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Elisabeth Lukas
Einmal rund um die Sonne

Elisabeth Lukas

Einmal rund
um die Sonne

Begleitende Gedanken
für das ganze Jahr

Mit Gedichten von Elli Michler

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VERLAG NEUE STADT
MÜNCHEN · ZÜRICH · WIEN

Aus der Reihe: LEBENSWERT!

2016, 1. Auflage

www.neuestadt.com

Inhalt

Vorwort

Januar
Von der Faszination des Neu-anfangen-Könnens

Februar
Von der Freude, die in keinem Leben fehlen soll

März
Vom Erringen der Kraft zur heilsamen Selbstbeschränkung

April
Vom Wieder-Aufstehen, wenn alles zusammengebrochen ist

Mai
Vom Aufblühen beim Pläne-Schmieden und Ziele-Setzen

Juni
Von der Freundschaft, Kollegialität und Fairness

Juli
Vom Segen der gern und gut getanen Arbeit

August
Vom Urlaub-Machen, Sich-Besinnen und Horizont-Erweitern

September
Von der Erfahrung nachlassender Lebenswärme

Oktober
Vom Einfahren irdischer Ernte in himmlische Speicher

November
Von der Trauer und der Kunst des Loslassens

Dezember
Vom Ende und der nie endenden Hoffnung

Die Autorin und ihr Werk

Vorwort

Jeder von uns trägt gleichsam eine unsichtbare Zahl auf seiner Stirn, nämlich die Anzahl der Jahre, die ihm noch beschieden sind. Bei manchen Menschen ist es nicht einmal eine einstellige Zahl. Bei sehr jungen Menschen mag es in seltenen Fällen eine dreistellige Zahl sein. Auf jeden Fall ist es eine „abgezählte“, begrenzte Anzahl von Jahren, in denen es uns noch gestattet ist, über unsere wunderschöne Erde zu wandeln. Über die Erde, die trotz ihrer Schönheit und Einzigartigkeit im ganzen Universum auch so viel Elend auf ihrer Oberfläche mit sich trägt, menschlich verursachtes und nicht menschlich verursachtes Elend. Einige Jahre Leben vor uns: Angesichts des Alters von Mutter Erde ein Hauch, ein kurzer aufblitzender Moment; angesichts des Universums – ein Nichts. Und doch ist es alles, was wir haben: ein bisschen Lebenszeit.

Das wird uns mit jedem Jahreswechsel bewusster denn je. Da täuschen auch die knallenden Sektpfropfen und Feuerwerke nicht völlig darüber hinweg, denn die vielen Marzipanschweinchen, Schornsteinfegerfiguren und vierblättrigen Kleeblätter erzählen in ihrer Symbolsprache davon, dass man Glück hatte, das scheidende Jahr überlebt zu haben, und dass es wiederum einer gehörigen Portion Glück bedarf, um auch das nächste Jahr zu Ende leben zu dürfen. Das Glück aber ist leider kein zuverlässiger Kumpan. Mehr noch: Es ist weder mit Macht noch mit Geld zu bestechen, es verschließt seine Ohren jeglichem Bitten und Flehen, und wenn es seine Gaben launig versprüht, dann zeigt sich kein sinnverständiges Muster darin. Mitunter haben die Schurken dieser Welt mehr Glück als die Grundanständigen, die Alten mehr Glück als die Jungen, die Privilegierten mehr Glück als die Darbenden, was jeglichem Gerechtigkeitsgefühl zuwiderläuft. Natürlich können wir uns und unseren Lieben viel Glück zum Neujahr wünschen, doch klafft zwischen dem Gewünschten und der Realität ein unüberbrückbarer Abgrund. Und stets hocken wir auf der Seite der Realität – und nicht auf der Seite des uns gewünschten Glücks.

Allerdings lässt sich auch der Realität allerhand abgewinnen. Es gibt eben jenen Teil des Elends, der von uns Menschen verursacht wird und daher auch von uns Menschen unterbunden werden kann. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Es gilt bis in die winzige häusliche Zelle hinein, in der sich der simple Alltag im Hier und Jetzt abspielt; in der wir aufstehen, uns waschen, anziehen, frühstücken usw. Stehen wir zu spät auf, waschen wir uns zu wenig, ziehen wir das Falsche an, frühstücken wir zu hastig usw., verschattet sich die Realität. Sie wird ungemütlicher, frostiger. Bestehen wir hingegen die Prüfungen des Alltags mit Geschick und Weisheit, lichten sich die Schatten, und es blinzeln wärmende Sonnenstrahlen hindurch. Dies stärkt uns für jene Herausforderungen, die den Alltag sprengen, wie folgenschwere Entscheidungen, Krisenmanagement oder einfach das tapfere Aushalten von Phasen, in denen uns das Glück abhold ist.

Die nachstehenden Texte sollen eine Art „Prüfungsvorbereitung“ für den Alltag sein. Sie begleiten die Leserinnen und Leser durch ein ganzes Jahr (durch eines ihrer „abgezählten“ Jahre), in dem sich Mutter Erde ein Mal rund um die Sonne dreht, und möchten mithelfen, viele wärmende Sonnenstrahlen für sie einzufangen. Der Fundus, aus dem die Texte schöpfen, ist der Erfahrungsschatz einer Psychologin und Psychotherapeutin, die an Tausenden Patienten beobachten hat können, was Leben unnötig verdüstert und beschwert. Leben ist schwer genug – man muss es sich nicht noch schwerer machen. Leben ist aber auch kostbar genug – auf dass man alles daransetzt, es in Würdigung anzunehmen, es auf fantasievolle Weise zu gestalten und es in Freude zu bejubeln.

Im vorliegenden Buch werden mögliche Identifikationsfiguren vorgestellt, die mit irgendwelchen Schwierigkeiten kämpfen. Ihr kostbares bisschen Leben ist (bis auf wenige Ausnahmen) gram- und leiderfüllt. Aber in all den genannten Fällen gibt es Möglichkeiten, diese Schwierigkeiten abzuschütteln und sich zu einem lebenswerten Dasein aufzuschwingen. Diese Möglichkeiten werden im Text anschaulich und nachvollziehbar beschrieben und laden die Leserinnen und Leser dazu ein, von ihnen Gebrauch zu machen, sollten sie sich in einer der vorgestellten Figuren wiederfinden.

Darüber hinaus hilft manchmal auch einfach ein Blick empor zum nächtlichen Sternenhimmel. Im staunenden Bewusstsein der gewaltigen kosmischen Vorgänge da droben, die sich in Jahrmillionen abspielen, mag so manche nagende Sorge zur Winzigkeit verglühen. Und im Vertrauen auf ein noch ganz anderes „da droben“ mag sich der Glaube erholen, dass unser so anfälliges, hinfälliges, kurzes Leben trotz allem – einen Sinn hat.

Januar

Von der Faszination
des Neu-anfangen-Könnens

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ZWISCHEN DEN JAHREN

Die Mittagssonne,
an wärmenden Kräften noch arm,
spiegelt von fern sich im Eise.
Auf den Feldern hockt träge der Krähenschwarm.
Die Zeit dreht sich lautlos im Kreise.

Keine Schneeflocke tanzt.
In den Häusern verschanzt
will Gewohntes das Alte bewahren;
doch pirscht sich das Neue schon mutig heran
und ängstigt sich nicht vor Gefahren.
Es hegt keine Zweifel und weiß, wie man’s schafft:
Auf jeglichen Neubeginns innere Kraft
besinnt es sich zwischen den Jahren.

Elli Michler

Peter ist ein großer, athletischer Mann von dreißig Jahren. Er ist mit vielen Talenten gesegnet. So hat er zum Beispiel einen analytischmathematischen Verstand, ein gutes Gedächtnis, eine rasche Auffassungsgabe und ein beachtliches Allgemeinwissen. In der Schule zählte er stets zu den aufmerksamen Schülern, was sich in seinen positiven Zensuren niedergeschlagen hat. Auch besitzt Peter ein freundliches Naturell und ist in der Damenwelt beliebt. Man könnte somit denken, dass Peter herrliche Startbedingungen ins Leben hatte und immer noch hat. Er sitzt jedoch unentschlossen bei seinen Eltern herum, die ein Hotel führen, und hilft ihnen mürrisch bei der Arbeit, die er nicht mag. Privat flattert er zwischen freundschaftlichen Kontakten und gelegentlichen Unternehmungen hin und her, ohne sich zu binden oder sich einem besonderen Interesse zu widmen.

Gerda hat weit weniger günstige Startbedingungen gehabt. Während ihrer Kindheit gab es in ihrer Familie heftige Turbulenzen. Ihr Vater wurde aus politischen Gründen verhaftet, ihre Mutter floh mit den Kindern aus dem damaligen Ostblock in den Westen, zwei Brüder starben bei einem tragischen Unfall, die Familie verarmte. Gerda arbeitete seit ihrer Schulzeit als Wäschereigehilfin und Büglerin und wurde schließlich mit sechsundfünfzig Jahren wegen eines chronischen Rückenleidens in Frührente geschickt. Sie ist geschieden, alleinstehend und beschließt, endlich ein angenehmes Leben nach ihren bescheidenen Vorstellungen zu führen. Z. B. malt sie sich aus, Busreisen zu buchen oder ihre inzwischen politisch veränderte Ursprungsheimat zu besuchen und nach etwaigen Verwandten Ausschau zu halten. Sie träumt von Palmen und Sandstränden am Schwarzen Meer. Aber sie unternimmt nichts, und ihre Tage verrinnen ungenützt.

Was ist los mit Peter und Gerda? Sind die beiden seelisch krank? Aber nein! Sind sie hilflos und ohne Ressourcen? Keineswegs! Sind sie in einen finsteren Erdenwinkel geworfen, aus dem es kein Entrinnen gibt? Auch nicht! Das Glück hat sich sogar herabgelassen, ihnen allerhand erbauliche Zukunftsoptionen zuzuschanzen. Peter hat einen gesunden, kräftigen Körper. Er hat Eltern, die ihn bei jeder nachträglichen höheren Ausbildung unterstützen würden. Er hat ein Bündel vorzeigbarer Fähigkeiten sowie ein soziales Auffangnetz für Notfälle. Gerda ist körperlich nicht mehr so fit, aber dennoch mobil genug, um ihre Reisesehnsucht zu befriedigen. Sie hat jetzt Zeit, ist vom Zwang, arbeiten zu müssen, befreit und hat sich einige finanzielle Reserven geschaffen. Außerdem hat sie noch innere Bezüge zu ihrem Herkunftsland, versteht seine Sprache, träumt von einer Erkundungsfahrt zu ihren Wurzeln. Also, was ist los mit ihr und Peter?

Die beiden haben offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Anfangen, wobei Peters Schwierigkeit noch um eine Nuance größer sein dürfte. Er hat nämlich nicht einmal eine Vision von dem, was er anfangen könnte – mit sich, seinem Leben, seinen Gaben, seiner Zukunft. Gerda hingegen hat wenigstens eine Vision. Nur: Visionen entraten zu „Luftschlössern“, verfallen zu leeren Utopien, wenn sie nicht integriert werden in die Dynamik aktiver Initiativen und nicht angezurrt werden an einem bestimmten Punkt in einem Schrittekontinuum, das im Heute beginnt. Das heißt, was Peter vermisst, lässt Gerda versanden.

Welches Hindernis türmt sich zwischen den beiden Personen und ihren Neuanfängen auf? Ist es die Angst? Die Angst vor dem Unbekannten, befremdend Neuen, garantielosen Wagnis? Vielleicht. Ist es die Mühe, sich aufzuraffen und aus den eingerosteten Gleisen auszuscheren? Vielleicht auch das. Ist es die fehlende Bereitschaft, auf vertraute Bequemlichkeiten zu verzichten und sich zu erwartende Anstrengungen aufzuladen? Gut möglich. Ist es das Schreckgespenst „Eigenverantwortung“, das allen klar getroffenen Entscheidungen anhaftet? Wahrscheinlich ist es ein fataler Mix aus alledem, eine lähmende Mischung, die suggeriert, lieber eine gewohnte Misere beizubehalten, als ein ungewohntes Terrain zu betreten, das sich als noch misslicher – aber auch als wesentlich bekömmlicher und froh machender entpuppen könnte. Ohne Risiko sind eben keine Novität und auch keine persönliche Weiterentwicklung zu haben.

Ein Jahreswechsel wäre der richtige Zeitpunkt für die beiden Personen, Bilanz zu ziehen und ihre Lage zu überdenken. Peter stiefelt ins einunddreißigste Lebensjahr hinein. Wenn er nicht bei der von ihm eher abgelehnten Hotelarbeit hängen bleiben will, wird es höchste Zeit, Alternativen ins Auge zu fassen. Es reicht in keiner Sparte des Lebens, zu wissen, was man nicht will. Auf ein frei fluktuierendes Nein erntet man stets ein „Nicht genügend“.

Die wirklich bedeutenden Neins sind samt und sonders jene, die über den Buckel eines noch viel bedeutungsvolleren Jas hinunterrutschen. Spricht etwa jemand an einem Sonntag ein volles und ehrliches Ja zu einem Fahrradausflug, dann sagt er gleichzeitig mit leichtem Herzen und fester Stimme Nein zum Rest all dessen, was er an demselben Sonntag auch hätte tun können, vom Sich-Ausschlafen, bis zum Buch-Lesen, Im-Garten-Werkeln, Freunde-Einladen, Menü-Kochen usf. Die Neins bilden praktisch die Kehrseite des Jas, sie leiten sich lückenlos aus dem einen Ja ab, das Gültigkeit besitzt. Umgekehrt aber leitet sich ein Ja aus keinem einzigen Nein ab. Wer beschließt, am Sonntag sicher kein Menü zu kochen, hat nichts wirklich beschlossen. Dieses eine Nein setzt ihn nicht aufs Fahrrad, nicht zum Buch, nicht in den Garten und nicht zu seinen Freunden. Es erweist ihm keinen Dienst, es „genügt nicht“.

Peter muss folglich herausfinden, was er will, und nicht, was er nicht will. Es ist ihm dringend zu raten, sich für eine Weile in die Stille und Abgeschiedenheit einer verschneiten Berghütte oder eines Klosters zurückzuziehen, um mit sich ins Reine zu kommen. Er muss aus dem Alltag heraus, um seine geistige Beweglichkeit anzukurbeln. Denn Alltag ist Wiederholung ein- und desselben, ist Routine, die automatisch und ohne langes Überlegen verrichtet wird. Alltag ist Abspulen von Gewohnheiten, was im Normalfall entlastend ist, weil nicht für jede Einzeltätigkeit ein hellwaches Bewusstsein gebraucht wird. Den Alltag absolviert man bei einiger Übung quasi „im Schlaf“. Aber gerade dies ist Gift für Peter. Denn er soll ja aus seinem schläfrigen Zustand aufwachen und sein Leben konstruktiv in die Hand nehmen. Also hinaus mit ihm aus der althergebrachten Lethargie und hinein in ein Abseits, für das er keine Gewohnheiten parat hat, hinein in ein so ablenkungsfreies Milieu, dass er mit sich selbst und mit sonst nichts konfrontiert ist – und gezwungen ist, sich selbst und seinen Werdegang genauer zu erforschen.

Jedem Menschen wohnt eine innere Stimme inne, die ihn leitet. Es ist ein leises Stimmchen, dafür aber unbeirrt und autark, das heißt, nicht identisch mit äußeren Einflüsterungen. Der Seelenarzt und Philosoph Viktor E. Frankl hat es unser „prämoralisches Wertverständnis“ genannt, das „aller expliziten Moral wesentlich vorgängig“ sei. Damit meinte er, dass diese Art von innerer „Gewissensstimme“ nicht der herkömmlichen Interpretation entspricht, wonach sie durch die Erziehung gebildet wird und die jeweils geltenden Gesellschaftsmaximen repräsentiert. Derlei gibt es schon auch: die eingetrichterte Stimme der aktuellen Kulturepoche; aber diese Stimme ist eben nicht autark. Mutter und Vater erklären dem heranwachsenden Kind, was es zu tun und zu unterlassen habe, später übernehmen die Lehrer und Rechtshüter dieselbe Aufgabe – alles Bemühen in der Absicht, dass das Gelernte vom Lernenden akzeptiert werde, was in begrenzten Maßen auch gelingt. Dennoch bleibt jene eigene kleine innere Stimme im Menschen lebendig, die sich nicht an Mutters, Vaters oder Rechtshüters Instruktionen orientiert, sondern Weisungen aus höherer Ebene empfängt und an die Person weiterleitet. „Die Person wird durchtönt und durchklungen (das lateinische Wort ‚personare‘ heißt durchtönen, durchklingen) vom Anruf der Transzendenz“, hat Frankl kühn behauptet. Diese leise innere Stimme kann sich decken mit den herrschenden Zeitströmungen, sozialen Sitten und Gebräuchen – oder auch nicht, sie kann sich decken mit den individuellen Neigungen und Vorlieben der Person – oder auch nicht, und sie hat ihre eigenen Argumente, die sich unter Umständen reiner Logik verschließen. Sie erzählt schlicht und einfach vom nächsten sinnvollen Schritt, der von der Person zu setzen wäre; von dem Einen, das jetzt unaufschiebbar notwendig ist und nur von dieser Person und von niemand anderem stellvertretend für sie erfüllt werden kann. Sie spürt dem Sinn unserer gegenwärtigen Situation nach, sie ist unser „Sinn-Organ“ (Frankl).

In der Einsamkeit einer verschneiten Berghütte oder eines Klosters würde Peter mit dieser seiner inneren Stimme wieder in Berührung kommen. Leises wird in der Stille hörbarer. Und so würde er nach ein paar Tagen ungewohnten „Alltagentzugs“ und irritierendem Fehlen von Ersatzbeschäftigungen vielleicht an jenen Punkt selbstkritischen Nachdenkens gelangen, an dem ihm offenbar wird, was jetzt unaufschiebbar notwendig ist. Was Seines ist, was einzig und allein Sinn hat.

Vermutlich stünde zunächst die Frage an, ob er weiterhin im Hotel seiner Eltern mitarbeiten soll. Dass ihm die Arbeit dort keinen Spaß macht, ist für sich allein noch kein Anti-Sinnkriterium. Es könnte dennoch sinnvolle Motive dafür geben. Ein Dank an die Eltern, eine tatkräftige Unterstützung der Eltern, eine spätere Übernahme des Hotelbetriebs, eine geplante Umgestaltung des Hotels u. Ä. könnten es als sinnvoll definieren, im Hier und Jetzt durchzuhalten. Allerdings müsste Peter sich in diesem Fall ein echtes und verbindliches Ja zur Fortführung seiner Mitarbeit im Hotel abringen. Ein Ja, das auf derart soliden Füßen steht, dass sämtliche Neins zu verlockenden beruflichen Alternativen leicht über den Buckel des Jas hinunterrutschen, ohne dass er ihnen nachtrauern würde. Auch das wäre ein absoluter Neuanfang: In den Alltag wie gehabt zurückkehren – mit einer völlig neuen Einstellung. Nämlich mit der Einstellung, dass die Arbeit selbst zwar wenig befriedigend ist, aber gewollt und bejaht wird aus einem bestimmten Grunde; gewollt und bejaht wird und darum künftig ohne seelischen Widerstand in Ausgeglichenheit verrichtet werden kann.

Es könnte in der verschneiten Berghütte oder im Kloster aber ebenso gut anderes ans Tageslicht kommen. Vielleicht weist das innere Stimmchen Peter vehement auf seine brach liegenden Talente hin. Vielleicht favorisiert es den Ausstieg aus der Hotelbranche. Am Ende ist es überhaupt nicht nötig, den Eltern zu helfen, oder gerade umgekehrt: dass die Eltern bisher ihrem „in der Luft hängenden“ Sohn geholfen haben und froh wären über eine Veränderung der Sachlage. Vieles ist denkbar, aber nur Eines ist richtig, und wenn Peter sorgfältig lauscht, wird er es in seinem Innersten erkennen.

Angenommen, das Nein zur Hotelarbeit wäre fix, was dann? (Wir wissen schon: nein = nicht genügend!) Dann wird die „Sinnsuchmaschine“ angeworfen und Peters Aufenthalt in der Stille um eine Woche verlängert. Hellseherisch in die Zukunft schauen kann auch das prämoralische Wertverständnis des Menschen nicht, aber den nächsten sinnvollen Schritt hat es, wenn es nicht gestört wird, gut im Visier. Peter müsste nur zur Ruhe kommen. Durch den Schnee stapfen, bei Kerzenlicht meditieren, sich entspannen beim Duft gebratener Äpfel …, und dabei seine Lebensgeschichte Revue passieren lassen. Da gibt es Funken, die in der Asche der Vergangenheit glimmen. Was hat einmal sein Blut aufwallen lassen? Seine Begeisterung entfacht? Ihn in einen seligen Taumel versetzt? Was hat ihn einst bei der Lektüre brennend interessiert, in der Schule zum Aufhorchen gebracht, sein Selbstbewusstsein gestärkt, seine Lebensgeister geweckt, seine Hoffnungen angeregt? Es muss ihm längst begegnet sein, dasjenige, was auf ihn wartet in Exklusivität, dasjenige, wofür er geeignet ist, was seinen Kräften und Fähigkeiten zugepasst ist wie kaum jemandem sonst. Wann hat er das Gefühl erfüllten Daseins gehabt, und sei es bloß für Minuten gewesen? Funke für Funke ist die Asche des Vergangenen zu durchforsten – nicht nach Misslungenem, Traumata und sonstig Abgestorbenem (etwa in psychoanalytischer Manier), sondern nach den „Highlights“, den unvergesslichen Augenblicken des Eins-gewesen-Seins mit sich und der Welt. Sie werden sich zeigen, sie zeigen sich bei jedem, der danach fahndet. In unzähligen Patientenberichten waren sie herauszufiltern, diese noch glühenden Funken in der Asche eines gelebten Lebens, die man anblasen kann und die wieder auflodern, sobald sie neue Nahrung erhalten.

Greifen wir modellhaft ein Szenarium heraus. Peter erinnert sich plötzlich an Stunden, in denen er über kniffligen mathematischen „Rätseln“ gesessen ist, total an sie hingegeben und in sie versunken. Welche Lust war es doch, die ausgeknobelten Lösungen seinen Mitschülern zu erläutern! Das kann er gut, selbst die kompliziertesten Gleichungen und Funktionen vermag er geduldig zu erklären. Ach, Nachhilfe geben im Rechnen, das wäre was! Und Sport hat er auch gemocht … – warum hat er eigentlich damit aufgehört? Im Nachsinnen entdeckt er, dass ihm Sport in der Gemeinschaft gefallen hat, besonders mit anderen Kindern zusammen … Überhaupt hat er einen Draht zu Kindern. Einmal hat er eine Pfadfinder-Jugendgruppe begleitet, das war ein Spaß! Gerade die Kleinen hatten es ihm angetan. Am liebsten wäre er Erzieher, „Kindergärtner“, wie es seinerzeit hieß, aber in dem Beruf gibt es doch kaum Männer; wäre das nicht etwas komisch? Gewiss nicht! Auch mit Grundschülern würde er gerne arbeiten …: Denen würde er das Einmaleins flugs beibringen, geradezu im Spiel, und für den Sportunterricht könnte er sicher viele begeistern …

Langsam formt sich für Peter ein noch nebulöser neuer Lebensweg. Seine leise innere Stimme, die auf nächste Schritte programmiert ist, wispert immer deutlicher, an welchen Leitlinien es entlanggehen soll: Erkundigungen einziehen über Berufe mit Kindern verschiedener Altersgruppen, über Lehrverpflichtungen in Mathematik und Sport, ein offenes Gespräch mit seinen Eltern, eine Entscheidung und die Einschreibung in ein entsprechendes Studium, eine Finanzierung durch Nachhilfestunden … Es wäre ein anderer Peter, der aus der verschneiten Berghütte oder dem Kloster nach Hause zurückkehren würde, ein entschlossener Peter, der endlich weiß, was er will, und damit beginnt, es in die Tat umzusetzen.

Im Unterschied zu ihm müsste Gerda nicht ins „Abseits“. Sie weiß ja, was sie will, sie findet bloß den Starthebel nicht. Dazu würde es genügen, ihre „Träume“ zu intensivieren und zu konkretisieren. Da ist ihr Reisetraum: Wie sieht er genau aus? Sie setzt sich bequem aufs Sofa, streckt die Beine aus, atmet tief durch, schließt ihre Augen. Reisen, Busreisen … – warum mit dem Bus? Sie kennt sich nicht gut aus in den Bahnhöfen mit den vielen Ansagen, Gleisen, Zügen …; nein, das wäre ihr zu viel Aufregung. Aber ein Bus, in den man an einer Einstiegsstelle zusteigt und der einen ans Ziel bringt, das stellt sie sich lustig vor; es wird ihr auch nicht übel, wenn der Bus während der Fahrt ein bisschen schaukelt: Sie mag das. Nur, was macht sie am Ankunftsort? Allein ein Hotel zu suchen, dünkt sie schwierig. Und was soll sie besichtigen? Sie weiß von nichts … Allerdings hat sie gehört, dass es begleitete Busfahrten für Senioren gibt, bei denen sich jemand um alles kümmert. Sogar mit einem gemeinsamen Besichtigungsprogramm! Das wäre himmlisch! Aber wo soll es hingehen? Sie überlegt nicht lange. Ans Meer! Es ist Jahrzehnte her, dass sie das Meer gesehen hat. Damals ist ihr Mann mit ihr an die Adria gefahren, wo sie in einer Bucht campiert haben. Nachmittage lang saß sie am Strand, hat gehäkelt und immer wieder in die Wellen geschaut, den Möwen zugesehen, die frische Brise genossen und sich hie und da im Wasser abgekühlt. Herrlich braun ist sie damals geworden, während ihr Mann herumflaniert und durch die Kneipen des nahen Fischerdorfes gezogen ist. Ach, die Sonnenbräune hat ihr so gut gestanden – zu dem gelben Sommerkleid, das sie immer noch hat. In irgendeiner Schublade müsste sogar eine Fotografie von damals liegen … Der Gedanke lässt sie nicht mehr los. Sie springt auf und findet nach einigem Kramen das Bild von sich selbst im gelben ärmellosen Kleid, mit braunen Armen und lachendem Gesicht und einem Zipfel Meer im Hintergrund. Sie legt das Foto auf den Tisch und beschließt, gleich morgen im Reisebüro in der Parallelstraße vorzusprechen. Dort kann man ihr bestimmt sagen, wer solche begleitete Busfahrten für ältere Menschen anbietet, und ob es darunter Fahrten ans Meer gibt.

Wieder auf dem Sofa ausgestreckt, „träumt“ sie weiter. Wenn sie schon im Reisebüro ist, könnte sie noch mehr erfragen. Ihre Heimatstadt im fernen Land – wäre das sehr kompliziert mit einem Flug dorthin? Sie ist noch nie mit einem Flugzeug geflogen, aber wenn man es ihr genau erklären würde? Hilft einem jemand am Flughafen? Fragen schadet ja nichts. Und schließlich – in der alten Heimat hätte sie noch eine Freundin aus der Kindheit, die sicher kommen würde, sie abzuholen. Sicher? Vielleicht ist ihre Freundin krank, vielleicht hat sie sie inzwischen vergessen? Warum bloß ist der Briefwechsel mit ihr eingeschlafen? Gerda sollte wieder Kontakt zu ihr aufnehmen … Auch dieser Gedanke scheucht sie aus der Ruheposition auf. Sie hat doch die Adresse der Freundin in einem ihrer abgelegten Notizbücher … Bald liegt auch dieses neben dem Foto auf dem Tisch. Richtig, da ist die Adresse! „Also“, flüstert ihre innere Stimme, und zwar ausnahmsweise ziemlich gebieterisch, „setz dich hin und schreib einen netten Brief an deine Freundin aus Kindertagen! Erkundige dich, wie es ihr geht, und berichte aus deinem Leben! Morgen führt dich der Weg zum Reisebüro sowieso an der Post vorüber, da gibst du den Brief auf. Dann lässt du dich überraschen …“

Es könnte sein, dass morgen eine andere Gerda aufsteht als heute, nämlich eine fröhliche und mutige Gerda, bereit, ihrem eintönigen Leben eine abenteuerliche Wende zu geben.

* * *

Im Unterschied zu den beiden erwähnten Personen sind Hannes und Tina aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie haben mit dem Anfangen kein Problem. Speziell Tina ist eine begeisterte „Anfängerin“ und hat in ihrem Leben schon eine beachtliche Menge Anläufe ausprobiert. Allein im letzten Jahr hat sie sich in zwei Sprachkurse eingeschrieben, bei einer Partnerschaftsvermittlung angemeldet, einen Tanzkurs begonnen und die Mitgliedschaft in einem Wanderverein beantragt. Sprachkurs Nummer 1 hat sie nach acht Wochen abgebrochen, Sprachkurs Nummer 2 nach zwölf Wochen. Die Lernerei war ihr zu stressig. Die Partnerschaftsvermittlung hat sie nach einem halben Jahr gewechselt und ist mit der nunmehr gewählten auch nicht zufrieden. Zum Tanzkurs geht sie noch manchmal hin, aber da sie wegen ihrer Versäumnisse die Schrittformationen nicht gut beherrscht, will sie demnächst damit aufhören. Und das Wandern ist ihr längst langweilig geworden. Auf ähnliche Weise hat sie beruflich allerlei unternommen, ist aber mit ihren 26 Jahren noch nicht schlüssig geworden, auf welchem Gebiet sie überhaupt arbeiten möchte. Vor Kurzem hat sie in einem Supermarkt eine Einschulung zur Feinkostverkäuferin begonnen, aber schon erwägt sie wieder, ihre Lehre zu stornieren, weil sie sich einmal an der Wurstmaschine geschnitten hat.

Auch Hannes hat kein Durchhaltevermögen. Bei ihm dauert es stets eine Weile, bis er einen neuen Anlauf unternimmt, dafür zögert sich auch der Abbruch dieses neuen Anlaufs länger hinaus. Der Elan, mit dem er eine Sache angeht, verlässt ihn ziemlich rasch. Anfangs ist er durchaus willig, ein angestrebtes Ziel zu verfolgen, aber mit nachlassender Spannkraft wird er zusehends fauler und desinteressierter, bis er jämmerlich aufgibt. Dadurch hat er sich zeitlebens seine Karriere verpatzt. Er hätte bei der Stadtverwaltung Aufstiegsmöglichkeiten gehabt, die er platzen ließ, er hätte sich bei einer Versicherungsgesellschaft zum Revisor fortbilden können, wenn er nicht vorzeitig gekündigt hätte, und ist schließlich in einem Kartenbüro gelandet, aus dem er einen neuerlichen Ausbruch plant. Jetzt ist er knapp über vierzig Jahre alt und hat nach einigem Suchen die Chance, in einer Anwaltskanzlei als Gehilfe anzufangen mit der Option, sich in Rechtsfragen weiterzubilden. Er frohlockt über diese Chance, aber wird er bei der Stange bleiben?

Naturgemäß stagnieren Hannes und Tina. Wer von jeder Sprosse, die er erklimmt, wieder abspringt, kommt auf der Sprossenleiter nicht höher hinauf. Er kann sich die Welt nur „von unten“ ansehen, und das trägt nicht dazu bei, dass Lustlosigkeit und Frustration von ihm weichen. Vor allem aber ist es der Wettlauf mit der Zeit, der droht, verloren zu werden. Denn die Zeit rückt unerbittlich voran, und für alles ist es irgendwann einmal zu spät. Zu spät, um Sprachen zu lernen, zu tanzen, zu wandern, sich privat oder beruflich zu etablieren. Zu spät, um sich in einem Fachgebiet zu spezialisiern. Freilich kann man selbst im Alter noch manches nachholen, doch bekanntlich wird es rapid schwerer, sich wirklich in eine Sache zu vertiefen bzw. tragfähige Bande zu knüpfen, wenn man das nicht beizeiten trainiert hat.

Was läuft schief bei Hannes und Tina? Sie starten doch frisch und munter, von keiner Angst gehandikapt, von keiner Unentschlossenheit zurückgehalten, mit respektablen Motiven. Und trotzdem stottert ihr Antriebsmotor alsbald und erstirbt. Es ist, als würden sie vergessen, nachzufüllen – nicht Benzin, sondern Disziplin, nämlich Selbstdisziplin. Wer ist „die Dame des Hauses“, wer ist „der Herr im Haus“? Nicht die Person selbst? O je, das gibt Ärger!

Die Seele des Menschen ist ein komplexes Gebilde, vergleichbar mit einem mehrstöckigen Gebäude. Da sind die Fundamente, Betonmauern, Gänge, Dachgeschoße, die das Gebäude strukturieren. Sie stellen gleichsam den Körper dar, der mit seinen Organen und Funktionen alles aufrechterhält. Ferner gibt es die Inneneinrichtung der einzelnen Zimmer, die teils (genetisch) übernommen und teils (lernend) dazu erworben wurde: das psychische Imperium. Die Zimmer können einheitlich oder uneinheitlich ausgestattet sein, modern oder altmodisch, gefühls- oder verstandesbetont, behaglich oder ungemütlich. Sie können karg oder vollgestopft sein, gefüllt mit brauchbaren Dingen oder mit Müll. Was sich in der Psyche so alles ablagert im Laufe eines Lebens, ist enorm – eine ganze Palette von unauslöschlichen Traumata bis zu Juwelen ekstatischer Glückseligkeit. Dennoch wäre das ganze Gebäude mitsamt seiner Inneneinrichtung noch keine spezifisch menschliche Wohnstätte, gäbe es nicht die darin wohnende geistige Person, die ihre Zimmer (hoffentlich!) benützt, aufräumt, lüftet, verändert …, eben zu ihren ureigenen Zimmern macht. So wie kein Wohnraum mit einem anderen völlig identisch ist, so gestaltet jede Person ihre „Inneneinrichtung“ auf individuelle Art. Und so, wie jeder Wohnraum etwas über seinen Besitzer aussagt, so drückt sich die psychophysische Gesamtverfassung eines jeden Menschen in seinem Lebensstil und in seiner Kunstfertigkeit aus, Ererbtes und Erworbenes zu einer noch nie da gewesenen Kombination zu vereinen.

Es ist die Aufgabe der Person, ihr „Wohngebäude“ nicht zu vernachlässigen und die Zimmer nicht in schlechtem Mief verstauben zu lassen. Dazu bedarf es eines Minimums an Ordnungsliebe und Disziplin. Unbrauchbares gehört konsequent ausgemistet. Wertvolles gehört regelmäßig gepflegt. Falschen Strebungen ist Widerstand zu leisten. Kreative Eingebungen sind ernst zu nehmen. Ein gelegentlicher liebevoll-prüfender Blick in die eigene „Innenarchitektur“ ist ratsam. Es liegt an der Person, mit ihrem Körper und ihrer Psyche so umzugehen, dass sie in sich selbst gut wohnen kann.

Tinas liebevoll-prüfender Blick zum Beispiel würde ihr eröffnen, dass sich ihre bisherigen Verschönerungsversuche stets auf eine winzige Zimmerecke beschränkt haben. Aber niemand fühlt sich wohl in verwahrlosten Räumen mit einer blank geputzten Ecke. Wollte sie „Herrin ihres Hauses“ sein, müsste sie zunächst Zimmer für Zimmer inspizieren. Das Zimmer der Mobilität – was findet sich darin? Wandern ist schon zerbröckelt, Tanzen droht zu vergammeln. Im Zimmer der Beziehungen gähnt große Leere. Im Zimmer der Kultur welken ein paar Sprachkenntnisse vor sich hin. Im Zimmer der Berufstätigkeit liegen mehrere Prospekte übereinander, wobei der zuoberst liegende gerade dabei ist, auf den Boden zu rutschen.

Was ist also zu tun? Ärmel hochkrempeln und das Lebensgebäude wohnlich machen! Nur mit Lust allein kann man leider keine schöne Wohnung erhalten. Wer hat schon Lust, Geschirr abzutrocknen, Fenster zu putzen oder den Boden zu schrubben? Das bedeutet im übertragenen Sinne, TinaeinTinaTina