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Erkenntnistheorie zur Einführung

Herbert Schnädelbach

Erkenntnistheorie zur Einführung

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Meinen Berlinern
zum Andenken

Junius Verlag GmbH

© 2002 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Nationalbibliothek

Inhalt

0. Einleitung

Kleine Geschichte der Erkenntnistheorie

Zwei Einwände gegen Erkenntnistheorie

Aufgaben der Erkenntnistheorie

1. Wissen

›Wissen‹ – ein analytischer Vorschlag

2. Wissensformen

Vorstellung

Wahrnehmung

Erinnerung und Imagination (Vorstellung2)

Erfahrung

Wissenschaft

Kleine Geschichte der Wissensformen

3. Geltung

Skepsis

Wahrheit

Rechtfertigung

4. Ausblick: Die Wirklichkeit der Erkenntnis

Anhang

Literaturhinweise

Über den Autor

0. Einleitung

Kleine Geschichte der Erkenntnistheorie

Seit der späten Antike war es üblich, mit den Stoikern das Feld der Philosophie in Logik, Physik und Ethik einzuteilen. Noch Kant bekannte sich dazu (vgl. GMS B III), und die meisten Studien- und Prüfungsordnungen unserer philosophischen Seminare und Institute folgen Kant darin, daß sie seine Neufassung jener Trias als Grundlage übernehmen: ›Logik‹, ›theoretische Philosophie‹ und ›praktische Philosophie‹. (Sie definiert im übrigen die professorale »Mindestausstattung« für einen akzeptablen Studiengang der Philosophie mit Magisterabschluß.) Wer nun jene Ordnungen aufschlägt, wird fast immer auf den Ausdruck ›Erkenntnistheorie‹ stoßen, und zwar unter der Rubrik ›theoretische Philosophie‹; dort wird die Erkenntnistheorie in der Regel als erste Teildisziplin genannt, was ihren besonderen Rang als Grundlagenfach unterstreichen soll. Selten wird man hingegen an dieser Stelle die Metaphysik genannt finden, wenn sie überhaupt noch erwähnt wird; sie hat bis ins 19. Jahrhundert den ersten Platz beansprucht, denn was der erste Herausgeber des Aristotelischen Gesamtwerkes, Andronikos von Rhodos, im 1. Jahrhundert v. C. metá tà physiká, d.h. nach den physikalischen Schriften eingeordnet hatte, waren die Texte zur »Ersten Philosophie«, und darunter hatte Aristoteles die Wissenschaft vom »Ersten«, d.h. von den Gründen und Ursachen alles dessen, was ist, verstanden. (Bis zum 18. Jahrhundert wurden die Ausdrücke ›Philosophie‹ und ›Wissenschaft‹ im wesentlichen gleichbedeutend gebraucht.) Heute hingegen löst das Wort ›Metaphysik‹ bei den Zeitgenossen nur noch eine Mischung aus unbestimmten bis ehrfürchtigen Gefühlen aus; das »Metaphysische« – was ist das anderes als etwas Undurchsichtiges und »Höheres«, über das man besser schweigt? Die Erkenntnistheorie hingegen gilt auch dort, wo man sie nicht als Prima philosophia im aristotelischen Sinn versteht, als dasjenige, womit man zumindest beginnen sollte, wenn man sich in der Philosophie theoretischen oder sogar metaphysischen Fragen zuwendet.

Der Aufstieg der Erkenntnistheorie ist das Ergebnis der neuzeitlichen Krisengeschichte der Metaphysik selbst. Das Wort ›Erkenntnistheorie‹ kommt freilich erst im frühen 19. Jahrhundert auf und wird dann durch Eduard Zellers vielbeachtete Heidelberger Vorlesung Ueber Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie (1862) allgemein gebräuchlich; die Sache ist freilich viel älter. Der erste »erkenntnistheoretische« Text unserer philosophischen Überlieferung ist Platons Dialog Theätet, in dem es um die Frage geht, was Wissen sei, und in dem Platon seinen Lehrer Sokrates u.a. das Wissen gegen den Relativismus des Sophisten Protagoras verteidigen läßt. Seitdem haben sich die Philosophen immer wieder mit solchen Fragen befaßt, aber die Erkenntnisprobleme waren doch nie zentral, denn man glaubte stets, sie mit Bezug auf die Gesamtstruktur der Welt lösen zu können. Das änderte sich zu Beginn der Neuzeit, wo die platonisch-aristotelische Metaphysiktradition bei den Wissenschaftlern und Intellektuellen jeden Kredit verloren hatte; wollte man die Sache der Metaphysik, d.h. die wissenschaftliche Deutung und Erklärung der Welt aus ersten Gründen und Ursachen, weiterhin vorantreiben, dann erforderte dies eine grundlegende Reform dessen, was bislang ›Metaphysik‹ genannt worden war. René Descartes, John Locke und vor allem Immanuel Kant wandten sich dieser Aufgabe zu, ohne freilich von ›Erkenntnistheorie‹ zu sprechen. Sie waren sich darin einig, dass nicht teilweise Verbesserungen die Metaphysik aus der Krise führen könnten, sondern nur eine Untersuchung der subjektiven Bedingungen und Grenzen menschlicher Erkenntnis überhaupt, durch die sich dann auch die Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik klären lassen müsse. Descartes folgte dabei methodisch den alten skeptischen Einwänden gegen die Möglichkeit objektiver Seinserkenntnis – insbesondere dem Sinnestäuschungsund dem Traumargument –, steigerte sie durch die Gedankenfigur des bösartigen Gottes, der mich auch im Bereich logischer und mathematischer Wahrheiten täuschen könnte, um dann im »Ich bin, ich existiere« und im »Ich bin ein denkendes Ding mit seinen Gedanken oder Vorstellungen« einen ersten sicheren Grund für alles Erkennen zu finden. (Vgl. Med I-II) Dabei änderte Descartes die klassische Definition der Metaphysik; sie ist für ihn nicht mehr die Wissenschaft von den »ersten Prinzipien des Seienden«, sondern von den »ersten Prinzipien der Erkenntnis des Seienden«. (PP XLI)

Die gesamte Philosophie der Neuzeit ist cartesianisch in dem Sinne, daß sie methodisch den Beginn mit dem Zweifel für unvermeidlich hält und auch dort, wo sie am klassischen Programm der Metaphysik als der Ersten Philosophie festhält, sich zunächst den skeptischen Einwänden gegen die Möglichkeit objektiver Seinserkenntnis gewachsen zeigen möchte. So berichtet John Locke zu Beginn seines Versuchs über den menschlichen Verstand (1689):

»Dürfte ich Dich mit der Entstehungsgeschichte dieser Essays behelligen, so würde ich Dir folgendes erzählen: Fünf oder sechs Freunde trafen sich in meiner Wohnung und erörterten ein von dem gegenwärtigen sehr weit abliegendes Thema; hierbei gelangten sie bald durch Schwierigkeiten, die sich von allen Seiten erhoben, an einen toten Punkt. Nachdem wir uns so eine Zeitlang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns quälenden Zweifel irgendwie näherzukommen, kam mir der Gedanke, daß wir einen falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig unsere eigenen geistigen Anlagen prüfen und zusehen müßten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei. Ich setzte das der Gesellschaft auseinander, und alle stimmten mir bereitwillig zu, worauf wir vereinbarten, daß dieser Frage unsere erste Untersuchung gelten sollte.« (Locke I, 7)

Einer solchen Untersuchung widmet Locke sein umfangreiches Hauptwerk, und dies nicht, um die Metaphysik abzuschaffen, sondern um sie endlich auf sichere Fundamente zu stellen. – Nachdem Kant gewissermaßen »am eigenen Leibe« erfahren hatte, wie prekär es um die Metaphysik bestellt ist – er hatte die Antinomien entdeckt, d.h. die Tatsache, dass man in der leibniz-wolffschen Tradition, aus der er kam, metaphysische Grundsätze und deren genaues Gegenteil beweisen konnte –, schrieb er: »Meine Absicht ist, alle diejenigen, so es wert finden, sich mit Metaphysik zu beschäftigen, zu überzeugen: daß es unumgänglich notwendig sei, ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen, alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen, und vor allen Dingen zuerst die Frage aufzuwerfen: ›ob auch so etwas, als Metaphysik, überall nur möglich sei‹.« (Prol A 4) Seine Kritische Philosophie setzt sich nichts Geringeres als eine Metaphysik der Natur und der Sitten zum Ziel; auch hier sind die Analyse und Erklärung menschlicher Erkenntnis nicht Selbstzweck, sondern unentbehrliche Vorbereitung »zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« (Titel der Prolegomena).

Der Terminus ›Erkenntnistheorie‹ begann seinen Aufstieg in einer gänzlich veränderten Situation. (Vgl. zum Folgenden: Schnädelbach 1983, 89 ff.) Nach dem Ende des deutschen Idealismus, das stets mit Hegels Tod im Jahr 1831 in Zusammenhang gebracht wird, waren Philosophie und Wissenschaft gänzlich auseinandergetreten. Es hatte sich nämlich ein tiefgreifender Wandel im Wissenschaftsverständnis vollzogen, den die ›Philosophen‹ genannten Wissenschaftler nicht selbst eingeleitet hatten und den sie weder zu steuern noch gar zu verhindern vermochten. Seit dem Beginn der Neuzeit hatte Konsens darüber bestanden, daß die Wissenschaft ein System sein müsse – möglichst nach dem Vorbild der Euklidischen Geometrie; darin sollte alles Wissen in einem durchgängigen Begründungszusammenhang enthalten sein. Der Metaphysik kam dabei die Aufgabe zu, die ersten Prinzipien von Wissen überhaupt bereitzustellen. Mindestens seit dem frühen 18. Jahrhundert aber hatte sich neben der einen, ›Philosophie‹ genannten Wissenschaft das herausgebildet, was wir heute die ›Einzelwissenschaften‹ nennen: Physik, Chemie, Biologie, Ökonomie, Psychologie, Sprachwissenschaft usf., d.h. wissenschaftliche Disziplinen, die zwar häufig noch den Ausdruck ›Philosophie‹ im Titel führten, im übrigen aber auf den systematischen Zusammenhang mit dem großen Singular längst verzichtet hatten. Ihre gemeinsame Grundidee war es, die Wirklichkeit empirisch zu erforschen; und was als wissenschaftliche Erfahrung galt, bestimmten die unter den Wissenschaftlern anerkannten Methoden. Wissenschaftler war jetzt, wer in seiner Forschungspraxis diese Methoden befolgte; die Idee der Wissenschaft als systematisch geordneter Besitz von Wissen trat dabei in den Hintergrund. Diesen Übergang kann man so beschreiben: von der propositional (mit Bezug auf Urteile oder Sätze) charakterisierten Systemwissenschaft zur prozedural (durch Verfahren) definierten Forschungswissenschaft.

Kant hat diesen sich ankündigenden Übergang bemerkt und versucht, ihm durch die Unterscheidung zwischen »reiner« und »empirischer« Philosophie gerecht zu werden, um die Einheit der Philosophie zu bewahren: »Alle Philosophie aber ist entweder Erkenntnis aus reiner Vernunft, oder Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische Philosophie.« (B 868) Da sich dieser Vorschlag nicht durchsetzte und die empirischen Wissenschaften inzwischen auf die Bezeichnung ›Philosophie‹ verzichtet hatten, blieb für die Philosophen selbst nur die »reine« Philosophie übrig, und die fiel für Kant und seine Nachfolger mit der Metaphysik als der »reinen Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen« (MAN A VII) zusammen. Da spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts nur empirische Disziplinen als wissenschaftlich galten und man die offensichtlich nichtempirischen Wissenschaften Logik und Mathematik selbst noch empirisch, d.h. psychologisch begründen wollte, verwendete man die Ausdrücke ›Philosophie‹ und erst recht ›Metaphysik‹ durchweg verächtlich, und man war stolz darauf, Wissenschaftler zu sein. Für die Philosophie bedeutete dies eine tiefgreifende Identitätskrise; hatte sie einmal geglaubt, als »reine« Wissenschaft über die Definitionsmacht darüber zu verfügen, was als wissenschaftlich gelten könne und was nicht, so mußte sie nun selbst erst einmal ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis stellen. Eine Möglichkeit dieser Rehabilitierung bestand darin, bei den bereits etablierten Geschichts- und Textwissenschaften Unterschlupf zu suchen und sich als »Geisteswissenschaft« zu definieren; diese Festlegung der wissenschaftlichen Philosophie aufs Historisch-Hermeneutische hat bis ins späte 20. Jahrhundert ihr disziplinäres Selbstverständnis bestimmt, während die wirklich originären Philosophen wie Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre oder Adorno meist als unwissenschaftlich galten.

Ein anderer Weg, die Philosophie zu rehabilitieren und sie in den Kreis der seriösen Wissenschaften zurückkehren zu lassen, war ihre Neudefinition als Erkenntnistheorie, und die fand in der Tat seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts statt – keineswegs eingeleitet von den spätidealistischen Systemphilosophen, die es damals immer noch gab, sondern von philosophierenden Naturwissenschaftlern wie F.A. Lange, Helmholtz, Du Bois-Reymond. Sie kritisierten den unkritischen und ideologischen Umgang mit den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung durch die damals sehr populären und einflußreichen Autoren, die eine neue, angeblich wissenschaftlich fundierte Weltanschauung für das breite Publikum propagierten und damit ein bestimmtes philosophisches Bedürfnis bedienten. Hier erinnerte man sich an Kant und sein Programm einer Kritischen Philosophie, und in der Koalition mit professionellen Philosophen, zu denen auch Eduard Zeller gehörte, entstand so erst die sogenannte Kantbewegung und dann der Neukantianismus (vgl. Köhnke), der in verschiedenen Spielarten die deutsche Universitätsphilosophie bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts beherrschte. Wesentlich für dieses neukantische Philosophieverständnis war ein komplementäres Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie. Die Philosophie, sofern sie sich nicht als historisch-hermeneutische Disziplin verstand, sollte den einzelnen Wissenschaften nichts hinzufügen, sollte auch nicht aparte Erkenntnisse für sich beanspruchen, sondern das kritische, d.h. das logische und methodologische Gewissen der Wissenschaften sein. Philosophie und Erkenntnistheorie schienen fast identisch zu sein, und wenn man hinzunimmt, daß es dabei fast immer ausschließlich um wissenschaftliche Erkenntnis ging, versteht man auch die Konjunktur des Terminus ›Wissenschaftstheorie‹, der sich im 20. Jahrhundert anschickte, die Bezeichnung ›Erkenntnistheorie‹ zu verdrängen.

Die These vom komplementären Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie blieb aber nicht unwidersprochen, und so regte sich seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem in Deutschland lebhafter Widerstand gegen den damit verbundenen »Formalismus«. Man wollte nicht mehr ständig methodologisch das Messer wetzen, sondern endlich selbst schlachten; man strebte unter dem Schlachtruf Husserls »Zu den Sachen!« nach eigener materialer und doch philosophischer Erkenntnis. In diesem Zusammenhang gerieten vor allem der Neukantianismus und seine angebliche Reduktion der Philosophie auf Erkenntnistheorie in die Kritik. So verwandelte sich auch der Ausdruck ›Erkenntnistheorie‹ unter Philosophen zum Ausdruck der Verachtung; Philosophie sollte alles Mögliche sein, nur nicht Erkenntnistheorie, und darin waren sich die Phänomenologen, die Existenzphilosophen, aber auch die Neomarxisten einig – trotz aller sonstigen Streitigkeiten.

Aber auch das ist schon wieder Geschichte. Es war die Tradition des Wiener Kreises, der auch Popper angehört, die nach der Emigration ihrer wichtigsten Vertreter in die USA den Hauptstrom der Analytischen Philosophie bildete und dabei zunächst an dem komplementären Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft festhielt; man hat sie mit Recht als Fortsetzung des Neukantianismus mit anderen Mitteln charakterisiert. (Vgl. Rorty, 21) Hier erlebte die moderne Wissenschaftstheorie ihre Hochblüte, und durch die Rezeption der Analytischen Philosophie seit den sechziger Jahren entstand auch hierzulande das Bedürfnis, den Verächtern der Erkenntnistheorie nicht das Feld zu überlassen; so kehrte sie unter dem modern klingenden Namen ›Wissenschaftstheorie‹ in die philosophischen Institute zurück. Im Rückblick ist es erstaunlich, wie viele philosophische Professuren damals für Wissenschaftstheorie ausgeschrieben und mit Wissenschaftstheoretikern besetzt wurden.

Inzwischen ist diese Disziplin überall auf dem Rückzug und die Erkenntnistheorie wieder auf dem Vormarsch, was man schon dem ständigen Anwachsen einschlägiger Titel auf dem Buchmarkt entnehmen kann. Im angelsächsischen Bereich hat es niemals grundsätzliche Bedenken gegen epistemology (griech. epistéme – Wissen) gegeben, und in Frankreich hat sich eine Sonderform von Erkenntnistheorie gebildet: die epistémologie, d.h. eine Wissenschaft von ganzen Wissensformationen; wollte man nicht in deutschen Provinzialismus verfallen, mußte man dies zur Kenntnis nehmen. Ein weiterer Grund für die Rückkehr der Erkenntnistheorie war die Tatsache, daß mit ›Erkenntnis‹ keineswegs nur wissenschaftliche Erkenntnis gemeint sein kann; auch alltägliche Phänomene des Erkennens und Wissens samt ihrem begrifflichen Umfeld fallen unter diesen Begriff. Im übrigen hängt jede Antwort auf die Frage, was Wissenschaft sei, von Auskünften darüber ab, was es bedeutet, überhaupt etwas zu wissen, und wie man auch das wissen kann. Ferner ist Erkenntnis oder Wissen seit jeher auch selbst ein empirischer Forschungsgegenstand gewesen; gerade die empiristische Philosophie seit John Locke hat stets versucht, auch das menschliche Erkennen mit erfahrungswissenschaftlichen Mitteln aufzuklären, und als dazu die bloße Selbstbeobachtung nicht genügte, entstanden die Denk- und Erkenntnispsychologie, die sich wesentlich auf Experimente stützen. Erkennen und Wissen sind heute die zentralen Themen der kognitiven (lat. cognitio – Erkenntnis, Wissen) Psychologie und der im Umkreis der Künstlichen-Intelligenz-Forschung und der Gehirnphysiologie operierenden Kognitionswissenschaften. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie hingegen unternimmt es, die kognitiven Leistungen des Menschen in den Zusammenhang der biologischen Evolution der Menschengattung zu rücken und von dort her zu erklären.

Gegen die empirische Untersuchung der Erkenntnis halten die Philosophen mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert einen Standardeinwand bereit: den Zirkelvorwurf. Damals – in den grundlegenden Arbeiten von Frege und Husserl – richtete er sich gegen den Psychologismus in der Philosophie der Logik, d.h. gegen das schon erwähnte Programm, diese Wissenschaft und mit ihr die Mathematik mit empirischen, d.h. psychologischen Mitteln begründen zu wollen. Das Argument lautete: Dies laufe deswegen auf einen Circulus vitiosus hinaus, weil man schon die Logik brauche, um Psychologie betreiben zu können. Auf die Erkenntnistheorie angewandt bedeutet dies den Einwand, man könne die menschliche Erkenntnis deswegen nicht zum empirischen Forschungsgegenstand machen, weil man dabei schon einen tragfähigen Vorbegriff empirischer Erkenntnis voraussetzen müsse. Wieweit dieser Hinweis trägt, ist fraglich; es ist aber keine Frage, daß es sinnvoll und möglich ist, auch die menschliche Kognition mit wissenschaftlichen Mitteln zu untersuchen und sich dabei auf schon anerkannte Standards von Wissen und Wissenschaft zu stützen. So hat Quine ausdrücklich eine »Naturalisierung« der Erkenntnistheorie gefordert (vgl. Quine 1975, 97 ff.), d.h. die Auffassung menschlicher Kognition als eines Forschungsgegenstandes wie alle anderen und ihre Untersuchung mit naturwissenschaftlichen Methoden; der darin enthaltene Zirkel, daß die naturwissenschaftliche Erkenntnis sich auf sich selbst bezieht, sei nicht gefährlich, sondern fruchtbar. Dem ist sicher zuzustimmen; die Frage ist dann nur, welche philosophischen Ansprüche man damit verbindet.

Zwei Einwände gegen Erkenntnistheorie

Wenn sich die Erkenntnistheorie als eine spezifisch philosophische Disziplin versteht, muß sie sich auf zwei Einwände gefaßt machen: Sie sei überflüssig und darüber hinaus unmöglich.

a) Überflüssig sei sie, weil (wie angedeutet) die Erkenntnis selbst längst zum wissenschaftlichen Forschungsgegenstand geworden sei, und da seien Philosophen entbehrlich. Im übrigen habe sich die wissenschaftliche Erkenntnis längst als ein kritisches und sich selbst korrigierendes Unternehmen etabliert, so daß man keiner philosophischen Aufsicht bedürfe. (Vgl. Feyerabend 1973) So regt sich der Verdacht, die philosophischen Erkenntnis- und Wissenschaftskritiker hätten Schwierigkeiten mit ihrer Identität, wollten darum bloß sich unentbehrlich machen und die Wissenschaftler bevormunden. Dagegen ist zu sagen: Was hier behauptet wird, mag für einzelne Erkenntnis- und Wissenschaftsbereiche zutreffen, von denen die professionellen Philosophen häufig viel zuwenig verstehen; in der Tat sind ›Erkenntnis‹ und ›Wissenschaft‹ Plurale, d.h. Sammelbegriffe für recht Verschiedenes. Anders ist es aber, wenn man fragt: Was ist Wissen, z.B. im Unterschied zum Glauben oder subjektiven Überzeugtsein? Was verstehen wir unter ›Erkenntnis‹, und was können wir als Erkenntnis gelten lassen? Können wir überhaupt etwas wissen, oder haben wir immer nur Meinungen? Das sind ganz grundsätzliche und als solche philosophische Fragen, und es ist nicht zu erwarten, daß die mit ihrer empirischen Forschung befaßten Wissenschaftler sie uns beantworten. Natürlich hat jedermann und auch jeder Wissenschaftler darüber eine Meinung und damit eine implizite Erkenntnistheorie, aber nur im philosophischen Gespräch wird diese explizit gemacht und dann auch kritisierbar. Das bedeutet nicht, daß die philosophische Erkenntnistheorie nur dort stattfindet, wo ›Philosophie‹ auf dem Türschild steht, sondern umgekehrt: Wer auch immer sich jene Fragen stellt und sie weiter verfolgt, philosophiert, und das tun nicht nur die ›Philosophen‹ genannten Philosophen.

Was könnte uns dazu motivieren, solche grundsätzlichen Fragen aufzuwerfen? Es sind Situationen, in denen Erkenntnisse fraglich werden und uns der Rekurs auf andere Erkenntnisse nicht weiterhilft. Betrachten wir folgende Beispiele: Bei Ludwig Thoma berichtet Josef Filser etwas und sagt dann »Es ist wahr, indem ich es weiß« (Thoma, 117). Hier stolpern wir, weil wir uns fragen, ob es eine hinreichende Bedingung für die Wahrheit des Mitgeteilten ist, daß jemand behauptet, es zu wissen. Sind wir bereit, ein »Ich weiß, daß …« als Erkenntnis zu akzeptieren? Sind Wissen und Erkenntnis wirklich dasselbe?

Beim Besuch eines Missionars der Mormonen fragte ich, wie man erkennen könne, daß das Buch Mormon die Wahrheit sei; die Antwort lautete: Man müsse es lesen, dann zu Gott beten, und dann gebe der einem die Gewißheit ins Herz. Hier wurde also ein subjektives Gefühl der Gewißheit als Erkenntnisgrund präsentiert, und wir bekommen Bedenken, ob dies nicht auf Selbstsuggestion beruhen könnte. Einer Sache gewiß zu sein bedeutet offenbar noch nicht, sie erkannt zu haben, denn auch Wahnhafte sind ihrer Sache ganz sicher. Die Leitfrage lautet dann: Verbürgt Gewißheit Erkenntnis?

Bei der Auschwitzlüge wird es schon ernster; sogar anerkannte Wissenschaftler haben die Existenz der Gaskammern geleugnet. Hier werden öffentlich nachweisbare Tatsachen und Zeugnisse immer so gedeutet, daß herauskommt: Der Holocaust hat nicht stattgefunden. Man beruft sich auf Wissenschafts- und Meinungsfreiheit und weist die Strafbarkeit der Behauptung, Auschwitz sei eine Lüge, als Justizterror zurück. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob ›Meinung gegen Meinung‹ das letzte Wort ist oder ob man ›Meinung vs. Wissen‹, ›Meinung vs. Erkenntnis‹ so weit stabilisieren kann, daß man sagen kann: »Lügen fällt nicht unter Meinungsfreiheit«. Die Leitfrage: Ist die Deutung von Fakten beliebig oder nicht?

Schließlich ist der »Widerstreit« zu nennen, den Jean-François Lyotard analysierte. (Vgl. Lyotard) Der französische Autor Faurisson schreibt: »Ich habe Tausende von Dokumenten untersucht. Ich habe Fachleute und Historiker unermüdlich mit meinen Fragen verfolgt. Ich habe – allerdings vergeblich – einen einzigen ehemaligen Deportierten gesucht, der mir beweisen konnte, tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen zu haben.« (Zit. nach: Lyotard, 17) Diese Behauptung unterscheidet sich von der Auschwitzlüge dadurch, daß dort die Fakten und Zeugnisse nur verschieden gedeutet werden, hier aber nicht einmal die Fakten gemeinsam sind; Faurisson möchte nur das »tatsächlich und mit eigenen Augen« Gesehene als Faktum akzeptieren, aber genau das konnte keines der Opfer bezeugen. Und so stellt sich die Leitfrage: Was akzeptieren wir als Tatsache?

Es liegt wohl auf der Hand, daß wir diese vier Leitfragen nicht dadurch beantworten können, daß wir in unserer Erkenntnispraxis so fortfahren wie bisher; deswegen trifft es nicht zu, daß Erkenntnistheorie im Sinne einer systematischen Erörterung der Grundlagen unseres Wissens und Erkennens überflüssig wäre. Was uns dazu nötigt, sind skeptische Situationen, im Sinne grundsätzlicher Zweifel an unseren Erkenntnisvermögen, die wir ausräumen müssen, bevor wir ihnen wieder trauen dürfen.

b) Der andere Einwand gegen die Erkenntnistheorie ist ernster zu nehmen, denn er behauptet die Unmöglichkeit dessen, was wir für unentbehrlich halten mögen. Er ist wieder ein Zirkeleinwand, der sich fast schon aus dem Wort »Erkenntnistheorie« selbst ableiten läßt, und er lautet: Theorie ziele immer auf Erkenntnis ab, so daß die Erkenntnistheorie auf ein Erkennen des Erkennens hinauslaufe und darum genau das voraussetze, was man erst untersuchen wolle. Tatsächlich handelt es sich um eine schärfere und grundsätzlichere Argumentation als bei derjenigen, die sich gegen den Psychologismus oder die Naturalisierung der Erkenntnistheorie richtet, weil dort nur ein Vorbegriff von pychologischer bzw. naturwissenschaftlicher Erkenntnis in Anspruch genommen wird, während es hier um Erkenntnis überhaupt geht. Der locus classicus findet sich bei Hegel, wo er sich kritisch mit Kant befaßt: »Sie [die Philosophie Kants] wird auch kritische Philosophie genannt, indem ihr Zweck zunächst ist, sagt Kant, eine Kritik des Erkenntnisvermögens zu sein. Vor dem Erkennen muß man das Erkenntnisvermögen untersuchen. Das ist dem Menschenverstand plausibel, ein Fund für den gesunden Menschenverstand. […] Das Erkenntnisvermögen untersuchen heißt, es erkennen. Die Forderung ist also diese: man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man erkennt; es ist dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht.« (TWA 20, 333 f.) Dieses Argument hat seitdem viele beeindruckt, nicht nur die Hegelianer, zumal Hegel selbst der Erkenntniskritik nicht ihr Recht abspricht, sondern sie nur zum Bestandteil und vorantreibenden Element der Erkenntnis selbst machen möchte. Die Einheit von Erkenntnis und Erkenntniskritik ist nichts anderes als Hegels dialektische Methode, mit der er sich gegen die »Reflexionsphilosophie« wendet, die glaubt, sich aus dem Erkenntnisprozeß herausreflektieren und als davon unabhängige kritische Instanz etablieren zu können. Hegels These ist somit: Erkenntnis und Erkenntnistheorie bilden ein dialektisches Ganzes, und für eine aparte Disziplin, die die Nachwelt ›Erkenntnistheorie‹ nennen wird, ist einfach kein Platz.

Hegels Hinweis auf die Untrennbarkeit von Erkenntnis und Erkenntniskritik kann man als das holistische Argument gegen die Möglichkeit von Erkenntnistheorie bezeichnen, und es ist seitdem in verschiedenen Formen wiederholt worden, auch ohne dabei Hegel zu erwähnen. – Leonard Nelson versuchte in einem Vortrag, die prinzipielle Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie nachzuweisen; sein Argument: Entweder ist das Kriterium der Erkenntnis selbst eine Erkenntnis, oder es wird als ein solches erkannt – in beiden Fällen verstricken wir uns in einen Zirkel, weil wir ein Erkenntniskriterium schon voraussetzen. (Vgl. Nelson) Während Hegel mit der Ganzheit aller Erkenntnisphänomene am Orte des Bewußtseins, also mit einem inhaltlichen Holismus argumentiert, neben dem kein Platz sei für eine besondere Erkenntnis der Erkenntnis, versteht Nelson die Erkenntnis als ein kriteriales Ganzes, vertritt also einen kriterialen Holismus.

Martin Heidegger, der seine Verachtung der Erkenntnistheorie an seine Schüler weitergab, behauptet in Sein und Zeit (1927), das erkenntnistheoretische Grundproblem der Philosophie der Neuzeit seit Descartes, d.h. die Frage des Verhältnisses von Bewußtsein und Welt, Subjekt und Objekt, sei ein Scheinproblem, denn wir seien doch immer schon bei einer Welt; das »In-der-Welt-Sein« sei ein »Existenzial«, d.h. eine Grundbestimmung menschlicher Seinsweise. Statt cartesianisch zu philosophieren und einen Übergang vom Ego cogito zur äußeren Wirklichkeit zu suchen, gehe es darum, unsere eigene »existenziale« Grundstruktur aufzuweisen und auszulegen, und dabei käme dann das Irreführende der erkenntnistheoretischen Grundfrage nach der Realität der »Außenwelt« zum Vorschein. (Vgl. SuZ 202 ff.) Heideggers Kritik beruht auf einem Holismus der »Weltlichkeit« des Seienden, das wir sind und das er »Dasein« nennt. Im Unterschied zu Hegel versteht er aber diese Subjektivität und Objektivität übergreifende Einheit nicht als das Absolute, so daß er einen Holismus der Endlichkeit vertritt.

Richard Rortys Kritik der Erkenntnistheorie (vgl. Rorty, 149 ff.) schließlich greift Motive Heideggers auf, aber sie zieht vor allem die Konsequenzen aus der Selbstkritik der Analytischen Philosophie durch W.V. O. Quine und Donald Davidson. Diese philosophische Richtung, die Bertrand Russell und G.E. Moore um 1900 im Widerstand gegen den Holismus des englischen Neoidealismus (Bradley, McTaggart u.a.) begründet hatten, fand durch W.V. O. Quine dadurch ihr Ende (vgl. Koppelberg), daß er gegen alle traditionell-analytischen Überzeugungen zu einem neuen Holismus gelangte, und zwar durch seine Kritik an der klassischen Unterscheidung zwischen dem Analytischen und dem Synthetischen, auf die die ältere Analytische Philosophie ihre komplementäre Selbständigkeit gegenüber den Wissenschaften zu begründen versucht hatte. Wenn es tatsächlich unmöglich ist, ohne Zirkel zu definieren, was ›Analytizität‹ bedeutet, entfällt auch die Differenz zum Synthetischen. Philosophie und Wissenschaft bilden somit ein Ganzes, in dem sich ihre Thesen und Theorien nicht mehr der Art nach, sondern nur noch graduell unterscheiden (vgl. Quine 1951); die Forderung nach der Naturalisierung der Erkenntnistheorie ist dann nur konsequent. Davidson fügte dem den Nachweis hinzu, daß auch noch die übliche, von Quine stets festgehaltene Unterscheidung zwischen den verschiedenen Begriffssystemen und der Realität, die durch sie verschieden aufgefaßt werde, gegenstandslos und ein weiteres »Dogma des Empirismus« sei. (Vgl. Davidson, 261 ff.) Rorty verbindet diese holistischen Argumente mit den Konsequenzen, die Kuhn und Feyerabend aus der genaueren wissenschaftshistorischen Forschung gezogen hatten; sie zeigten, daß sich die wissenschaftliche Entwicklung niemals kontinuierlich vollzogen hatte, sondern in einer Abfolge von sogenannten »Paradigmen«, die jeweils ein Ganzes aus grundbegrifflichen Bestimmungen, vorbildhaften Problemlösungen und geteilten Geltungskriterien ausmachten. Untereinander seien diese Paradigmen inkommensurabel gewesen, d.h., die Aristotelische und die Newtonsche Physik ließen sich überhaupt nicht vergleichen, weil sie weder ihre Gegenstände noch ihre Geltungsansprüche teilten. Rorty führt den Quine-Davidsonschen Holismus mit dem der Paradigmen zusammen und vertritt die These, daß niemals und auch heute nicht eine Disziplin mit dem Namen ›Erkenntnistheorie‹ außerhalb des jeweiligen Ganzen der Wissenschaften angesiedelt sein kann; wie die Wissenschaften selbst war auch die Philosophie immer Teilelement eines kulturellen Ganzen. Darum gibt es keine Prima philosophia, und erst recht nicht in erkenntnistheoretischer Gestalt; und der reine »Spiegel der Natur«, nach dem die cartesianische Tradition gesucht hatte, ist ein Mythos. Rorty geht über Quine dadurch hinaus, daß er nicht nur einen Holismus mit Bezug auf Philosophie und Wissenschaft vertritt, sondern einen Holismus von Philosophie/Wissenschaft und Kultur überhaupt – einen kulturellen Holismus also. (Vgl. Rorty, 343 ff.)

Wie kann man die Erkenntnistheorie gegen die These ihrer Unmöglichkeit verteidigen, da wir sie doch offensichtlich für unentbehrlich halten müssen? Hier bleibt wohl nur der Ausweg, sich ihre verschiedenen Aufgaben vor Augen zu führen und dann die verschiedenen Zirkeleinwände genauer zu untersuchen.

Aufgaben der Erkenntnistheorie

Daß es in der Erkenntnistheorie um Erkenntnis überhaupt geht, läßt sich wie folgt präzisieren: Es geht einmal um den Begriff der Erkenntnis und um die Beziehungen dieses Begriffs zu den verwandten Begriffen ›Wissen‹, ›Gewißheit‹, ›Meinung‹, ›Überzeugung‹, ›Glauben‹ (i.S. von ›belief‹). Wir wollen wissen, was wir meinen, wenn wir von Erkenntnis sprechen, und dazu brauchen wir eine Übersicht im Netz der damit zusammenhängenden Begriffe. Dies nennen wir die explikativen Aufgaben der Erkenntnistheorie. – Dann suchen wir ein Kriterium (griech. kritérion – Kennzeichen; von krineîn, unterscheiden) der Erkenntnis, und das bedeutet: Wir wollen uns nicht nur darüber verständigen, was wir unter Erkenntnis verstehen, sondern was wir als Erkenntnis gelten lassen wollen. Dies betrifft die Geltungscharaktere ›wahr‹, ›richtig‹, ›stringent‹, ›methodisch korrekt‹ etc. Hier geht es um die normativen Aufgaben der Erkenntnistheorie. Wir müssen darüber hinaus fragen, ob und wie dieses Kriterium anwendbar ist, denn es könnte ja sein, daß wir nur eine Erkenntnisutopie beschreiben, d.h. in wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen eine »metascience of science fiction«. (Vgl. Stegmüller IV, 26) Um über die Anwendbarkeit von Erkenntniskriterien etwas sagen zu können, muß man auch etwas über wirkliche Erkenntnisprozesse wissen, und daraus ergeben sich die deskriptiven Aufgaben der Erkenntnistheorie. Jede befriedigende Erkenntnistheorie muß mindestens diese drei Fragebereiche umfassen, und das vermag sie nur durch eine Differenzierung ihrer Diskursarten in explikativer, normativer und deskriptiver Hinsicht. (Vgl. analog dazu: Bieri, 34, 39, 38)

Gehen wir von dieser Diskursunterscheidung aus, verlieren die holistischen Argumente gegen die Möglichkeit von Erkenntnistheorie viel von ihrer Überzeugungskraft. Was Hegel betrifft, so unterstellt er einfach, daß die »Erkenntnisse« der Erkenntnistheorie von derselben Art seien wie die, die sie untersucht. Kant hatte dem selbst Vorschub geleistet mit seiner berühmten Definition: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.« (B 25) (Lat. ›a priori‹ bedeutet ›vom Früheren her‹ – gemeint ist von dem her, was aller Erfahrung vorausliegt und von ihr unabhängig ist; der Gegenbegriff ist ›a posteriori‹, ›vom Späteren her‹ – also abhängig von Erfahrung.) Der Gesamtkontext der Kritik der reinen Vernunft macht aber klar, daß die transzendentale »Erkenntnis« selbst nicht von der Art der skeptisch thematisierten synthetischen Urteile (Erweiterungsurteile) a priori sein kann, die Kant in Mathematik und Naturwissenschaft als wirklich und in der Metaphysik als problematisch ansah: Die Transzendentalphilosophie Kants enthält selbst keine synthetischen Urteile a priori; sie ist nicht selbst Metaphysik, sondern kritische Propädeutik für »jede künftige Metaphysik« (vgl. den Titel der ProlegomenaKritik der reinen VernunftKritik der reinen Vernunft