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Die Herausgeberinnen:

Florence von Gerkan ist Professorin und Leiterin des Studiengangs Kostümbild an der Universität der Künste Berlin. Sie ist als Kostümbildnerin international im Schauspiel und im Musiktheater tätig.

Nicole Gronemeyer, Dr. phil., ist Cheflektorin bei Theater der Zeit und Mitherausgeberin von „Lektionen 2 Regie“ (gemeinsam mit Bernd Stegemann).

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Ein Gemeinschaftsprojekt von Theater der Zeit und der Universität der Künste Berlin.

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Wir danken der Theaterkunst Kostümausstattung, namentlich Susanne Franke,
dass wir ihre Präsenzbibliothek mit wertvollen Fundstücken historischer
Kostümbücher für die Bildrecherche nutzen konnten.

Für Martin

Lektionen 6
Kostümbild
Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer (Hg.)

© 2016 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit
Verlagsleitung Harald Müller
Im Podewil | Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer
Gestaltung: Sibyll Wahrig
Fotos: S. 62 – 81 © Florence von Gerkan

ISBN 978-3-95749-042-1
eISBN 978-3-95749-089-6

Lektionen 6

Kostümbild

Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer (Hg.)

VORWORT

I. GRUNDLAGEN VON AUSBILDUNG UND BERUF

Florence von Gerkan

FIGURENERFINDER FINDEN

Die Aufnahmeprüfung für das Kostümbildstudium

rosalie

DAS ALPHABET DER SCHÖNHEIT

Anna Eiermann

WIE MAN DIE WÜNSCHE BEIM SCHWANZ PACKT!

Bettina Walter

WAS GESTRICHEN IST, LEUCHTET IM DUNKELN

Reinhard von der Thannen

WIE MAN PROFESSOR WIRD ODER EIN DOPPELLEBEN

Miriam Dreysse

ENTWURFSPROJEKTE: VERNETZUNGEN VON PRAXIS UND THEORIE

Lisa Meier

FILM KOSTÜM BILD

Florence von Gerkan

WEGE ZUM KOSTÜM

Kostümentwicklung „Richard III“

Gertrud Lehnert

ZU MODEKÖRPERN UND IHRER LESBARKEIT

Fanti Baum und Charlotte Pistorius

THINKING (IN) COSTUME – EINIGE SKIZZENHAFTE ÜBERLEGUNGEN ZUR VERABGRÜNDUNG DES KOSTÜMBILDES

Kattrin Michel

PRODUKTIONSSTRUKTUREN IM KOSTÜMBILD

Julia Burde

DAS BÜHNENKOSTÜM

Aspekte seiner historischen Entwicklung

II. KOSTÜMBILDNERINNEN UND KOSTÜMBILDNER IM GESPRÄCH

DIE HAND FÜHRT DEINE SEELE ZUM PAPIER

Ein Gespräch mit Martin Rupprecht

OPULENT WAR NUR DIE PHANTASIE

Ein Gespräch mit Moidele Bickel

ICH DENKE IMMER IN STOFFEN

Ein Gespräch mit Barbara Baum

DU KANNST GAR NICHTS FALSCH MACHEN

Ein Gespräch mit Dagmar Niefind

OPTISCHE DRUCKPUNKTE

Ein Gespräch mit Johannes Schütz

DIE BÜHNE IST NICHT DAS LEBEN

Ein Gespräch mit Andrea Schmidt-Futterer

BITTE ZUR ANPROBE IN DIE SCHLOSSEREI

Ein Gespräch mit Anna Viebrock

DIE FIGUR ZUR ERSCHEINUNG BRINGEN

Ein Gespräch mit Bernd Skodzig

FRITSCH WAR EINE GLÜCKSBEGEGNUNG

Ein Gespräch mit Victoria Behr

MATERIE VERWANDELN

Ein Gespräch mit Lea Søvsø

DAS KLEID AN SICH MUSS KEIN GUTES KOSTÜM SEIN

Ein Gespräch mit Sophie Reble

III. STAATLICHE HOCHSCHULEN KOSTÜMBILD

Berlin – Universität der Künste

Berlin – Kunsthochschule Weißensee

Dresden – Hochschule für Bildende Künste

Graz – Universität für Musik und darstellende Kunst

Hamburg – Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Hannover – Hochschule Hannover

München – Akademie der Bildenden Künste

Offenbach – Hochschule für Gestaltung

Salzburg – Universität Mozarteum

Stuttgart – Staatliche Akademie der Bildenden Künste

Wien – Akademie der bildenden Künste

VORWORT

„Wir fundieren also unsere Moral des Kostüms auf der Notwendigkeit, in jedem Fall den sozialen Gestus des Stückes zu manifestieren. Das heißt, dass wir dem Kostüm eine rein funktionelle Rolle zuweisen werden und diese Funktion eher intellektueller Art sein wird als körperlich gestaltend oder emotional. Das Kostüm ist nicht mehr als der weitere Ausdruck einer Beziehung, der in jedem Moment den Sinn des Werkes seiner äußeren Erscheinungsform hinzufügen muss. Also ist alles im Kostüm schlecht, was die Klarheit dieser Beziehung verwirrt, dem sozialen ‚Gestus‘ des Stückes widerspricht, ihn verschleiert oder verfälscht; im Gegensatz ist alles gut, was in Formen, Farben, Substanzen und ihrer Anordnung dem Verständnis dieses ‚Gestus‘ hilft.“ (Roland Barthes, Essais critiques, Paris 1964)

Was Roland Barthes in den 1950er Jahren in Auslegung des epischen Theaters von Bertolt Brecht formuliert hat, lässt sich als der Beginn der Entwicklung des Kostümbildes als Kunst im modernen Sinne lesen. War das Kostümbild im 19. Jahrhundert die textile Ergänzung zum bürgerlichen Literaturtheater, bezeichnet es nun ein künstlerisches Handlungsfeld, das weit über das hinausgreift, was man einmal mit dem Begriff Ausstattung benannt hat, es wird zum mitdenkenden Gestalter einer Inszenierung. Das Ziel dieser Inszenierung war für Brecht ein neuer Realismus, der nicht das Abbild einer Wirklichkeit im Sinne des psychologischen Realismus von Stanislawski ist, sondern die verborgenen gesellschaftlichen Widersprüche mittels der Verfremdung zur Erscheinung bringt. Im epischen Theater werden die Mittel der Inszenierung als solche vorgeführt und emanzipieren sich im weiteren Verlauf der jüngeren Theatergeschichte von der ihnen zugeschriebenen funktionellen Rolle. Sie beanspruchen mehr und mehr ästhetische Autonomie, indem die Materialität des sinnlichen Ereignisses auf der Bühne in den Vordergrund tritt.

Das Kostümbild hat im zeitgenössischen Theater den Anspruch, eine eigenständige künstlerische Setzung zu sein, bei der der Kostümbildner innerhalb des künstlerischen Leitungsteams, also gemeinsam mit dem Bühnenbildner und dem Regisseur, eine Welt erfindet. In diesem Anspruch trifft es auf ein weites Verständnis dessen, was Theater sein kann: Neben die psychologisch motivierte Figureninterpretation des klassischen Dramentextes treten Einflüsse aus der bildenden Kunst, dem Tanz und der Performance, die mit ganz anderen Strategien der Verkörperung arbeiten. Der Versuch, einen anderen Wirklichkeitsbezug auf der Bühne herzustellen, kennt gleichermaßen Formen des Dokumentartheaters, die mit Laien arbeiten, wie kunstautonome Bestrebungen, die die Realität des Bühnenereignisses und die Präsenz des Akteurs zum Thema machen. In diesem Spektrum haben die ästhetischen Setzungen, die das Kostümbild macht, völlig verschiedene Aufgaben; doch bei aller künstlerischen Eigenständigkeit kann das Kostüm nie isoliert von dem Menschen auf der Bühne betrachtet werden, mit dem es agiert.

Wenn man also den Entwurf des Kostümbilds als einen künstlerischen Handlungsmodus begreift, der mit Formen und Materialen am Körper des Darstellers arbeitet, wie lässt sich diese Kunst erlernen? Und welche Voraussetzungen sind es, die ein junger Mensch mitbringen sollte, der Kostümbildner werden will? Florence von Gerkan gibt in ihrem Beitrag zur Aufnahmeprüfung einen Einblick, nach welchen Interessen und Fähigkeiten bei den Bewerbern gesucht wird, um „Figurenerfinder“ zu finden. Dabei geht es jedoch nicht darum, eine bestimmte Schule vorzuführen, sondern durch die Beiträge der Lehrenden verschiedener Hochschulen wird im ersten Kapitel die gesamte Breite und Vielfalt im Verständnis des Fachs und seiner Vermittlung dargestellt. Im kreativen Zentrum steht dabei der Entwurf, das „Alphabet der Schönheit“, wie es rosalie in ihrem Artikel sinnlich und sinnhaft beschreibt. An allen Beiträgen ist abzulesen: Der Entwurf ist ein zutiefst ernsthafter, an eine Subjektivität gebundener schöpferischer Prozess, der zugleich nur im Zusammenspiel der Theaterkünste funktionieren kann.

Jede Inszenierung ist anders, das Theater und seine Menschen sind ebenso ein lebendiger Körper wie der Träger des Kostüms. Eine allgemeingültige Anleitung für eine gelingende Arbeit kann es daher nie geben. Um aber die Praxis erfahrbar zu machen, zeigen wir hier modellhaft am Beispiel von Richard III in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne die Arbeitsschritte am Kostümbild von Florence von Gerkan.

„Körper und Kleid sind aufeinander angewiesen und dieses Verhältnis ist wechselseitig“, schreibt die Modetheoretikerin Gertrud Lehnert in einem der theoretischen Beiträge für diesen Band, und fährt zuspitzend fort: „Der Körper ist da, damit das Kleid existiert, und das Kleid ist da, damit der Körper existiert – nämlich damit er auf eine bestimmte Weise realisiert werden kann: als kultivierter Körper.“ Als solcher kann er, wie Lehnert sagt, „gelesen“ werden, er ist sozial und geschlechtlich markiert.

Was zwischen den bekleideten Akteuren im Alltagstheater in der Regel unbewusst abläuft, ist im Theater eine bewusste ästhetische Setzung. Die Kostümhistorikerin Julia Burde hat hier erstmals den Versuch unternommen, die Geschichte des Bühnenkostüms von der Antike bis in die Gegenwart zu beschreiben. Sie „liest“ die zeitspezifische Zeichenhaftigkeit des Kostüms und macht diese anhand der Stilisierung, d. h. der stilistischen Entfernung des Bühnenkostüms von der Alltagskleidung, deutlich. Die verschiedenen Epochen der Theatergeschichte kennen unterschiedliche Grade der Stilisierung, in der Antike beispielsweise ist die Nähe zur Alltagskleidung groß, im Barock gering; man findet aber auch innerhalb einer Epoche Unterschiede, etwa im 19. Jahrhundert, das sowohl die täuschend echten Kopien alltäglicher Kleidung im Naturalismus als auch die Kostümierungen des Unterhaltungstheaters kennt. Als ein Kennzeichen des Kostüms der Gegenwart sieht sie dessen „Ahistorizität, seine Emanzipierung von der ursprünglich im Stück vorgegebenen Zeit oder Epoche“. Diese Ahistorizität entspringt einem konzeptuellen Denken, das sie in Zusammenhang damit sieht, was wir unter dem Stichwort Regietheater verstehen. Ein Stück erfährt eine Aktualisierung und Interpretation durch einen Regisseur und damit auch eine ästhetische Setzung, die ihr Pendant im Kostümbild findet, das sich zwischen Ganzkörpermaske und Straßenkleidung bewegen kann. Die Vielfalt dieser „Handschriften“ lässt sich an den Gesprächen mit Kostümbildnerinnen und Kostümbildnern im zweiten Kapitel ablesen. Es sind Vertreter dreier Generationen, die gerade auch in ihrer Gegensätzlichkeit die unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Theater und damit von Kostüm vor Augen führen.

Eines haben die Gespräche gemeinsam: Für alle der Befragten führte der Weg zum Beruf des Kostümbildners über eine künstlerische Ausbildung. Nicht immer fand die im Rahmen eines Studiums des Kostümbildes statt. Genau genommen fast nie, da es außer der Universität der Künste in Berlin keinen reinen Studiengang Bühnenkostüm gibt. Die meisten Studierenden finden sich in den Studiengängen Bühnenbild, in denen eben auch Kostüm unterrichtet wird, wie die Übersicht über die staatlichen Hochschulen im deutschsprachigen Raum in dritten Kapitel zeigt. Wenn wir hier den Versuch unternehmen, den Beruf des Kostümbildners vorzustellen, hat dies durchaus auch das Ziel, zur Selbstbestimmung einer Kunst beizutragen, die entscheidend ist für das Gelingen einer Inszenierung. Das Kostüm bekleidet nicht, es verhüllt und enthüllt den lebendigen Körper und gehört zur Kunst.

Ein wichtiger Hinweis zum Schluss: Der Beruf des Kostümbildners wird überwiegend von Frauen ausgeübt. Dennoch haben wir uns aus Gründen der Lesbarkeit entschlossen, weitgehend auf eine gendergerechte Auszeichnung zu verzichten. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.

Wir danken Petra Peters, Isabelle Pikörn, Bernd Stegemann und Sibyll Wahrig für ihre Anregungen, konstruktive Kritik und Unterstützung sowie allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die dieses Buch durch ihre Texte und Interviews möglich gemacht haben.

Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer
Berlin im März 2016

I.

Grundlagen von Ausbildung und Beruf

 

Florence von Gerkan

FIGURENERFINDER FINDEN

Die Aufnahmeprüfung für das Kostümbildstudium

Die Aufnahmeprüfung an künstlerischen Hochschulen soll sicherstellen, dass die Bewerberinnen und Bewerber die notwendigen Voraussetzungen für das Studium besitzen. Das Studium dauert in der Regel fünf Jahre, ist also eine sehr lange und intensive Zeit, die die Studierenden mit Lehrenden und Kommilitonen verbringen. Die Entscheidungsfindung der Prüfungskommission ist daher mit einer großen Verantwortung gegenüber den Bewerbern verbunden. Sie muss entscheiden, ob sie die Interessen, Fähigkeiten und die künstlerische Begabung mitbringen, die notwendig sind, um das Studium erfolgreich absolvieren und den Beruf ausüben zu können. Was also braucht ein junger Mensch, der Kostümbildner werden will? Die Aufnahmeprüfung soll Antworten auf folgende Fragen geben: Zeichnet man gern und gut? Interessiert man sich für Textilien und Kleidung? Hat man Lust daran, Figuren zu erfinden, sich zu verwandeln und zu verkleiden? Beobachtet man gerne Menschen und interessiert sich für ihre Erscheinung? Erzählt man gerne Geschichten? Geht man gerne ins Theater, ins Kino und interessiert sich für Tanz, Oper und andere darstellende Künste? Hat man Freude an Literatur, bildender Kunst und Musik? Und wie wird all das nun geprüft?

Die Prüfungskommission ist bemüht, anhand von Aufgaben und eines persönlichen Gesprächs herauszufinden, ob der Berufswunsch zu einem erfolgreichen Studium führen kann. Die Bewerber sind zumeist noch sehr jung, haben einen erkenntnisreichen Ausbildungsweg vor sich, der auch mitunter nicht immer ganz linear verläuft. Das Studium ist ein wertvoller Zeitraum, sich selbst kennenzulernen, sich auszuprobieren oder sich möglicherweise auch neu zu orientieren. Eine Garantie für ein erfolgreiches Studium und anschließende Berufstätigkeit nach bestanderer Eignungsprüfung kann es nicht geben. Erst im Laufe des Studiums reift die künstlerische Persönlichkeit mit all ihren Höhen und Tiefen. Daher ist es sehr wünschenswert, dass sich die Bewerber schon vor dem Studium möglichst genau mit dem Berufsfeld des Kostümbildes auseinandersetzen und Erfahrungen und Eindrücke sammeln, die sich auch mit den verschiedenen Theaterberufen befassen. Dem Kostümbild sind viele Berufe verwandt, etwa der Gewandmeister, Maskenbildner, Bühnenbildner, Ausstattungsleiter, Requisiteur, Modist oder Kostümgestalter.

Der Beruf des Kostümbildners ist außerordentlich anspruchsvoll und fordert die Lösung von komplexen Aufgaben zusammen mit dem Regisseur, dem Bühnenbildner, den Schauspielern und allen anderen Beteiligten. Theaterschaffen ist ein kollektiver Prozess – ein gemeinsames Nachdenken! Der Kostümbildner muss innerhalb dieses komplexen künstlerischen Prozesses reagieren, entwerfen, verwerfen und neu starten können, er braucht viel Kraft und Flexibilität, starke Nerven, Gespür und Sensibilität, mutige Experimentierfreudigkeit und die Bereitschaft zur Teamarbeit. Er bringt seine intellektuellen Fähigkeiten und eine geschulte Wahrnehmung ein, um gemeinsam mit den anderen im künstlerischen Team Geschichten von Menschen erfinden und erzählen zu können. Es geht nicht, wie oft angenommen wird, vorrangig um schöne Verkleidungen, bunte Stoffe und märchenhafte Traumwelten. Der Kostümbildner ist ein scharf beobachtender und konzeptionell denkender Mensch, der auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit reagiert und in Auseinandersetzung mit Gegenwart und Geschichte Impulse für die Arbeit auf der Bühne aufgreift und ihn gesellschaftlich verantwortlich handeln lässt.

Studienstrukturen

In der Theaterpraxis finden sich alle möglichen Konstellationen in der Zusammensetzung der künstlerischen Teams – es gibt Kostümbildner oder Regisseure, die auch die Bühne entwickeln, Bühnenbildner, welche auch die Kostüme entwerfen, doch häufig verantworten zwei Künstler jeweils das Kostüm- bzw. das Bühnenbild. Dies kann künstlerische Gründe haben, ist aber oft auch aufgrund der Arbeitsintensität und des hohen Zeitaufwands eine sehr sinnvolle Aufteilung. Dennoch ist das Kostümbildstudium an den Kunsthochschulen in der Regel Teil der Bühnenbildausbildung. Als eigenständiges Studium wird Kostümbild bisher nur an der Universität der Künste Berlin angeboten. Doch das komplexe Ausbildungsprofil im Kostümbild, welches ein sehr reiches Fächerangebot erfordert, hat sich zunehmend auch an anderen Orten als eigenständiges Fachgebiet emanzipiert. Hinweise auf den jeweiligen Ausbildungsschwerpunkt finden sich in Kapitel III.

Im Zuge der Umstellung auf die neuen BA-/MA-Studiengänge gibt es unterschiedliche Studienstrukturen an den Universitäten und Hochschulen. Einige Ausbildungsstätten bieten noch ein Diplomstudium an, andere sind auf modularisierte BA- und MA-Studiengänge umgestellt. Module sind Lehr- und Lerneinheiten, die sich aus einer oder mehreren Lehrveranstaltungen, dem dazugehörigen Selbststudium und Prüfungen zusammensetzen. Jedes Modul endet mit einer Prüfung, mit deren Bestehen die Studierenden das Erreichen der Lernziele des Moduls nachweisen.

In der Regel sind das BA- und das MA-Studium unterschiedlich strukturiert. Das BA-Studium bietet den Studierenden den Raum, Aspekte ihrer künstlerischen Persönlichkeit zu entwickeln und sich ein breitgefächertes und fachspezifisches Instrumentarium anzueignen. Der Bachelorabschluss ist berufsqualifizierend und entspricht den gegenwärtigen Anforderungen an einen möglichst vielseitig ausgebildeten Kostümbild-Assistenten.

Im MA-Studium werden diese Kenntnisse vertieft, in der künstlerischen Praxis erprobt und reflektiert. Die Studierenden finden individuelle Schwerpunkte in ihrer künstlerisch-beruflichen Ausbildung und qualifizieren sich zum eigenständigen Kostümbildner innerhalb eines Regieteams für die unterschiedlichen Sparten des Theaters und in interdisziplinären künstlerischen Projekten. Das Diplom-Studium unterscheidet sich in seinem Aufbau und der Art des Abschlusses vom Bachelor-Studium. Es ist zweigeteilt: Nach dem Grundstudium in den ersten beiden Jahren, das mit dem Vordiplom endet, beginnt das Hauptstudium. Das Studium endet mit der Diplomarbeit.

Die Prüfung

Alle Kostümbild-Studiengänge prüfen die künstlerische Begabung der Bewerber durch eine künstlerische Aufnahmeprüfung. Diese ist je nach Ausbildungsprofil der verschiedenen Studiengänge unterschiedlich. Üblicherweise finden die Aufnahmeprüfungen einmal jährlich entweder zum Sommer- oder Wintersemester statt. Voraussetzung für eine Bewerbung ist meistens die Allgemeine Hochschulreife (Abitur); in Ausnahmefällen kann diese durch den Nachweis einer außergewöhnlichen künstlerischen Begabung ersetzt werden. Ausländische Studienbewerber müssen deutsche Sprachkenntnisse nachweisen. Die Bewerberzahlen schwanken zwischen ca. 60 bis 100 Kandidaten auf etwa 4 bis 15 Studienplätze. Der Anteil an weiblichen Bewerbern ist hoch. Die geringe Anzahl an Studienplätzen liegt einerseits darin begründet, dass auch das Berufsfeld für Kostümbildner relativ eingeschränkt ist; die Arbeitsplätze an Theaterinstitutionen und beim Film sind nicht sehr zahlreich. Andererseits liegt sie in der Notwendigkeit einer individuellen Betreuung der Studierenden begründet.

Die Eignungsprüfung gliedert sich meist in eine Vorauswahl (Mappe), eine praktische und eine mündliche Prüfung. In einem ersten Schritt müssen sich die Bewerber bei der jeweiligen Hochschule schriftlich für die Prüfung anmelden; hierbei sind neben dem Anmeldeformular ein Lebenslauf sowie Schul- bzw. Ausbildungszeugnisse einzureichen.

Als Nächstes müssen Bewerbungsmappen mit eigenständigen künstlerischen Arbeiten eingereicht werden. Die eingereichten Mappen werden von einer Prüfungskommission in nichtöffentlicher Sitzung begutachtet. Bewerber, deren Mappen für gut befunden werden, erhalten eine Einladung zu einer Prüfung, die meist aus einem praktischen (künstlerische Klausurarbeit) sowie aus einem mündlichen Teil (Gespräch) besteht. Die praktische und mündliche Prüfung erfolgen meist an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen an der jeweiligen Hochschule. Die genauen Termine und Prüfungsmodalitäten entnehmen Sie bitte den Homepages der jeweiligen Institutionen. Es wird empfohlen, sich vorab möglichst genau zu informieren!

Was soll in die Mappe?

Die Mappen sollen die künstlerische Begabung und Kreativität der Kandidaten nachweisen. Sie sollen außerdem einen Eindruck der Person vermitteln, seiner Motivationen, Interessen und Vorstellungen. Den meisten Mappen soll aus diesem Grund ein persönliches Motivationsschreiben beigefügt werden, also eine Erläuterung des eigenen Berufs- bzw. Studienwunsches. Erwünscht sind zudem Vorkenntnisse wie Praktika, viele Theater-, Kinound Ausstellungsbesuche, Interesse an Literatur, bildender Kunst und anderen Kunstsparten; auch dies kann schriftlich dargelegt werden. In die Mappe gehören eine je nach Institution variierende Anzahl eigenständiger künstlerischer Arbeiten nach freier Themenwahl. Gewünscht sind unterschiedliche Techniken wie Zeichnungen, Malerei, Fotografie, Video, plastische Arbeiten, Objekte, narrative Arbeiten wie Storyboards oder Bildersequenzen, Skizzenbücher oder auch theaterspezifische Arbeiten wie Figuren- oder Raumentwürfe. Teilweise werden Kostüm- oder auch Bühnenbildentwürfe zu einem selbst gewählten Stück sowie ein dazugehöriges schriftliches Konzept gefordert; manche Studiengänge stellen auch sich jährlich ändernde Aufgaben, die bearbeitet werden sollen. Zusätzlich werden an manchen Hochschulen schriftliche Erfahrungsberichte zu Theateroder Opernaufführungen, Tanz, Film oder Ausstellungen gewünscht.

Geprüft werden mit der Mappe Qualitäten wie Kreativität, Intensität, Phantasie, künstlerische Sensibilität, Beobachtungsgabe, Materialgefühl, Darstellungsfähigkeiten möglichst in verschiedenen Techniken, aber auch Neugier, Offenheit und Enthusiasmus. Wesentlich ist die Eigenständigkeit der eingereichten Arbeiten. Es empfiehlt sich, möglichst viele Arbeiten speziell für die Mappe zu entwickeln, also nicht nur auf in der Schule Entstandenes zurückzugreifen. Mappenkurse sind keine Garantie für eine erfolgreiche Prüfung, da die Kommissionen großen Wert auf die eigene Kreativität und Selbstständigkeit der Bewerber legen.

Was wird in der praktischen Prüfung gefordert?

In der praktischen Prüfung sind unterschiedliche Aufgabenstellungen in einer bestimmten Zeit zu bearbeiten, die jährlich neu gestellt werden. Geprüft werden die Befähigung zum selbstständigen Arbeiten und die künstlerische Kreativität, aber auch Beobachtungsgabe, analytische Fähigkeiten, Abstraktionsvermögen, Sensibilität, Phantasie und Materialgefühl. Gefordert werden Darstellungsfähigkeiten mit verschiedenen Techniken, wie beispielsweise Zeichnen und Malen, aber auch dreidimensionale, skulpturale Umsetzungen in ein Material. Auch die erzählerische Phantasie kann geprüft werden.

Wie sieht die mündliche Prüfung aus?

Die mündliche Prüfung wird als Einzelprüfung durchgeführt und besteht aus einem Prüfungsgespräch über künstlerisch-fachliche Fragen. Die Prüfungskommission setzt sich normalerweise aus mehreren Mitgliedern der jeweiligen Institution zusammen (Dozenten und studentische Vertreter). Der Prüfungsteilnehmer hat neben der Befähigung, am Unterricht in deutscher Sprache teilnehmen zu können, sein Reflexionsvermögen über die eigenen künstlerischen Projekte und Vorstellungen nachzuweisen. Wichtig ist hier zudem, dass der Bewerber eine Bewusstheit der eigenen Mittel erkennen lässt. Besprochen werden die Arbeiten der eingereichten Mappe und der praktischen Prüfung, das spezifische Interesse an künstlerischen Prozessen sowie die Motive und Perspektiven des persönlichen Berufswunsches. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Prüfung ist natürlich ein ernsthaftes Interesse an dem Berufsbild des Kostümbildners. Der Beruf erfordert ein Höchstmaß an Flexibilität, Offenheit, Teamfähigkeit, Strapazierfähigkeit etc. und besonderes Interesse am Menschen. Daher ist schon in der Aufnahmeprüfung sehr entscheidend, was die Kandidaten an Neugier, Offenheit für Neues und Begeisterungsfähigkeit, Interesse an inhaltlichen und ästhetischen Fragestellungen und an möglichen gesellschaftlichen Funktionen von Kunst haben. All dies ist eine wichtige Grundhaltung sowohl für das Studium als auch für das spätere Berufsleben.

Wichtig ist, dass die Kandidaten nicht nur durch ihre Begabung, sondern auch durch ihr lebhaftes Interesse am Beruf, an Theater und an Kultur allgemein überzeugen. Engagement, Motivation und unbedingter Wille zum Theater sollten spürbar sein. In dem Prüfungsgespräch darf der Bewerber gerne auch von eigenen prägenden Theatererfahrungen berichten – von Aufführungen, die er besonders gut oder besonders schlecht fand – und seine Meinung begründen. Die Kommission möchte erkennen, dass die Bewerber viel Zeit mit Kunst und Kultur verbringen, dass es ihnen ein echtes Anliegen ist, Theater, Oper, Film, bildende Kunst etc. zu rezipieren und damit zu leben. Sie sollten beweisen, dass sie über ihr eigenes künstlerisches Tun nachdenken und Entscheidungen begründen können.

Zulassungsverfahren in Master-Studiengängen

Die Zugangsvoraussetzungen für die Master-Studiengänge sind ein Hochschulabschluss im Bachelorstudiengang Kostümbild an der eigenen Universität oder in einem gleichwertigen Studiengang einer anderen Hochschule sowie eine besondere künstlerische Begabung. Voraussetzungen sind zudem künstlerische, wissenschaftliche und handwerkliche Grundkenntnisse über den Entwurf von Bühnenkostümen. Die meisten Master-Studiengänge haben keine Altersbegrenzung und sind auch als Zweitstudium möglich. Die Aufnahmeprüfung zu den Master-Studiengängen erfolgt zumeist einmal jährlich in zwei Stufen, dem Einreichen einer Mappe und einer mündlichen Prüfung. Zunächst muss man sich, wie bei der Bewerbung für einen Bachelor-Studiengang, zur Prüfung anmelden. Hierbei sind neben dem Anmeldeformular die Zeugnisse (einschließlich BA-Zeugnis) sowie ein Lebenslauf einzureichen. Danach muss eine Mappe mit eigenständigen bildnerischen Arbeitsproben eingesendet werden, unter anderen kann hier auch die BA-Arbeit eingereicht werden.

Kriterien bei der Bewertung der Mappe

Grundsätzlich gelten für die Mappe, die für einen Master-Studiengang eingereicht wird, ähnliche Vorgaben und Kriterien wie bei derjenigen, die für einen Bachelor-Studiengang eingereicht wird. Zusätzlich wird Wert auf künstlerische Autonomie und eigenständige Arbeitsweise gelegt. Dies sollte durch eine oder mehrere eigenständige Entwurfsarbeiten belegt werden, die mit einem schriftlich ausgearbeiteten Konzept eingereicht werden sollten. Wichtige Kriterien sind dabei Reflexionsvermögen und eine Bewusstheit der Mittel. Begutachtet werden eine eigene künstlerische Positionierung, die künstlerische Ausdruckskraft sowie die Intensität der Auseinandersetzung. Von Interesse sind auch Bezüge zur Gegenwart, zu aktuellen Fragestellungen und ästhetischen wie theoretischen Diskursen sowie selbstverständlich die technische, handwerkliche Umsetzung der Kostüme, Entwürfe, Objekte und Projekte.

Mündliche Prüfung

Die positive Beurteilung der geforderten Arbeitsproben berechtigt zu einem ausführlichen Aufnahmegespräch mit der Zulassungskommission. Im Prüfungsgespräch wird ausgelotet, wie sich die Arbeiten der Mappe zur Person verhalten, inwieweit der Bewerber zu Selbstreflexion bzw. zur Reflexion seiner Arbeiten fähig ist und wie seine persönliche Motivation hinsichtlich des Berufsbildes des Kostümbildners ist. Die menschliche Begegnung ermöglicht ein Kennenlernen der Persönlichkeit.

rosalie

DAS ALPHABET DER SCHÖNHEIT

In der Kunst geht es immer um Entgrenzung. Denn für die Dynamik eines künstlerischen Prozesses sind Kunstgenres und Theatersparten zweitrangig. So empfinde ich jedenfalls meine eigene Arbeit. Ich sehe mich nicht nur als bildende Künstlerin, die auch Opern „ausstattet“. Und ich sehe mich nicht als Opernausstatterin, die auch malt oder Objekte und Installationen macht. Wenn ich ein Theaterstück „ausstatte“, muss ich mich natürlich auf bestimmte Rahmen- und Formbedingungen einlassen. Das ist aber auch so, wenn ich eine Lichtinstallation entwerfe. Ich empfinde also mein gleichzeitiges Arbeiten als bildende Künstlerin und als Theaterkünstlerin nicht als Grenzüberschreitung – außer in dem Sinn, in dem jede künstlerische Arbeit immer Grenzüberschreitung ist.

Es gibt natürlich Konventionen, Organisationsformen und Institutionen, die eine solche Trennung der Sparten und Kunstformen hervorbringen. Als ich am Anfang meiner Arbeit stand, wurde ich immer gefragt: „Sag mal, machst du jetzt angewandte oder freie Kunst?“ Diese Frage ist Unsinn, denn diese Trennung gibt es nicht mehr. Die Übergänge sind fließend, die Bereiche verzahnt, eines befruchtet das andere. Und deshalb muss es uns immer wieder um Entgrenzung gehen. Ich bin eine leidenschaftliche Verfechterin des Crossover, des Spartenübergreifenden, des Interdisziplinären. Denn erst so kann Kunst wirklich multimedial werden, was ja gerade für das Theater enorm wichtig ist: dieses Zusammenspiel verschiedener medialer Ebenen. Erst dadurch wird Theater zum Experiment Gesamtkunstwerk.

Wenn es allein darum ginge, für eine Handlung ein realistisches Drumherum zu bauen, also zum Beispiel die Schmiedewerkstatt für Alberich und seine Nibelungen – wenn also „Ausstattung“ allein das Schaffen einer realistischen Umgebung für eine Handlung meinte, dann bin ich in diesem Sinne sicher keine Theater-„Ausstatterin“. Ich hasse den Begriff „Ausstattung“, wie Bühnenbild und Kostüme auch heute noch bezeichnet werden: Er sollte zum „Unwort“ erklärt werden. Im Kaufhaus gibt es den Herrenausstatter. Die Bühne gehört der Kunst. Ein Bühnenbild, Kostüme, Räume – all das hat für mich nichts mit Illustration zu tun, nichts mit Dekoration, nichts mit Rekonstruktion. Mir geht es um das Erfinden, Entwickeln, um Kunstarbeit. So wie es eine dramatische Struktur gibt, so muss es auch eine bildnerische Struktur geben. Denn erst aus diesem Zusammenspiel entsteht das Überraschende, das Unvorhersehbare – die Tiefe.

Wenn ich Kostüme und Räume für ein Theater-Werk kreiere, beginne ich immer mit einer sehr genauen und intensiven strukturellen Analyse: mit einem intensiven Studium des Stückes auf allen Ebenen und vor allem deren Ablagerungen darunter, daneben und darüber. Das ist wie ein Röntgenblick. Aber dann schlage ich das Buch zu – und fange an, aus dem Bauch heraus zu malen, zu zeichnen, zu entwerfen. Die Konstruktion des Kostüms soll sich nach dem Entwurf richten, nicht umgekehrt. Alles ist realisierbar, solange der Entwurf stimmt. Und danach kommt wieder ein Prozess des Denkens, der Kontrolle, der Revision, am liebsten gemeinsam mit dem Regisseur, dem Choreografen, dem Komponisten, dem Dirigenten. Man muss gern mit Menschen zusammenarbeiten und dabei jeden sein lassen wie er ist. Was heute gilt, ersetzen wir morgen durch eine bessere Idee. Anzustreben ist eine Erweiterung des Erreichten, eine andere Tiefe. Ich bin immer gern in jedwedes kalte Wasser gesprungen. Und ich stehe dazu, dass das in gewisser Weise etwas Chamäleonhaftes hat. Wichtig ist die Neugier. Die Situationen des Alltags, wo auch immer sie stattfinden mögen – Messen, Baustellen, Bäckereien, Bahnhöfe – das sind die Tempel, dort findet man die Heiligtümer, die uns inspirieren. Auch fremde Kulturen, fremde Orte bringen uns dazu, unsere eigene Wahrnehmung ständig zu hinterfragen und zu verändern. Ich möchte nicht in dem verharren, was ich sowieso schon kann. Deswegen schätze ich die Teamarbeit, besonders auch im Theater.

Röntgenblick. Das heißt auch, dass ich versuche, zu den wesentlichen Koordinaten eines Werkes vorzudringen, um von dort aus meinen Weg zu finden. Dabei bloß von Stimmungen auszugehen, von Assoziationen – das ist viel zu wenig. Es wäre geschmäcklerisch. Geschmack heißt nicht intelligent, das allein führt nicht zur Kunst. Das bliebe nur auf der Oberfläche und würde langweilig. Das Werk, seine Strukturen, Beziehungen, Entwicklungen sind der Ausgangspunkt. Es ist ein Sezieren, ein Forschen, ein Entdecken. Das bedeutet einerseits Abstraktion – und andererseits auch wieder sehr konkret zu werden. Zum Beispiel in der Materialität eines Bühnenbildes: Die muss wirklich zum Wesen des Stückes und seiner Figuren werden, sie muss das, was im Wesen des Stückes liegt, materiell wiedergeben. Deswegen suche ich immer wieder nach neuen Materialien, nach neuen Techniken, die vielleicht auch überraschend sind, weil man sie im Kontext des Theaters gar nicht kennt. Diese Neugier ist mir total wichtig, denn sie gibt mir die Möglichkeit, auch ein historisches Stück noch einmal ganz neu zu erschließen. Die Kostümarbeit lebt aus dem Geist der Verwandlung und aus den Dissonanzen der Zeit. Das Material sollte dazu immer neu erfunden, erarbeitet und bearbeitet werden. Es darf nicht darum gehen, den üblichen Materialfundus zu übernehmen, sondern die Materialien unserer Umgebung zu prüfen, ihr Eigenleben wahrzunehmen, mit ihnen zu denken, sich an ihnen zu reiben. Aus dieser Reibung und Spannung entstehen Impulse, die die Kostümarbeit in authentische Richtungen bringen. Wie es ausgeht, kann man nie vorhersagen, wir wissen nie, wohin wir kommen, denn Mythos ist Material, mit einer meist unbrauchbaren Oberfläche; die gehört abgekratzt. Wir wissen nur, dass im Mythos etwas verborgen liegt, etwas, das mit unserer Biografie, mit jedermanns Biografie, zu tun hat – dahin müssen wir vordringen und auf diesem Weg gibt es keine verbürgten Erkenntnisse, nur Entdeckungen, Überraschungen, Irrtümer, Unfälle, Zufälle. Kostümerfinden bedeutet zuallererst, das Material und den Herstellungsprozess leidenschaftlich als Herausforderung zu sehen, es sinnlich erleben zu wollen. Beim Experimentieren in der Materialfindung sollte die Angst vor Schönheit und Hässlichkeit schwinden und sich der Mut zum Probieren, zum Einschlagen unbekannter Wege, zum Ausloten der Grenzen steigern. Spannend ist das Eigenleben des Materials jenseits seiner Verwendung. Ein Kostüm- und Bühnenbildner sollte sich frei fühlen, ungewöhnliche und zweckentfremdete Materialien miteinander zu kombinieren, mit dem Unmachbaren spielerisch zu experimentieren, um somit Materialkontraste zu schaffen. Ein abstraktes, geometrisches Stück Stoff kann durch den spielerisches Umgang, beispielsweise durch Wickeln, zu einem raffinierten, komplexen Kostüm werden – es kann Schleppe, Kleid, Mantel und/oder durch Verhüllen und Enthüllen erotisch und sinnlich sein. Wenn man Materialien in diesen Kontext des Theaters neu einbringt, dann verwandeln sie sich, gerade auch dann, wenn es ganz alltägliche Dinge sind. Ein Eimer wird zu einem magischen Lichtgefäß, er birgt plötzlich Geheimnisse und fordert uns zu einer neuen Sichtweise heraus. Durch diese Verwandlung kann eine wunderbare Leichtigkeit entstehen, eine höhere Heiterkeit, etwas Spielerisches – das ist mir ganz wichtig. Bei meinen Bildern für den Bayreuther Ring zum Beispiel: Ich wollte dieses Riesenwerk nicht wie Atlas stemmen, sondern ich wollte ihm Flügel verleihen, wie einem bunten Riesen-Falter. Der Wald vor der Drachenhöhle war bei uns kein finsterer Märchenwald, sondern ein grüner Baldachin aus Sonnenschirmen, die beim Waldweben anfingen zu atmen: ein ganz leichtes Bild, bei dem jeder sehen konnte, dass es mit Alltagsgegenständen gemacht ist, und das doch genau die Atmosphäre schuf, die die Musik insgeheim eigentlich evoziert.

Dieses Arbeiten am Material, im Material, dieses Suchen nach Material, bei dem es nicht darum geht: Wie baue ich jetzt mal am besten einen Baumstamm?, sondern darum, eine materielle Entsprechung für die Struktur, für die Seele einer Szene zu finden, und sich dann dieser Dynamik des Materials auch wieder zu überlassen: Das ist natürlich ein Ansatz, bei dem meine Prägung durch die bildende Kunst ins Theater hineinwirkt. Wobei ich immer wieder schauen muss, ob sie mich in das Stück hinein oder aus dem Stück heraus trägt. Denn das ist natürlich klar: Es geht nicht um l’art pour l’art, das wäre die schlechteste Verbindung von Theater und bildender Kunst. Sondern es geht darum, in einen Prozess zu kommen, in dem die Arbeit am Material sich immer wieder zurückbindet an das Werk, dass sie sich damit ganz neu verwebt, verschichtet und dadurch neue Bedeutungsebenen erschließt. Das ist ein ständiges Reagieren, Hinterfragen, Weiterentwickeln.

Kostümarbeit heißt, sich vollständig damit zu identifizieren. Unsere Phantasie kann nur dann produktiv werden, wenn sie mit der Realität zusammenstößt und dadurch umschlägt. Das heißt, den Kostümen auch unser Chaos mitzuteilen, um sie auf den Punkt der Intensität zu bringen, mit unseren Mitteln, mit unserem geschichtlichen Bewusstsein, unseren Widersprüchen, die sich auch im Werk nicht auflösen. Dazu gehören auch der Zufall und unser blitzartiges Reagieren in jeder Sekunde der Kostümarbeit. Es ist wie ein Gewitter im Labor – das ist in vielen Serien festzuhalten, bildnerisch, in Skizzen, in Malerei und Zeichnung, in Fotografien, im Film, im Modell und Material- und Raumuntersuchungen. Phantasie ist ein Funken Elektrizität, eine atmosphärische Störung, die Lebendigkeit, die man dem Werk schuldet, komprimiert auf die Zeit der Aufführung.

Beim Theater geht es natürlich auch um das Seelenleben der Figuren, um Charaktere – also um Persönlichkeitsstrukturen, um Psychologie, um seelische Entwicklungen. Hier steht der Mensch im Mittelpunkt, er ist der Maßstab. Das Kostüm ist die konkrete Definition der Figur. In eine Rolle schlüpfen heißt: immer wieder andere Geschichten erzählen – Rollen anziehen wie Kleider. Und der Raum muss das Schicksal der Figuren reflektieren, nur dann bekommt auch die Figur einen Umriss, eine Kontur. Es geht sowohl um einen Aktionsraum wie auch um einen geistigen Raum, der alle Dimensionen der Handlung in sich aufnehmen kann. Der es erlaubt, sie sinnlich erfahrbar zu machen, indem er Beziehungen zwischen den Figuren stiftet und die Entfaltung ihrer Potentiale herausfordert. Für das Kostümbild bedeutet das: Zuerst ist die inhaltliche Figur, dann die Persönlichkeit des Darstellers, auch der Körper des Darsteller, genau zu beobachten, zu analysieren, zu spüren. Das sind die Grundlagen, denn Kostüm ist Architektur in der Bewegung, es darf nie aufgesetzt sein, sondern muss eins werden mit der Figur, selbstverständlich werden, auch in der Bewegung. Erst dadurch wird das Kostüm und folgend natürlich der Darsteller präsent. Oft ist es sogar besser, etwas nicht exakt zu Ende zu definieren, sondern dem Darsteller die Luft und die Möglichkeit des Tragens und der Bewegung zu erhalten. Ein Bühnenkostüm unterscheidet sich von Alltagskleidung ganz klar in der Fernwirkung. Das Bühnenkostüm funktioniert im besten Fall noch in der letzten Reihe des dritten Rangs. Beim Tanzkostüm geht es um Faktoren wie Körperlinie und Choreografie. Es muss jede Bewegung mitmachen und einen eigenen Kommentar dazu geben; es muss der Figur in jeglicher Hinsicht maximale Präsenz geben.

Das Unkomplette, auch durch die Schminke kontrastiert – ein komplettes Kostüm kann unglaublich spannend werden mit einem ungeschminkten Gesicht oder natürlichen Haaren – eröffnet eine große Freiheit zur ständigen Weiterentwicklung durch den Darsteller. Das Kostüm wird im Spiel zum Ereignis. Der Prozess von der Figur über den Entwurf bis hin zum Schnitt und der Verarbeitung und über die Premiere hinaus ist ein ständig offener, kreativer, disparater work in progress. Das Kostüm bleibt nicht nur Material, sondern wird besonders – wird magisch, poetisch, aussagekräftig, lebendig. Dieser Prozess ist immer von zwei Seiten her gefährdet: Die eine Gefahr ist die, das Werk mit Bildern zu verdoppeln. Wenn dem Werk im bildnerischen Medium nicht eine eigenwertige künstlerische Kraft entgegentritt, kann man’s gleich lassen, denn es ist ja nicht so, dass sich die Musik nicht auch durch sich selbst mitteilen könnte. Die andere Gefahr ist die der Überformung. Das ist ja ein Vorwurf, der Bühnenbildnern, die von der bildenden Kunst geprägt sind, immer wieder gemacht wurde: dass sie einfach ihre Handschrift über das Werk stülpen, ohne wirklich darauf zu reagieren. Das kann auch passieren – dann nämlich, wenn man bei der Arbeit nur von sich selbst ausgeht. Aber das wäre doch todlangweilig, es wäre völlig unlebendig. Dann steht da eine selbstgenügsame Installation auf der Bühne, die nicht in Wechselbeziehung mit dem Werk, mit seinen Figuren, seinen Prozessen tritt. Es geht doch immer um die Findung von neuen Lesarten: gemeinsam im Team.

Ich möchte an die Wurzeln gehen, und ich möchte ins Radikale gehen. Dieses Interesse am Neuen, am Durchdringen der Oberfläche: Es hat mich sehr früh zur zeitgenössischen Musik geführt. 1977 habe ich angefangen, bei Jürgen Rose Bühnenbild zu studieren, bereits 1978 konnte ich beim Festival Cantiere d‘Arte in Montepulciano L‘Imperatrice di Terranova von Henning Brauel nach Wedekind in szenische Bilder umsetzen. Seitdem war ich eng mit Hans Werner Henze befreundet, der den Cantiere damals leitete, und für dessen Pollicino ich 1981 bei den Schwetzinger Festspielen Raum und Kostüme entworfen habe. Er engagierte mich dann 1988 für Detlef Glanerts Leyla und Medjun für die Erste Münchener Biennale für neues Musiktheater. Die kontinuierliche Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten ist bis heute meine Leidenschaft. Mich hat es immer gereizt, diese neuen Klänge und Formen zu erkunden, zu erforschen. Diese Werke sprengen schon durch ihre immanente Struktur die Grenzen einer konventionellen Oper, ihre Komponisten lassen sich oft nicht allein durch „Handlungen“ anregen, sondern durch Strukturen, durch optische Visionen, durch Verlaufsvorstellungen. Wenn man erlebt, wie weit sich solche neuen Werke vom traditionellen Erzählen einer Geschichte mit Musik entfernt haben, und wie stark sie von anderen Kunstgenres inspiriert sind, könnte man durchaus vermuten, dass im Sprengen jener Grenzen, die die Institution Theater noch immer aufrecht erhält, ihre Zukunft liegt. Wenn ich mich bildnerisch mit Musik auseinandersetze, gibt es Momente der Annäherung, aber auch Entfernungen, die Spielräume, Assoziationsräume aufspannen, in denen etwas Eigenes, Neues entstehen kann. Das heißt: Es geht nicht um Synästhesie im engeren Sinne, sondern eher darum, der Musik in einem eigenen künstlerischen Medium zu antworten, sodass auch für den Zuschauer neue Sichtweisen auf ein Werk entstehen – und dann vielleicht auch wieder neue Arten des Hörens. Im Idealfall ist das sowohl für mich als Schaffende wie auch für die Rezipienten eine Forschungsreise, eine Recherche, wo es etwas zu entdecken gibt: Wo kann sich das hinentwickeln? Wie kann man das immer wieder neu entgrenzen? Und wo entstehen im Zusammenspiel von Musik, Bild und Licht neue Freiräume? Entscheidend ist für mich, dass bei alledem etwas Poetisches entsteht. Es muss ein Geheimnis haben, es muss schweben … Es muss auch herausfordern. Es sollte immer alles Metamorphose werden und damit auch die Zuschauer verwandeln.

In letzter Zeit habe ich viel mit Licht gearbeitet. Es ist ein spannendes Medium, um auf Musik zu reagieren: immateriell wie der Klang, kann man Farben und Strukturen erzeugen, kann imaginäre Räume erschließen. Licht setzt Emotionen frei. Es ist so, dass zwei Medien ins Spiel miteinander kommen: Reibung und Annäherung. Und es entsteht daraus – wie bei einer chemischen Reaktion – etwas Neues. Interdisziplinarität und die damit verbundene Multimedialität setzt ein klares Bewusstsein von den Strukturen der beteiligten Medien voraus – und damit auch der unterschiedlichen strukturellen Bedingungen. Man muss sich ja nur vor Augen führen, wie streng und genau Musik die zeitlichen Abläufe eines Werkes festlegt. Das ist eine Dimension, die bei vielen Formen der bildenden Kunst völlig offenbleibt. Das heißt: Ich kann mich nur auf dieses andere Medium einlassen, wenn ich in der Lage bin, mich mit dieser Struktur auseinanderzusetzen. Bildnerisches Denken im Theater muss immer auch profund dramaturgisch sein und in der Auseinandersetzung wachsen! Das gilt für die Kostüme, für die Maske, für das Licht, den Raum … Freiheit bekommt man nur dann, wenn man das, wovon man sich befreit, ganz genau erkundet. Wenn man darauf reagiert. Sonst bleibt es Willkür, bleibt es diffus. Phantasiearbeit muss sehr präzise sein. Sie muss auf den Grund gehen, um fliegen zu können.

Theater, wie das Kostüm, ist immer eine einmalige Situation, ein singuläres Ereignis. Entweder es funktioniert oder es funktioniert nicht! Jedes Kostüm, auch wenn man das Stück schon zwanzig Mal gemacht hat und es zu kennen vermeint, fordert immer wieder, Neues, Unbekanntes zu erschließen und sich selber überraschen zu lassen. Erst wenn technisches, funktionales Denken vollbracht ist, können die Phantasie und das Kostüm ihre volle Wirkung erzielen. Man muss einen Bleistiftstrich in Stoff, Stahl, Gummi, Seidenband, Licht oder Teer übersetzen können. In der Umsetzung, die Präzision, Freiheit und Offenheit ohne Ende impliziert, sollte man kompromisslos sein, denn diese Arbeit ist unsere zentrale Verantwortung und der Wille zum Ausdruck. Das Kostüm definiert die große Topografie des Theaters im Detail. Jede Dosis und Oberdosis von Kunst darf sein. Es geht um Kunst-Material-Form-Inhalt und immer um Erfindungen jenseits aller Moden und jeglichem Luxus und allen Moden voraus. Mir geht es um das Alphabet der Schönheit, um die Kunst des Schnitts und immer um das besondere Material in seiner speziellen Verarbeitung, Wirkung und Anmutung. Kunst versus Konvention, Avantgarde gegen Ausstatter.

Ich finde, lebendiges Theater braucht diese Form menschlicher und künstlerischer Grenzüberschreitung. Sonst kann es sich nicht erneuern. Wo wir uns durch Konventionen oder Institutionen zu sehr in die Trennung der Disziplinen, ins reine Spezialistentum, in eine sterile Ordnung und bequeme Überschaubarkeit hineindrängen lassen, da droht der Kunst die Gefahr der Erstarrung. Adorno hat einmal gesagt: „Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.“ Diesen Satz finde ich wunderbar – genau darum geht es mir.

rosalie ist Bühnen- und Kostümbildnerin und bildende Künstlerin und Professorin für Bühnen- und Kostümbild an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

Der Text entstand auf Basis eines Gesprächs mit Detlef Brandenburg für Die Deutsche Bühne 1/2010 und wurde für diese Publikation ergänzt.

Anna Eiermann

WIE MAN DIE WÜNSCHE BEIM SCHWANZ PACKT!