Die Jury

Dana Buchzik, Marc Degens, Felix Fuchs, Kyra Alena Mevert und Tobias Roth sind super – und bildeten also ganz folgerichtig die Jury des Superpreises. Kyra Alena Mevert wurde übrigens unter den ehrenwerten Leser_innen der metamorphosen und des Prinzips der sparsamsten Erklärung ausgewählt. Unter anderem durch die Klassikertitelparodie »Fänger in Socken« hat sie bewiesen, dass sie die sprachlich-literarische Expertise besitzt, um Teil der Jury zu sein.


DANA BUCHZIK, geboren 1983. Hat in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studiert. Lebt jetzt – klischeegemäß – in Berlin. Arbeitet für F.A.Z, SPON, SWR, SZ, taz, WDR, WELT und ZEIT.

KYRA ALENA MEVERT, 1991 in der Super-Stadt Braunschweig geboren. Hat früher mehr Theater gemacht. Ist seit Oktober 2015 an der Universität Hildesheim und dort zuständig für den nächsten Coming-of-Age-Hit. Lieblingsessen: Pommes mit Mayo. Freut sich riesig auf den Superpreis, denn der Preis ist super heiß. Schreibt auch gerne eigene Sachen, nur nichts mit Reimen.

MARC DEGENS lebt in Toronto, Kanada. Er ist Schriftsteller, SuKuLTuR-Verleger und Minimore-Macher. Von 1996 bis 2015 hat er insgesamt 158 Bände der Heftreihen Schöner Lesen und Aufklärung und Kritik herausgeben, von der bis heute allein in Berliner Süßwarenautomaten über 100.000 Hefte verkauft wurden. Seine Romankolumne »Unsere Popmoderne« erschien von 2001 bis 2012 in der F.A.Z. und in Volltext. Zuletzt hat er die Romane »Fuckin Sushi« und »Das kaputte Knie Gottes« veröffentlicht. 2014 wurde er mit dem Hugo-Ball-Förderpreis ausgezeichnet. Seine Homepage ist unter www.marc-degens.de zu finden.

FELIX FUCHS, 1988 in München geboren, hat 2013 sein Magisterstudium als Amerikanist an der Ludwig-Maximilians-Universität mit Auszeichnung abgeschlossen. Seit 2015 lebt er im Exil in Kanada, wo er als Doktorand und Lehrassistent am Lehrstuhl für Anglistik an der McGill University studiert und arbeitet. Sein Arbeitsbereich umfasst den englischsprachigen Roman im 20. Jahrhundert sowie Kritische Theorie und Ideologiekritik. Er hat mehrere Kurzgeschichten, Gedichte und Essays in Anthologien und online veröffentlicht, insbesondere im Prinzip der sparsamsten Erklärung. Sein Gedicht »Hibernation« war 2014 auf der Shortlist für den Daniil Pashkoff Prize 2014.

TOBIAS ROTH, geboren 1985 in München, studierte in Freiburg und Berlin und lebt als Autor, Literaturwissenschaftler und Übersetzer in Berlin und München. Seit 2011 Herausgeber der Berliner Renaissancemitteilungen, seit 2012 im Vorstand der Internationalen Wilhelm-Müller-Gesellschaft. Seine Lyrik, Essais und Erzählprosa wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2007, 2009, 2011 im Essay-Wettbewerb der Goethe-Gesellschaft Weimar, mit einem Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin (2010), dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis (2013) und dem Bayerischen Kunstförderpreis (2015). Im Verlagshaus Berlin erschienen 2013 der Gedichtband »Aus Waben« und der Essai »Tradition. Gänge um das Füllhorn«. Als Übersetzer trat er 2015 mit Bartolomeo Scappis »Ein Mittagessen im Vatikan am 17. Januar 1576«, erschienen bei SuKuLTuR Berlin, hervor.

Der Superpreis für Literatur

»Literatur ist gut.« Das war unsere Ausgangsthese, so hieß es in der Ausschreibung für den Superpreis für Literatur und diese These war zu beweisen. Denn nicht nur der Singer/Songwriter, Literatur- und Schriftsteller-Kritiker Maxim Biller, der sich auch selbst schon am Roman versucht hat, fordert in regelmäßig wiederkehrenden Abständen, Literatur solle besser, anders und vor allem nicht so nutzlos sein.

Schlagender Beleg für unsere These ist, so hoffen wir, die Auswahl, die wir aus den knapp 250 Einsendungen für diese Anthologie ausgewählt haben. Diese zwanzig Texte sind nicht nur gute Literatur im handwerklichen Sinn. Sie bestätigen auch ein Argument, das immer wieder für die Literatur ins Feld geführt wird: Dass sie ein feiner Seismograph für gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen sei. Demzufolge dominierten Bewegungen der Migration, Spielarten des Populismus und daraus folgende Visionen gesellschaftlicher Mikro- und Makrozusammenhänge die thematische Bandbreite der Einsendungen. Auch die Texte in dieser Anthologie kreisen teilweise um diese Themen. Sie unterscheiden sich von den nicht aufgenommenen vor allem durch eines: Sie tun das subtil und überraschend, roh und unversöhnlich.

Unsere zweite These war: Was Literatur eigentlich nicht braucht, ist ein weiterer Literaturpreis. Und vor allem: ein weiterer Literaturpreis, mit dem sich der sogenannte Betrieb einmal mehr selber feiert. Ein Literaturpreis, der an die »üblichen Verdächtigen«, publizierten Autorinnen und Autoren geht. Deswegen versuchte sich der Superpreis stets ein wenig selbstironisch durch die Unwägbarkeiten einer solchen Ausschreibung zu manövrieren. Eine stille Hoffnung war jedoch immer, dass es da draußen tatsächlich ein paar Autorinnen und Autoren in der Frühphase ihrer schreiberischen Entwicklung gäbe, die nicht wissen wohin mit ihren Texten. Die sonst keinen Preis haben und folglich verloren wären, wenn nicht … Diese Hoffnung hat sich bestätigt.

Führung und Verführung – davon kann Politik sprechen, es sind aber auch zentrale Themen der Literatur. Schließlich ist die Verführung der Leserinnen und Leser zur Lektüre Bedingung eines gelingenden Textes, der diese Verführung durch verschiedene Techniken erreicht. In diesem Sinn haben alle unsere Siegertexte Führungsqualitäten. Das Thema von Führung und Verführung ist in ihnen aber über die literarischen Grundfunktionen hinaus von Bedeutung. Denn sie fragen genau nach den Schnittstellen von Literatur, Politik und sprachlichen Formeln.

So verwundert es kaum, dass mit Karl Roßmann, Protagonist von Kafkas unvollendetem Roman »Der Verschollene«, eine Figur Pate für den Superpreis für subversive Fabelführung steht, die selbst eine mehrfach Verführte ist. Zuerkannt wurde dieser Preis Andreas Reichelsdorfers Erzählung »Relikt«, die diese Anthologie eröffnet. Es ist eine Satire auf den politischen Betrieb, in dem sich in diesem Text die sogenannten »Regierungsführenden« betätigen und dessen Verführungskraft zuletzt die Leserin selbst Teil dieses Betriebs werden lässt.

In Martin Piekars Gedicht »AHAB«, ausgezeichnet mit dem Atta-Troll-Superpreis für radikale Ideologiekritik, dagegen wird jegliche Distanz aufgegeben. Ein rasendes, wütendes Subjekt, das sich selbst als »Bastard« bezeichnet, fragt nach der Gegenwart und findet vielfältige Formeln, Fetzen und Zitate, die es probeweise in Verszeilen passt, um schließlich einen Ruhepunkt in der Kunst zu finden.

Felix Schillers lyrisches Großprojekt »regionale konflikte« wurde mit dem Pelagea-Vlassova-Superpreis für lyrische Konfliktstudien ausgezeichnet. Kein Einzelner, keine Einzelne steht im Zentrum. Vielmehr fragen die Verse nach dem Kollektiv, der Solidarität und die Beziehung der Körper zueinander – eine leicht vergessene Dimension politischer Aktivität. »bruder, wie beginnen am körper konflikte?« lautet die Leitfrage, die an konkreten historischen Situationen dekliniert wird. 

Wir wollen uns ganz herzlich bei allen bedanken, die den Superpreis unterstützt haben. Bei Dana Buchzik, Marc Degens, Felix Fuchs, Kyra Mevert und Tobias Roth – unserer großartigen und sachverständigen Jury, die die Gewinner ausgewählt hat. Beim Verbrecher Verlag, der sich mit ungewöhnlicher Kurzentschlossenheit und Bereitschaft dazu entschlossen hat, ein E-Book aus dieser Anthologie zu machen sowie bei Lena Hegger und Luisa Preiss, die sich den gestalterischen Fragen des Superpreises angenommen haben und bei Fabian Bross, der die Homepage für den Preis eingerichtet hat. Besonderer Dank geht an Fabian Bross, Philipp Grünewald, Stefan Stark und Mathias Völzke, die die vergebenen Preise ermöglichten.

Was sonst noch zu sagen wäre: »da ist da bleibt / oh! Ich ha…« (Olav Amende: »Phantasie in Eile«)


Elias Kreuzmair (Das Prinzip der sparsamsten Erklärung)

Moritz Müller-Schwefe (metamorphosen)


Über die Zeitschriften

Das Prinzip der sparsamsten Erklärung, gegründet 2009, ist seitdem zuständig für Prosa und Essayistik in kurzer Form. Die Keimzelle der Zeitschrift befand sich in München, inzwischen blüht sie auch in anderen Städten. Verbirgt sich der Sparsamkeit halber im Internet unter www.parsimonie.de


Die metamorphosen, wiedergegründet 2013. Magazin für Literatur und Kultur aus Berlin. Erscheint vierteljährlich im Verbrecher Verlag. Lässt sich super lesen und abonnieren via www.magazin-metamorphosen.de

Superpreis für Literatur, die Ausschreibung

Literatur ist gut. Wir suchen welche mit mehr Inhalt, verbesserter Rezeptur und noch schnellerer Wirkung. Sprich, wir suchen Literatur, die auch Maxim Biller gefällt. Wir vergeben: einen Preis. Den Superpreis für Literatur. Zu gewinnen: Geld für Bier, Books und Brötchen. Außerdem Autorenfotos, Art Investment und Publikation.

Warum wir das machen? Preise sind gut. Doch mit ihnen zeichnet sich meistens der Betrieb selbst aus. Wir zeichnen die aus, die sonst keinen bekommen. We got the 1,99 € and you got the show. Ein Text hat maximal 15.000 Zeichen (mit Leerzeichen), sieht nach Lyrik, Prosa oder Essayistik aus und verwendet deutsche Worte.

ANDREAS REICHELSDORFER, geboren 1986 in Fürth, lebt in Wien. Arbeitet mit Klang und Sprache, schreibt Prosa, Lyrik, Songtexte, macht (Pop-)Musik. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.

LEA SAUER, 1987 in Siegen geboren. Nach Zwischenstopps in Finnland, Guadeloupe und Paris seit 2015 Studentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. War 2015 mit der Kurzgeschichte »Nichts kurz vor der Rue Saint-Blaise« auf der Shortlist für den New Voices Award der Internationalen PEN-Stiftung. 2016 Stipendiatin des 20. Klagenfurter Literaturkurses.

OLAV AMENDE, geboren 1983 in Berlin, ist Schriftsteller und Regisseur. Er schreibt und inszeniert Theaterstücke (u.a. »Die Parallele«, »Das Versprechen«) und veröffentlichte Lyrik und Prosa in einigen Literaturmagazinen. 2016 inszenierte er »Woyzeck« für die Cammerspiele Leipzig. Derzeit inszeniert er in Dresden sein neues Stück »Die Ungeliebten« und interessiert sich mehr denn je für Kunst an Nicht-Orten.

Anstelle ihres üblichen 3D-Youtube-Bewerbungsvideos, in dem ich zu Opernklängen die Welt rette und dabei mit Pudeln jongliere, hier die langweilige Variante: ANNIKA DOMAINKO lebt in Heidelberg und ein bisschen in München, arbeitet zur Zeit an ihrer Doktorarbeit zu antiker Geschichtsschreibung und als freie Journalistin. Journalistische Publikationen u.a. auf spektrum.de, standard.at. Literarische Publikationen u.a. in den LICHTUNGEN, Silbende_Kunst, Die Novelle, Shortlist beim Bonner Literaturpreis 2015.

ELI SOLARIS, geboren 1986 in Berlin, lebt zwischen London, Wien und Hong Kong. Doktorandin, forscht an neuen Krebswirkstoffen in der Synthetischen Biologie. In 8 Ländern gelebt und studiert u.a. an der ETH Zürich, Harvard und Imperial College London. Mehrere Auszeichnungen, u.a. vom MIT. Arbeitet momentan in einem Technologie-Think-Tank, verbringt frühe Morgenstunden mit Lyrik, daneben ediert sie ihren ersten Roman.

Valentin Moritz

Skarabäus

In den Bergen soll es Wasser geben. Schwarz wie Qwertz-Öl soll es sein und wenn du nur kräftig genug dein Beil in die Spalten treibst, fließt es träge aus dem Felsen. Ganze Süßwasserseen kannst du so entstehen lassen und dann die unsagbaren Dinge erforschen, die sich unter den Oberflächen abspielen. Oder du bekommst es mit der Angst, natürlich. So oder so – hast du einmal die Finger hineingetaucht, nur einmal das Gesicht darin versenkt und von dem Zeug gesoffen, dann kommst du nicht mehr los ... Und die Steinhalden rund um die Seen sind glanzweiß von der Sonne getüncht, so rein und spiegelglatt, dass du sofort erblindest ohne Glaziarbrille – denn dort ist es noch schlimmer mit der Strahlung als hier unten, so heißt es.

Also habe ich mich auf den Weg gemacht. Diesen Steilhang hinauf. Die Sonne ist hinter dem Scheitel der Anhöhe verschwunden, ich gehe im Schatten. Zum Glück ist der Asphalt der Straße hier oben noch nicht komplett versandet, mit Müh und Not kann ich den Wagen noch bewegen. Das Scheißteil ist vollkommen überladen, auch ohne die letzten Tropfen Destillat. Aber ich werde die Backup-Platten und SDs ganz sicher nicht hier liegen lassen, auch wenn die vordere Achse nicht mehr lange tut. Das eine Rad schleift hohl und eiert, die Aufhängung des anderen wird bald brechen.

Über mir heult der Wind, rasselt, rieselt, pfeift in allen Variationen, wo er mir durch die Kleider fegt, wo er am Wagen, an den Gurten zerrt, wo er auf meinen Mundschutz trifft. Nur nicht von der Straße drängen lassen, sonst versinke ich knietief im Sand.

Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich einen brennenden Wagen schieben. Und die Flammen versengen mein Gesicht. Dann riecht es nach Oleander. Und der Horizont leuchtet violett, statt immergrau. Sind das die schmerzenden Pupillen, frage ich mich dann, oder doch die Krümmung der Erde? Und was, wenn sich der nächste Zyklus in eben dem Moment einen Weg über die Dünen bahnt, wenn ich gerade nicht hinschaue, stattdessen auf den Gitterkorb des Wagens starre oder auf den Münzschlitz an der Griffstange, auf die Münze, die noch immer dort drin steckt, seit ich Antonina verlassen habe, diese eine beschissene Münze, die ich dort niemals rauskriege, wenn nicht mit der Sperrkette eines andern Wagens.

Der Wind wird stärker. Ich erreiche die Kuppe, trete aus dem Schatten ins Licht der aufgeblähten Sonne. Langsam passen sich die Fotorezeptoren der Schutzbrille an. Die Dünen scharf überblendet. Glaziar. Ein Umriss taucht auf. Wenige Meter vor mir. Ein windschiefer Holzverschlag. Und daneben ein umgekippter weißer Transporter, auf dessen Dach in roter Schrift geschrieben steht: WASSER.


* * *

»Da unten – trink!«

Ich werfe mich unter das Rohr, es gluckert, und gerade noch rechtzeitig reiße ich mir den Mundschutz vom Gesicht – Wasser flutet meine trockene Kehle. Ich saufe so viel ich kann, verschlucke mich, muss würgen, aber wie gut es tut. So unglaublich gut.

Dann versiegt der Strahl. Rücklings liege ich da.

»Darf’s noch mehr sein?«

»Bitte! Ja!« Meine Stimme ein Krächzen. Ich stemme mich an der Wand der Bude hoch. Der Alte sitzt noch immer hinter seiner Panzerglasscheibe, fingert an einem Langwellenempfänger herum. Alle möglichen Geräte leuchten und blinken hinter ihm. Die Regale sind bis unter die Decke gefüllt mit Konserven.

»Was willst du dafür?«

»Deinen Namen.«

»Skarabäus.«

Der Alte hebt den Kopf und kratzt sich die faltige Stirn. Vereinzelte Haarsträhnen kleben an seinen Schläfen. Die Augen tief in den Schädel zurückgetreten. Erst jetzt sehe ich, dass er gar keine Glaziarbrille trägt. Er ist blind.

»Ich heiße Skarabäus«, sage ich nochmal, mit festerer Stimme.

»Was ein beschissener Name«, sagt der Alte und verzieht das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen.

»Bist du infiziert, Kleiner?«

»Nee.«

»Ja, wer ist das schon heutzutage, nich wahr? Und – wohin des Weges?«

»In die Berge.«

»Da wollen sie alle hin.«

»Soll dort Wasser geben.«

»Alles Schwachsinn, Kleiner«, sagt er, streckt sich und haut unvermittelt auf einen dicken Knopf. Direkt neben dem Rohr springt eine hüfthohe Klappe auf, schlägt mir schwer gegen das Schienbein, dass ich in die Knie gehe und mir schwarz vor Augen wird.

Als ich aufblicke, sehe ich das Gesicht des Alten. Er steht in gebückter Haltung vor mir in einem schwach beleuchteten, engen Gang, der von der Klappe verdeckt gewesen ist.

»Willst du wissen, woher das Wasser kommt, Skarabäus?«

Die Fotorezeptoren justieren sich und dann erkenne ich hinter dem Alten eine Reihe von ein, zwei Dutzend ineinandergeschobenen und verketteten Wagen. Sie sehen genauso aus wie meiner. Der Alte deutet über die Schulter.

»Dann bring deine Münze mit.«


* * *

»Deine Eltern – ich fass es nich. Haben dich einfach nach einem Mistkäfer benannt ...«

Der Alte lacht ein böses, blechernes Lachen. Seitdem wir den Schacht runterklettern, redet er unermüdlich. Trotzdem ist er unglaublich schnell, ich komme ihm kaum hinterher.

»Und? Bist du so einer? Tagein, tagaus die Scheiße andrer Leute sammeln und durch die Gegend rollen – ist das so dein Ding, ja?«

Ich antworte nicht, klettere stumm weiter. Konzentriere mich auf den Klang unserer Tritte und taste immer wieder über meine Hosentasche. Ob die Münze noch da ist. Wie aus einer Steinschleuder geschossen kam sie aus dem Schlitz, als ich meinen Wagen angekettet habe.

Die Sprossen sind feucht, ständig rutsche ich ab. Weiches, grünes Zeug wächst darauf. An den Schachtwänden verlaufen mehrere Schläuche und Rohre, manche so dick wie meine Oberschenkel. Ich höre das Geräusch des Wassers darin. Öffne ich den Mund, sammeln sich kühle Tropfen an meinem Gaumen.

»Und dann«, kreischt der Alte von unten, »dann suhlst du dich in dem Zeug, kackst selbst einen obendrauf, du kranke Tonne! Damit der Rest der Welt auch noch was zu rollen hat, oder was?!«

»Ist ja gut«, sage ich.

»Na, Hauptsache, du scheißt dich jetzt nicht ein, Kleiner«, sagt der Alte und kurz herrscht Stille.

Dann sage ich: »Wie heißt du denn überhaupt?«

Der Alte schnalzt mit der Zunge. »Kannst mich Onkel Wanja nennen«, sagt er und lacht wie ein glühender Arschfloh und hört nicht mehr auf damit für eine Ewigkeit – bis wir irgendwann die letzte Sprosse erreichen.


* * *

Die Höhle ist riesig. Aasgestank liegt in der dünnen, klammen Atmosphäre. Einige Lampen leuchten die Dunkelheit aus. Die Rohre aus dem Schacht verlaufen weit oben unter der Decke irgendwohin weiter.

Im Lichtkegel der ersten Lampe liegt ein kleines Boot mit einem mannshohen Rotor am Heck. Als wir darauf zutreten, spüre ich, wie der Boden unter mir nachgibt und sich meine Stiefel mit kalter Flüssigkeit füllen. Ich folge Onkel Wanja, der mit sicherem Schritt durch den Morast watet und das Boot besteigt.

»Sooo«, sagt er mit großer Genugtuung in der Stimme. »Und jetzt die Münze, Skarabäus.«


* * *

Der Motor dröhnt, laut wie ein Zyklus. Onkel Wanja hat ihn angeworfen und ihn auf eine viel zu hohe Drehzahl eingestellt. Das Tau hat sich gespannt, das Boot schlingert hin und her.

»Yehaaawww«, schreit Onkel Wanja und mit einem Mal sind die Leinen los, wehen wild durcheinander und ich falle kraftlos hintüber, kauere mich im Bug zwischen die Bretter. Der Rotor pflügt durch das Wasser, wir schießen in die Dunkelheit.

Nur Onkel Wanjas Augenhöhlen leuchten noch. So wie vorhin, als ich ihm die Münze auf die porige Zunge legen musste und er sie hastig verschluckt hat.

Wir folgen den Lichtkegeln über den Sumpf, der jetzt tiefer wirkt, eher wie ein See oder ein träger Fluss. Ich lasse einen Finger durch das Wasser gleiten, bis mir schlecht wird und ich mich auf dem Boden des Bootes ganz klein machen muss. Über mir steht Onkel Wanja breitbeinig im Fahrtwind und murmelt leise vor sich hin, aber meistens lässt er nur die Zunge flattern.

Irgendwann merke ich, dass wir langsamer werden. Onkel Wanja, immer noch über mir, hebt die Hände an die Ohren, lauschend, ein seliges Lächeln auf den Lippen. Ich blinzle, rapple mich hoch und dann spüre ich es auch: Unter dem Boot und um uns herum, soweit ich sehen kann, schwimmen Tausende und Millionen weiß durchscheinende und purpurn schimmernde Quallen, stoßen sanft und in aller Ruhe Wasser, unendlich lange Fäden ziehen sie hinter sich her und singen und rufen in sanften Tönen: »Skarabäus«, rufen sie, vielleicht.

»Die Quallenblüte von Uiopü«, sagt Onkel Wanja ehrfürchtig.

»Heiliger Bimbam«, sage ich. Meine Stimme klingt ganz fern und dumpf. Ich hänge eine Hand ins Wasser, ob mich vielleicht eine berühren mag ...

Onkel Wanja sagt: »Hör sie dir an die Biester. Dabei haben die gar kein Herz und gar kein Hirn.«

»Schwachsinn«, sage ich ganz leise. »Schwachsinn ...«

Onkel Wanja sagt: »Neunundneunzig Prozent Wasser.«

Und ich sinke betäubt in mich zusammen. Den Gesang im Ohr, fallen mir die Augen zu. Sie sind die allerschönsten Wesen, denke ich. Sie sind pure Liebe.


* * *

Ich wache auf, dicke Tropfen klatschen auf meine Stirn. Ich pruste und schüttle mich – Onkel Wanja ist fort. Über mir nur ein stumm flatterndes Absperrband im Sonnenlicht, das sich weit oben in einem dunstüberzogenen, kuppelförmigen Glasdach bricht und die feuchten Fliesenwände mit Schattenspielen überzieht. Rot und violett leuchtende Pflanzen hängen im Raum, schwingen leicht hin und her.

Ich versuche aufzustehen. Meine rechte Hand schmerzt. Sie ist aufgedunsen und verfärbt. Auf wackligen Beinen komme ich hoch und erschrecke – um mich herum dümpeln unzählige Boote, alle leer bis auf das Wasser, das sich in ihnen gesammelt hat. Zwischen den Booten, in ein, zwei Metern Tiefe schimmert der Grund metallen, wie von Münzen übersät.

Ich schlucke trocken. Rufe: »Onkel Wanja!«