Revanche für Wien

 

Kiew, 02.07.2012

 

»Nun? Wie hat Ihnen das Finale gefallen?«

Der Schnauzbartträger, der sich gegenüber von dem Pärchen auf der anderen Seite des Stahltisches niederlässt, lächelt süffisant. Die männliche Hälfte des Paares ›reagiert‹ mit einer erleichterten Geste, die ohne Handschellen noch ausladender ausgefallen wäre: »Endlich wer, der Deutsch spricht. Sie sind von der österreichischen Botschaft, nicht wahr?«

»Falsch. Mein Name ist Lech Meyer; ich bin der zuständige oficer sledczy – der ermittelnde Beamte von der polnischen Polizei. Wir sind hier zwar in Kiew, aber in Sachen Sicherheit bei der Fußball-EM arbeiten Polen und die Ukraine eng zusammen. Ich bin hier, weil ich Deutsch spreche; mein Großvater floh seinerzeit aus Deutschland. Also: Wissen Sie, weswegen Sie hier sind? Herr Heider? Frau Heider?«

Der Mann gibt sich unbekümmert: »Tja, warum? Die falschen Trikots vielleicht? Wehe den Besiegten!«

Die Frau blickt verwundert auf den blau-weißen Nationaldress Italiens, den das Paar trägt; dann wendet sie sich an den Ermittler: »Scusi, Commissario! Was ... Sorry for my German! Ist unsere Shirts falsch? Shall we change them?«

Sie greift sich an die Unterseite ihres Trikots, um sich des eng anliegenden Shirts zu entledigen. Da auch sie Handschellen trägt, scheitert der Versuch schon im Ansatz. »Scusi; è un poco difficile.«

Aber schon die entblößte Nabelpartie bringt den Ermittler aus dem Konzept: »Was- Halt, nicht nötig; wir- Stalo sie cos !?«

Letzteres richtet sich an die beiden Posten an der Tür des Vernehmungszimmers, zu denen sich der Ermittler ruckartig umdreht; offenbar hörte er, wie diesen gerade die Augen aus dem Kopf fielen. Sofort wenden sie sich ab, und Lech Meyer widmet sich wieder seinen Gästen: »Scherz beiseite, Herrschaften: Wir wissen genau, wer Sie sind!«

Damit entnimmt er dem vor ihm liegenden Stapel mit Computer-Ausdrucken einige Blätter: »Sie sind Philipp Heider und Ippolita Heider, geborene Nievo, geboren 1978 in Wien beziehungsweise Padua. Verheiratet seit 2002, gelten sie seither als die notorischsten Diebe von Sport-Moma- Nein, Memaro-«

»Sport-Memorabilia.« verbessert ihn der Mann namens Philipp mit einem nachsichtigen Lächeln. »Andenken. Erinnerungsstücke. Ja, wir handeln damit: Über eBay, in unserem Geschäft in Wien, gewiss. Alles völlig legal.«

»Da ist Interpol anderer Ansicht. Sie sollen eine erstaunliche Kollektion an Momi-, also, an Andenken zusammengestohlen haben: 2003, Wimbledon: Roger Federers Schläger und Kleidung. 2004, Spa: Die abgefahrenen Reifen von Michael Schumacher. 2006, Turin: Die Schlittschuhe von Ahn Hyun-Soo und je ein Medaillensatz vom Eishockey und vom Curling. 2008, Peking: Der Original-Staffelstab von Usain Bolt. 2009, Paris: Das Rennrad von Alberto Contador – um nur die krassesten Fälle zu erwähnen.«

Die geborene Italienerin zeigt sich entrüstet: »Ma, Commissario: Ist alles calunnia – alles Lüge!«

»Ich gebe zu, dass wir einen Satz Trikots vom FC Bayern weiterverkauft haben, der nach dem Champions League-Finale 2010 gestohlen worden war.« räumt ihr Gatte ein. »In gutem Glauben unsererseits; das wurde auch gerichtlich bestätigt. Alles andere sind unhaltbare Vorwürfe. Wir sind als Fans hier, als zahlende Zuschauer.«

»Können Sie das beweisen?«

»Nun, eigentlich müssten Sie uns eine Schuld nachweisen; aber gut ... Sie haben doch unsere Sachen untersucht, als Sie uns gestern vor dem Stadion festnahmen – und unser Hotelzimmer, nicht wahr? Dann haben Sie ja auch die entwerteten Tickets gefunden: Die für die Viertelfinale Deutschland-Griechenland in Danzig vor zehn Tagen, und zwei Tage später England-Italien hier in Kiew; am 28. das Halbfinale Deutschland-Italien in Warschau-«

»Trugen Sie da auch den Nationaldress der Tifosi?«

»Im Hotel lag ja auch mein deutscher Dress. Größe 50; recht verschwitzt. Der österreichische Dress musste ja leider daheim bleiben ...«

»Ich habe nur Kleidung von Italia.« ergänzt die Frau dies strahlend. »Viva la Squadra Azzurra!«

Der Ermittler blättert in seinen Unterlagen: »Stimmt; das fanden wir alles. Unter anderem ... Hm; sechs blau-weiße Damen-Sets, Größe 38. Und zwei hatten Sie bei der Festnahme dabei. Wozu?«

Nun lächelt die Frau verlegen: »Allora; Il problema è sempre questo: Ich ... Ich schwitze; ich schwitze schnell!«

»Verstehe ...«

 

Kiew, 24.06.2012

 

»Hey, come on, lassie: Do it again: Take it off!«

Philipp grinste, wurde aber dennoch recht laut, als er sich jenem Rufer drei Plätze neben ihm zuwandte: Denn obwohl gerade Pause war, herrschte auf den Zuschauerrängen permanenter Trubel: »Shut up! Das ist meine Frau!«

»Hey, you are german? Deutsch? Was machen ihr hier? It’s England versus Italy today!«

Dies kam vom Nebenmann des ersten Zwischenrufers. Sie beide strahlte auch Ippolita an, nachdem sie ihr frisches Shirt zurechtgezupft und das durchgeschwitzte Exemplar verstaut hatte: »Io sono italiana: Viva Italia!«

»Sei vorsichtig!« mahnte Philipp: Zwar saß man nicht im englischen Fan-Block, doch war das Pärchen von zehn Männern im rot-weißen England-Dress umgeben. Der zweite Brite sah das aber gelassen: »Hey, it’s okay! Wir sind nicht von England; alle aus Scotland! But Scotland isn’t here, I’m afraid ...«

›Ebensowenig Österreich.‹ dachte Philipp. Trotzdem lächelte er wissend, denn den schottischen Dialekt hatte er längst bemerkt. Ippolita freilich wurde jetzt noch fröhlicher: »Scozia!? Magnifico! Ich liebe Scotland; war in Urlaub in Edinburgh letzte Jahr. Schön, sehr schön: Viva Scozia!«

»Scotland for ever!« antworteten synchron zehn Kehlen – zur Verwunderung der einheimischen Zuschauer ringsum, die zumeist keinerlei Nationaldress trugen.

Dann freilich fiel Ippolita noch etwas auf: »Ma, scusi: Ihr ... Ihr schwitzt, wie ich. Ihr schwitzt mehr!«

Ippolitas Gestik war unmissverständlich; so schnüffelte darauf nicht nur der deutschsprachige Schotte an seinem Trikot: »Sorry about that! Well; ist heiß heute!«

»Und ein heißes Spiel!« ergänzte Philipp. »Mal sehen, ob die Verlängerung endlich Tore bringt. Aber, hey, Ippa ... Wie wär’s, wenn wir das Problem unserer Freunde hier lösen? Und etwas Werbung machen?«

Die Frau begriff rasch: »Du meinst ... Die Trikots!?«

»Natürlich. Hey, eine EM ist nur alle 4 Jahre!«

Ippolita nickte eifrig, und sogleich zog sie eine größere Tasche unter ihrem Sitz hervor. Dieser entnahm sie als erstes zwei noch in Plastik verpackte Nationaltrikots: »Das ist ... Hier ist Große 54, hier 59: Prego!«

Damit warf sie den ersten zwei Schotten je ein Trikot zu. Diese fingen sie instinktiv auf, doch verwirrte sie diese Gabe zuerst: »What the fuck ...«

Sein Nebenmann drückte sich gewählter aus: »That’s- Das ist das Dress von Spain! Von die Spanien ... Warum?«

Aber Ippolita beglückte mit unwiderstehlichem Lächeln auch die anderen Schotten mit Spanien-Trikots, und Philipp verteilte Visitenkarten: »Eine freundliche Spende von »Heiders Fan-Shop«: Bei uns gibt’s alles, was der Sport-Fan begehrt. 2008, da waren nach Spaniens EM-Sieg bei uns in Wien deren Trikots in Nullkommanichts ausverkauft; das soll uns nicht wieder passieren! We will get new ones ... If you ever come to Vienna, see us – or visit our web shop! Wir haben sogar Kenny Dalgishs Dress im Laden, von ’77, als die Schotten in Wembley England schlugen.«

»Kenny- You’re kidding!«

»No, seriously! But it’s not a bargain, I am afraid!«

»Well ... Danke! In fact, besser als englische Dress!«

Damit streifte er – etwas mühsam – sein tatsächlich ziemlich feuchtes Trikot vom Leibe, packte das spanische aus und zog es an. Nach kurzem Zögern taten es ihm die anderen Schotten nach. Als gleich darauf die Verlängerung begann, waren Philipp und Ippolita von zehn Mann umringt, die unten Jeans trugen, oben aber das rot-gelbe Nationaltrikot der Spanier.

»Was das wohl für einen Eindruck macht ...« bemerkte Philipp schmunzelnd dazu. »Apropos, Ippa: Auch falls Italien gewinnt: Bitte beherrsch dich diesmal!«

Ippolita gab sich unwissend: »Prego? Was meinst du?«

»Das weißt du genau: Als Di Natale in der Vorrunde das Tor gegen Spanien machte, hast du dir vor lauter Begeisterung das Trikot vom Leib gerissen und wie wild geschwenkt. Wie wirkt denn das!?«

Ippolita grinste breit: »Hat dir nicht gefallen? Ich denke, hat allen gefallen!«

»Darum geht es-«

Philipp war etwas lauter geworden, weswegen ihn auch der germanophone Schotte hatte verstehen können: »What!? Hey, Guys: If the wops win, she will strip off – again!«

»No, she won’t. Und nennt die Italiener nicht ›Wops‹!«

Aber gegen das gälische Gejohle ringsum kam Philipp nicht an, und wider Willen musste auch er grinsen.

 

Kiew, 02.07.2012

 

»Sehen Sie? Da sind wir.« erklärt Philipp, auf den Monitor mit dem Standbild tippend. »Hier bin ich, da Ippolita – doch wieder das Trikot schwenkend ... Und ringsum johlende Spanier!«

Der Ermittler nickt missmutig: »Ich sehe es. Was- He, ihr: Wynocha stąd!«

Letzteres richtet sich wieder an die beiden Posten, die einen langen Hals machen, um einen Blick auf den Monitor werfen zu können. Nach kurzer Diskussion auf Polnisch verlassen sie das Verhörzimmer; so kann sich der Ermittler wieder den Heiders widmen: »Sind das wirklich Sie?«

Die Frau erhebt lächelnd ihre behandschellten Hände: »Ich kann beweisen – Ohne das da!«

»Äh, nein, das- Es stimmt wohl. Aber ... Da war doch diese Sache mit den Bild-Manipulationen bei anderen Spielen; Szenen wurden aufgenommen und später gezeigt. Die Sache mit dem deutschen Trainer Löw ... Die Szene könnte beim Vorrunden-Match Spanien-Italien entstanden sein.«

Philipp zeigt sich verblüfft: »Aber das war in Danzig! Und hier, sehen Sie die Sitze? Die Umgebung? Das ist das Stadion von Kiew! Und Spanien spielte dort nur einmal, nicht wahr? Nämlich im Finale.«

»Nun ja ... Aber ... Warum jubeln Sie eigentlich? Italien ging doch unter – Mit Pauken und Trompeten!«

Nun zeigt sich Ippolita betroffen: »Si, è vero – purtroppo!«

Philipp jedoch deutet auf die linke, obere Ecke des Standbildes: »Der Zeitanzeige nach war das in der 51. Minute – 21 Uhr 54. Wenn ich mich recht entsinne, hätten die Italiener da fast den Anschlusstreffer erzielt. Meine Frau war leider etwas vorschnell – und die Spanier erleichtert! Spulen Sie doch mal zurück!«

Der Ermittler tut es. Was er zu sehen bekommt, nimmt er nur mit einem widerwilligen Nicken zur Kenntnis.

»Sehen Sie?« folgert Philipp. »Gott sei Dank hat mir mein Bruder eine SMS geschickt, dass wir im Fernsehen zu sehen waren: Wenn ich bedenke, dass Zig Millionen Ippolitas ... Na, egal: Jedenfalls ist klar, dass wir beim Finale im Stadion unter den Zuschauern waren. Wie sollen wir da den Diebstahl durchgeführt haben, dessen Sie uns beschuldigen? Nach dem, was Sie selber sagten, sollte das gestohlene Original erst unmittelbar vor Spielende ins Stadion gebracht werden; vorher stand da nur eine Kopie. Und wann fand der Diebstahl statt?«

»Zwischen Neun und halb Zehn.« knurrt der Ermittler.

»Und gut 40 Minuten Fahrtzeit vom Stadion weg, sagten Sie? Gut; nehmen wir mal an, die Szene wurde gleich bei Spielbeginn aufgenommen: Dann hätten wir innerhalb von 45 Minuten das Stadion verlassen, die halbe Stadt durchqueren und den Diebstahl ausführen müssen. Stammt die Szene wirklich aus der 51. Minute, wäre uns wieder höchstens eine Dreiviertelstunde geblieben für Diebstahl, Fahrt, Gang ins Stadion ... Und wo ist die Beute? Schließlich nahmen Sie uns gleich vor dem Stadion fest, so gegen Viertel vor Elf. Und das Teil ist immerhin ... Wie hoch? 50, 60 Zentimeter?«

Noch eine Minute starrt der Ermittler auf den Monitor. Dann holt er einen Schlüssel aus der Schublade und schließt die Handschellen auf: »Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber ... Hauen Sie ab!«

 

Wien, 14.07.2012

 

»Chert by tebya pobral! Und das war das!?«

Der zweite Mann am Tisch kichert schadenfroh; Ippolita schmunzelt, und Philipp nickt grinsend: »Sie mussten uns gehen lassen. Was hätten sie tun sollen? Sie hatten keine Beweise, wir ein Alibi-«

»War nicht einfach, das mit Alibi!« unterbricht ihn der Mann mit dem slawischen Akzent. »Aufnahme von Szene einfach bei die Elfmeter an Schluss von erste Spiel. Wenige Clicks mit Maus an Computer; dann habe Szene. Aber bei Finale reinschneiden, wo passt, sehr schnell, nach Ihre Anruf, dass Diebstahl gelungen ... Schwer! Dachte, wenn Italiya machen Tor. Aber nix Tor; nur Ispaniya! Nehme dann erste Szene, wo passt. Wieder wenige Clicks, et voilà!«

Ippolita seufzt ein wenig theatralisch: »Null Tor; è vero. Che figura! Ma, trotzdem: Wir haben bekommen Revanche!«

Der Slawe nickt grimmig; dann sieht er sich um: Hohe Hecken schirmen den Tisch des Trios gegen den Rest des Biergartens ab, und kein Kellner ist in Sichtweite. Somit wuchtet er eine mittelgroße Reisetasche auf den Tisch: »Habe Schwur gemacht, in Wien, bei letzte EM, als Ispaniya schlägt mein Rossiya: Ispaniya nie wieder soll kriegen Pokal: Nie! Und habe Schwur gehalten!«

Auch Philipp grinst böse: »Und ich schwur mir, dass ich alles tun würde, um das Teil wieder hier nach Wien zu schaffen. Und wenn’s nicht sportlich geht ... Aber dass niemand von den Spaniern merkte, dass sie in Kiew eine Kopie küssten ... Sie kannten doch das Original!«

Unterdessen hat Ippolita den Reisverschluss der Tasche geöffnet: »Bellissima!«

»Verguck dich nicht in ihn!« mahnt Philipp. »Vergiss nicht: Wir haben ihn bereits für drei Millionen nach Salzburg verkauft; so kriegt der Mateschitz endlich mal eine Trophäe ... Außerdem verstaubt bei uns daheim ja schon der Champions League-Pokal.«

Der Slawe staunt: »Sie kriegen wirklich drei Millionen Euro? Ist wahr: Sie sind beste Mann für das!«

»Danke! Und Ihr Timing war echt exzellent, auch bei der Übergabe der Beute: Die Polizei war schneller da, als ich dachte. Allerdings machte ich mir ein wenig Sorgen, weil das mit den Bild-Manipulationen durch die Presse ging.«

Der Slawe winkt ab: »Musste Methode testen! Wenn fanden nur zwei Fälle ... Habe gemacht fünf Tests; dann war sicher: Geht mit wenige Klicks von Maus! Und nun alles ist okay!«

Er grinst breit, doch Philipp ist noch nicht ganz beruhigt: »Und wenn es eine Untersuchung gibt?«

Jetzt lacht sein Gegenüber lauthals auf: »Untersuchung? Ist Fußball, UEFA, wie FIFA: Big Business! Nix Untersuchung; alles vergessen nächste Monat! Schmiere zwei Kollege von Technik; arbeite noch halbe Jahr bei Fernsehen; dann ich weg!«

»Das können Sie sich dann auch leisten. Hier ist Ihr Drittel!«

Damit schiebt Philipp einen prall gefüllten Umschlag über den Tisch, und sein Gegenüber bedankt sich grinsend: »Blagodaryú!«

Unterdessen hat Ippolita den Inhalt der Tasche auf ihrem Schoß platziert. Dort mustert sie das Objekt mit strahlenden Augen, wobei sie es zärtlich hin und her dreht: »La coppa di Henri Delaunay ... Die EM-Pokal! Meraviglioso!«

Und andächtig mustern alle drei die übergroße, silbrig schimmernde Blumenvase, von der alle Welt glaubt, sie stände unweit von Madrid im Sitz des Real Federación Española de Fútbol – oder eben fast alle Welt.

 

Die Juwelen von Galkando

 

Dies ist der Raubzug ihres Lebens; da ist sich Chela sicher – schade nur, dass sie niemals damit wird prahlen können.

Seit zwanzig Jahren bestiehlt sie Arm und Reich, Groß und Klein, Mächtig und Ohnmächtig; sie klaut, was sie kriegen kann. Dennoch ist sie noch nie erwischt worden, und das ist auch besser so: Denn drakonisch sind die lokalen Gesetze gegen Diebstahl. Trotzdem hat Chela nie erwogen, das Fürstentum, in dem sie geboren und aufgewachsen ist, zu verlassen: Ist es doch ein reiches Land, und, so sagt sie sich: Wo so viel für so Viele da ist, was macht es da schon, wenn ich mir das Meine nehme? Und so betätigt sich Chela als Taschendiebin auf Straßen und Märkten, als Einbrecherin in Hütten und Palästen, und sogar für Viehdiebstahl ist sie sich nicht zu schade. Dabei geht sie stets mit besonderer Sorgfalt und Vorsicht vor; noch nie jedoch hat sie sich auf einen Beutezug so gründlich vorbereitet wie diesmal.

Allerdings ist auch noch nie das Risiko so groß gewesen: Schließlich plant sie, dem Maharadscha seinen größten Schatz zu entwenden: Die Galkando-Juwelen, die seit Generationen Gewänder und Geschmeide der Herrscher schmücken. Die Steine sind ebenso märchenhaft wie mysteriös: Niemand weiß, wo jenes Galkando liegt, aus dem die Preziosen stammen sollen; niemand ahnt, wie und wo dessen Bewohner – die Galkandi – jene winzigen Objekte finden; niemand sah, auf welche Weise die Steine zu schleifen sind, so dass sie heller strahlen als jeder Stern am Firmament.

Seit einer Stunde hockt Chela in 20 Meter Höhe auf einem Sims des Palastes. Ihr schwarzes Gewand lässt sie mit der Nacht verschmelzen; so kann sie ungesehen Wachen, Höflinge, Passanten und Posten ausspähen. Zwar kennt sie Zeit und Ort der Wachwechsel bereits, doch, so sagt sie sich: Sicher ist sicher! Würde man sie erwischen, so wäre ihr die grausigste Strafe sicher, die Menschen je erdacht haben: Man würde sie pfählen, ihr also einen stumpfen Pfahl von unten nach oben durch den Körper rammen, und zwar auf derart kunstvolle Weise, dass ihr Todeskampf Stunden, gar Tage währen würde. Vor einigen Monaten richtete man auf diese Weise einen Palast-Wächter hin, der sich an einer Prinzessin vergangen hatte: So etwas will Chela nie wieder sehen – und schon gar nicht erleiden.

Sie wäre somit nie von allein auf die Idee zu diesem Coup gekommen. Vor einigen Wochen jedoch war ein Fremder an sie herangetreten, der sich Teschu nannte, ein alter, hagerer, ansonsten aber unauffälliger Lama aus den Bergen weit im Norden. Er wusste alles über Chelas ›Beruf‹, und er stellte sie vor die Wahl: Entweder würde er sie an die Obrigkeit verraten, oder sie könnte für ihn die besagten Juwelen stehlen.

Der Fremde wusste, dass sich die Juwelen in der Schatzkammer des Palastes befinden; er kannte die Positionen der Wachen, und er hatte sogar Nachschlüssel. Zuerst sträubte sich Chela, aber bald sah sie ein: Sie hat keine Wahl. Und so sitzt sie nun hier auf dem Sims und zieht zum zigsten male die Skizze des Palastes hervor, die ihr Teschu Lama verschafft hat – woher auch immer.

 

**

 

»Was hast du mit diesen Steinen vor, Mahbub? Keiner von ihnen ist nach den heiligen Regeln gefertigt; sie sind misslungen! Wenn du sie entsorgen-«

»Nein, Meister: Das hatte er nie geplant. Stimmt’s, Mahbub?«

»Das stimmt, Sikander. Und anstatt mich beim Meister anzuschwärzen, solltest du mir lieber helfen; die Steine hier sind schließlich fast so groß wie ich. Glaubt bloß nicht, dass es einfach war, sie hier rauf zu wuchten!«

»Helfen? Wovon redet ihr zwei? Willst du damit sagen, Sikander, dass dies Absicht war? Dass Mahbub diese Steine da oben auf solch seltsame Weise anfertigen wollte? Welch eine Verschwendung! Mahbub, mein Junge; du bist doch fürwahr der beste Steinschleifer, dem ich jemals unsere Kunst lehren durfte.«

»Und dafür bin ich Euch dankbar, Meister: Denn erst so war es mir möglich, die Steine hier auf diese spezielle Weise zu schleifen.«

»Aber wozu? Unsere Steine sollen strahlen wie Sonnen; was du da hast, das sieht eher aus wie ein paar Mondsicheln.«

»Das habt Ihr gut erkannt, Meister: Und so sollen sie auch aussehen!«

 

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Inzwischen steht Chela vor der Tür zur Schatzkammer, und sie weiß: Ohne den Plan des Lamas wäre sie nie so weit gekommen. Freilich wäre es dem alten Mann auch nie gelungen, den Wachen so geschickt und geschmeidig auszuweichen wie ihr, der besten Diebin weit und breit.

Bald sind alle Schlösser an der Panzertür geknackt, und der letzte Riegel springt zurück. Hier enden die Hinweise, die der Lama der Diebin geben konnte; schließlich dürfen nur Angehörige des Herrscherhauses die Schatzkammer betreten.

Einmal – ein einziges Mal – hat Chela eines der Galkando-Juwelen besessen; als Zeichen ganz besonderer Gunst war es dem Gesandten eines befreundeten Reiches übergeben worden – doch der Stein sollte das Fürstentum nie verlassen.

Schmuck ist für Chela ansonsten nur potentielles Diebesgut, und wenn sie irgendein Geschmeide an sich bringen kann, so verkauft sie es zumeist rasch weiter. In diesem Fall aber behielt Chela das Juwel eine Woche in ihrer Wohnung, ehe sie es zum Hehler brachte: Denn obwohl es nur so groß war wie ein Sandkorn, glitzerte es in der Sonne derart intensiv, dass man es noch von der anderen Straßenseite her hätte sehen können; bei Nacht schimmerte es goldgelb wie der Vollmond und heller als jede Kerze.

Ansonsten bekommt Chela die Juwelen nur zu Gesicht, wenn sich Maharadscha und Maharani dazu herab lassen, sich ihrem Volk zu zeigen. Dann tragen sie Hunderte, wenn nicht Tausende dieser Steine an Kleidung, Krone und Zepter, und man darf sich ihnen nur auf viele Dutzend Schritt nähern – weniger aus Achtung vor ihren Majestäten, sondern eher, weil einen sonst der Glanz der Steine blendet bis zur Erblindung.

Daher kneift Chela die Augen zusammen, als sie die Tür zur Schatzkammer aufschwingen lässt. Ganz langsam öffnet sie sie wieder, doch ach: Der Raum, den sie nun betritt, ist finster, derart finster, dass sich nicht einmal seine Größe erahnen lässt.

 

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»Was tust du da, Mahbub? Du stürzt uns alle ins Unglück!«

»Ins Unglück!? Falls es dir entgangen ist, Sikander: Da sind wir längst mitten drin! Seit Generationen leben wir in ewiger Finsternis; nur die Steine hier erhellen unsere Welt. Und doch wissen wir aus den Erzählungen der Väter unserer Väter, dass dem nicht immer so war: Einst, da konnte unser Volk seinen Blick über Berge, Wälder und Flüsse schweifen lassen, da strahlten Lichter vom Himmel, heller als all unsere Steine. Vor Monaten, da empfing ich eine Botschaft, wonach dies wieder so sein könne; dazu müsse ich nur zur rechten Zeit am rechten Ort ein Signal gen Himmel schicken.«

»Eine Botschaft? Von wem?«

»Er nannte sich Teschu Lama, Meister.«

»Diesen Namen hörte ich noch nie. Wer soll das sein?«

»Ich sah ihn nie; ich hörte nur seine Stimme ... Hier, in meinem Kopf.«

»Bei allen Göttern! Niemals mehr haben die Galkandi Stimmen gehört seit damals, als die Finsternis begann.«

»Du bist von Sinnen, Mahbub!«

»Ach, denkt ihr? Vielleicht! Aber behielten die Stimmen damals, bei Beginn der Finsternis, nicht recht? Fiel nicht stets frisches Brot und neue Kohle vom Himmel, sobald wir aus der Kohle die Steine gefertigt und sie in der Höhle den Göttern geopfert haben? Warum sollte nicht auch meine Stimme recht behalten?«

»Höre, Mahbub: Der Vater meines Vaters war noch ein Kind, als sich der Himmel verfinsterte. Die Hälfte unseres Volkes starb bei den Beben, die der Verfinsterung folgten, und das Sterben endete erst, als einige unserer Vorväter die Stimmen hörten und ihnen gehorchten: Wir würden verschont, wir würden stets genug Brot für uns alle erhalten – so hieß es –, falls wir fortan unsere Steine den Göttern darbringen würden. Und so geschah es! Als ich selber noch ein Kind war, bebte es wieder, weil unsere Meister töricht genug waren, die Opferung der Steine zu verweigern. Nur wenige starben damals, doch möchte ich dies nie wieder erleben.«

»Sei kein Narr und komm da runter, Mahbub! Was soll das überhaupt werden, was du da machst?«

»Ich glaube, allmählich verstehe ich ... Derart geschliffen und gestapelt, strahlen die Steine ihr Licht gebündelt nach oben in die Düsternis ab. Soll dies das Signal werden, von dem du sprachest, Mahbub?«

»Das habt Ihr gut erkannt, Meister.«

 

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Sobald sie die Panzertür hinter sich geschlossen hat, entzündet Chela eine Kerze, und erst dann ist sie sich sicher, die Schatzkammer gefunden zu haben – völlig sicher. Auch wenn das Herrscherhaus als märchenhaft reich gilt: Das, was die Diebin nun vor sich sieht, übersteigt ihre wildesten Phantasien. Eigentlich, so denkt sie, ist dies keine Schatzkammer: Hier ist nicht nur ein Schatz, nein, hier sind unzählige Schätze angehäuft; auch ist die ›Kammer‹ eher ein Saal, eine Halle mit Säulen und Kuppeln, aber ohne Fenster.

Für einige Momente fragt sich der Eindringling: Wie soll ich dies alles hier hinaus schaffen? Dann aber fällt Chela ein, weswegen sie hier ist, und sie fragt sich stattdessen: Wie soll ich die bewussten Juwelen unter all den Schätzen hier finden? Wenn ihr Leuchten sie nicht verrät, müssen sie in irgendeinem Behältnis verborgen sein. Dies hatte der Lama von Anfang an vermutet, wie er der Diebin noch am Vorabend erklärte; er ermahnte sie auch nachdrücklich, den betreffenden Behälter nicht zu öffnen. Einen Grund dafür wollte er nicht angeben; dennoch hakte Chela nach: Wie, so fragte sie, solle sie dann den betreffenden Behälter erkennen, wenn sie nicht nachschauen darf? Selbst falls das Objekt beschriftet sein sollte: Die Diebin hatte längst gelernt, auf Etiketten nicht zu vertrauen. Darauf versprach Teschu ihr für diese Situation einen ›Wink des Himmels, so klar wie der Himmel selbst‹. Was genau er damit meinte, das konnte oder wollte er aber nicht sagen. Ausgehend von der Strahlkraft des von ihr gestohlenen Steinchens würde schon eine Geldschatulle oder ein Schminkkästchen genügen, um alle Galkando-Juwelen zu verstauen. Hier aber stapeln sich Dutzende, nein, Hunderte von Kisten, Truhen und Schachteln, die meisten mit schweren Schlössern gesichert; es bräuchte Tage, wenn nicht Wochen, wenn Chela doch versuchen sollte, sie alle zu öffnen und zu durchsuchen.

 

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»Ich bitte dich ein letztes Mal, Mahbub: Tu es nicht! Dieser Stein-Stapel wird dich noch erschlagen. Schlimmer noch: Du bringst den Zorn der Götter über uns!«

»Was haben wir noch von Göttern zu fürchten, die uns derart dahinvegetieren lassen, Meister? Ich will nicht, dass mein Sohn aufwächst wie ich und wie schon mein Vater. Noch diesen einen Stein hier ...«

»Nun reicht es: Hol ihn da runter, Sikander!«

»Schon dabei, Meister! Aber das ist ziemlich steil ...«

»Du kommst zu spät, Sikander: Sieh her; es ist so weit – und fast pünktlich!«

»Bei allen Göttern: Was für ein Strahl! Habt ihr so etwas schon einmal gesehen, Meister?«

»Noch nie! Wie eine goldene Säule, die das Himmelsgewölbe stützt ... Aber mir scheint, dort am Zenit wird der Strahl irgendwie verschluckt? Etwa dort, von wo täglich Brot und Kohle nieder fällt, von wo man gelegentlich einen Schimmer wie von einem fernen Gestirn erahnt.«

 

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