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Walter Schlorhaufer
Glasfeder

 

 

Edition Brenner-Forum

Herausgegeben von Sieglinde Klettenhammer und Ulrike Tanzer

Band 11

Band 1–10 herausgegeben von

Johann Holzner und Wolfgang Wiesmüller

Walter Schlorhaufer

Glasfeder

Werke und Materialien

Herausgegeben von
Johann Holzner, Bettina Schlorhaufer, Anton Unterkircher

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© 2016 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

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Internet: www.studienverlag.at

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ISBN 978-3-7065-5815-0

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Horetzeder

Satz: Barbara Halder, Franz Xaver Sitter (Bildteil)

Umschlag: Studienverlag/Georg Toll, www.tollmedia.at

Umschlagabbildung: Walter Schlorhaufer, 1960er Jahre (Familienbesitz)

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhalt

Erzählungen

Dignös. Eine Kindheit

Der Dienstgang

Mein Freund Nos ist gestorben

Heimkehr

Die neue Adresse

Die vierzig Märtyrer

Piece

Gedichte 1947–1960

Die Sägemühle

Eine der Nächte

An diesen Mohn (Ein Bild des Malers H. Rehm)

Der Täufer (Mk 6, 28)

Es war da irgendeiner, der zum Sterben ging

Pfad

Schlucht

Wasser

Vor dir – neben dir

Gedichte 1992–2001

Peter Prandstetter an Walter Schlorhaufer, 1.3.1995

„Zurück zur Geburt“

„Es flaut ab“

Von den Steinen (1)

Von den Steinen (2)

„Denk nachts“

Erfunden

„Vasenglas mit Winterflieder“

„Wolkenfeuer über dem Bündel“

„Entrinnen“

„Ein Liebender stirbt jede Nacht“

„Kein Südbett“

„Da schrillt noch die Glocke“

„Von der Lambdanaht war zu sprechen“

„Wer wollt“

Kelimteppich

„Träum ich“

„Bist genannt und angesagt“

„Wo ist der Ort“

„Die Seel ist zu spüren“

„Klingt Glas in allen Tönen“

„Grau fällt das Grün“

„Und du auch noch“

„Den Kummer vergraben“

„Das Letzte“

„Zieh dich aus“

„Wenn die Toten auferstünden“

„Wünsche gezogen“

„Das grüne Dunkel“

„Glasüberzogen das“

„Morgen in der Röte“

Freitag

Tomba

„Cor a Kur“

Laudanum

Fragile

„Abgrund der Bewegungslosen“

„An anderem Ort“

„Hingelegt was einmal Mond war quer“

„Stroh gezündet“

„Die Geburt einer“

„Taghell entsprungen“

Abfahrt

„Steigt die Lieb“

„Als die Flocken“

„Zum Opfer gefallen“

„Taumel aus dem 19. Jhdt.“

„Depresso“

„Gedächtnis braucht der Stein“

„Als da noch Landschaft war“

„Auf waagrechtem Komma“

„Der Glocken Mächtigkeit“

„Die Wohltat“

„Im Alter“

„Von den Fragen“

„Im Enggestrickten“

„Hinter dem Gitter“

„Daktylus Taube“

„Ruhe, mein Ohr“

„Klagt der Wind“

„Wie den Winter überstehen“

Bilder

Bettina Schlorhaufer: Walter Schlorhaufer, „Maler“

Schriften zur Literatur und Kunst

Über Dichten und Schreiben

Der taufrische Karl Kraus

Zu Ludwig von Fickers achtzigstem Geburtstag

Das Problem der Polarität. Gedanke und Form im Kunstwerk

Korrespondenzen

„Pardon! Ich vergaß auf Deinen Briefnachlaß!“ Aus Briefen von W. Schlorhaufer an Rudolf Stibill und Peter Zwetkoff

Über Walter Schlorhaufer

Herbert Eisenreich: Notiz zu einem Gedicht

Felix Braun an Walter Schlorhaufer, 28.4.1953

Otto Grünmandl an Walter Schlorhaufer, 18.12.1956

Rudolf Henz: Walter Schlorhaufer, „Tag der Steine“

Bert Breit: „Für Walter“

Peter Prandstetter: Originalgraphik für den Umschlag von Unverloren, 1993

Hans Raimund: Herbst muß sein. Gedichte von Walter Schlorhaufer

Michael Guttenbrunner an Bettina Schlorhaufer, 8.5.1998

Johann Holzner: Walter Schlorhaufer, Arzt und Schriftsteller

Martin Sailer: Schreiben und Hören: Das Spiel des Walter Schlorhaufer. Erinnerungen an einen großen Hörspielautor

Anton Unterkircher: „In dankbarer Verehrung“. Walter Schlorhaufer und Ludwig von Ficker

Bettina Schlorhaufer: Walter Schlorhaufer (1920–2006)

Bibliographie

Editorische Notiz

Erzählungen

Dignös

Eine Kindheit

An einem breiten Haus seiner Kindheit, das die Farbe wechselte wie es die Witterung vorschrieb, war an der mächtigen Vorderfront, in der Mitte des Mauerbandes zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk, noch der farbwelke Umriß einer großen Glocke zu erkennen und darüber, als wollte sie sich langsam einer unwürdigen Zeit entziehen, die Gottesmutter. Vielleicht waren früher einmal auch noch grüne Ranken um das Bildnis geschlungen gewesen, denn man hatte beim langen Hinaufsehen den Eindruck, als sei etwas Dürres, Vertrocknetes abgefallen. War es nun das Glockenbild oder handelte es sich um wirkliche Überlieferung, jedenfalls ging das Gerede bei den Leuten, in dem Hause sei in alter Zeit einmal eine Glockengießerei gewesen und nach ihr habe eine kleine Zündholzfabrik ihren Einzug gehalten. Ob Wahrheit oder nicht, jedenfalls betrieb zu ebener Erde ein Bäckermeister seinen Laden, der im ganzen Ort als „Glockenbäck“ bekannt war. Das war der Großvater. Aber auch der wußte nicht mehr darüber zu sagen, als daß er Geschäft und Ofen von einem Vorgänger übernommen habe, der aus irgendeinem Grund fortgezogen war. So brauchte es also für Leonhard Dignös nicht mehr Zeichen, um ein besonderes Spiel zu beginnen, das anderen Kindern nicht verraten werden durfte. Es bedeutete ihm kein Wunder, wenn nach langem Hinaufschauen zu diesem Glockenfleck, die Glocke sich langsam und behäbig abschwang, wie ein großer Vogel am Boden aufsetzte und ihn, nachdem sie ihren weiten Mund geöffnet hatte, im Schwall eines ausgestoßenen Tones auf singenden klingenden Wellen davontrug, weit hinaus, im Flug um die Erde. Wenn er dann die Augen wieder aufmachte, stürzte er benommen vom ohrenvollen Gebrause seines Erlebnisses auf den Weltenfleck zurück, der ihm zugewiesen war. Dieses Treiben wurde zum lockenden Spiel und er übte es wieder und immer wieder und wurde es nicht müde, sich der Glocke anheim zu geben. Ihre runde Beleibtheit bedeutete ihm warme, mütterliche Geborgenheit; ihr schallender Mund versprach ihm das ersehnte Großsein; ihre Beredtheit war ihm ein Wunder an Ausdruck und die Landweite ihres Tönens überholte selbst die Kühnheit seiner Träume. Das wirkte in ihm nach, obwohl er lange nicht über das Erlebnis sprach. Schließlich brachte es seine Zunge nicht fertig, das Geheimnis zu bewahren. Ganz von selbst ergab es sich, daß alles Edle und Schöne, ja alles, was unter einem guten Stern stand und besonderes Lob verdiente, glockenschön und glockengut war. Ist etwas von unermeßlicher Weite gewesen, dann war es glockenweit. Der Himmel erschien ihm glockenhoch. Seine Mutter, die ihn wahrhaft liebte, wunderte sich nicht wenig, als er einmal meinte, er habe sie glockenlieb. Für ihn war das unsagbar viel. So kam es, daß die Mutter es auch wie eine Selbstverständlichkeit hinnahm, alles, was Leonhard liebte, läuten zu lassen: Es läutete ein armes Kind, es läuteten die Blumen in Ruch und Farbe, es läuteten die Bilder an der Wand und es läutete das Licht. Ein frohes Erstaunen leuchtete aus Leonhards Gesicht, als es seiner Mutter einmal einfiel, eine Glockenspeise zu kochen. Sie war wunderbar. Da war es nur noch ein kleiner Schritt, daß irgendetwas Wunderliches glockte. Was das wirklich zu bedeuten hatte, war Leonhard Dignös nicht ganz klar. Sicher aber war es die tiefe Liebe und Hingezogenheit zum Gegenstand. Gegenstand? Längst war die Glocke kein Ding mehr, sondern eine wesensvolle Persönlichkeit, ausgestattet mit allen ihren Möglichkeiten, und wer wollte beschwören, daß Gott nicht eine Glocke war und die vielen Engel der mütterlichen Gebete nicht ein Wald von silbernen Glöcklein. Allmählich nur verdämmerte dieses Spiel mit der Glocke, wenn es auch nie ganz seine Anziehungskraft verlor. Die Liebe zur Sache blieb ebenso erhalten wie die Erinnerung an dieses kindliche Treiben und verlöschte in seinem Leben nie mehr. Vor allem aber trug es ihm den Beinamen „Glockengießer“ ein, den er selbst sehr gern gebrauchte und von dem er später nicht wußte, ob er ihn selbst erfunden oder ob ihm diesen die Mutter einmal wegen seiner kindlichen Leidenschaft verliehen hatte. Mit dem Eintritt in die Schule begann eine emsige Zeit, in der sich manchmal alles zu überstürzen schien. Nicht nur daß man seinen Kopf aushöhlte wie einen Kürbis, dessen weichen Inhalt man verwarf wie seine Träume, sondern man stopfte ihn auch mit strohigen Zahlen und Buchstaben voll, deren Formen er nur langsam erlernen konnte. Alles wandelte sich und zerfiel gleichsam in zwei Teile, in einen dunklen und in einen hellen, in einen guten und in einen bösen. Jedes Ding bekam zwei Seiten und wirkte verschieden, je nachdem man es groß oder klein schreiben mußte. So stellte sich ein eigentümliches Verhältnis zu den Schaufenstern seiner täglichen Straßen her. Vielleicht war eine gestikulierende Reklamefigur in einem Geschäft nicht bloß der Anlaß dazu, sie nachzuäffen bis er zu grimassieren begann, sondern auch der Anlaß zu dem Wunschtraum, einmal in einem solchen Schaufenster wohnen und schlafen zu dürfen, in dem an schönen, weichen Stoffen und seidenen Pölstern kein Mangel war. Warum er auf diese Idee kam, hätte er nicht zu sagen gewußt, schließlich lag er auch daheim nicht hart. Möglich, daß ihn der abenteuerliche Reiz des Überflusses dazu veranlaßte. Dann aber gab es auch Schaufensterscheiben, an denen er nicht ohne Ekel vorüberging. Noch als Erwachsener schüttelte es ihn beim Anblick eines Friseurladens, in dessen Schaufenster die abgeschnittenen Zöpfe an einer Schnur aufgereiht hingen wie Gehenkte. Der Geschmack einer Haarsuppe stieg in ihm auf, wenn die wachsgelben Büsten der Damen ihr rotes Lächeln wie einen Schminktiegel auf die Straße warfen, dabei aber nicht bemerkten, daß sich ihre Perücken verschoben hatten und ihre Schädel die bleiche Glätte eines Totenkopfes feilboten. Die kleinen Fläschchen mit Pomade, deren Etiketten sich am Inhalt vollgesogen hatten, die kalte Steifheit der Büsten und vieles andere verursachte schmierige Gefühle, so daß er beim Vorübergehen hätte die Augen schließen mögen, wenn es nicht auch lustvoll gewesen wäre, gerade diesen Ekel schamvoll aufsteigen zu fühlen. Als er auf die Heilige Kommunion vorbereitet wurde und aus diesem Grund ein Paar schwarze Lackschuhe bekommen hatte, starb plötzlich sein Großvater. Er bekam ihn nicht mehr zu Gesicht und hörte sagen, daß er nie mehr wiederkäme. Alle Leute im Haus waren aufgeregt und mit Geheimnissen beladen. Es kam Leonhard Dignös vor wie ein Bild von Weihnachten auf der Rückseite. Die beiden Lackschuhe hießen die Herren Canibal und waren sehr vornehm, denn auf ihren beiden Kappen vorne an der Zehenspitze spiegelte sich ihre unnahbare Haltung wider. Sie waren so vornehm, daß man sie nur bei Begräbnissen sah mit Frack und Zylinder. Sonst gab es sie nicht. Sie waren zwei Brüder, die irgendwo wohnen mußten, aber kein Mensch wußte wo. Sicher war es eine große unheimliche Wohnung, in der es immer etwas kalt war und nach Mottenpulver roch. Auch die besten Sachen der Mutter rochen danach, wenn die Wintersachen hervorgeholt wurden. Man konnte Dinge gar nicht mehr ehren, als daß man sie mit den weißen glänzenden Kügelchen versah, die abscheulich schmeckten. Sie empfingen durch diesen Geruch eine seltsame Weihe, so daß die beiden vornehmen Herrn unbedingt dazu gehörten. Die beiden hatten natürlich unter dem Zylinder versteckt eine Glatze, die wie der Fußboden der Küche am Samstag Abend war und die sich die beiden Herren anschafften, weil sie ebenso ungern zum Friseur gingen wie Leonhard. Außerdem hatten alle Herren, die einander mit „Ich habe die Ehre“ begrüßten, kahle Köpfe. Einige Wochen, nachdem man seinen Großvater zu Grabe getragen hatte, geschah es. Leonhards Lehrer hat im Klassenraum ein kleines Geldstück gefunden, das Leonhard unter dem Vorwand, er hätte es verloren, abholte. Weshalb er das tat, wußte er selbst nicht. Kopflos, planlos und schnell war es geschehen. Nicht etwa daß er nicht kleine Sehnsüchte gehabt hätte, die er sich mit dem Geldstück erwerben hätte können. Natürlich, deren Reihe riß nicht ab. Kandiszucker war auch darunter, aber kaum im Besitz der Münze, hatte er keinen Wunsch mehr. Auch die Angst bewirkte diesen sonderbaren Zustand nicht. Sie kroch erst später zusammen mit dem fast vergessenen Geldstück aus der Tiefe des Hosensackes hervor. Dann aber ließ sie ihn nicht mehr los und jagte ihn von Gedanken zu Gedanken. Es war auch nicht damit abgetan, daß er zur Beichte ging, denn er vermochte die Buße nicht zu erfüllen, nämlich das Geldstück mit einem offenen Geständnis wieder abzuliefern. Gleichzeitig schlich sich die Vorstellung ein, der verstorbene Großvater habe den Vorgang beobachtet und sei imstande, die Folgen des Diebstahls herauf zu beschwören, die er so fürchtete. So war es nicht verwunderlich, daß er immer wieder an seinen Großvater dachte und sich seines Lebens erinnerte. Der Großvater ist ebenso gutmütig wie dick gewesen. Leonhard versuchte daher mit allen Mitteln Verzeihung vom Verstorbenen zu erlangen. Leonhards Mutter, auch anderen fiel auf, wie sehr er sich um das Grab kümmerte. Er brachte Blumen, zupfte sorgfältig jedes Gräschen vom Grabhügel, entfernte jedes Steinchen, das nicht hingehörte. Doch seine Unruhe ließ nicht nach, im Gegenteil sie verstärkte sich täglich und das ersehnte Gefühl der Verzeihung überkam ihn nicht. Endlich hatte er den rettenden Gedanken. Eines Abends vor dem Einschlafen schob sich ein Vorfall in sein Bewußtsein, den er vergessen hatte. Es fiel ihm nämlich ein, daß ihm sein Großvater in leicht angetrunkenem Zustand einen Stock über den Kopf geschlagen hatte; zwar nur leichthin, aber ohne Grund. Darüber war er damals sehr gekränkt. Am nächsten Morgen stand sein Entschluß fest, die Angelegenheit endgültig abzutun. Er holte seine sorgsam verwahrte, unheilvolle Beute aus ihrem Versteck und trottete zum Friedhof. Dort grub er das Geldstück in die Erde des Grabes und sagte: „Großvater, du hast mich einmal mit einem Stock geschlagen. Nur so, weil du es wolltest, weil du zu viel Wein getrunken hattest. Das war nicht recht von dir, aber ich verzeihe dir und dann ist alles gut. Du aber mußt auch diese Münze vergessen, die ich bei dir vergraben habe.“ Der Großvater, rund wie ein Faß, schien zu nicken. Seit dieser Zeit stand Leonhard mit ihm in geheimnisvoller Weise in Verbindung. Er schaut zu ihm auf wie zu einem persönlichen Nothelfer. Indessen schob der Großvater seinen Bauch über die Wolken hin, zwirbelte vergnügt an seinem Schnurrbart und dachte an sein Leben. War er nicht in einem schönen Land geboren von einer Mutter, die eine herrliche Frau gewesen sein muß. Alles ließ sie liegen und stehen und machte sich auf nach Amerika. Nach Amerika! Er hätte es nie zustande gebracht, nach Amerika zu gehen, auch wenn er kein Kind hätte zurücklassen müssen. Und erst sein Vater! Ein reicher Mann in Eisenkappel, der mit einer großen Banknote im Wirtshaus seine Zigarre in Brand steckte. Zum Glück hatte der einen guten Bekannten, einen Bäckermeister, der ihm einen neuen Namen gab und ihn das Bäckerhandwerk lehrte mit viel Prügel. Dann kam die Frau des Lebens, die Marie mit den schönen Ohren, und dann die Kinder. Zwar nur Mädchen, aber gesund. Längst war der Großvater hinter weißen Wolken, wie sie auf dem Deckengemälde der Kirche zu sehen waren, verschwunden. Es war gegen Ende der Volksschulzeit, als seine Mutter Leonhard in die städtische Musikschule schickte. Zweimal in der Woche fand er sich nachmittags dort ein. Da waren lauter fremde Kinder, darunter auch ein Mädchen, das dem Begriff Schule etwas Neues, bisher nie Erlebtes hinzufügte. Es war ein Kellerzimmer, in dem der Unterricht stattfand. In seinen verschmierten Fenstern gingen die Beine der Straßenpassanten selbständig, in unregelmäßigen Abständen vorüber, und der Umstand, daß sie einem nicht auf den Kopf stiegen, erreichte einen hohen Grad von Zufälligkeit. Dazu kam noch, daß sie durch Gitterstäbe, die man von außen rostrot, von innen aber schwarz sah, eine sonderbare Unterteilung erhielten. Auch schlugen diese Eisenstäbe Schattenkreuze auf den Boden des fast leeren Raumes und schnitten die Geisterbeine der Vorübergehenden entzwei, ohne daß sie auseinander fielen, wie sonst Getrenntes zu tun pflegt. Auch der eigene Leib und die Körper der anderen zuckten nicht, wenn die Beine wie schwarze Messerklingen durch den Raum glitten. Leonhard tastete heimlich nach den Stellen, durch die Schatten hin- und hinausgefahren waren, aber er spürte nichts. In den nächsten Stunden suchte er sich einen Platz aus, an welchem ihm möglichst wenig abgesägt wurde. Mit Neugier sah er zu den Kindern hin, die es so traf, daß sie geköpft wurden. Er hielt den Atem an, sog sich an diesem gefährlichen Schattenspiel fest, aber es passierte nichts. Niemand schien diese Schermesser zu beachten, da war auch er zum Schweigen verurteilt. Er wurde etwas gefragt, hörte es, verstand aber nichts, denn er sah, wie aus der bestimmten Ecke, in der die meisten Kinder ihren Kopf wagten, ein gleichaltriges Mädchen ihn anschaute, so von der Seite her und mit einem gewissen Unterton des Heimlichen Worte zu flüstern schien. Sicher wollte sie ihm etwas sagen. Es stieg ihm eine Röte ins Gesicht so von den Ohren her. Plötzlich bewegte sich aus dem gegenüberliegenden Winkel wieder ein Schattenmesser auf den Hals dieses Mädchens zu. Der Schatten mußte den Hals treffen. In der Sekunde, in der das Schattengleiten dauern mochte, überfiel ihn die Angst, das Mädchen könnte sterben. Doch das schwarze Messer glitt über das Mädchen hinweg, schnitt allen Umstehenden durch den Hals, so daß sie die Mäuler aufrissen und ein großes rundes A hören ließen oder so etwas ähnliches. Damit war klar, daß auch er mitsingen sollte. Die Tage der nächsten Unterrichtsstunden waren Regentage; jedenfalls hatten die Beine in den Kellerfenstern keine Folgen und plagten Leonhard nicht. Er bekam Gelegenheit, am Unterricht Versäumtes nachzuholen. Er tat dies rasch und leicht. Wichtiger war ihm das unablässige Hinschauen zu dem Mädchenkopf. Meistens war es so, daß sich das Mädchen abwandte, wenn er hinsah und umgekehrt. Es gab aber auch Augenblicke, die Verbindungen herstellten und das Gesicht des anderen offen darboten und dem Mädchen ein Lächeln entlockten. Leonhard Dignös faßte einen Entschluß. Als er am nächsten Sonnentag mit nur mühsam verborgener Erregung das Klassenzimmer betrat, um vieles früher als die anderen, hatte er Zeit genug, die Wanderung des Schattens abzuschätzen und den sichersten Platz zu suchen. Dann aber setzte er sich erwartungsvoll auf die erste Treppe der Kellerstiege. Viele waren schon an ihm vorbei gerannt, bis endlich das Mädchen kam, Arm in Arm mit zwei unwürdigen Freundinnen. Ruhig stand er auf, nahm das Mädchen bei der Hand und führte die nur leicht Widerstrebende im Klassenraum zu dem vorher ausgesuchten Platz. Dort drückte er ihren Arm mit zarter Bestimmtheit nach unten, hier sollte sie stehen bleiben, was ihn an das Festdrücken eines eben ausgesetzten Pflänzchen erinnerte. Er aber ging in die Ecke, in der alle geköpft wurden. Als sich dann das erste Schattenmesser aus dem Fenster löste, tat er noch schnell einen Blick zu ihr hinüber, zur Geretteten, und er sah, daß sie stehen geblieben war. Gleich darauf schoben sich Farbringe in seine Augen. Das folgende Dunkel nahm er nicht mehr zur Kenntnis. In einer fremden Wohnung, es war die des Schulwarts, fand er sich wieder. Es roch nach Essen und Kreidestaub. Sein Hemdkragen stand offen und jemand erklärte sich bereit, ihn nach Hause zu bringen. Er aber wollte das nicht. So ging er fort. Im Treppenhaus hörte er sie drunten singen. Als er im Freien war und an den Kellerfenstern vorübergehen mußte, wich er nicht aus. Er wußte, daß sie sicher stand und die anderen nicht geköpft werden konnten, wenn sie es nicht wollten. Und das wollten sie sicher nicht. Er ging und empfand soetwas wie Sehnsucht, nur wonach? Das erste Mal nicht nach der Mutter.

Der Dienstgang

Wie schwer es doch ist, das Bild einer Stadt zu entwerfen, selbst wenn man in ihr geboren wurde und immer in ihren Mauern gelebt hat. Von ihrer Mitte, von ihrem Zentrum aus gelingt es nicht, das ist der Blick in einer Röhre aufwärts. Es bleibt einem dabei nichts anderes übrig, als nach oben zu sehen und jenes gestanzte Loch im Himmel zu beobachten.

Also von der Peripherie her. Das ist in meinem Fall einfacher, denn ich brauche Sie nur zu bitten, mit einer runden Schere die verschiedenartigsten Wellenlinien aus einem Streifen Papier zu schneiden, wie man es in langweiligen Stunden manchmal zu tun pflegt. Sie bekommen dadurch sehr leicht ein Bild von den bewaldeten, rundköpfigen Bergen, die sich wie ein Faßreifen um die Häuser schließen. Erst nach langem Schauen wird man der kleinen Öffnungen in diesem Kessel gewahr, die auf ihren durchgezwängten Straßen Zu- und Abfluß gewähren und so recht erst das Leben ermöglichen. Von den Bergen wäre noch zu sagen, daß sie immer etwas zum Lachen reizen, nicht nur wegen ihrer oft komischen Formen. Aber ich bin der Meinung, daß es gerecht zugehen sollte. Auch die Bezeichnung eines Dinges sollte gerecht sein, und diese Steinköpfe verdienen den Namen Berg nicht; sie haben nichts zu tun mit jenen grausam nackten Erderhebungen, deren Häupter von Nebel umspült sind (so heißt es immer), auf denen die Götter wohnten. So weit der Rahmen. Es ist kein weiter Weg zur Stadtmitte, in der die alten Häuser um einen viereckigen Platz hocken wie die Katzen und schon seit so vielen Jahren lauern auf irgendetwas. Vergebens. Vielleicht warten sie darauf, daß die Menschen anders werden, besser werden. Auch der finstere Mann am äußersten Ende des Marktes (auf dem Platz werden auch heute noch Märkte abgehalten), den man einmal auf einen Steinsockel gestellt und dann vergessen hat, scheint auf etwas zu warten. Möglicherweise war er mit dem Festredner anläßlich der Feierlichkeiten zu Denkmalenthüllung nicht zufrieden oder er wäre lieber auf einem Pferd gesessen; ich kann es mir nicht denken.

Was er nicht noch erleben sollte!

Rund um das Denkmal ist ein kleiner grüner Streifen gelegt, bei dessen Betrachtung aus der Entfernung es einem schwerfällt anzunehmen, daß er im Herbst gelb wird, stirbt, um im nächsten Frühjahr wieder grün zu werden. Vielmehr denkt man an die gefärbte Holzwolle der Spielwarengeschäfte.

Dann kommt noch eine große Kirche, ganz in der Nähe des viereckigen Platzes, und mehrere kleine, die sich über die übrige Stadt verteilen und zu dem Inventar der fünf, sechs Straßen gehören, die alle mehr oder weniger umständlich in den Marktplatz münden.

In einem der schmalen Gäßchen wohne ich.

Die Bauten des äußeren Stadtteiles sehen nicht so krampfhaft und versessen aus wie die Häuser in der Mitte. Sie sind wohl jünger, haben eine weitere Sicht und auch bei schlechtem Wetter immer noch etwas Freundliches, Freudiges an sich. Es wird ihnen aber nicht anders ergehen als denen in der Mitte. Einmal werden auch sie „drinnen“ stehen, gestoßen und gedrängt von den anderen. Sonst wäre von den Gebäuden nichts mehr zu sagen; nur eines: Wenn Sie Gelegenheit haben, sich die Stadt einmal von oben anzusehen, besser noch zwei- oder dreimal hintereinander, dann werden Sie eine eigentümliche Beobachtung machen können. Es gibt immer Häuser, auch ganz bedeutungslose, ich meine solche, die nicht eine Würde tragen und im öffentlichen Leben stehen, die schnell zu sehen sind und beim ersten Blick auffallen, und solche, auf deren Existenz man erst langsam draufkommt. Lange merkt man nicht, daß sie überhaupt da sind, denn nur an Tagen, an denen man eine Wärmflasche voll gütiger, gemeinschaftlicher, so zu sagen brüderlicher Gefühle mit sich herumträgt, ist man imstande, ihnen zu begegnen! Ja, man entdeckt sie auch dann erst, nachdem man lang nach ihnen suchte und dabei murmelte: „Wo seid ihr denn nur, ihr ganz Kleinen; schämt euch nur nicht, auch ihr seid heute würdig, besehen zu werden.“ So etwas wird man sagen müssen, um sie zu finden. Und dann zeigen sie einem die Hinterseite.

Wie gesagt! Ich rate Ihnen dringend, einen der leicht begänglichen Berge zu besteigen oder, noch besser, vom Dach irgendeines Hauses aus die Stadt zu besehen, Sie hätten beim vorsichtigen Durchschreiten des staubigen Dachbodens noch das Vergnügen, von den fädig zerschlissenen Überzügen der hinkenden Ottomane die sonderbarsten pikanten, lustigen oder traurigen Histörchen abzulesen.

Aber das nur nebenbei.

Ich hoffe, daß Sie einen genügend starken Eindruck vom Ort der Begebenheit mitbekommen haben und ihn nicht mehr verwechseln. Das wäre nämlich das Ärgste, was Sie den Bewohnern der Stadt antun könnten: sie zu verwechseln. Denn jeder, auch der Geringste unter ihnen, ist der Meinung, daß es ihn und seine Stadt nur einmal gibt, sei es im guten oder bösen Sinne. Ich könnte Ihnen an den Fingern die Gründe dafür abzählen, weshalb alle diese Leute engstirnig, kleinstädtisch, zanksüchtig, überheblich und feige zu nennen sind, aber wenn man sieht, wie es in ähnlichen Städten und Städtchen keine weitblickenderen, großzügigeren, friedlicheren und mutigeren Leute gibt, so lange ich also sagen muß, daß die Leute überall gleich und nirgends ein Haar besser sind, so lange lasse ich es nicht zu, daß man die Bürger meiner Heimatstadt herabsetzt und erniedrigt. Das kann ich Ihnen wohl sagen: Es gibt andernorts noch viel schlechtere Menschen und es sind dort noch ganz andere Dinge passiert.

Mitstern, ein untergeordneter Beamter der Stadtpolizei, und mit ihm Ohnestern, ein noch untergeordneterer Beamter der Stadtpolizei, verließen an einem Spätnachmittag das von außen einem schlechten Friseurladen gleichende, ebenerdige Wachlokal am Marktplatz, um einen Dienstgang anzutreten. Mitstern, der ältere, beleibtere und schwerfälligere von beiden, zwinkerte in das scharfe Licht und schnitt eine Grimasse, deren er sich gleich darauf schämte, als er sah, daß der Jüngere, der ihm im Dienst zugeteilt war, ebenfalls eine Grimasse schnitt. Das alles kann ich mir sehr lebhaft vorstellen, daß es so war und nicht anders, weil Mitstern ein entfernter Verwandter von mir ist, so zu sagen um drei Ecken, und ich mit ihm seit meiner geordneten Laufbahn als Beamter des Magistrates einen sehr engen Kontakt pflege. Er war es auch, der mir gleich nach dem Vorfall die Geschichte erzählte, nicht ohne dabei ernsthaft die Stirn zu runzeln und bedeutungsvoll vor sich hinzuglotzen. Am gleichen Abend noch war es, in seiner Wohnküche, die sich von einer gewöhnlichen Küche nicht unterscheidet, und die er nur deshalb Wohnküche nennt, um sich Würde, ein besseres Ansehen zu verleihen. Mein Gott! Haben Sie keine Schwächen?

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Tuschezeichnung von Helmut Rehm

Mitstern hob also ein wenig seine stummelartigen Arme, ließ sie wieder fallen und sagte: „Na also“. Dann begann er sich in Bewegung zu setzen und trug seine Aktentasche selbst. Sie enthielt wichtige Schriftstücke wie immer, denn es wurde ihm vom Inspektor viel anvertraut, seit er immer dicker und dicker geworden war. Kam aber ein Beamter oder sonst irgend jemand auf dieses Thema zu reden, so vergaß Mitstern nie, darauf hinzuweisen, daß es die verantwortungsvolle Arbeit am Schreibtisch war, die ihn so dick werden ließ. So ein Schreibtisch, wie er ihn benütze, habe es in sich, pflegte er zu sagen, denn ein weitgereister, leider dadurch etwas auf Abwege geratener Mann, mit welchem er einmal dienstlich zu tun gehabt habe (die amtliche Schweigepflicht verbiete ihm, Näheres zu sagen), habe ihm mitgeteilt, wie international so ein Schreibtisch sei, an dem er arbeite. Er habe solche Möbelstücke gleicher Art in ganz Europa, ja sogar in China angetroffen. Das will etwas heißen, sogar in jenem komischen China, von dem man nie glauben kann, daß es irgendwo wirklich ist.

Es ging an einem Laden für Unterwäsche vorbei, an einer Emailtafel eines praktischen Arztes, an der Nachtglocke einer Hebamme, die im dritten Stock wohnte. Dann bogen sie einmal links um die Ecke und einmal rechts. Der Weg war beiden sehr gut bekannt und sie hatten darauf nicht zu achten. Noch nicht. Ohnestern schwieg, wahrscheinlich aus Sorge. Er, der ein unbeschriebenes Blatt war, in der Praxis seines Berufes fast keine Erfahrung besaß und bald eine Sache als bedeutend, absonderlich und selten ansah, kam seit der Auftragserteilung durch den Herrn Inspektor aus dem Staunen über die Angelegenheit nicht mehr heraus, fast aber noch mehr über die Tatsache, daß schon seit geraumer Zeit die Geschichte der Polizei bekannt war und er davon nichts erfahren hatte. Mitstern als des Inspektors Mitwisser, der sich schon durch die Anfertigung verschiedener, den Fall betreffender Schriftstücke öfters betätigt hatte, stieg dadurch in seinen Augen sehr. Aber selbst er, der sonst kaum von der Überlegenheit seiner Erfahrungen etwas nachzulassen bereit war, mußte zugeben, daß es sich um etwas nicht gerade Alltägliches handelte.

Auf dem nicht allzu langen Weg sprach nur Mitstern:

„Ich verfolge die Sache ja schon seit Monaten.“ (Das war übertrieben, wie man daraufkam, wenn man ihn ganz genau erzählen ließ.) „Ich kenne sie genau. Es gibt eben Situationen, wo die Behörde eingreifen muß, in denen es besser wäre, nicht lange hin und her zu ziehen und, statt Briefe zu schreiben, einzuschreiten. Das kompliziert nur. Es gibt eben solche Situationen. Manchen Menschen soll man nicht lange Gelegenheit zum Reden geben. Sie reden dann so lange, bis der klarste Fall der Welt undurchsichtig wird und es am Ende fast so herauskommt, als seien die Behörden schuld. Aber dieser Fall beweist eben wieder, daß es Situationen gibt, in denen man auch das Schweigen nicht dulden sollte. Einschreiten gegen Leute, die nicht Ordnung halten können! Das ist das einzig Richtige – in ganz bestimmten Situationen allerdings!“

Aus Ehrfurcht vor diesen Erwägungen sagte Ohnestern: „Jawohl, Herr Inspektor!“

Der andere überhörte diese unrechtmäßige Ansprache wohlwollend. Sicher hat er das getan. Ich kenn ihn ja. Am Abend behauptete er sogar, daß Ohnestern doch ein ganz brauchbarer Mensch sei.

Sie hatten beide nicht mehr weit zu gehen und noch war manches über die Vornahme der Amtshandlung zu besprechen. Das taten sie auch. Das heißt Mitstern. Ich kann mir nicht denken, daß Ohnestern besonders viel dazu betrug, deren Ablauf zu bestimmen. Sonst hätte Mitstern nicht so freundlich von ihm geredet. Bis sie also zu dem betreffenden Haus kamen, das sie aufzusuchen hatten, war alles Wichtige gesagt und klargelegt. Mitstern hatte außerdem während des Weges das Vergnügen zu bemerken, daß die ihm begegnenden Kinder, vorzugsweise die Buben, sich eng an die Hausmauer drückten, sobald sie seiner und seines Begleiters ansichtig wurden. Auch ihre kleinmütigen Gesichter beruhigten ihn.

Leute, die über den Dächern leben, haben anscheinend keinen Sinn für die Unterschiedlichkeit von Standpunkten. Sie meinen, weil sie nur den Himmel über sich, alles andere aber unter sich sehen, es sei alles ein und dasselbe, was da in den steinernen Röhren der Stadt zum eigenen Vergnügen oder notwendigerweise dahinfließt. Wissen es nicht schon die Kinder, daß nichts auf der Welt so interessant ist, als auf ein Dach zu steigen und auf die Straße zu spucken? Selbst sie haben schon erkannt, wie seltsam die Leute aussehen, wenn man über ihnen steht. Sie sind gleich bereit, es zu erleben und mit Prügeln zu bezahlen, daß die Welt lächerlich ist, schafft man sich nur eine geringe Distanz von ihr. Ein paar Meter in die Höhe genügen und das Unten verzerrt sich, daß man aus dem Lachen nicht mehr herauskommt.

Aber alles muß bezahlt werden.

Nach einer Unzahl von Stiegen und Treppen kam endlich jene vorschriftsmäßige Tür aus Eisen, die Feuertür, die eine Grenze darstellt und in allen Häusern gleich ist. Der Schlüssel ihres Schlosses ist immer größer als der der übrigen Türen des Hauses und ist für gewöhnlich rostig, weil er selten gebraucht wird, und wenn nicht rostig, so ist er doch immer rauh und nicht so glatt gescheuert wie diejenigen, die ihr Dasein in weichen Hosentaschen verbringen. Selbst unter den Dingen gibt es Rangunterschiede, die sich anscheinend nicht ändern lassen.

Es war ein kleines, sauberes Zimmerchen, in das Mitstern und Ohnestern eintraten, nachdem sie vorher geklopft hatten, der Form halber (Mitstern hatte schon vorausgesehen, was da kommen würde, und gesagt, daß es vergebens sei). Die linke Wand war von einem Bettgestell eingenommen, das abgeräumt war und wie ausgebrannt aussah. Es war offensichtlich, daß der Besitzer nicht mehr vorhatte, darin zu schlafen. Die rechte Seite füllten zwei Bücherbretter aus. Auch sie waren leer, aber kein Körnchen Staub fand sich auf den Laden. Ohnestern mußte es notieren. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, der auf der einen Seite mit einem Stapel Bücher, auf der anderen mit einem säuberlich gestaffelten Pack beschriebener Papiere beladen war. Nach den zahlreichen Seitenblicken war kein Entrinnen mehr. Man war gezwungen, endlich nach dem Sessel hinter dem Tisch zu sehen. Es war da etwas, was man nicht, über das man nicht so ohne weiteres hinwegsteigen konnte, um zu dem der Tür gegenüberliegenden Fenster zu gelangen, auf die Dächer zu sehen und vielleicht noch zu rätseln, welchen Häusern sie wohl gehörten. Auf dem Sessel hinter dem Tisch saß jemand, der einer Strohpuppe verdammt ähnlich sah. Ähnlich sah? Der eine Strohpuppe war, sollte man sagen. Ein Kartonmann vielleicht, wie man ihn von den Reklamebehelfen her kennt.

Mitstern war es bei seiner abendlichen Erzählung selbst nicht klar, wie er am besten den Eindruck wiedergeben könnte, den jenes totscheinende, deutlich aber als raumbeherrschende Persönlichkeit zu erfühlende Wesen vermittelte. Ich fragte ihn auch, ob es nicht vielleicht eine Wachsfigur gewesen sei, aber das verneinte er entschieden und sagte, natürlich mit anderen Worten, daß jene männliche Person (unbedingt sei es ein Mann gewesen, daran hätten weder er noch Ohnestern auch nur einen Augenblick gezweifelt und dieses einzig Sichere auch im Protokoll vermerkt), jene männliche Person mit der schaurigen Illusion des Todes, wie sie eine Wachsfigur darstelle, gar nichts zu tun gehabt habe. Zuletzt sprachen sie nur noch von der Vogelscheuche. Sie war die brauchbarste Bezeichnung, wie ich später auch persönlich feststellen konnte.

Ohnestern jedenfalls konnte bei dem sonderbaren Anblick ein mehrmaliges Niesen nicht verhalten, was Mitstern ihm besonders übelnahm, da doch der Auftrag für den Jüngeren eine Ehre, ja eine Art Prüfung bedeuten sollte. Ohnestern nieste aber trotzdem drei-, viermal hintereinander, bevor er ruhig und voller Beherrschung des amtlichen Tonfalles zu sprechen begann („das muß man ihm lassen“, dachte Mitstern, der inzwischen aus dem Fenster sah, um dem starren Blick der Vogelscheuche nicht immer entgegnen zu müssen, den er trotzdem an seinem Bauch spürte):

„Laut amtlichem Totenschein, ausgestellt am 28. März des Jahres und unterzeichnet von dem amtlichen Leichenbeschauer, Herrn R. Blaufleck, sind Sie selbigen Datums an einer akuten Kreislaufschwäche gestorben und zur Bestattung freigegeben worden“, so begann Ohnestern, und die im Raume sich breitmachende Feierlichkeit ließ sein vorheriges glockenzeichenartiges Niesen vergessen.

„Können Sie mir das erklären? Ich sage Ihnen doch, daß auf meinem Zettel steht, gestorben am 28. März – und jetzt haben wir April.“

Mitstern ertrug es nun nicht länger, daß der Jüngere allein die merkwürdige Amtshandlung vornahm, und schaltete sich ein:

„Wie kommt das, frage ich Sie?“

Und Ohnestern etwas nachhinkend:

„Wenn es doch auf unserem Zettel steht.“