affen nicht mal an einem Tag wie heute zurückhalten können!«, giftete er. Ich blickte aus dem Fenster, begutachtete die vorbeirasenden Bäume und zog meine Weste enger um meinen Körper. »Das war aber abzusehen«, antwortete ich mit stoischer Ruhe. »Natürlich, aber trotzdem hatte ich die kleine Illusion, dass sie wenigstens jetzt Ruhe geben würden.« Ich drehte meinen Kopf zu ihm. Wagte ein zartes, unechtes Lächeln. »Ach, Tony. Sie werden uns noch eine Zeit lang auf den Fersen sein.« Ich wusste auch nicht, warum ich so ruhig, fast gelassen war. Wahrscheinlich hatte mein Kopf das Ausmaß dessen, was sich vor vier Tagen abgespielt hatte, noch nicht richtig begriffen. Wollte es nicht begreifen. Er seufzte leise. »Vielleicht müssen wir sogar eine Pressekonferenz abhalten. Aber natürlich erst, wenn alles geregelt ist.« »Was sagen die Jungs denn?«, fragte ich leise. Ich musste zugeben, dass Leevis Bandkollegen zwar alle am nächsten Tag bei mir gewesen waren, um ihre Trauer und ihre Wut über das Geschehene zu teilen, aber ich hatte nicht danach gefragt, ob sie als Band weitermachen wollten. Dies schien mir in jenem Augenblick nicht wichtig genug. »Nun ja, ich denke, es gibt da noch keine eindeutige Haltung. Der Schock hat sie lahmgelegt. Ich werde nochmal in Ruhe mit ihnen sprechen, wenn es uns allen wieder etwas besser geht. War ein ziemlicher Schlag.« Ich sah ihm heute zum ersten Mal in die braunen, großen Rehaugen. Er verstand sofort, was ich im Begriff war zu sagen, aber nicht konnte. »Ich weiß, Claire. Für dich ist es tausend Mal schlimmer, als wir uns alle vorstellen können.« Er hielt meinem Blick nicht stand, schaute wieder aus dem Fenster. Ich musterte ihn noch einige Sekunden gedankenverloren, dann nahm auch ich wieder meinen Blick von ihm. Keine Frage, die beiden waren sehr gut befreundet gewesen. Hatten sich schon lange gekannt, bevor ich in ihr Leben gestolpert war. Es war für ihn bestimmt genauso hart wie für mich. Nicht nur ihrer Freundschaft wegen, sondern vor allem auch wegen der Band. Hei Five. Was würde aus ihr werden, wenn es keinen Sänger mehr gab? Konnten sie Leevi einfach ersetzen, jemand neuen an seine Stelle setzen? Auch für mich unvorstellbar. »Tony?«, ich stieß ihn leicht mit dem Finger an. Er wandte sich wieder mir zu, ließ die Bäume Bäume sein. Sein Blick war fragend. »Danke. Danke, dass du das heute mit mir gemeinsam durchgestanden hast. Ich … ich hätte das alleine nicht geschafft.« Er lächelte. »Wir sollten jetzt zusammenhalten, nicht wahr?« Auch sein Lächeln hatte etwas Unechtes, Aufgesetztes. Trotzdem strahlten seine Augen eine Zuversicht aus, die mir ein wenig Mut gab, irgendwie mit allem fertigzuwerden. »Irgendwann wird es nicht mehr wehtun, Claire. Dann ist es vorbei.« Fast schon süffisant zog ich meine Mundwinkel nach oben. »Es hat noch nicht mal angefangen, Tony.« Mein Herz hatte sich ein Schutzschild zugelegt, dessen Härte nicht mal die Beerdigung hatte weich werden lassen. Es würde nicht vorbei sein. Das würde es nie. Irgendwann würde ich damit leben können, es zulassen und die Wunde versiegeln können. Trotzdem wäre sie da. Jeden verdammten Tag. Bereit, aufzureißen und mich immer und immer wieder an die Tragödie zu erinnern, die sich unweigerlich in mir breitmachte, wie auslaufende, blaue Tinte in einer Vase.

Zwanzig Minuten später erreichten wir mein Haus. Es lag in der Nähe von Helsinki, aber weit genug entfernt, um die Natur schon in vollen Zügen genießen zu können. Es gab nur wenige Nachbarn und selbst die waren so weit weg, dass man schon fünf Minuten gehen musste, um sie zu finden. Wir hatten das so gewollt. Als ich aus dem Auto stieg, war mein Herz tonnenschwer. Unser Lebenstraum. Unser Zuhause. Jetzt war es nur noch meines. Tony stieg ebenfalls aus, ging um das Auto herum und blieb vor mir stehen. »Claire, wenn du irgendwas brauchst … Lass es mich wissen. Du weißt, ich war nicht nur sein Manager, sondern vor allem sein Freund. Wir haben alle den besten Mann verloren, den wir uns je hätten wünschen können.«

»Danke, Tony. Ich komm schon klar. Sag mir bitte, wenn ihr wisst, wie es weitergeht. Ich … ich möchte gerne wissen, was mit seinem Traum passiert.« Tony nickte. Leevi war nicht Sänger gewesen, um viel Geld, teure Autos oder hübsche Mädchen zu haben. Er war Musiker aus Leib und Seele, für den es keine andere Passion gab. Der sich in keine Schublade drängen ließ, nur um eine andere Zielgruppe anzusprechen, und der Konzerte auch gratis spielte, wenn er damit seinen Fans eine Freude machen konnte. Ich machte mir nicht mal mehr die Mühe, ein Lächeln zu erzwingen, drehte mich um und ging die Veranda hinauf. Ich schaute nicht mehr zurück, ich konnte es auch so hören, als Tony wieder einstieg und die Wagentür schloss.

Langsam schloss ich die Tür auf. Der Geruch meines Zuhauses empfing mich. Er war so in mich übergegangen, dass ich ihn erst wieder bewusst roch, als ich alleine war. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sofort umzudrehen und nach Helsinki zu fahren. Mir ein Hotelzimmer zu nehmen, nur damit ich die Einsamkeit nicht ertragen musste. Das war es, was wir gewollt hatten. Absolute Einsamkeit, um die wenige Zeit, die wir zwischen seinen Terminen hatten, zu nutzen. Ich begann, systematisch alle Fenster aufzureißen, um die Wärme hineinzulassen. Der Wind trug die sanfte Brise von Frühlingsblumen hinein, streifte sanft um meine Haut und verteilte sich langsam im großen Wohnzimmer. Die Terrasse, die vom Wohnzimmer aus begangen werden konnte, führte hinaus in den großen Garten, der etwas weiter hinten an einen Wald grenzte. Wir hatten uns beim Hauskauf für einen rustikalen Stil entschieden und uns, typisch nordisch, in ein Holzhaus auf diesem wunderschönen Flecken Grün verliebt. Mir fiel ein, dass ich morgen einen Termin beim Notar hatte. Mir graute jetzt schon. Dort wurde das Testament verlesen. Ich wusste, dass Leevi keines gehabt hatte, also war der Notar gezwungen, sein Vermögen so aufzuteilen, wie es das Gesetz vorsah. Wir hatten keine Kinder, Leevi keine Geschwister. Innerlich musste ich mich also darauf einstellen, dass unser Haus, unsere Wohnung in Helsinki und die Konten an Leevis Eltern gingen. Ich liebte seine Eltern. Sie waren immer für mich da und hatten mich von Anfang an akzeptiert und in ihr Herz geschlossen. Sogar, als es noch Leute gab, die glaubten, ich wollte nur sein Geld, standen sie hinter mir. Trotzdem würde es wehtun, wenn das Haus und alles, was wir geliebt hatten, an jemand anderen fallen würden. Auch wenn seine Eltern mir das Haus nie streitig machen würden. Es fühlte sich einfach komisch an, über solche Dinge überhaupt nachdenken zu müssen. Dinge, über die man sich keine Gedanken machte, solange alles in Ordnung war. Wer glaubte schon, dass sein Partner mit neununddreißig Jahren sterben würde? Ich bestimmt nicht. Gott sei Dank hatte ich ein eigenes Konto. Denn Leevis Konten waren sofort gesperrt worden und selbst mit seiner Karte hätte ich kein Geld mehr abheben können. Unwillkürlich musste ich an Paare denken, die ein Gemeinschaftskonto hatten. Oder die nicht so gut abgesichert waren wie ich. Leevi hatte mir schon nach sehr kurzer Zeit unserer Beziehung ein Konto eingerichtet, auf das monatliche Zahlungen eingingen. Es gab auch ein Sparkonto, auf das er immer wieder überwiesen hatte und das auf meinen Namen lief. Wie gesagt, Leevi war sehr bodenständig und verwaltete seine kompletten Finanzen selbst – beziehungsweise vertraute sie mir an. Einfach so. Nach sechs Monaten Beziehung. Menschen, die nicht mit einem Rockstar zusammen waren, standen da schon einmal schnell vor dem Nichts, wenn alles gesperrt wurde und sie selbst nur über ein kleines oder gar kein Gehalt verfügten. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, als mir bewusst wurde, dass diese Leute nicht sofort trauern konnten, sondern erst mal einen Streit mit den Banken führen mussten, um sich überhaupt Lebensmittel kaufen zu können. Traurig schüttelte ich den Kopf. Ich versuchte, mich immer abzulenken, um nicht unmittelbar in dem einzigen Gedanken gefangen zu sein, der mich immer wieder einholte. Der sich wie eine Tonne auf mich legte und der mir fast den Atem raubte. Der Gedanke an Leevis Tod. Ich ging in die Küche, setze mich an den Esstisch. Die Zeitungen der letzten Tage lagen auf dem Tisch – verstreut, offen, zerknittert. Ich wusste, dass es nicht gut war, aber der Drang, sie zu kaufen, war übermächtig geworden. Es war zu einer Art Droge mutiert. Am ersten Morgen nach dem Unfall hatte mein erster Weg zum Kiosk im Dorf geführt und dort hatte ich mir alle Zeitungen gekauft, die ich hatte kriegen können. Ich verfiel in einen richtigen Rausch. Daheim las ich sie alle. Alle. Jedes Detail. Nach sechs Stunden durchgehendem Lesen hörte ich dann auf, weil mir der Rücken, die Beine und der Kopf wehtaten. Ich glaubte, ich hatte mich davon überzeugen wollen, dass es wirklich wahr war. Dass Leevi wirklich tot war. Dass er nicht mehr heimkommen würde und ich fortan alleine war. Mit jeder Zeile, mit jedem Bild, mit jeder Seite brannte sich die Wahrheit immer mehr in meine Augen. Wanderten von dort in mein Gehirn und gingen schließlich auf meinen Körper über. Trotzdem hatte ich eine Art Schutzschild. Ich ließ es immer noch nicht an mich heran. Ging damit um, als wäre ich nicht beteiligt. In den ersten zwei Nächten schlief ich fantastisch. Und zwar, weil ich mir einredete, dass Leevi auf Tour war und erst in ein paar Tagen wieder bei mir sein würde. Und ich sagte mir, ich sollte mich nicht so anstellen, schließlich war ich es doch gewohnt, allein zu sein. Ihn mehrere Tage oder sogar Wochen nicht zu sehen. Erst als ich am Abend des Zeitungsdesasters mein Handy checkte und keine Gute-Nacht- und keine Guten-Morgen-SMS bekommen hatte, begann das Gerüst um mein Herz langsam zu bröckeln. Leevi hatte immer eine SMS geschickt. Um sich zu versichern, dass es mir gut ging. Um sicherzustellen, dass ich okay war, und auch ein bisschen, um sich besser zu fühlen, weil es jemanden gab, der ihn vermisste. Ich griff nach meinem Handy, checkte die Symbolleiste und musste feststellen, dass Leevi mir wieder nicht geschrieben hatte. Ich scrollte durch die Anruferliste und wählte seine Nummer. Es sprang sofort die Mailbox an. Ich presste mein Ohr fester an das Handy und konnte es im ersten Moment nicht glauben. Ich hörte seine Stimme. Klar und deutlich. »Hey, hier ist der Anrufbeantworter von Leevi Virtanen. Wahrscheinlich habe ich gerade keine Zeit zu reden, also hinterlass mir eine Nachricht. Ich melde mich. Je nachdem, wer du bist.« Lachen. Sein Lachen. Ich lächelte, nahm das Handy mit und ging hinauf in unser Schlafzimmer. Ließ mich aufs Bett fallen und kuschelte mich in sein Kissen, hielt es mir ganz dicht vor die Nase, klemmte das Handy zwischen mein Ohr und das Kissen und drückte so oft die Wahlwiederholung, wie ich konnte. »Hey, hier ist der Anrufbeantworter von Leevi Virtanen …« Endlich spürte ich einen Kloß im Hals. Schluckte ihn aber nicht runter, sondern ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich weinte lautlos, wählte immer wieder die Wahlwiederholung, schnupperte an seinem Kissen, um seinen Duft einzusaugen wie eine Ertrinkende. »Hey, hier ist der Anrufbeantworter …« Mein Weinen war mittlerweile stärker geworden, ich weinte, der Damm war gebrochen. Mein Schutzschild hatte aufgehört, mich zu schützen. Seine Stimme war durchgedrungen und hatte alle Zweifel mit sich fortgerissen. Leevi war tot. Meine Haut spannte unter den heißen Tränen, die nun immer schneller in das Kissen eindrangen. Ich bemerkte die Nässe nicht. Ich drückte noch einmal auf die Wahlwiederholung. »Hey, hier ist …« Ich schmiegte meine Wange an das Kissen, stellte mir vor, dass es Leevi wäre. Irgendwann fiel ich in einen traumlosen und festen Schlaf. Mein Körper erlöste meine Seele für ein paar Stunden.

 

»Darf man noch Kaffee nachschenken?« Betty hielt die Kaffeekanne über seine Tasse und sah ihn fragend und mit einem Lächeln auf den Lippen an. »Klar, du weißt doch, dass ich mindestens drei Tassen in der Früh brauche, um munter zu werden.« Charles stupste seine Tasse an und wenige Sekunden später lief die braune Flüssigkeit dampfend hinein. »Aber ich muss eben fragen«, grinste Betty und verschwand wieder hinter dem dünnen Vorhang, der die Küche von der Theke des Cafés trennte. Charles kam jeden Morgen hierher. Frühstückte ausgiebig, meistens Rührei mit Speck und mindestens drei Tassen Kaffee, bevor er gegen elf Uhr nach Hause zurückkehrte. Betty war eine resolute Frau, deren Familie aus Afrika stammte. Daher hatte sie schöne, schimmernde dunkle Haut und einen Körper, den Charles früher auf jeden Fall hätte haben wollen. Hier in Elora, einem kleinen Ort in der Nähe von Toronto, mitten im Nirgendwo Kanadas, tickten die Uhren noch genauso wie vor zwölf Jahren. Seitdem kam Charles hierher. Und seitdem hatte sich nichts geändert, außer dass er mittlerweile ganz gut damit klarkam, seinen Alltag alleine, ohne Familie, nur mit Freunden und Bekannten zu meistern. Er nahm einen tiefen Schluck Kaffee, ließ seinen Blick über den kleinen alten Röhrenfernseher schweifen, der genau über ihm an der oberen Kante der Theke befestigt war. Sein Mund stand ein wenig offen, Betty war mittlerweile wieder hervorgekommen und folgte seinem Blick. »Oh mein Gott, ist das nicht …?« Seine Tochter, Arm in Arm mit ihrem Lebensgefährten. Darunter prangte in roten Buchstaben, dass Leevi heute nach einem tödlichen Autounfall beerdigt worden war, und die Hinterbliebenen sehr tapfer und stark gewesen waren. Dass das ganze Land in eine Art Schockstarre gefallen war und man erst sehen würde, wie es nun mit Hei Five weiterging. Die Medien hatten ein perfektes Foto für ihre Zwecke gewählt. Claire und Leevi vor einem See, er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, drückte sie an sich. Seine blonden, wirren Haare hingen ihm ins Gesicht, ihre pechschwarzen Haare glänzten in der Sonne, die hoch über ihnen stand. Zwei Augenpaare blinzelten in die Kamera, wirkten fröhlich und unbeschwert. Charles war für einen kurzen Moment fasziniert von den unterschiedlichen Blautönen der beiden, die ihre Augen fast wie Saphire aussehen ließen. Claire hatte dunkle, tiefe Augen, die ein unverschämt intensives Blau hatten. Der Kontrast mit ihrer blassen Haut und den schwarzen Haaren hatte Charles schon früh dazu veranlasst, diverse Nachbarsjungen von ihr fernzuhalten. Leevis Augen hingehen waren hellblau, fast schon wasserblau. Sie sahen aus wie die eines jungen Huskys. Erst jetzt reagierte er auf Bettys Frage. »Ja, das ist meine Tochter ... Aber wieso Beerdigung? Ich … ich verstehe das nicht.« Claire und er hatten erst vor fünf Tagen miteinander telefoniert, da hatte sie ihm mitgeteilt, dass alles in Ordnung war und es ihnen gut ging. Die Meldung war ebenso schnell weg, wie sie gekommen war. Allgemeines Gemurmel erfüllte den kleinen Raum. Elora war ein beschaulicher Ort, jeder kannte jeden. Die meisten wussten, dass Charles’ Tochter vor Ewigkeiten nach Finnland ausgewandert war, um dort mit einem berühmten Sänger zu leben. Sie kannten sie auch alle, da sie mindestens zweimal im Jahr hierherkam, um Zeit mit ihrem Vater zu verbringen. Geistesgegenwärtig zog Charles sein Handy hervor, prüfte, ob sich seine Tochter gemeldet hatte. Nichts. Betty legte ihre Hand vorsichtig auf Charles’ Unterarm. »Es tut mir leid.« »Aber … es ist vier Tage her und niemand informiert mich? Warum … warum erfahre ich erst jetzt von der Beerdigung?« Betty wusste, wie er sich jetzt fühlen musste. »Seine Band war in Amerika und hier nicht sehr bekannt. Soweit ich das weiß, waren sie nur in Europa sehr erfolgreich. Dass … also dass unsere Medien deshalb keine Sondersendung einrichten, ist nachvollziehbar.« Ehrliche Worte, die trotzdem schmerzten. »Ich weiß, aber warum hat Claire nicht …« Er rutschte langsam von seinem Barhocker, schob Betty ein paar Dollar hin und nahm seine Jacke vom Haken. »Ich werde … ich muss mit ihr sprechen.« Er hörte noch Bettys Beteuerungen, dass es ihr leid täte. Er bemerkte die neugierigen und mitleidigen Blicke nicht, die sich in seinen Rücken bohrten, als er das Café verließ und in die Kühle des Tages hinausschritt. Kaum saß er in seinem Pick-up, wählte er Claires Nummer. Es läutete. Einmal, zweimal, dreimal … Eine gefühlte Ewigkeit. Niemand meldete sich.

 

Als ich aufwachte, war es fünf Uhr früh. Also hatte ich zwölf Stunden geschlafen. Im ersten Moment war ich verwirrt, war mir nicht sicher, wo ich genau war. Warum mir meine Wange so wehtat. Bis ich das Handy sah, auf dem ich die ganze Zeit gelegen hatte. Bis mir alles wieder einfiel und die Trauer mich mit so einer Wucht überfuhr, dass ich am liebsten auch sterben wollte. Trotzdem musste ich weitermachen. Auch wenn der Spruch abgedroschen klang, aber mich von einer Brücke stürzen oder mir die Pulsadern aufzuschneiden, um meinem Wunsch nachzukommen, erschien mir als viel zu schmerzhaft. Und außerdem hatte ich darauf gar keine Lust. Ich war wehleidig und nicht sehr mutig. Also musste ich da jetzt wohl durch. Ich rappelte mich auf, versuchte, mein Handy dazu zu bringen, mir zu sagen, ob mich jemand hatte erreichen wollen. Es tat sich nichts. Wahrscheinlich war der Akku gestern ausgegangen. Diese neumodischen Dinger hielten ja wirklich nicht mehr viel aus. Meistens musste ich mein Handy jeden Tag aufladen, damit ich es überhaupt benutzen konnte. Leevi hatte mich immer damit aufgezogen, weil ich seiner Meinung nach selbst schuld war. Wer kein finnisches Supergerät, sondern irgendeinen Bau aus den USA verwendete, der musste sich nicht wundern, wenn es nicht einwandfrei funktionierte. Ich quittierte seine Bedenken immer mit einem künstlich genervten Gesichtsausdruck, woraufhin er meistens lachen musste. Sein Lachen. Ich musste es noch einmal hören. Schnell schwang ich meine Beine aus dem Bett, berührte den kalten Parkettboden und fast gleichzeitig gingen lauter kleine LEDs an, die gekonnt im Boden verarbeitet und mit einem Bewegungsmelder ausgestattet waren. Der Melder war unter meinem Nachttisch verbaut, sodass man ihn nicht gleich sehen konnte. Vor einigen Jahren hatte Leevi dieses Ding installiert, weil ich ein Weltmeister darin war, mir die Zehen und Füße anzustoßen. Jetzt, wo mein Weg sanft beleuchtet war wie die Notausgangstreifen in einem Flugzeug, stieß ich mich nur noch an, wenn ich ihnen nicht folgte. Sie führten nämlich einmal ins Bad und einmal zur Tür hinaus. Nicht aber auf seine Seite des Bettes. Seine Seite. Hm. Nicht daran denken, ich musste mich ablenken. Trotzdem musste ich lächeln über die indirekte Beleuchtung, die leicht bläulich schimmerte. Das war Leevi gewesen. Nicht diese kleinen leuchtenden Dinger, sondern die Art und Weise, wie er immer für mich sorgte. Er schenkte mir zu unserem zehnten Jahrestag keinen Schmuck, brachte mir keine Blumen, sondern machte den Schlafzimmerboden stoßfest und sicher. Ich erhob mich schwerfällig, ging hinaus auf den Flur und die Stufen runter. Hier hatte ich mittlerweile Licht gemacht. Unten angekommen, suchte ich nach meinem Ladegerät, steckte das Handy an und öffnete dann den Kühlschrank. Es war nicht viel drinnen. Irgendwie war die Küche für uns immer zweitrangig gewesen. Wohl ein Ort, an dem wir uns unterhielten, Freunde bewirteten oder jeder seinen Gedanken nachhing. Draußen war es schon hell. Hier in Finnland wurde es fast nicht dunkel. Und wenn, dann nur zwischen Mitternacht und drei Uhr früh. Wobei man auch hier nicht von Dunkelheit sprechen konnte, sondern es herrschte dann eine gespenstige Trübheit, die sich über das Land legte. Am Anfang hatte ich Probleme damit, bei diesem Dämmerlicht überhaupt einzuschlafen. Die ersten beiden Jahre lebten wir in unserer Wohnung in Helsinki, die im Dachgeschoss lag und große Dachschrägenfenster hatte, durch die das eigenartige Dunkel noch mehr zur Geltung kam. Ich hatte dauernd das Gefühl, beleuchtet zu werden, oder noch schlimmer, ich dachte, es wäre schon längst Zeit aufzustehen, dabei war es noch mitten in der Nacht. Irgendwann kam ich dann doch damit zurecht. Mittlerweile hatte ich in Kanada, wenn ich bei meinem Dad war, ein Nachtlicht, damit mir die extreme Dunkelheit keine Schreckgespenster in meinen Kopf injizierte. Auch das war etwas, worüber sich Leevi immer amüsiert hatte. Trotzdem hatte er immer, wenn ich ihn auf Tour begleitete, ein Nachtlicht dabei. In ein paar Stunden war der Termin beim Notar. Ich schaltete mein Handy ein und legte es vor mir auf den Tisch. Zu viele Gedanken um diese Uhrzeit waren nicht gut. Auf einmal blinkte es auf. Fünfzehn verpasste Anrufe und dreiundzwanzig Nachrichten. Meine Güte. Ob vielleicht doch … Nein, nein, ich sollte mir das aus dem Kopf schlagen. Keine Nachricht war von Leevi. Würde es nie wieder sein. Dieses Gefühl, wenn die Hoffnung kurz in mir aufkeimte wie eine Rose, die Wasser bekam, und dann in Sekunden wieder von der Realität zurückdrängt wurde, war grauenhaft. Nachdem ich eine gefühlte Stunde damit verbrachte, sämtliche Anrufe und Nachrichten von Reportern zu löschen, die ein Interview mit mir machen wollten, blieben zwei Anrufe und drei Nachrichten übrig. Zwei Nachrichten waren von meiner Freundin Tarja, die mir jeden Tag schrieb, um sich zu erkundigen, wie es mir ging. Sie würde mich bestimmt anrufen, allerdings wusste sie, dass ich nicht gerne telefonierte, es geradezu hasste, und in meiner jetzigen Situation würde ich überhaupt gar nichts mehr sagen. Sie kannte mich eben. Die andere Nachricht sowie die beiden Anrufe waren von meinem Dad. Er schrieb, er hatte es in den Nachrichten erfahren und ich solle mich melden, sobald ich konnte. Er machte sich Sorgen und er liebte mich. Bei ihm war es jetzt etwa halb elf. Hm. Um diese Uhrzeit schlief er schon, trotzdem versuchte ich mein Glück. Wenn ich jetzt eine Stimme hätte hören wollen, dann seine. Es läutete tatsächlich nur einmal und schon war er dran. »Claire, mein Schatz …» Mehr sagte er nicht. »Hey Dad.« Ich versuchte, bemüht tapfer zu sein. Er solle sich nicht noch mehr sorgen, als er es ohnehin schon tat. »Was macht ihr für Sachen?!« Ich stutzte. Musste lachen. Musste tatsächlich das erste Mal seit fünf Tagen lachen. Ich konnte es fast gar nicht glauben. »Dad, es tut mir so leid. Ich wollte dich anrufen, aber es war auf einmal die Hölle los und ich …« Er unterbrach mich. »Das ist nicht wichtig, mein Liebling. Wichtig ist jetzt, dass es dir gut geht. Ich meine, ich buche einen Flug. Ich komme zu dir.« Ich überlegte blitzschnell, ob ich das wollte. »Nein, Dad, ist schon gut. Du weißt, dass du Flugangst hast. Und es geht mir gut. Ich muss nur … ein paar Dinge regeln.« »Bist du dir sicher? Ich glaube nicht, dass du die Wahrheit sagst.« Verdammt. Schon wieder jemand, der mich zu gut kannte. »Okay, Dad, es geht mir nicht gut. Es kann mir auch nicht gut gehen. Aber ich muss trotzdem noch einiges regeln. Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht. Ob ich hierbleiben möchte, ob ich alles aufgebe. Ich habe keine Ahnung.« Meine Stimme versagte, wurde dünn und leise. »Oh, mein kleiner Liebling. Aber du weißt, wenn du mich brauchst, ich bin sofort bei dir. Flugangst hin und her. Und du kannst natürlich jederzeit herkommen. Ich hätte dich gerne hier.« Ach, Dad. Mein armer, alter Dad. Er war jetzt sechzig und hatte Flugangst. Trotzdem würde er sich die Strapazen antun, nur um hier zu sein. Das erste Mal seit Leevis Unfall spürte ich so etwas wie Zuversicht. Dass jemand hier war, der mich auffing. »Dad, ich liebe dich.« Ich konnte sein zufriedenes Lächeln am anderen Ende der Leitung fast schon sehen. »Okay, ich mache inzwischen dein Zimmer vorzeigbar, ja?« »Alles klar, bye, Dad. Ich melde mich, sobald ich weiß, was passiert.« »In Ordnung, Liebling.« Dann war es still am anderen Ende der Leitung. Nur das leise Piepen signalisierte mir, dass mein Dad aufgelegt hatte. Ich stützte meinen Kopf in meine Hände und seufzte tief.

Ich stand bereits auf der Veranda, als der helle Wagen meiner Schwiegereltern vorrollte. Sie hatten mir angeboten, mich für den ungeliebten Termin abzuholen. Ich konnte es mir nicht vorstellen, in ein Auto zu steigen. Die Erinnerungen an Leevi würden aufflammen. Quälende Fragen an seine letzten Minuten. Ob er Schmerzen gehabt hatte. Ich schüttelte mich unbewusst, stieg die paar Treppen hinunter und stieg hinter Frida ein, die am Beifahrersitz saß. Sie drehte sich zu mir um, angelte nach meiner Hand und drückte sie fest. Ich ließ es geschehen und erwiderte den Druck. Die Fahrt verlief relativ schweigend, jeder hing seinen Gedanken nach. Es war mir ganz recht, denn auf Smalltalk hatte ich absolut keine Lust. Ich merkte, dass Olaf nicht die direkte Strecke fuhr, denn dann würden wir an dem Haus vorbeikommen, in dem unsere Stadtwohnung lag. Er war anscheinend der Meinung, er würde mir dadurch etwas ersparen. Aber früher oder später musste ich dort sowieso hin. Oder auch nicht, je nachdem, wer nach diesem Termin der rechtmäßige Besitzer sein würde. Als wir in das Büro des Notars traten, musterte uns dieser besorgt. Wie ich erfahren hatte, war er der Notar der Familie, dem diese schon seit Jahren vertraute. War auch gut so, denn ich hatte keine Lust darauf, dass Leevis Testament irgendeiner Zeitung zum Opfer fiel. Das Büro von Dr. Anderson war ein typisches Büro, in dem man sich einen Anwalt vorstellte. Er erhob sich zum Gruß hinter einem schweren Massivholztisch. Seine unzähligen Bücher standen in Reih und Glied in dunklen Regalen, die fast die ganze Wand einnahmen. Wir setzten uns. »Dann bringen wir das schnell hinter uns«, leitete Dr. Anderson das Gespräch ein. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und fragte mich zum wiederholten Mal, warum ich eigentlich gekommen war. »Vorweg, es gibt ein Testament. Herr Virtanen war bereits vor vier Jahren bei mir und hat ein Testament aufgesetzt. Allerdings hat er mich um absolute Verschwiegenheit gebeten. Ich denke, er wollte Ihnen keinen Grund zur Aufregung geben.« Ich wechselte einen kurzen Blick mit Olaf. Dieser verriet mir, dass er ebenso wenig Bescheid wusste wie ich. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Warum hatte er Geheimnisse vor mir? Dr. Anderson musterte uns alle der Reihe nach, dann verlas er Leevis letzten Willen. »Herr Virtanen vermacht das Haus und die Wohnung in Helsinki Ihnen, Frau Davis. Er hat sie ins Grundbuch eintragen lassen, daher fallen beide Immobilien Ihnen zu.« Ich war erleichtert. Aber auch hier hatte ich keine Ahnung gehabt, dass er mich ins Grundbuch hatte eintragen lassen. Wir hatten nie darüber gesprochen. Nach und nach erfuhren wir, dass seine Spar- sowie Girokonten an seine Eltern fallen sollten. Ich hatte damit absolut kein Problem, schließlich war ich einfach nur froh, das Haus nicht aufgeben zu müssen. Die Stimmung war eigenartig. Niemand von uns hatte je geglaubt, dass wir uns mal um einen Notar versammeln müssten und dieser Leevis Hinterlassenschaften an unterschiedliche Leute verteilte. Als wir schon glaubten, alles überstanden zu haben und nur mehr unsere Unterschrift daruntersetzen zu müssen, räusperte sich Dr. Anderson. »Da gibt es allerdings noch eine Sache …« Verwundert blickte ich ihn an. Noch eine Überraschung? Ein Haus irgendwo, von dem ich nichts wusste? Ein Kind, das irgendwo aufgetaucht war? Ich schimpfte mich sofort für meine absurden Gedanken, aber manche Situationen beschwörten unpassende Gedanken herauf. »Was denn?«, fragte ich besorgt. Olaf wirkte sehr gefasst, Frida war in sich zusammengesunken. Ich glaubte ehrlich, dass sie noch mehr litt als ich. Dr. Anderson schob mir ein separates Blatt unter die Nase. »Die Rechte an Herr Virtanens Musik, an den Texten und somit auch das Recht auf sämtliche Ausschüttungen aus Songs, die im Radio, oder Videos, die im Fernsehen gespielt werden, gehen an Sie über.« Erstaunt betrachtete ich das Blatt Papier vor mir, konnte seinen Sinn aber noch nicht ganz begreifen. »Das heißt?« »Im Großen und Ganzen ist sein komplettes Gedankengut an Sie übergegangen. Jeder, der ab sofort einen Song von Hei FiveOkay