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»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Jan Philipp Reemtsma

Wie weiter mit
Sigmund Freud?

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36

20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-690-3
Umschlagfoto: Wikimedia Commons

© 2008 by Hamburger Edition (Print)
Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Um die Frage »Wie weiter mit Sigmund Freud?« zu beantworten, werde ich mich zunächst damit auseinandersetzen, was Psychoanalyse ist, um dann zu fragen, wie man, ausgehend von der Psychoanalyse, deren Verhältnis zur Analyse des Sozialen zu bestimmen gesucht hat; vor allem werde ich auf die wichtigste kultur- oder zivilisationstheoretische Schrift Freuds, »Das Unbehagen in der Kultur«, zu sprechen kommen und schließlich auf die Dimension des Sozialen, des Individuellen und des Anthropischen.

I

Zunächst also: Was ist Psychoanalyse? Wenn ich die Frage »Wie weiter mit Freud?« stelle, geht es mir um die Bedeutung Freuds für die Sozialwissenschaften. Die aber lässt sich natürlich nicht befragen, ohne auf das zu sprechen zu kommen, was die Psychoanalyse eigentlich ausmacht. Ich bin – nicht nur in diesem Falle – Nominalist und Anhänger von Realdefinitionen. »Philosophie« ist das, was die Leute in philosophischen Seminaren machen, wenn sie da ihre Arbeit tun; »Psychoanalyse« ist zumindest das, was Angehörige psychoanalytischer Vereinigungen einander unterstellen, zu tun.

Das kann durchaus unterschiedlich sein, aber man wird nicht umhinkönnen, das Wittgensteinsche Konzept der Familienähnlichkeiten zu bemühen: Wer sagen wollte, was eigentlich ein Spiel ausmacht, wird nicht weit kommen, aber man kann zwischen Fuß- und Handball eine Reihe von Gemeinsamkeiten ausmachen, zwischen Hand- und Volleyball, zwischen Volleyball und Tennis … und irgendwann kommt man über Tischtennis, Tischfußball zu Schach, Dame und Fang den Hut!. Aber was hat Fang den Hut! mit Fußball zu tun? So kann man (wie ich mir habe sagen lassen) die Freudianer, die Kleinianer, die Lacanianer bis in Details ihrer Kongressgewohnheiten und manchmal sogar modischen Präferenzen unterscheiden, aber auch wenn sie einander in Stunden des Zorns die Zugehörigkeit zu derselben Familie absprechen, so bleibt ihr Zank doch einer unter Geschwistern, zumal sie sich alle auf denselben Vater beziehen. Der Streit darüber, wer legitimerweise noch dazugehört und wer nicht, ist keiner, der durch Beschreibung entschieden werden könnte, sondern ein normativer, der innerhalb der Familie geführt wird (und zu einer Ausstoßung führen kann) – wenn man kein Familienmitglied ist, hat es wenig Sinn, an ihm teilnehmen zu wollen.

Wenn man aber nicht durch ordnende und normative Bedürfnisse getrieben wird, so kann es doch etwas wie ein wissenschaftstheoretisches Interesse geben, das einen übers bloße Achselzucken hinaus engagiert sein lässt. Dieses Interesse wird durch einen Streit stimuliert, der für die sozialwissenschaftliche Akzentuierung der Frage »Wie weiter mit Freud?« von Belang ist. Ist die Psychoanalyse primär eine Therapie, die im Laufe ihrer Geschichte auch immer wieder große und kleine Ausflüge in Literaturtheorie, Soziologie, Historiographie, Massenpsychologie etc. unternommen hat, oder ist sie primär eine Kulturtheorie, die sich nur aus einer besonderen psychotherapeutischen Praxis entwickelt hat – allerdings auf sie wenigstens als Fundament und Inspirationsquelle nicht systematisch verzichten kann? Wer in der Vergangenheit über Psychoanalyse und Sozialwissenschaften gesprochen hat, hat – wen wundert es – die letztere Position favorisiert, und er konnte sich dabei auf Freuds eigenes Selbstverständnis berufen: Freud wollte niemals ein bloßer Seelenarzt sein, dem zuweilen auch noch etwas anderes einfiel, wenn sich seine Schriften auch immer wieder auf die analytische Praxis als Reservoir besonderer Erfahrungen beriefen. Schon das Ziel der psychoanalytischen Kur war ja im Freudschen Selbstverständnis im Grunde kein traditionell medizinisches, sondern ein wissenschaftliches: Das Ziel der Analyse ist nicht die Heilung, sondern die Wahrheit. Dass dahinter die Überzeugung stand, die Wahrheit sei dem Menschen zuträglicher als die Lüge, weil die Wahrheit zwar schmerzen kann, die Lüge aber langfristig größeren Schaden anrichtet, ist die, wenn ich mich so ausdrücken darf, moralische Metaphysik hinter dieser Idee. Entsprechend wenig triumphalistisch war Freuds Ansicht darüber, was die Psychoanalyse beim Patienten bewirken könne – man müsse sich zufriedengeben, heißt ein berühmtes Zitat, neurotisches Elend in gewöhnliches Unglück zu verwandeln.

Und dennoch ginge man, denke ich, fehl, wenn man »das Eigentliche« der Psychoanalyse in dem Entwurf einer eigenen Kulturtheorie erblicken würde. Ich möchte mich zur Begründung dieser Behauptung, wissend, dass man bei jedem einigermaßen komplexen Denker zu jedem Zitat auch das Gegen-Zitat findet, auf einen Brief Freuds an Georg Groddek beziehen, der Freud im Mai 1917 angeschrieben und eine eigene, noch ganz rudimentäre, Theorie der Psychosomatik vorgestellt hatte, und nun den aus der Ferne verehrten Meister darum bat, seine Versuche nicht als Bemühung misszuverstehen, sich dem Kreis der Psychoanalytiker lege artis und von Freuds Gnaden unbescheidenerweise anzunähern: Er werde, wenn Freud dies wünsche, öffentlich klarstellen, dass er kein1