Kapitel 9. Flucht

Es ist nur eine leichte Erschütterung, nur ein Beben, das durch den Zug geht. Am Anfang kaum spürbar, doch dann wird es plötzlich heiß. Die Welt barst. Es schleudert mich durch den ganzen Raum, ich pralle mit dem Rücken gegen die Wand, rutsche an ihr hinunter und bleibe schlaff auf dem Bett liegen. Schmerz und Verlust. Ich schließe die Augen. Ich höre nichts mehr, in meinen Ohren ertönt nur ein langes, anhaltendes, hohes Piepsen, das mir unglaubliche Kopfschmerzen bereitet. Ich öffne meine Augen, aus Angst und Sorge um Noel und Keylo. Ich spüre Flammen, heiße Flammen. Rauch brennt in meiner Lunge, ich huste, meine Augen tränen.

„Keylo!“, schreie ich, doch ich höre meine Stimme nur aus weiter Ferne. Ich wische mir Ruß und Dreck so gut es geht aus den Augen. Ich sitze immer noch auf dem Bett. Es brennt lichterloh und Panik steigt in mir auf, bis ich merke, dass die Flammen mir nichts anhaben können. Sie lecken über meinen Körper, züngeln, zischen, knacken und hüllen mich ein. Ich bin in einem Nest aus Flammen, ich brenne. Alles, was ich spüre ist sanfte Wärme, die durch meinen Körper strömt. Ich hebe eine meiner Hände und sehe sie fasziniert an. Meine Intarsien leuchten in verschiedenen Rottönen, Dunkelrot, Hellrot, Karmesinrot, Blutrot, Sonnenuntergangsorange. Ich fasse an meinen Rücken. Der Schmerz ist weg. Ich fahre mit meiner Hand so weit wie möglich hoch. Die Wunde ist verschwunden. Es ist fast so, als hätte mich das Feuer vollständig geheilt. Meine Haare brennen, ich brenne. Und doch verkohle ich nicht, verletzte mich nicht, habe keine Brandwunden. Ich fühle mich wie neu geboren. Ich sinke zurück in die Flammen und gebe mich einen Moment lang dem Rausch des Feuers hin und schließe die Augen. Das Feuer umhüllt mich, reinigt mich und lässt mich von innen heraus leuchten. Ich schüttle die Benommenheit des Rausches, der auf mich wie eine Droge wirkte, von mir ab um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich setze mich auf und sehe mich im Abteil um. Alles steht in Flammen, der Rauch vernebelt den Raum und die Flammen verschlucken alles, was ihnen im Weg ist. Dann sehe ich sie. Keylo ist auf die Schultern von Noel gestützt, offensichtlich bewusstlos. Noel hustet und sinkt ganz langsam auf die Knie. Wir befinden uns in einem leeren Raum, alles ist weg, nur noch das Feuer ist hier. Eine Hälfte des Abteils ist vollkommen weggesprengt und die kalte Luft bläst durch das Abteil und facht das Feuer nur noch mehr an. Für mich kein Problem, aber für Noel und Keylo. Sie sind zwar Vampire, würden aber sterben, wenn sie nicht bald hier herauskämen. Sie würden sonst in den Flammen vergehen. Der Zug wird deutlich langsamer, ist aber immer noch so schnell, dass ich nicht abspringen kann ohne mir alle Knochen zu brechen. Für mich würde es den Tod bedeuten. Ich stehe auf und gehe einfach durch die Flammen hindurch zu Noel und Keylo. Ich fasse Noel unter den Armen und zerre ihn zum Vorsprung der weggesprengten Abteilhälfte. Unter uns gleitet der Boden so schnell vorbei, dass man ihn mit bloßem Auge nicht folgen kann.

Ich blicke weiter nach vorne. Da ist etwas, was meine Adern gefrieren lässt. Knapp einen Kilometer vor uns steht eine Brücke. Eine sehr große Brücke, unter ihr fließt ein rauschender Fluss. Ich begreife, wenn wir nicht schnellstens aus dem Zug verschwinden, werden wir sterben. Ich entwickle einen Plan. „Wir werden abspringen!“, brülle ich gegen den Wind an. Noel nickt schwach, als Zeichen, dass er mich verstanden hat. Die Brücke kommt immer näher und näher. „Keylo!“, schreie. Ich stolpere zurück in den dunklen Rauch, um auch ihn zu holen. „Keylo!“ Ich höre ein Husten irgendwo zu meiner rechten Seite. Ich stolpere in die Richtung als durch den Zug eine markerschütternde zweite Explosion hindurchtobt. Ich finde Keylo. Er sitzt an die Rückwand gelehnt. Seine Haut ist an seinen Händen und in seinem Gesicht verbrannt. Ich packe ihn an seinem Arm und zerre ihn durch die Flammen. Eine dritte Explosion erschüttert die Luft. „Schneller Rose!“, feuere ich mich an. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. „Schneller!“, Keylo brennt lichterloh, ich werfe mich auf ihn und ersticke die Flammen. Dann zerre ich ihn weiter. „Schneller Rose! Schneller!“ Mit einem letzten Akt der Verzweiflung bäume ich mich auf und ziehe ihn zu Noel. Er steht schon wieder und sieht mich verzweifelt an. „Wir müssen springen!“, schreie ich und deute zur Brücke, die nur noch fünfzig Meter von uns entfernt ist. „Hilf mir!“ Ich nehme Keylo und hieve ihn über meine Schulter. Noel nimmt seinen anderen Arm und schlingt ihn sich um den Hals. So stehen wir da, eine wacklige Konstruktion, die der Wind jederzeit mit einem heftigen Stoß umfegen könnte. „Dreißig!“, zähle ich. „Zwanzig! Zehn!“.

Als ich das dunkle schlammige Wasser unter uns dahinschießen sehe, springe ich. Ohne nachzudenken. Und Keylo und Noel ziehe ich mit mir in die Tiefe. „Was wenn das Wasser zu seicht ist?“, fährt es mir während des freien Falls durch den Kopf. „Was, wenn wir aufprallen und sterben?“ Plötzlich versinken wir in eisigem Wasser. Ich sehe nichts, nur Luftblasen um mich, ich bekomme Panik. Ich strample, versuche an die Oberfläche zu gelangen, versage, weil mich das Gewicht von Noel nach unten zieht. Tiefer, in die Dunkelheit. Der Fluss reißt uns mit. Ich will Luft holen, kaltes Wasser strömt mir in den Mund, in die Lunge. Ich huste und pruste, versuche nach Luft zu schnappen. Langsam verschwimmt alles um mich herum, die Ränder meines Blickfeldes werden dunkler. Eine Hand packt meinen Arm und zieht mich hinauf. Weiter und weiter. Luft. Der einzige Gedanke, den ich erfassen kann.

Mein Kopf durchbricht die Wasseroberfläche. Ich reiße meine Augen auf und sehe, wie Keylo mich mit seiner rechten Hand am Arm hält und sich mit der Linken an einen Baumstamm festklammert. Noel liegt halb auf dem dicken Stamm, sodass er nicht mehr ins Wasser fallen kann. Ich huste, spucke dunkles schlammiges Flusswasser und schnappe wieder nach Luft. Mit tiefen Zügen atme ich die kalte klirrende Nachtluft ein. Meine Klamotten sind durchtränkt, und drohen mich wieder nach unten zu ziehen. Keylo zieht mich mit all seiner Kraft an den Stamm heran, so dass ich mich festklammern kann. Wir treiben schnell den Fluss hinunter, der Baumstamm droht unter unserem Gewicht unterzugehen. Ich friere, meine Zähne klappern und ich zittere am ganzen Leib. Fast gebe ich mich der Erschöpfung hin und will einschlafen, nie wieder aufwachen. Aber ich kann Noel und Keylo nicht einfach im Stich lassen. Das bin ich ihnen schuldig, nach allem was sie für mich getan hatten. Wir treiben weiter, den Fluss hinunter durch die reißende Strömung. „Wir müssen an das Ufer gelangen!“, versuche ich zu schreien, doch es kommt nur ein heiseres Krächzen. Von dem ganzen Husten und dem vielen Wasser, das ich geschluckt habe. Keylo hat anscheinend den gleichen Gedanken wie ich, denn er strampelt mit seinen Füßen und versucht, uns an das Ufer zu lenken, scheiterte aber kläglich. Der Fluss ist zu stark, selbst für einen Vampir.

Es blitzt. Über uns braut sich ein Gewitter zusammen, der Himmel wird schwarz und grau. So, als ob er sich eine unheilbare Krankheit eingefangen hätte. Es blitzt noch einmal und die ersten Tropfen fallen vom Himmel herab. Mein Mut sinkt. Ein Sturm. Donner grollt, ein weiterer Blitz reißt den Himmel schier entzwei. Keylo schreit irgendetwas, aber ich verstehe ihn durch das Getöse nicht. Und ich sehe nichts mehr, da mir dicke Wassertropfen in die Augen fallen. Ich kneife sie zusammen, blinzle die Tropfen weg, aber es bringt alles nichts. Ich spüre eine Hand auf der meinen. Keylo brüllt erneut irgendetwas. Das Wasser schlägt mir kalt und hart ins Gesicht. Es reißt mich vom Baumstamm und ich werde wieder ins dunkle Wasser gezogen. Ich schlucke Wasser. Salzwasser. „Wir sind ins Meer gespült worden.“, ist mein letzter Gedanke als ich in Ohnmacht falle.

Ich erwache in einem blütenweißen Bett. Rosenduft erfüllt meine Nase. Mir ist warm und ich bin trocken. Aus diesem Traum will ich nicht mehr erwachen. Ich öffne meine Augen. Über mir beugt sich eine Gestalt, große blaue Augen schauen mich an. Schwarze Haare umrahmen ein hübsches, längliches, blasses Gesicht mit roten vollen Lippen. Aus seinen schwarzen Haaren lugen zwei spitze, lange Ohren hervor. „Du hast lange geschlafen.“, sagt dieses vollkommene Geschöpf mit tiefer, wohlklingender Stimme. „Ja.“, antworte ich, erstaunt darüber, dass meine Stimme kräftig, weich und leicht klingt. „Willst du aufstehen?“, fragt das Wesen. Ich nicke und setze mich auf. „Wo bin ich?“, frage ich. „In Sicherheit.“, lautet die Antwortet. Ich erinnere mich an gar nichts. Nur daran, dass ich hier aufgewacht bin. Aber… etwas regte sich in meinem Hinterkopf. Tief in meinen Gedanken. Ich kann nur noch nicht erfassen was es ist. Ich sehe mich im Zimmer um. Es ist ein sehr schöner Raum. Weiße Wände, in einer Ecke ein weißer Tisch, darauf steht eine Obstschale mit allen möglichen Früchten. Ich betrachte die Wände genauer. Auf der weißen Farbe sind blaue Muster in allen möglichen Blautönen abgebildet. Es sieht sehr schön aus. Das Bett umrahmt ein wunderschöner blauer Baldachin. In einer Ecke steht ein Spiegel. Ich stehe auf, gehe an dem sonderbaren Wesen vorbei und laufe zu dem Spiegel hinüber. Ich bin barfuß und spüre den Boden unter mir. Er fühlt sich warm an. Im Spiegel betrachte ich mich. Meine dunkelroten Locken fallen über meine Schultern. Sie sind frisch gewaschen und riechen gut. Meine Augen leuchten mir in einem satten bernsteinfarbenen Ton entgegen. Meine Haut ist blass und weich. Die dunkelroten Intarsien heben sich von meiner Haut ab. Ich bin in ein weißes zartes Spitzenkleid gehüllt. Es hat zwei einfache Träger, schnürt sich knapp unter meiner Oberweite zusammen und fällt locker hinunter bis knapp über meine Kniescheiben. Dort endet es in Spitze. Zum ersten Mal in meinem Leben finde ich mich schön. Ich drehe mich herum. Das Geschöpf sitzt auf dem Bett und blickt mich geduldig an.

„Was bist du?“, frage ich. „Ich bin ein Wasserelf.“, antwortet es. „Wir sind aus dem Meer?“ Es nickt. Ich betrachte den Wasserelf intensiver. Die langen glatten Haare fallen über seine Schultern und enden an seinem Bauchnabel. Sein Oberkörper ist unbekleidet. Sein Unterleib ist in so etwas, wie einen Rock gehüllt. Es ist, als ob der Rock aus Wasser bestände. Wasser umschmeichelt seine Beine, verschwindet aber, ehe es den Boden berührt. „Wie ist dein Name?“, fragt der Elf. Ich blinzle und versuche mich zu erinnern. „Rose.“, antworte ich nach einiger Zeit. „Wie…“, ich zögere. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich in der Gegenwart eines Elfen verhalten soll. „Wie ist dein Name?“, frage ich dann doch. „Wir Elfen haben keine Namen. Aber wenn du einen brauchst, dann kannst du mich Lasäi nennen.“ Ich nicke und hole tief Luft. „Lasäi.“, wiederhole ich. Ein wunderschöner Name. Vollkommen. „Warum bin ich hier?“, frage ich. „Wir haben euch aus dem Sturm gerettet.“, antwortet der Elf. „Euch?“, frage ich verwirrt. Wer war noch bei mir? Ich kann mich an nichts mehr erinnern. „Deine Begleiter. Noel und Keylo. Sie sind auch hier.“ Noel und Keylo? Die zwei Namen lösen irgendetwas in mir aus, aber ich weiß nicht was oder wer sie sind. „Du wirst sie später beim Abendessen wiedersehen.“, sagt Lasäi. Ich nicke. „Du darfst dich gerne im Elfenpalast umsehen. Wohin auch immer du willst, es sei dir gewährt.“ „Kommst du mit mir?“, frage ich. Er schüttelt den Kopf. Enttäuscht sehe ich ihn an. Ich mag ihn auf Anhieb. Als hätte Lasäi meine Gedanken gelesen, antwortet er, „Wir werden uns wiedersehen. Wenn du zum Abendessen kommst werde ich dort sein.“ Meine Miene hellt sich auf. Er steht auf, nimmt meine Hand in die seine und küsste sie. „Bis heute Abend.“, sagt Lasäi und streicht einen Lufthauch über mich hinweg, der nach Salz und Rosen riecht. Er verschwindet.

Ich gehe los, öffne die Tür und trete aus dem Zimmer. Ich finde mich auf einem Gang wieder. Die eine Seite ist offen, sodass mir ein fantastischer Blick auf eine riesige Stadt aus Blau und Weiß gewährt wird. Der Himmel ist blau, mit vereinzelten kleinen Wolken und die Sonne strahlt auf die Stadt in Weiß und bringt ihre Pracht in vollem Maße zum Ausdruck. Ich bin ergriffen von der überwältigenden Schönheit. Am Rand der Stadt leuchtet das Blaue Meer. Im Sand spielen fröhlich zwei kleine Elfenkinder. Ich lege meine Hände auf das Geländer aus Marmor und lasse mir die wärmende Sonne ins Gesicht scheinen.

„Rose!“, höre ich einen freudigen Aufschrei. Von der anderen Seite des Gangs läuft ein Junge mit nacktem Oberkörper und einem Rock aus Wasser auf mich zu. Seine blonden Haare umrahmen sein Gesicht, seine braunen Augen blicken mich an. Als er bei mir angekommen ist, schließt er mich in seine Arme, als ob wir uns schon ewig kennen würden.

„Lass mich!“, ich stoße den Jungen weg. Ich kenne ihn nicht einmal. Eine kurze Erinnerung flammt auf, „Er küsste mich auf einem Bett in einem Zug.“ Aber so schnell, wie die Erinnerung gekommen ist, so schnell ist sie auch wieder verschwunden. „Noel.“, schießt es mir durch den Kopf. „Dieser Junge muss Noel sein. Lasäi hatte ihn kurz erwähnt.“ Ich sehe, wie verletzt der Junge ist. „Entschuldige, kennen wir uns?“, frage ich so höflich wie möglich. „Rose?“, der Junge sieht mich verwirrt an. „Ich bin`s. Noel. Erkennst du mich nicht?“, ich lache. Dieser Junge erlaubt sich einen Scherz. „Guter Witz.“, sage ich. „Wirklich. Der war gut.“ „Ich scherze nicht!“, ruft der Junge aus. Jetzt bin ich es, die verwirrt ist. Ich runzle die Stirn. „Entschuldige bitte. Aber ich wüsste nicht, woher ich dich kennen sollte.“ „Rose.“, Der Junge betrachtet mich ungläubig. „Du hast alles vergessen? Wie ich dich gefunden habe, unsere Reise… du kannst dich an nichts erinnern?“, fragt er hoffnungsvoll. Ich schüttle den Kopf, drehe mich um und will gehen, aber er hält mich am Handgelenk fest, wirbelt mich herum und drückt seine Lippen auf meine. Ich wehre mich, schaffe es jedoch nicht ihn wegzustoßen. Dann lässt er von mir ab. Eine zweite Erinnerung löst sich aus meinem Geist. Verschwindet aber sofort wieder, ohne dass ich sie mir überhaupt anschauen kann. „Tu! Das! Nie! Wieder!“, schreie ich ihn an. Empört darüber, dass er sich erdreistet, mich einfach zu küssen. „Du fasst mich nie wieder ohne meine Erlaubnis an!“, fauche ich, wirble auf dem Absatz herum und gehe mit großen, schnellen Schritten davon, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich lasse diesen Jungen stehen, der mir erzählt hat, dass er angeblich mein Freund Noel sei. Als ob ich ein einziges Wort davon glauben würde. Ich lache bitter. Sollte dieser Junge so etwas noch ein einziges Mal versuchen, würde ihm Böses schwanen. Auf meinem Körper glühen demonstrativ meine Zeichen.

Ich wandle den ganzen Vormittag durch den Palast, sehe mir Räume und Zeichen an. Danach spaziere ich durch die Stadt, betrachte den Trubel und nehme die Auslagen der Stände in Augenschein. Ich gehe über einen großen Platz, um ihn herum stehen große Häuser mit kunstvollen Verzierungen bemalt und wunderschönen Palisaden geschmückt. Ich lasse meine Füße ihre Arbeit machen. Sie tragen mich dorthin, wo sie hinwollen. Am Schluss finde ich mich am Rande eines Dschungels wieder. Als ich eintrete, schlägt mir die schwere feuchte Luft der Tropen entgegen. Gerüche durchströmen meine Nase, die ich nicht identifizieren kann. In der Ferne höre ich ein sanftes Rauschen. Ich bewege mich weiter, unter meinen Füßen spüre ich das weiche Moos des Bodens. Es ist nass und warm. Das Rauschen wird lauter. Als ich ein besonders dichtes Dickicht durchdringe, finde ich mich am Fuße eines großen Felsvorsprungs wieder. Der Fels hängt knapp einen halben Meter über einem kleinen blauen See. Neben dem Felsen stürzt ein großer tosender Wasserfall in den kleinen See. Ich klettere hinauf bis an die Spitze des Felsens, setze mich und lasse meine Füße in das kalte erfrischende Wasser baumeln. Plötzlich habe ich große Lust zu singen. Ich öffne meinen Mund und singe. Helle glockenähnliche Töne strömen aus meinem Mund. Ich singe eine unbekannte Melodie. Es gefällt mir alleine zu sein und ich schwelge in Glück, darüber, mich einfach an der Natur und meinem neu gewonnenen Leben erfreuen zu können.

Bis es im Dickicht knackt. Ich höre auf zu Singen. Ich ahne, wer es ist. „Sein Bruder.“, denke ich. „Na, was vernehme ich denn da für angenehme Töne?“, fragt eine spöttisch klingende Stimme. „Folgst du mir?“, frage ich. Keylo pfeift anerkennend. „Du bist hübsch.“, sagt er und lacht. „Ich weiß ja nicht einmal, wer du bist. Aber ich glaube zu wissen, dass du in meinem Leben, bevor mir meine Erinnerungen genommen wurden, existiert hast. Ich glaube, die Elfen sind trickreich.“ Er lacht, fröhlich wie ein kleines Kind. Ich betrachte ihn. Er hat schwarze Haare, ein markantes Gesicht und blaue stechende Augen. „Du bist das genaue Gegenteil von deinem Bruder.“, stelle ich fest. Keylo macht eine wegwerfende Handbewegung. „Der!“, er lacht erneut. „Er schmachtet dir immer noch hinterher. Kann ich mich zu dir gesellen?“, fragt er gerade laut genug, um das Tosen des Wasserfalls zu übertönen. Ich sehe ihn lange an, überlege, dann nicke ich. Er kommt zu mir herüber und setzt sich neben mich. „Komisch, nicht wahr? Sich an nichts erinnern zu können, oder?“, fragt Keylo. Ich nicke. „Ich will meine Erinnerungen glaub ich gar nicht mehr.“, sage ich. „Ich will sie wiederhaben. Ich meine, vielleicht waren wir davor ja Feinde, oder… sogar zusammen oder so was.“, sagt Keylo, wirft den Kopf in den Nacken und lacht. Ich sehe ihn an. Betrachte ihn, feine Wassertropfen fangen sich in seinen Haaren, glitzern und blinken wie Sterne.

„Weißt du, ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nur noch, dass Noel mein Bruder ist und ihr euch nahesteht. Und es beunruhigt mich nicht einmal.“, sagt er wieder ernst. Ich mag ihn immer mehr. „Mir ist es egal, welche Rollen du und dieser Noel bisher in meinem vorherigen Leben gespielt habt. Wir können hierbleiben. Unser Leben von vorne beginnen und für immer hier sitzen und reden, so wie wir es gerade tun.“, antworte ich. Er sieht mich von der Seite an. „Könntest du das? Könntest du das wirklich?“, fragt er. Seine Stimme durchdringt die Wolken in meinem Kopf. „Ja“, denke ich. „Könnte ich das wirklich? Für immer hierbleiben?“ Lange überlege ich. Dann fasse ich einen Entschluss. „Nein. Ich glaube nicht, dass ich das könnte.“ Er sieht mich lange an.

„Ich glaube, ich kann mich an etwas erinnern. Du liebst Noel, er war dein Geliebter. Und mich… mich hast du gehasst. Weil ich der Böse von uns beiden bin.“ „Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?“, frage ich. Er legt seine Hand in meinen Nacken und küsst mich. Es passiert alles gleichzeitig. Durch meinen Körper jagt eine Hitzewelle, Erinnerungen durchfluten mein Gedächtnis und ich spüre Keylos Lippen auf den meinen. Rau, fremd. Es sind nicht Noels Lippen. Nicht die weichen, sanften Lippen, die mich küssten. Es sind Keylos. Ich lasse von ihm ab und öffne die Augen. Ich erinnere mich. Plötzlich ist alles wieder da. Meine Träume, Noel, die Reise… alles. Auch in Keylos Augen blitzt Erkennen auf. „Was?“, er sieht mich verwirrt an. Ein Schock durchfährt mich. „Ich habe Keylo geküsst.“ Mein erster Gedanke. Mein zweiter Gedanke: „Wo ist Noel?“ Und mein dritter: „Wo bin ich?“ In Keylos Gesicht sehe ich das gleiche große Fragezeichen. Dann Erkennen, gefolgt von Verlust. Schnell verbirgt er seine Gefühle hinter einer ausdruckslosen Maske. „Wir sollten das hier vergessen.“, sage ich, bemüht um Fassung ringend. Ich werde knallrot. Keylo lacht. „Wieso? Angst, dass es dir gefällt?“, fragt er Überraschung heuchelnd. „Nein.“, sage ich und eine zweite Hitzewelle fährt durch mein Gesicht. „Okay. Vergessen wir`s. Wir waren beide nicht wir selbst.“, meint Keylo. Mit diesen Worten, schließen wir einen unsichtbaren Pakt. Wir würden nie wieder darüber sprechen. „Wo sind wir hier?“, frage ich. „In der Wasserelfenstadt. Sie ist von einem Schutzring umgeben, der einen Sturm herbeiruft, sobald jemand die Grenze überquert.

Los, suchen wir Noel. Ich glaube, du schuldest ihm eine Entschuldigung. Ich kann mir allzu gut vorstellen, was passiert ist.“ „Okay. Und… wieso konnte ich mich an nichts erinnern?“ frage ich. „Die Elfen belegen dich mit einer ihrer Gaben.“ „Gaben?“ Er nickt. „Wenn du ihnen in die Augen siehst, sehen sie in deine Seele. Sie erfüllen dir all deine Wünsche. Gute und schlechte. Du darfst diesem Lasäi nicht noch einmal in die Augen blicken. Wenn du das tust, wird deine Gedächtnisblockade sich weiter verfestigen. Also, pass auf. Spiel mit, tu so, als ob du dich immer noch an nichts erinnern kannst. Wenn sie bemerken, dass du weißt wo du bist, wer du bist und was dein vorheriges Leben war, dann werden sie dich mit extrem starken Gedächtnisblockaden belegen. Sie wollen uns hierbehalten. “ Ich nicke. Vorstellen kann ich mir allerdings nicht, dass Lasäi so etwas tun würde. Er ist so… rein. Er könnte nicht einmal einer Fliege etwas zu leide tun. Oder? „Ich werde jetzt eine Jacht suchen und sie startklar machen. Beim Abendessen werde ich wieder zurück sein. Du gehst zu Noel und erklärst ihm alles. Nach dem Abendessen treffen wir uns hier. Verstanden?“, ich nicke, will gehen als Keylo sagt „Rose?“, ich drehe mich um.

Keylo steht da. Hinter ihm der Wasserfall. Seine schwarzen Haare voller glitzernder Wassertropfen. An seinem gebräunten Körper laufen die Wassertropfen schnell hinunter und vereinen sich mit den Tropfen auf dem glitschigen, moosbewachsenen Felsen. Mein Blick gleitet unbewusst über ihn hinweg. Ich betrachte ihn ungeniert. Seine blauen Augen, seine muskulösen Oberarme, hinab über seine Hüften und seine muskulösen Beine. Er ist dunkler geworden. Nicht mehr so blass, nicht mehr so… tot. Ich merke, dass auch er mich betrachtet. Sein Blick über mich schweift. Dann grinste er provokant. „Schickes Kleid.“ Ich sehe an mir hinunter. Ups! Erst jetzt bemerke ich, dass ich immer noch das notdürftig bedeckende Spitzenkleid anhabe. Hitze steigt mir ins Gesicht. „Schicker Rock.“, antworte ich amüsiert. Er sieht an sich hinunter und bemerkt, dass auch er nur diese seltsame Substanz aus blauem Wasser und Stoff anhat und nur das nötigste bedeckt wird. Er wirft den Kopf in den Nacken und blickt mich mit seinem seltsamen Gesichtsausdruck an. „Danke. Aber ich meine es ernst. Du bist schön.“ Moment. „Flirtet der etwa mir?“ Bevor ich über diese Tatsache nachdenken kann, war er schon im Dickicht verschwunden. „Vampire.“, Murmle ich leise vor mich hin.

Ich suche den Weg durch den Dschungel zurück, schlage mich durch das Unterholz und zerkratze mir die Arme. Ich öffne meinen Mund, um zu singen. Aber irgendwie klingt meine Stimme nicht mehr so schön wie zuvor. „Blöder Zauber. Pah! Kannst nicht mal schön singen? Schäm dich Rose.“, beschimpfe ich mich während ich unablässig durch den Dschungel schreite. Als ich auf die Hauptstraße der weißen Stadt komme, weiche ich Karren, Fußgängern und Pferden aus. Ich gehe lange. Ich gehe schnell. Ich will so schnell wie möglich meine Worte vergessen, die ich Keylo gegenüber gesagt habe, als meine Erinnerungen weg waren. Im Elfenpalast angekommen, durchschreite ich die Räume, sehe mich um und rufe nach Noel. Aber ich finde ihn nicht. Bis ich am Rande des Palasts ankomme. Ich betrete eines der Gewächshäuser, wo die Elfen ihre schönsten Meeresblumen pflanzen. Jedenfalls stand das auf einem Schild. Und tatsächlich. Es offenbart sich ein einziges Dickicht aus vielen verschiedenen Blumenarten. Alle sind blau und jede besitzt einen anderen Duft.

„Noel?“, rufe ich. „Noel?“ Es knackt. „Was willst du Rose?“, höre ich seine niedergeschlagene Stimme im Dickicht in der hinteren Ecke des Gewächshauses. Er tritt aus dem Schatten einer riesigen blauen Orchidee, deren Blüten fast so groß sind, wie die eines ausgewachsenen Mannes. Ich laufe zu ihm hin, umarme ihn und küsse ihn. Zuerst ist er wie erstarrt, aber dann erwidert er meinen Kuss leidenschaftlich. Seine Hände graben sich in meine Haare. „Es… tut mir leid, was vorhin passiert ist. Ich habe es nicht so gemeint. Ich konnte mich an nichts erinnern.“ „Ich verstehe.“ Er runzelt die Stirn. „Apropos. Wie hast du deine Erinnerungen wiederbekommen?“ „Ach, das ist nicht wichtig. Nichts, was es lohnt zu erzählen.“ „Okay.“ Er gibt mir noch einen schnellen Kuss. „Keylo will mit uns nach dem Abendessen flüchten. Wir treffen uns im Hafen. Dann bringt er uns zu einer Segelyacht oder so etwas. Damit wir still und leise, wie die Mäuschen abhauen können.“ „Still und leise?“ „Ja.“ „Da gibt es aber ein Problem. Wenn wir etwas vom Abendmahl essen, dann werden wir für immer an diesen Ort gebunden bleiben. Wir werden nie wieder hier wegkommen, egal was wir versuchen.“ „Oh.“ Ich überlege. „Wenn ich mich einfach krank stelle?“ Er nickt. „Das könnte eine Lösung sein.“ „Okay. Gehen wir zurück?“ „Ja.“ Wir sind auf dem Gang angekommen, der in mein Zimmer führt. Wir stellen uns auf den Balkon und sehen hinaus in die untergehende Sonne, die die weiße Stadt mit ihrem flüssigen Gold überzieht. Wir reden über belanglose Dinge. Ich höre die große Glocke des blauen Turms im Zentrum der Stadt schlagen. Sie erklingt als der letzte Sonnenstrahl am Horizont des Meeres verschwindet. „Abendmahl.“, spricht Noel das aus, was ich denke. „Na dann“, sage ich. „Viel Spaß, lass es dir schmecken.“

Ich habe Angst um Noel. Obwohl er mir erklärt hat, dass er sich nicht an diesen Ort binden muss, da er ja schon tot ist. Aber trotzdem habe ich schreckliche Angst. „Was, wenn es schiefgeht und eine Elf ihm eine Gedächtnisblockade auferlegt? Was, wenn er sich dann nicht mehr an unseren Plan erinnern kann? Was, wenn wir erwischt werden?“ Es ist eigentlich ein dummes Unterfangen. Zu denken, wir könnten von hier fliehen. Es schaffen.

Ich setze mich auf die Bettkante als es an der Tür klopft. Ein Zittern durchläuft mich. „Wer es wohl ist? Herein!“, rufe ich. Die Tür geht auf. Zu meinem Schrecken ist es Lasäi, der hereinkommt. Ich schaue ihm knapp über die Schulter. Nie direkt in seine Augen. Ermahne mich. Doch seine Augen haben eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Ich will ihm so sehr in die Augen sehen. Es ist fast unmöglich, es nicht zu tun. Aber ich widerstehe meinem inneren Drang. „Wieso kommst du nicht zum Abendmahl?“, fragt er. Ich hebe meine Hand und huste ein-, zweimal kräftig. „Mir… geht es nicht gut.“, sage ich. „Ich glaube, ich werde krank.“ Er sieht mich mitfühlend an. „Außerdem habe ich Verspannungen im Nacken.“ Er kommt lautlos zu mir herüber. „Wenigstens dabei kann ich dir helfen.“, sagt er und setzt sich zu mir an die Bettkante. Da spüre ich warme lange Finger in meinem Nacken. Sie massieren mich und lösen meine Verspannungen von meinem Genick über meine Schultern bis in den unteren Rückenbereich. Er massiert in langen kreisrunden Bewegungen. „Kannst du dich wieder an etwas erinnern?“, fragt er ganz nebenbei. „Nein.“, antworte ich. Seine Hände, streichen wieder hinauf, mein Rückgrat hinauf und massieren zwischen meinen beiden Schulterblättern weiter. Unwillkürlich entfährt mir ein leiser Seufzer. Er macht seine Sache gut. Dann fasst seine Hand mein Kinn und dreht meinen Kopf zu sich. „Sieh mich an.“, sagt er leise und zärtlich. Mich durchfährt es siedend heiß. Das darf ich nicht. Stattdessen küsse ich ihn. „Ich tue alles. Aber ich werde dir nicht in die Augen sehen. Nie.“, denke ich. Der Kuss gefällt dem Elf. Seine Lippen sind weich und kühl. Ich will mich schütteln, so weit wie möglich wegrennen. Aber ich bleibe. Ich lasse es geschehen, um meine Sicherheit zu gewährleisten. Und doch verrate ich Noel ein zweites Mal an diesem Tag. Dieses Mal bewusst. Ich spüre, wie die Hände des Elfs die Träger meines Kleids über meine Schultern streifen. „Er will mit mir schlafen.“, durchzuckt es mich kalt. „Nein! Das kann ich nicht! Nicht mit ihm!“, schreit alles in mir. Mein Verstand möchte in Panik ausbrechen und ihn wegstoßen. Weg von mir und meine Träger wieder hochziehen. Stattdessen befehle ich mir, ruhig zu bleiben. Ich lasse mich weiter küssen. Er wird immer leidenschaftlicher. Das spüre ich. Endlich schiebe ich ihn von mir und ziehe meine Träger wieder hoch. Ich vermeide seinen Blick. „Bitte. Gib mir noch einen Tag Zeit.“, sage ich und versuche so eingeschüchtert wie möglich zu klingen. Ich höre ihn schnaufen. „Natürlich.“, antwortet er. Mir fällt ein Stein vom Herzen. „Okay. Danke.“ Lasäi steht auf und geht zur Tür. „Bis morgen früh.“ „In Ordnung.“, ich nicke bekräftigend. „Davon träumst du. Ich werde hier nie wiederauftauchen. Nie wieder.“ „Bitte?“, fragt er, als hätte er meine Gedanken gehört. Ich blicke über seine Schulter hinweg. „Ach nichts“, sage ich bekräftigend. Er betrachtet mich misstrauisch, so als ob er etwas ahnen würde. Dann schüttelt er den Kopf und geht.

Ich setze mich wieder aufs Bett. Gehe ins Bad, wo ich mich betrachtete. Mir gefällt das Kleid. Darin sehe ich sehr hübsch aus. Aber ich fühle mich darin nicht mehr wohl. Ich fühle mich… unbedeckt. Ich schaue in den Badezimmerschrank. Dort finde ich eine schlichte, schwarze Leggins und einen schwarzen Kapuzenpulli, der mir an meinen Armen zu weit ist, meine Hüfte betont und bauchfrei ist. Ich ziehe das Kleid aus und springe unter die Dusche. Ich schrubbe mir mit der Seife die Berührungen von Lasäi vom Leib, bis meine Haut rot und Wund ist. Dann trockne ich mich mit einem Handtuch ab und ziehe mir die neuen Sachen an. So fühle ich mich schon viel wohler in meiner Haut. Meine roten Haare lasse ich einfach nass, sie würden nach einiger Zeit schon trocknen. Ich schnappe mir einen komischen runden blauen Beutel aus Leder oder so etwas und fülle die Früchte aus der Schale hinein, damit wir etwas zu Essen haben, wenn wir fliehen. Ich warte. Ich bete, dass Lasäi nicht noch einmal auftauchen möge. Zuerst bleibe ich sitzen, dann tigere ich im Zimmer auf und ab. Meine Anspannung wächst, die Zeit verstreicht langsam. Neun Uhr. Ich esse ein Stück Apfel, der mir aber nicht schmeckt. Er ist mehlig. Ich spucke ihn auf den Boden und werfe den Rest des Apfels in den Mülleimer. Zehn Uhr. Ich sehe mir die blauen Zeichen auf den Wänden genau an. Fahre sie mit meinen Fingern nach und überlege, ob sie vielleicht irgendeine Bedeutung haben könnten. Elf Uhr. Ich setzte mich auf das Bett. Noch eine Stunde, dann würde Noel mich hier abholen und wir würden runter zum Hafen und zu Keylo laufen.

Plötzlich höre ich ein Scharren an der Tür. Wie erstarrt sitze ich da. Die Elfen dürfen auf gar keinen Fall bemerken, dass ich mich umgezogen habe und fluchtbereit bin. Drei Silhouetten treten in mein Zimmer. Durch das schwache Mondlicht kann ich nur wenig erkennen. Die Gestalten stehen im Schatten und nicht im Licht des Mondes. „Ich höre, du bist krank.“, spricht eine leichte, sanfte Stimme. Ich schlucke. „J…ja.“, stammle ich. „Wieso bist du dann vollständig angezogen?“ Die Gestalt ist ein männliches Wesen. „Was mache ich jetzt? Ich will dich sehen.“, sage ich laut und verständlich. Die Gestalt im Schatten scheint für einen Moment zu zögern. Endlich tritt sie aus dem Schatten der Balustrade und Mondlicht fällt auf sie. Er ist schön.

„Hallo. Feuerträumerin. Wie lautet dein Name?“, fragt er mich. „Ich bin Rose.“, sage ich. „Für gewöhnlich stellt man sich einander vor, wenn man sich kennenlernt.“ Er nickt. „Ich bin Fi Lu. Ich bin ein Wasserelf. Der Oberste von allen, in eurer Hierarchie wäre ich ein König.“ In der Tat. Er rennt mit nacktem Oberkörper herum und hat wie die anderen einen komischen Rock aus Wasser an. Sein Körper ist übersät von blau türkisen Zeichnungen. Es sieht wunderschön aus, fast so, wie bei uns Träumern. Warum sind alle Männer oder Jungen, denen ich begegne immer so hübsch?

„Was hat Lasäi mit mir gemacht?“, frage ich und meine die Gedächtnisblockade. Er zögert. „Wir wussten ja nicht, dass du kein Mensch bist.“, die Worte treffen mich hart. „Kein normaler Mensch? Heißt das, nur, weil ich Träumerblut in meinen Adern habe, bin ich ein Tier? Oder ein Monster? Oder gar etwas von allen drei Kategorien?“, schießen mir die Fragen durch den Kopf. Anscheinend versteht Fi Lu und seine Augen werden groß. „So meine ich das nicht.“, sagt er. Mir kullert eine kleine Träne die Wange hinunter, ich wische sie hastig weg. „Du willst gehen, nicht wahr?“, fragt er mich. Ich nicke. „Aber warum?“ Auf Fi Lus Gesicht legt sich ein fragender Ausdruck. „Ich werde gejagt.“ Antworte ich, Fi Lu breitet die Arme aus „Hier bist du am sichersten Ort in ganz Italien.“, meint er. „Nein. Sie werden mich überall finden. Auch der Schatten.“, sage ich leise.

Ich kann den Schrecken in Fi Lus Augen sehen. „Ein Schatten?“, fragt er. Ich nicke. „Bitte. Du musst uns gehen lassen. Jeden weiteren Tag, den wir hier sind, wird deine Insel in mehr Schwierigkeiten bringen, als du zählen kannst.“ Er hebt die Hände. „Stopp. Wir? Das heißt…, dass du noch Freunde hast?“, fragt er. Ich nicke. „Keylo und Noel. Keylo macht gerade ein Boot unten am Hafen bereit. Wir müssen heute noch gehen.“ Er sieht mich lange an. „Nun gut. Geht, aber ich habe eine Bedingung.“ „Welche?“ „Wenn ich euch gehen lassen sollte, dann will ich auch etwas dafür haben. Sozusagen eine kleine Gefälligkeit, von Wasserelf zu Träumer“, sagt er mit bösem Lächeln. „Was willst du?“, frage ich. „Deine vollständige Kraft.“ Ein Schock durchfährt mich. Meine Kräfte? Das ist das einzige, was mich vor diesen Wasserelfen schützt. Meine Kraft kann ich ihm nicht geben. „Ich könnte ihn doch überwältigen.“, schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. „Ich könnte ihn einfach mit meiner schieren Kraft verbrennen. Ich könnte ihn töten.“ Ich erschrecke vor mir selbst. „Wie kann ich nur so etwas denken, geschweige denn in Betracht ziehen? Es wäre ganz einfach. Nur ein wenig Kraft, einen kleinen Feuerball abschießen und ihn in eine lebendige, brennende Fackel verwandeln.“ Bei diesem Gedanken wird mir schlecht. „Denkst du wirklich, du könntest mich überlisten?“, fragt Fi Lu und lacht. „Denkst du wirklich, du wärst stark genug, mich zu bezwingen? Pah!“ Plötzlich spüre ich, wie sich eisige Finger nach mir ausstrecken. Seine blauen Zeichnungen fangen an zu glühen. Wasser schießt aus seinem Körper auf mich zu und hebt mich hoch. „Ahhh!“, stöhne ich. Das Wasser löscht mein inneres Feuer aus und macht daraus schwelende Kohle. So kalt ist es. „Lass mich runter!“, kreische ich. Fi Lu lacht nur und schüttelt den Kopf.

In diesem Moment geht die Tür auf und Noel stürzt hinein. Er braucht einen Moment, um die ganze Situation zu analysieren. Als er begreift und stürzt er sich auf Fi Lu, der immer noch im Mondlicht steht. Die beiden stürzen zu Boden. Dieser kleine Moment reicht aus, um Fi Lu abzulenken. Der Wasserstrahl wird unterbrochen und ich stürze auf den glatten, kalten Marmorboden. Ich muss schnell handeln bevor Fi Lu wieder zur Besinnung kommt. Ich versuche eine Explosion zu verursachen. Es geht aber gründlich schief. Ich konnte mit meinen Kräften noch nicht üben. Es zischen rotglühende Feuerbälle aus meiner Brust und explodieren genau unter Lasäi und der anderen Wache. Die beiden sind auf der Stelle außer Gefecht gesetzt. Fi Lu hat sich inzwischen wieder aufgerappelt und zielt erneut mit seinen Händen auf mich. Aber, er hat die Abrechnung ohne Noel gemacht, denn dieser stürzt sich erneut auf ihn und versucht Fi Lu mit bloßen Fäusten niederzuringen. Verbissen wehrt sich Fi Lu und verpasst Noel einen Kinnhaken. Er schüttelt sich und gibt Fi Lu einen Tritt in den Bauch. Er stürzt und schlägt mit dem Kopf auf die Tischkante. Dann gleitet er schlaff wie ein Sack zu Boden. Ich eile zu den beiden Wachen und halte mein Ohr an ihre Brust. Zu meiner Erleichterung sind sie nicht tot, sondern nur bewusstlos.

Noel packt mich an der Hand und sagt: „Komm wir müssen los, bevor noch jemand bemerkt, dass wir aufgeflogen sind.“ Ich nicke und wir laufen los. Den Gang entlang, die Treppe hinunter aus dem Palast durch enge Gassen und Straßen, an Läden und Händlern vorbei in Richtung Hafen. Noel führt mich. Doch bald verlassen mich meine Kräfte. Schnaufend bleibe ich stehen. „Ich kann nicht mehr Noel.“, sage ich. „Du musst!“, sagt er. Die Leute, die an uns vorbei gehen betrachten uns neugierig. Hinter uns höre ich eine laute Stimme. „Haltet sie!“ Köpfe wenden sich, Gesichter starren uns an. Verwirrung in ihren Gesichtern, Panik. Die Leute rufen, Babys fangen an zu weinen und zu schreien. Die Wächter des Wasserelfs haben uns gefunden und laufen auf uns zu, stoßen die anderen Wasserelfen grob zur Seite. Uns bleiben nur noch ein paar Sekunden. Wir laufen. Nach wenigen Schritten müssen wir wieder anhalten, mein Seitenstechen zwingt mich in die Knie. „Was… machen… wir… jetzt?“, ringe ich verzweifelt nach Luft. Noel sieht mich an. „Vertraust du mir?“, fragt er. „Das weißt Du doch.“ Noel hebt mich hoch, der Wächter ist nur noch wenige Zentimeter von uns entfernt! Er greift schon nach meiner Kapuze als Noel losschießt. Ich spüre ein Reißen an meinem Hals, einen kurzen Widerstand, die Kapuze reißt von meinem T-Shirt ab. Wir lassen den Wächter mit einer Zornesröte und einer abgerissenen Kapuze weit hinter uns.

Ich klammere mich an Noel und schließe die Augen, damit es mir nicht den Magen umdreht. Ich spüre seine Anstrengung, sein Herz pocht, seine Muskeln sind zum Zerreißen gespannt und sein Atem geht schnell. Ein kleiner Ruck. „Du kannst deine Augen jetzt aufmachen.“, sagt Noel leise. Vorsichtig öffne ich sie. Mir steigt der Geruch von verfaultem Fisch und Algen in die Nase. Wir sind am Hafen. Vor uns liegt eine kleine Jacht, die im dunklen aufgewühlten Meer auf und ab hüpft. „Los komm.“, sagt Noel. „Wir haben es gleich geschafft. Wir sind bald weg von dieser Insel.“

Wir gehen eine Planke hoch, die vom Anlegeplatz hinauf in die Dreimasteryacht führt. Ich betrachte alles ausgiebig, die langen Seile, die Kapitänskajüte das Steuerrad. Keylo steht vor der Kapitänskajüte und lächelt mich an. „Keine Zeit… müssen los!“, schnauft Noel. Ich nehme an, dass ihn das schnelle Laufen und mein Gewicht ihn schwer erschöpft haben. Keylo lächelt. „Bring sie unter Deck.“, befiehlt er laut und bestimmt. Noel fasst mich am Arm und will mich zur Tür der Kajüte bringen. Aber, ich entwinde mich ihm und sage: „Ich kann helfen!“. Ich sehe förmlich, wie sich die Rädchen in Noels Hirn drehen. „Na schön.“, meint er. „Aber versprich mir, keine waghalsigen Aktionen. Keine Eigenständigkeiten und du bleibst im Hintergrund.“ Ich stöhne, nicke aber. Von weitem höre ich laute Rufe, die Stimmen scheinen sehr schnell näher zu kommen. Keylo und Noel versuchen das Schiff aus dem Hafen hinaus zu lotsen. Große Schiffe stehen im Weg, sodass wir nicht hinauskommen. „Du bist aus dem Feuer geboren. Du bist aus Zerstörung, Chaos, Feuer, Wut und Schwärze gemacht.“, höre ich in meinem Hinterkopf die Worte Tschets.

Eine Idee macht sich breit. „Natürlich!“, rufe ich. Entgegen Noels Anweisungen, laufe ich an den Bug und stelle mich vorne an die Spitze der Yacht. Ich blicke zurück und sehe zu meinem Entsetzen, dass Noel und Keylo die Yacht nicht mehr lenken, sondern sie verteidigen. Die Wächter des Meerespalastes klettern über die Planken auf das Schiff. Keylo und Noel ergreifen zwei Schwerter, die sie zwei überwältigten Wächter abgenommen haben. Sie lagen benommen auf dem Deck ohne sich noch rühren zu können. Ich wende meinen Blick wieder nach vorne, damit ich sehen kann, was uns den Weg verstellt. Vor uns liegt ein riesiger Dreimaster, der unserer kleinen Yacht den Weg aus der Bucht versperrt. Links und rechts von uns ragen Felsen aus dem Meer. Die Yacht schwappt auf und ab. Ich sammle meine Kräfte und konzentriere mich darauf den Dreimaster irgendwie zu versenken. Meine Augen schließen sich. Ich versuche mir vorzustellen, wie der riesige Dreimaster in Flammen steht. Als ich einen lauten Knall höre, öffne ich meine Augen vorsichtig. Ich beobachte, wie aus meinem Körper, aus meinen Händen, Beinen, Armen, meiner Brust und meinem Gesicht Flammen schießen und riesige Löcher ins Heck des Dreimasters brennen. Die Flammen fressen sich durch die Segel, verbrennen das Holz und lassen die Fenster durch die Hitze bersten. Ich füttere meine Flammen so lange ich kann, schiebe die Momente des Schmerzes auf. Dann verlassen mich meine Kräfte und ich sinke zu Boden. Wellen des Schmerzes strafen meinen Körper, Krämpfe schütteln mich, sodass ich fast vom Boden abhebe. Dann ist alles vorbei. Ich habe nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. Ich versuche aufzustehen, einen Arm zu heben, doch es ist für den Moment zwecklos. In diesem Zustand bin ich vollkommen schutzlos wie ein Neugeborenes. Den Rest muss ich Keylo und Noel überlassen.