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Helge Sobik

Lesereise Dubai

Helge Sobik

Lesereise Dubai

Dreitausend Stufen in den
Himmel

Picus Verlag Wien

Copyright © 2006 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Umfassend überarbeitete Neuausgabe 2016
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Helge Sobik
ISBN 978-3-7117-1071-0
eISBN 978-3-7117-5325-0

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Inhalt

Der Strand, an dem alles begann

Ein Tag in der Biografie eines Traumstrands: Jumeirah Beach in Dubai und wie aus einem Dorf am Golf ein Ferienziel wurde

Haie in der Umkleidekabine

Beim Einkaufen mit dem Glasbodenboot fahren: Shopping voller Verrücktheiten in Dubai

Tom Cruise unter der goldenen Kuppel

Gefragte Location: Auf Filmspuren durch Dubai

Erster auf der Welt

Aus Versehen entstanden: Ein Naturschutzgebiet vor Dubais Küste, Brutstätte seltener Schildkröten und Wasservögel

Bademeister in der Wüste

Von der Lust auf Wasser

Die dreitausend Stufen in den Himmel

Burj Khalifa: Noch immer umweht das höchste Haus der Welt ein Mantel der Geheimnisse

Auf der Palme

Im Alltag angekommen: Zwei Anbieter vermieten Luxusvillen auf Dubais Landgewinnung The Palm als Ferienhäuser

Das Geheimnis von Atlantis

Vermeintliche Ruinen einer untergegangenen technisierten Hochkultur bilden das geheimnisvolle Herz des Hotels Atlantis The Palm

Als Fensterputzer in Dubai

Getroffen: Alan Aguilar von den Philippinen

Von Peshawar in den Rolls Royce

Paschtunen am Steuer, Bengalen am Herd, Sri Lanker im Straßenbau: Die Gastarbeiter in Dubai

Hobby: Bauwerke dichten

Der Mann hinter der Erfolgsgeschichte Dubais: Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoum

Hoch hinaus

Zu Besuch bei den Menschen ganz oben in Dubais Hotelwolkenkratzern

Auf halbem Weg zu den Sternen

Burj Khalifa: Wer im höchsten Restaurant der Welt essen will, muss mindestens sechs Wochen im Voraus reservieren – und gut bei Kasse sein

Leidenschaft Golf

Dubai will ein Magnet für Jachtbesitzer werden

Mit glühenden Kohlen

Getroffen: Wasserpfeifen-Präparierer Aladin Ashry aus Kairo

Requiem für George

Vorhang auf per Fernbedienung: Zwischenbilanz für das luxuriöseste Hotel der Welt

Der Strand, an dem alles begann

Ein Tag in der Biografie eines Traumstrands: Jumeirah Beach in Dubai und wie aus einem Dorf am Golf ein Ferienziel wurde

Eine halbe Stunde nach Einbruch der Dunkelheit sind nur noch die Träumer am Strand. Die, die im Stillen auf einer Liege oder im warmen Sand sitzen, auf den hellen Mond schauen, auf die Sterne warten – und darauf, dass das Burj Al Arab in vierhundert Metern Entfernung im Minutentakt die Farbe der beleuchteten Teflonfassade zu wechseln beginnt. Darauf, dass sie erst in Orange, später in Violett und bald darauf in Grün erstrahlt. Die anderen, die hier den Tag in der Sonne verbracht haben, sind bereits gegangen – dorthin, wo jetzt das Leben spielt: in die Bars mit der lauten Musik, die Lounges mit den chilligen Klängen, die Restaurants mit und ohne Bauchtänzerin hundertfünfzig Meter weiter in den Hotels mit eigenem Basar, mit Cafés, Pools, künstlicher Lagune, mit Kanälen durch den Garten und sogar mit Rundfahrtbooten.

Ein Vater hockt diesen Abend noch auf den Knien neben seinem kleinen Sohn, ganz vorne im Sand nur haarscharf außerhalb der Reichweite der sanften Wellen des Persischen Golfs. Sie bauen keine Burgen mehr wie früher, sie bauen Türme ganz inspiriert von der Umgebung. Im Sand. Aus Sand. Verziert mit Steinchen und Muschelschalen. Und der Kleine ist offenbar der Ansicht gewesen, dass sein neuester Tower nicht termingerecht zu Sonnenuntergang vollendet war und arbeitet nun bei Dunkelheit weiter – wie es sich für Dubai, für eine Boom-Stadt wie diese, gehört. Bis Papa in irgendeiner Sprache doch noch »Feierabend« ruft, schnell selber mit Hand anlegt und eilig die letzten Muschelschalen in die Fassade drückt und den zufriedenen kleinen Baumeister schließlich Richtung Hotelzimmer geleitet.

Es ist der Strand, an dem alles begann. Der Strand, an dem das erste Küstenhotel Dubais stand. Chicago Beach hieß es, war anfangs vor allem Quartier für Zugereiste, die mit der OffshoreÖlindustrie zu tun hatten – und lag damals noch etwa zwanzig Kilometer außerhalb des Stadtzentrums im Nichts: als scheinbar sinnfreier Fixpunkt an einer wie willkürlich gewählten Stelle, wo die Wüste auf den Golf traf. Dort, wo die Begriffe verschwammen. Die letzten zweihundert Meter Wüste bis zum Saum der Wellen nannten Fremde, die es hierher verschlug, »Strand« und freuten sich daran. Sie lobten ihn als schön und lang und sauber. Für die Einheimischen blieb es die Wüste: die Gegend, in der sie leben. Die, aus der sie kommen. Die, in der sie aufgewachsen sind. Für sie machte es keinen Unterschied, hier oder siebzig Kilometer tiefer im Landesinneren im Sand zu sitzen. Und niemals werden sie geahnt haben, dass der Bauplatz des Chicago Beach Hotels heute mit dem verschmolzen ist, was vor dreißig Jahren Dubai war und jene zwanzig Kilometer entfernt lag.

Die Leute hier erzählen sich eine Geschichte, wonach die Karriere des Emirats als Urlaubsdestination mit einer Zufallsbegegnung begann. Scheich Mohammed bin Rashid, einer der Söhne des damaligen Herrschers, fuhr demnach eines sonnigen Tages mit seinem Geländewagen auf diesem Strand spazieren – aus Spaß und ohne konkretes Ziel. Zu seiner großen Überraschung sah er in der Ferne diesmal Menschen im Sand. Sie hatten nur Badesachen an. Nichts, was sie vor der gnadenlosen Sonne schützte – ein Mann, eine Frau, ihr Kind. Sie wollten gerade im Golf schwimmen gehen, als der Herrschersohn angebraust kam, seinen Landrover stoppte und sie auf Englisch ansprach. Woher sie kämen, wie es ihnen hier in seiner Heimat gefalle und was sie vorhätten, wollte er wissen – und fand den Gedanken, ausgerechnet hier baden zu gehen, offenbar ein wenig seltsam. Aus Deutschland seien sie, auf Urlaub, gekommen wegen der herrlichen Sonne, der Hitze sogar. Sie seien hier, weil keine Wolken am Himmel seien. Weil es diesen sensationellen, fast menschenleeren Strand gebe. Weil das Meer flach abfalle und mit siebenundzwanzig Grad Wassertemperatur herrlich warm sei und weil Dubai von ihrem Zuhause nur fünfeinhalb Flugstunden entfernt sei, kaum weiter als die Kanaren. Sie schwärmten dem fassungslosen Herrschersohn in einer Weise von seiner Heimat vor, wie er sie nie gesehen hatte.

An den Strand gingen die Einheimischen allenfalls lange nach Einbruch der Dunkelheit, um ein Feuerchen zu machen, zusammen zu singen, zu plaudern. Das Meer war für sie eine Fläche, auf der sich Fischerboote und Handelsschiffe bewegten, aber keine Badewanne. Mohammed bin Rashid erkannte in diesem Gespräch, welches Potenzial es zu heben galt. Das Land seines Vaters könnte ein blühendes Touristenziel werden, ein Urlaubermagnet. Eines, das weit mehr bietet, als einen Halbtagesausflug auf dem Rücken eines Kamels durch die Wüste und einen Folkloreabend. Den Flughafen gab es bereits, dazu erste Nonstop-Verbindungen nach Europa. Was fehlte, waren Hotels am Wasser: mehr als das eine. Bessere. Großartige. Welche mit Weitererzählwert.

Heute ist derselbe Mohammed bin Rashid al Maktoum Herrscher von Dubai. Im Januar 2006 bestieg er den Thron als Nachfolger seines Bruders Maktoum bin Rashid al Maktoum. Und heute gibt es knapp fünfundneunzigtausend Hotelzimmer und -appartements in seiner Heimat, Abermillionen von Übernachtungen, Hunderte tägliche Flugverbindungen in alle Himmelsrichtungen. Dubai hat viel aus dem gemacht, was da war. Und viel hinzugebaut. Aber noch immer ist Jumeirah Beach der schönste Strand dieses Emirats. Es ist der Strand, wo alles begann – wenn denn die Legende so stimmt. Es spricht einiges dafür, obwohl auch auf die jeweilige Zuhörerschaft adaptierte Versionen kursieren, in denen die Deutschen in Wahrheit Franzosen oder Engländer waren …

Das in den siebziger Jahren errichtete Chicago Beach Hotel jedenfalls wurde 1997 abgerissen und bereits kurz zuvor durch das erheblich größere Jumeirah Beach Hotel ersetzt. Wenig später folgte auf einer kleinen künstlichen Insel unmittelbar vor diesem Strand das Burj Al Arab, dessen elegante Form an das Segel einer Dhau erinnert und zum Icon mit weltweitem Wiedererkennungswert für Dubai geworden ist. 2004 folgte der Madinat-Jumeirah-Komplex wiederum direkt an diesem Strand, im Herbst 2016 wird er um ein weiteres, ein viertes Hotel ergänzt. Betreiber ist jeweils die Hotelgruppe Jumeirah, deren Name auf jenen Strand verweist – und an der die Herrscherfamilie 99,67 Prozent der Anteile hält. Wem wiederum die Immobilien gehören? Einem Mann, der offenbar über Weitblick verfügt – spätestens seit einer Zufallsbegegnung mit ein paar Badeurlaubern. Sein Name: Mohammed bin Rashid al Maktoum.

Mit der Geschichte geht vor Ort niemand hausieren, sie steht nicht in den Reiseunterlagen der Gäste, kaum ein Urlauber kennt sie. Nicht der Vater mit dem architektonisch interessierten Nachwuchs beim Türmebauen am Strand, auch nicht die Männer aus Sri Lanka und Indien, die tagsüber als Kellner in den Beach-Bars arbeiten und nach Einbruch der Dunkelheit die Stühle an den vielen kleinen Tischchen unter den Sonnenschirmen zurechtrücken und später die Polster der Liegen für die Stunden der Nacht im Schein von Taschenlampen einsammeln.

Das auf Stelzen gut achtzig Meter vor der Küste errichtete Fischrestaurant Pierchic leuchtet derweil im Schein blauer Lichtröhren, und auch am Horizont hat längst jemand den Saum aus Hotelkolossen auf dem gut zwei, drei Kilometer Luftlinie entfernten Ring von The Palm angeknipst. Weiter hinten im Hotel feiern an diesem Abend inzwischen Schotten Hochzeit – er im Kilt, sie ganz in Weiß. Er heißt nur noch »Darling«, wenn sie von ihm spricht. Und umgekehrt ist es nicht anders. Über die paar schönen Tage in den Emiraten hinweg sind die Vornamen abgeschafft, und für die Hochzeitsgesellschaft gibt es britische Tanzmusik und viel Bier. Einen halben Tag vor der Zeremonie mit eingeflogenem Pastor lagen die beiden noch nebeneinander im Sand – jeder mit einem bunten Fruchtcocktail in der Hand.

Briten stellen heute den höchsten Anteil der Urlauber am Jumeirah Beach – dicht gefolgt von Russen, Deutschen und von immer mehr Asiaten aus unterschiedlichsten Herkunftsländern. Manche kommen seit Jahren wieder: wie das alte Ehepaar aus London, das mal für einige Monate in Dubai gelebt hat – ungefähr zu der Zeit, in der die Legende um Scheich Mohammed spielt. Die beiden haben damals regelmäßig an den Wochenenden dort im Sand gezeltet, wo sich heute der große Pool von Madinat Jumeirah befindet. Bei ihrem letzten Besuch haben sie dem Hotelmanager ein paar Abzüge ihrer Schwarz-Weiß-Aufnahmen von damals geschenkt. Er hat versprochen, sie rahmen zu lassen und in einem der Flure aufzuhängen.

Spät in der Nacht ist es so still wie früher an diesem Strand: nur das Rauschen des Meeres, gegen Morgen der eine oder andere Schrei eines Seevogels. Und das Knirschen der eigenen Schritte – keine Musik mehr aus dem Hinterland. Die Hotelgäste schlafen tief und fest, die Rundfahrtboote liegen an den Kais der künstlichen Lagune und sind fest vertäut.

Dreiundfünfzig Mitarbeiter sind für die Sauberkeit des Sandes zuständig, die erste Schicht beginnt noch bei Dunkelheit morgens um fünf und entfernt Algen und etwaiges Treibgut der Nacht. Und noch bevor die Sonne wieder aufgeht und den Horizont für Momente in milchig-rotes Licht tunkt, sind bereits die ersten Jogger unterwegs – bei zweiundzwanzig Grad statt der über vierzig, auf die das Thermometer in der Mittagszeit wieder klettern wird. Nur Minuten später beziehen die Rettungsschwimmer in ihren rot-weißen Uniformen wieder ihre vierundvierzig Hochsitze auf zwei Küstenkilometern Hotelstrand. Und noch einen kleinen Moment später liegen auf den ersten Liegen Handtücher und Zeitungen, ohne dass sich deren Besitzer bislang zu erkennen geben. Manch einer schleicht lautlos im Bademantel herbei, als wäre er nur ein Phantom, lässt ein paar Dinge auf der Lieblingsliege fallen und verschwindet wieder im Bett seines Hotelzimmers, um erst gegen Mittag, gut ausgeschlafen, nach den Habseligkeiten zu schauen. Dabei ist derlei Mühe völlig unnötig. Es gibt knapp tausendachthundert Holzliegen hier – drei Viertel davon am Strand, die anderen an den Pools.

Ramzi aus Mombasa, Yussuf aus Malindi, Hamid aus Khartoum und viele andere: Sie falten die frisch gewaschenen rot-orangenen Badehandtücher auf halbe Breite, rollen sie auf, geben sie aus, eskortieren die Gäste auf Wunsch von ihrem Unterstand aus zur Liege der Wahl und breiten jene Frotteelaken aus. Einer von ihnen hat mal damit angefangen, aus den Handtüchern Schwäne und Elefanten zu falten und zu knoten – und die anderen haben das begeistert übernommen. Zur Freude aller Beteiligten.

Sie alle lächeln, wenn sie von zu Hause erzählen. Sie alle freuen sich, wenn mal jemand fragt. Ein wenig Wehmut scheint in solchen Momenten aus den Blicken ablesbar zu sein – und dann leuchten da viele schöne Erinnerungen auf. An früher, an den letzten Heimatbesuch vor ein paar Monaten, dazu die Sehnsucht, die Vorfreude auf den nächsten in ein paar Monaten wieder.

Im Hintergrund hat ein Kollege die Musik in der Beach-Bar angeschaltet, und aus den Boxen schallt Ravels »Bolero«. Nicht zu laut. Genau so, dass es passt. Schnell herrscht Betrieb, gehen die ersten Bestellungen ein, planschen Kinder im Wasser, werfen sich Erwachsene Bälle zu, schwimmen Badenixen ihre Runden. Mittags sind längst die ersten Flaschen Moët-Chandon im silbernen eisgefüllten Kühler an einzelne Liegestühle geordert – Kostenpunkt hundertvierzig Dirham das Glas, siebenhundertneunzig die Flasche, umgerechnet knapp achtunddreißig beziehungsweise knapp zweihundert Euro. Günstiger ist der Vodka Russian Standard oder der Gin Bombay Sapphire für zehn oder das Bier für neun Euro. Der Strand käme auch gut ohne aus, und längst nicht jeder bestellt. Aber zum angestrebten Luxus gehört auch die Freiheit, ordern zu können, wonach einem gerade der Sinn stehen mag. Das schließt Alkoholika ein.

Am frühen Nachmittag sind die Menschen bereits ein kleines bisschen brauner als noch am Morgen, manche etwas röter. Längst ist keine Spur mehr von der gewissen Handtuchwerferhektik. Alle scheinen ganz wunderbar entspannt, rekeln sich auf den Liegen. Und Mattheus Lotter schaut in relaxte Mienen.

Seine Muskeln sehen so aus, als wären sie eigentlich für ein zwei Nummern größeres T-Shirt gemacht, mit seinem kahlen Kopf und dem breiten Grinsen wirkt er wie eine gut gelaunte Mischung aus Hollywoodstar und Zeichentrickfigur: Jener Matt aus Kapstadt ist Boss am Beach und zuständig dafür, dass jeder vom Strand mit einem zufriedenen Gesicht in sein Hotel zurückkehrt. Was ihm selber am besten gefällt? »Der Morgen am Strand! Im Winter, wenn es in der Früh noch frisch ist und tagsüber wieder warm wird! Der Morgenkaffee hier mit Blick auf den Golf!« Mehr als fünf Jahre ist er jetzt schon hier, die Freude an diesem Ort, an »seinem« Strand, hat er in all der Zeit nicht verloren. Und am Meer erst recht nicht: »Ich mag den Ozean. Viel Wasser. Egal, ob in Kapstadt oder hier.«