Das Meer wird dein Leichentuch

 

von

Rolf Michael

 

Mystery

 

Mondschein Corona – Verlag

Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

Neuauflage

Neuauflage Juli 2016

© 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona

Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Rolf Michael

Lektorat/Korrektorat: Jasmin Kreuz und Mia Koch

Grafikdesigner: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano

Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

 

ISBN: 978-3-96068-037-6

 

© Die Rechte des Textes liegen beim

Autor und Verlag

 

Mondschein Corona Verlag

Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.mondschein-corona.de

 

 

Das Meer wird dein Leichentuch

 

von Rolf Michael

 

 

Ich bin die Frau, die den Tod liebte.

Ich liebte ihn, den Gnadenlosen. Den schwarzen Nehmer des Lebens, der den Reichen wie den Armen mit seiner Knochenhand ergreift und den Sünder wie den Heiligen ins Jenseits führt.

Meine Augen haben ihn gesehen. Meine Hände haben ihn berührt und meine Lippen haben ihn geküsst, denn der Tod selbst war mitten unter uns Menschen auf der Titanic.

In Büchern habe ich gelesen, dass es auch andere Menschen gibt, die wie ich den Tod mit eigenen Augen gesehen haben. Sie erblickten ihn auf den Schlachtfeldern von Waterloo tanzend, sahen ihn im Stahlgewitter von Verdun umher wandeln und über das Totenfeld von Stalingrad schreiten. Immer dort, wo er reiche Ernte hält, erscheint der Tod in eigener Person, und wer ihn erblickt, wird die unheimliche Schreckensgestalt niemals in seinem Leben vergessen.

Und mir begegnete der Tod an Bord der Titanic, als sie zu ihrer ersten Fahrt aufbrach, die zugleich ihre letzte werden sollte. In menschlicher Gestalt bewegte sich der Gnadenlose zwischen den Todgeweihten an Bord des Märchenschiffes. Die Menschen von heute tun es als Legende ab, dass der Tod selbst an Bord der Titanic gewesen war. Doch ich, Danielle Bidois, kann bestätigen, dass diese Legende wahr ist.

Ich habe den Tod kennengelernt. Er verbarg sich in der Gestalt eines charmanten und faszinierenden Mannes, zu dem sich jede Frau hingezogen fühlte. Eine düster wirkende Gestalt von geheimnisumwitterten Äußeren und melancholischen Augen, die wie die Sterne der Ewigkeit glänzten.

Ja, ich kannte ihn, und ich liebte ihn. Auch, wenn es der Tod war. Er sah aus wie der Inbegriff der Männlichkeit und war doch von seiner ganzen Art her so zärtlich und gefühlvoll, wie es sich eine Frau von einem Mann ersehnt und erhofft - und doch so selten findet.

Ich stehe an der Schwelle des Grabes. Bald wird man meinen müden, vom Alter gezeichneten Körper unter dem grünen Rasen zur ewigen Ruhe betten, doch vorher will ich hier und jetzt Dinge niederschreiben, die ich bis heute noch keinem Menschen zu erzählen wagte. Ihr solltet alles erfahren von den Dingen, die damals geschehen sind, denn euch allen ist es ohne Ausnahme bestimmt, den dunklen Gast willkommen zu heißen.

Schon bei der Geburt eines Menschen steht der Tod über der Wiege, um seine Anrechte anzumelden. Und am letzten Tage, den ihm sein Schöpfer bestimmt hat, begegnet ihm der Mensch ein zweites Mal.

Doch ich, Danielle Bidois, habe den Tod in der Blüte meiner Jugend kennengelernt. Einige Tage wandelte er in menschlicher Gestalt zwischen all den Unglücklichen, über die das gnadenlose Schicksal bereits den Stab gebrochen hatte. Seine Augen erfüllten keine Tränen, als die Menschen im eisigen Wasser starben, doch ich spürte, dass seine Seele weinte. Aber er musste die Pflicht erfüllen, die ihm der Ewige vom Anbeginn der Zeit gestellt hatte. Und er nahm die Toten der Titanic mit sich an einen Ort, wo Furcht und aller Kummer enden und ewiges Vergessen herrscht.

Nein, es ist keine Legende, die sich die Überlebenden jener Schreckensnacht am 15. April des Jahres 1912 erzählen. Der gnadenlose Schnitter begleitete die erste und letzte Fahrt der „Titanic“.

Und ich, Danielle Bidois, wurde auf dieser Fahrt die Geliebte des Todes. Und so will ich erzählen von der letzten Fahrt der Titanic und von der Schreckensnacht, in der die „Königin der Ozeane“ unterging, und auch von den Menschen, die sie auf ihrer letzten Fahrt zum Meeresgrund begleiteten, will ich berichten. Das Meer ist ihr Leichentuch. Und die Wellen des Atlantiks murmeln ihre Totengebete.

Ich habe John Jacob Astor gekannt, der trotz seines Reichtums an Bord der Titanic blieb, um zu sterben, denn der Fluch des Blauen Diamanten wurde sein Schicksal. Friede seiner Seele, die zwischen Habgier und der Sehnsucht nach wahrer Liebe schwankte. Erst im Angesicht des Todes fand er die letzte Erfüllung.

Bevor ich sterbe, sollt ihr alles erfahrt. Es ist eine Beichte vor Gott und den Menschen. Ob das, was ich tat, vor den Augen des Allerhöchsten Sünde ist, weiß ich nicht. Ihr aber lest nun mein Geständnis. Und dann richtet über mich, wenn ihr euch anmaßt, Richter zu sein.

Denn was ich schreibe, ist die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Alles begann am 10. April 1912 gegen 16.30 Uhr im Hafen von Cherbourg ...

 

***

 

Wie die Wand eines gigantischen Hauses ragte der blauschwarze Schiffskörper vor mir auf. Die „Titanic“ war viel zu groß, als dass sie im kleinen Hafen von Cherbourgh anlegen konnte. So wurden die Passagiere, die hier in Frankreich zustiegen, samt ihrem Gepäck mit einem Tender-Schiff zu ihr hinüber gefahren. So gut es ging versuchte ich mich durch das Gedränge der anderen Passagiere zur Gangway zu drängen, die hinüber zur „Titanic“ führte. Ich musste mich beeilen, um rasch bei meinen Herrschaften zu sein, wenn sie mich brauchten.

Colonel John Jacob Astor und seine junge Frau Madeleine waren natürlich bevorzugt unter den ersten Passagieren an Bord gegangen. Ich konnte beobachten, wie sie vom diensthabenden Deckoffizier mit aller Form der Höflichkeit empfangen wurden.

Immerhin war mein Dienstherr ein Mann, der sein Vermögen in Milliarden maß. Man munkelte sogar, Astor sei der reichste Mann der Welt. Sein Urgroßvater war einst aus Deutschland nach Amerika ausgewandert und hatte als skrupelloser Pelzhändler und Grundstücksspekulant die Keimzelle künftigen Reichtums gelegt. Er kaufte das Land, auf dem heute die Stadt New York liegt, für wenig Geld den Indianern ab. Und als sich New York ausdehnte, wurden die Grundstücke Gold wert.

In nicht einmal hundert Jahren hatte die Dynastie der Astors mit Energie und Tatkraft ein Wirtschaftsimperium aufgebaut, das die Reichtümer der Rockefellers, Carnegies und Vanderbilts weitgehend in den Schatten stellte. Und John Jacob Astor, das Oberhaupt der Familie, war unumschränkter Alleinherrscher über das unermessliche Vermögen.

Ich, Danielle Bidois, hatte unglaubliches Glück, die gut bezahlte Stelle als Dienstmädchen bei den Astors zu bekommen. Sie kamen gerade von ihrer ausgedehnten Hochzeitsreise zurück, die sie durch halb Europa und den Nahen Osten geführt hatte. Nun wollten sie das neue Flaggschiff der White-Star-Line auf seiner Jungfernfahrt über den Atlantik begleiten und in die Vereinigten Staaten zurückkehren.

Aber auf ihrer letzten Etappe in Paris wurde die ältliche Zofe von Madeleine Astor, der erst achtzehnjährigen Frau des Milliardärs, von Heimweh geplagt. Madeleine Astor hatte Verständnis für ihre Dienerin. Sie entließ die treue Seele mit einem ihr unter der Hand zugeschobenen, ordentlichen Draufgeld, aber Madeleine bat sie um die Vermittlung einer Person ihres Vertrauens als Ersatz.

Und diese Person des Vertrauens war eben ich, Danielle Bidois. Das kam daher, weil die von Heimweh geplagte Dame meine Großtante war. Ich war damals dreiundzwanzig Jahre alt und hatte bereits in einigen vornehmen Häusern als Zimmermädchen gearbeitet. Vor zwei Wochen war meine letzte Dienstherrin in hohem Greisenalter gestorben, daher war ich jetzt ohne Stellung. Freudig griff ich zu, als Tante Constance mir das Angebot machte, mit den Astors in die Vereinigten Staaten zu gehen.

Amerika. Das war das Traumland meiner Sehnsucht, von dem man sich Wunderdinge erzählte. Wie oft hatte ich gehofft, es einmal sehen zu können, aber von meinem kleinen Gehalt konnte ich mir niemals eine Schiffspassage leisten, doch nun würde ich sogar auf dem Schiff hinüberfahren, über dessen Luxus-Einrichtung alle Zeitungen Wunderdinge zu berichten wussten.

Das umfangreiche Gepäck meiner Herrschaften war bereits von den Ladekränen der Titanic an Bord gehievt und von kräftigen Männern zur Kabine ihrer Suite transportiert worden. Ich musste mich sputen, die mächtigen Überseekoffer von Madeleine Astor und ihres Gatten zu leeren. Es galt, eine große Menge Kleider und Anzüge in den Schränken ihrer Luxus-Unterkunft zu verstauen.

Für mich gab es eine kleine Kabine in der Dritten Klasse am Bug des Schiffes. Ich teilte sie mit drei anderen Dienstmädchen, deren Namen ich heute vergessen habe. Die Unterkünfte für das Personal lagen in unmittelbarer Nähe der Ersten Klasse, damit wir den Herrschaften bei Bedarf sofort zur Verfügung standen.

Meine eigenen Habseligkeiten erschöpften sich in zwei Kleidern, etwas Wäsche und einem modischen Hut, den ich mir von der Anzahlung auf mein künftiges Gehalt noch in Paris gekauft hatte. Mit der vollgestopften Reisetasche und der Hutschachtel schob ich mich in der Schlange der Menschen vorwärts, die sich über die Gangway vom Tenderschiff in den Schiffsrumpf der Titanic drängte.

Ein wahrhaft babylonisches Sprachgewirr erklang in meinen Ohren. Auswanderer aus aller Herren Länder drängten sich an Bord der Titanic, um in der neuen Welt ein besseres Leben zu beginnen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Stewards mit ihren Zurufen Ordnung in den Zug bringen konnten. Dann betrat ich, mühsam mein Gepäck schleppend, über eine kurze Gangway die Titanic. Ein prüfender Blick des Offiziers am Eingang auf meine Schiffspapiere, dann ließ er mich mit einem flüchtigen Gruß mit der Hand an die Mütze passieren.

Aufgeregt betrat ich das Innere dieses Märchenschiffes.

„Amarnis!“, hörte ich eine laute Stimme rufen. Obwohl ich diesen Namen noch niemals gehört hatte, war etwas in meinem Inneren, das mich aufschreckte. Angestrengt spähte ich in die Richtung, aus der dieser Ruf gekommen war.

Und dann sah ich sie zum ersten Mal - die hochgewachsene Gestalt des unheimlichen Mannes. Noch heute steigt dieses Bild jede Nacht erneut in meinen Träumen auf. Und diese Träume erwecken in mir Gefühle, in denen sich Angst mit Sehnsucht paart. Auch die sechzig Jahre, die seither vergangen sind, vermögen nicht, dieses Bild aus meinen Erinnerungen zu verwehen.

Damals ahnte ich nicht, dass mir die dunkle Macht gegenüberstand, der alle Menschen am Ende ihrer Tage folgen müssen. Niemals hätte ich geglaubt, dass der Gnadenlose leibhaftig unter den Todgeweihten wandelt, denen er bald den Weg in die ewige Nacht weisen würde ...

 

***

 

„Amarnis!“, hörte ich wieder den Ruf des geheimnisvollen Fremden.

Seine Gestalt strahlte eine unheimlich majestätische Aura aus. Unwillkürlich zog sich alles in mir zusammen. Es war eine ungreifbare Beklommenheit, die mich erfasste, als ich sah, wie seine Augen auf mir ruhten. Die dunkle Gestalt stand ungefähr fünf Schritte hinter dem Schiffsoffizier, der die Billetts für die Passage kontrollierte. Ich spürte, wie der Blick seiner Augen bis tief hinab auf den Grund meiner Seele drang.

Ich hatte das Gefühl, als würde mir den Boden unter den Füßen weggezogen. In diesem Augenblick hatte ich alle Mühe, aufrecht stehen zu bleiben, doch außer mir schien niemand der sich an Bord drängenden Menschen etwas zu bemerken. Es war, als würden sie die unheimliche Gestalt auf der Titanic überhaupt nicht wahrnehmen.

Die aristokratische Erscheinung war hochgewachsen und überragte mich um mehr als eine Haupteslänge. Der Fremde trug einen altertümlichen schwarzen Radmantel, der bis zu seinen Füßen hinab fiel. Der schwarze Gehrock darunter war sicher das Meisterwerk eines erstklassigen Schneiders. Das blütenweiße Hemd wurde am Hals mit einer schwarzen Fliege geschlossen. Eine feingliedrige Hand stützte sich leicht auf einen Spazierstock, an dessen oberen Ende sich ein Knauf aus matt schimmerndem Silber befand.

Vom Gesicht des Mannes ging eine unheimliche Faszination aus. Schwarzes Haar quoll unter dem Zylinder hervor und wallte bis auf die Schultern hinab. Wie ein Schleier umrahmte es ein bleiches, schmales Antlitz, das keine Bestimmung des Alters zuließ. Die Wangen waren glatt rasiert und die Nase etwas zu klein. Die buschigen Brauen über den schwarzgrauen, melancholischen Augen waren zusammengewachsen und gaben dem Fremden ein unheimliches, fast dämonisches Flair.

Die ganze Erscheinung ließ Ängste in mir aufsteigen, die ich vorher noch niemals gekannt hatte. Und dennoch war mir dieser Mann vom ersten Augenblick an so vertraut, als sei er bereits seit dem Tage meiner Geburt an meiner Seite gewesen oder als habe er bereits in einem früheren Leben meinen Weg gekreuzt.

In den Augen des Fremden lag ein hypnotischer Zwang, dem ich nicht entgehen konnte. Ich musste ihn ansehen und spürte, wie der Unheimliche auf den Grund meiner Seele blickte. Ich fühlte, dass es auch nicht das kleinste, tief in meinem Inneren verborgene Geheimnis gab, das diesem geheimnisvollen, fremden Aristokraten verborgen blieb.

Ich hatte Angst vor der unheimlichen Erscheinung in Schwarz - und fühlte mich doch gleichzeitig zu ihm hingezogen. Ich spürte das Schlagen meines Herzens. Mein ganzer Körper kribbelte, als wenn Myriaden von Ameisen darüber liefen.

Mit aller Kraft versuchte ich, den in mir aufkommenden Wunsch zu unterdrücken, die Bekanntschaft des Unbekannten zu machen. War es ein Ruf des Schicksals, der mich vorwärtsdrängte? Ein nie gekanntes, inneres Sehnen zog mich in die Nähe des vornehmen Herrn, der mir jetzt, entgegen aller guten Sitten, eifrig zuwinkte.

„Amarnis!“, rief er wieder den Namen, mit dem ich nichts anfangen konnte.

Ich weiß heute nicht mehr, ob ich von den nachdrängenden Passagieren vorwärts geschoben wurde oder aus eigenem Antrieb zu ihm hinüber ging. Und es schickt sich eigentlich nicht für die Dienende eines vornehmen Hauses, sich in die Nähe eines fremden Mannes zu begeben. Schon gar nicht, wenn sein Äußeres erkennen lässt, dass er diese Passage in der Luxus-Klasse der Millionäre gebucht hat.

Es war das Schicksal, das mich in diesem Augenblick vorwärts schob. Oder war es der hypnotische Zwang seiner Augen? Mechanisch bewegte ich mich auf den unheimlichen Fremden zu.

Und dann stand ich plötzlich direkt vor ihm. Der Blick in seine grauschwarzen Augen war wie ein Blick in die unergründliche Tiefe des Ozeans. Ein Lächeln umspielte die schmalen Lippen, und in seinen Augen lag ein Glanz, als würde er mich seit Jahren kennen.

„Amarnis!“ Unglaubliche Zärtlichkeit lag in dieser Stimme. „Endlich, meine Amarnis. Nach all den Jahren haben wir wieder zueinandergefunden.“

Für einen Augenblick stand ich wie vom Donner gerührt da. Mit wem verwechselte mich dieser vornehme Herr? Mit einer Verwandten oder mit einer früheren Liebschaft? Denn den Namen Amarnis hatte ich in meinem ganzen Leben noch niemals gehört.

Amarnis? Das klang wie ein Name aus der Antike. Heute hieß bestimmt keine Frau mehr so. Die Sache musste rasch aufgeklärt werden.

„Ich gehe davon aus, dass hier eine Verwechslung vorliegt, Monsieur“, sagte ich auf Französisch. „Vielleicht sehe ich einer Amarnis ähnlich, die sie kennen, aber ich versichere Ihnen, ich bin es nicht.“

Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Nachdenklich sah er mich an, dann schüttelte er langsam mit einem Ausdruck tiefsten Bedauerns den Kopf.

„Ja, ich fürchte, ich habe mich tatsächlich geirrt, Mademoiselle!", gab er mit leiser Stimme in französischer Sprache zurück. „Wollen Sie bitte die Güte haben, meine Entschuldigung anzunehmen?“ Mit einer höflich galanten Verbeugung lüftete der Fremde leicht den Zylinder.

„Wer könnte eine so galante Entschuldigung verweigern!“, gab ich zurück und lächelte ihn so gut es ging an.

„Marquis Damian de Armand. Zu Ihren Diensten, Mademoiselle!“, stellte sich der Fremde vor. Es waren Worte, die aus seinem Mund wie eine wundervolle Melodie klangen.

„Ich bin Danielle Bidois und freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Monsieur le Marquis!“ Es gelang mir, noch einmal zu lächeln. Und meine Beine waren inzwischen auch wieder so weit gefestigt, dass sie einen kleinen Knicks zuließen.

"Sie reisen allein?“ Die Frage des Marquis klang wie eine Feststellung.

„Ich bin ... ich bin die Bedienstete von Mrs. Madeleine Astor!“, stammelte ich. Ich spürte, wie sich meine Wangen röteten, denn eigentlich gehört es sich nicht, dass eine Frau meines Standes mit einem Mann der hohen französischen Aristokratie ein Gespräch führt.

„Die Frau von Jay?“, vergewisserte sich der Marquis, aber ich wusste sofort, wen er meinte, denn mein Dienstherr wurde im Allgemeinen bei den Anfangsbuchstaben seiner Vornamen John Jacob genannt. Und im Englischen klang das eben wie "Jay Jay".

„Ja, Colonel Astor!“, entgegnete ich nickend. „Ich bitte Sie, ihm nicht zu verraten, dass ich es mir herausgenommen habe, mit Ihnen zu reden. Er ist, was das Personal angeht, sehr konservativ. Und da könnte er es mir übel nehmen, dass ich hier mit einem Mann rede, der in der Gesellschaft so weit über mir steht wie die Spitze des Eiffelturms über den Dächern von Paris.“

„Kein Mensch sollte von sich behaupten, dass er wertvoller ist, als der Geringste seiner Mitmenschen!“, sagte der Marquis mit rätselhaftem Ernst in der Stimme, „denn er wird geboren ohne jeden Besitz. Und er vermag nichts von all seinen Reichtümern mitzunehmen, wenn er seine letzte Reise beginnt.

Ob ein Mensch arm oder reich ist - am Ende muss er doch sterben. Der Tod, Mademoiselle Bidois, macht alle Menschen gleich.“

„Aber im Leben gibt es gesellschaftliche Unterschiede, die wir respektieren müssen!“, wagte ich zu entgegnen. Dass ein Mann seines Standes solche Worte sagen würde, hatte ich nie erwartet. Ganz sicher war er einer der Philosophen, die sich in den feinen Salons von Paris trafen und stundenlang über die Ethik des Menschen und den Sinn des Lebens diskutierten.

„Die Gesellschaft des Todes löscht alle Standesunterschiede aus. Vor dem Nehmer des Lebens ist John Jacob Astor mit all seinem Reichtum so viel wert wie ein Bettler.“ Die Stimme des Fremden bekam einen Klang wie zerbrechendes Glas.

„Dennoch bitte ich Sie, unser Gespräch in Gegenwart meiner Herrschaften nicht zu erwähnen, Monsieur le Marquis“, bat ich. „Mag auch der Tod Mister Astor und mich einmal gleichmachen. Heute aber achtet er sehr darauf, dass die Kluft zwischen den Herren und den Dienenden gewahrt bleibt.“

„Keine Sorge. Ich werde Astor nichts erzählen.“ Der Marquis lachte leise. „Aber vielleicht können Sie mir helfen, mit ihm in Kontakt zu kommen?“

„Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, werde ich ihm mitteilen, dass ihn der Marquis de Armand zu sprechen wünscht. Darf ich ihm sagen, in welcher Angelegenheit?“ Diese verflixte, weibliche Neugier. Nun war es heraus.

„Es ist eigentlich rein geschäftlich“, wich der Marquis aus. „Ich will etwas kaufen, was er auf dieser Reise bei sich führt. Und wenn er es mir überlässt, besteht vielleicht noch Hoffnung ...“ Er brach ab. „Werden Sie mir helfen?“, fragte er dann noch einmal.

„Aber sicher. Ich werde Ihnen gern zu Diensten sein, Monsieur le Marquis“, beeilte ich mich zu versichern. „Aber Mister Astor ist ein viel beschäftigter Mann. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich ihm bereits andeuten könnte, welches Kaufobjekt Sie im Auge haben.“

„Den Stein des Schicksals. Den blauen Diamanten!“ Die Stimme Damian de Armands sank zu einem Flüstern herab ...

 

***

 

Ein unheimliches Geräusch, das in diesem Augenblick aus der Tiefe des stählernen Körper des Schiffes herauf drang, übertönte meine Antwort. Es war, als habe die Erwähnung des geheimnisvollen Blauen Diamantens einen Zauber ausgelöst.