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Moderne Klassiker 21

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Laurie Lees Reiseroute

Laurie Lee

An einem
hellen Morgen
ging ich fort

Roman

Mit einem Nachwort von Robert Macfarlane
Übersetzung von Vanessa Wieser
Übersetzung des Nachworts von Georg Bauer

MILENA

LAURENCE EDWARD ALAN »LAURIE« LEE

geb. 1914 in Slad, Gloucestershire, gest. 1997 ebenda, war ein englischer Dichter, Romancier und Drehbuchautor. Mit 15 verließ er die Central Boys’ School in Stroud und wurde Botenjunge. 1931 traf er zum ersten Mal auf die Whiteway Colony, eine von Tolstoi-Anarchisten gegründete Kolonie, wo seine politische Erziehung begann und er den Komponisten Benjamin Frankel sowie »Cleo« aus »An einem hellen Morgen ging ich fort« traf. Im Alter von 20 war er als Bürokaufmann und Bauhilfsarbeiter tätig und lebte ein Jahr in London.

Sein Hauptwerk bilden drei autobiografische Erzählungen. »As I Walked Out One Midsummer Morning« (1969, deutscher Titel: »An einem hellen Morgen ging ich fort«) erzählt davon, wie Lee seinen Heimatort verlässt, nach London kommt und 1935 zum ersten Mal Spanien besucht. Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 kam er an Bord eines britischen Zerstörers aus Gibraltar nach England zurück, begann ein Kunststudium, kehrte 1937 aber als Freiwilliger der Internationalen Brigaden nach Spanien zurück. Wegen seiner Epilepsieerkrankung wurde sein Dienst jedoch eingeschränkt. Laut zahlreichen biografischen Quellen kämpfte Lee in der Republikanischen Armee gegen Francos Nationalisten.

Lee war auch als Journalist, Drehbuchautor und Dokumentarfilmer tätig. In den 1960er Jahren kehrten er und seine Ehefrau in seine Heimatstadt Slad zurück, wo sie bis zu Lees Tod blieben. Laurie Lee wurde am örtlichen Friedhof begraben.

Laurie Lee

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Für T.S. Matthews

Kurz vor dem Spanischen Bürgerkrieg wohnte ich in einem kleinen andalusischen Fischerdorf, dessen Bürgermeister mittlerweile ein kleines Denkmal an der Uferpromenade errichten ließ, auf dem steht: »Der große Schriftsteller Laurie Lee kam einst dieses Weges und verewigte unser Dorf in seinen Werken An einem hellen Morgen ging ich fort und A Rose for Winter.« Ursprünglich hatte ich aus politischen Gründen den Namen des Dorfes ausgelassen und es »Castillo« genannt. Zum Glück ist diese Verschwiegenheit nicht mehr nötig und ich kann das Dorf jetzt bei seinem richtigen Namen nennen: »Almuñécar«.

Laurie Lee
März 1995

INHALT

LANDSTRASSE NACH LONDON

LONDON

IN SPANIEN

ZAMORA — TORO

VALLADOLID

SEGOVIA — MADRID

TOLEDO

ANS MEER

OSTWÄRTS NACH MÁLAGA

ALMUÑÉCAR

KRIEG

EPILOG

NACHWORT VON ROBERT MACFARLANE

LANDSTRASSE NACH LONDON

Die gebeugte Gestalt meiner Mutter, bis über die Hüften im Gras und dort wie eine Stückchen Schafwolle hängen geblieben, war das Letzte, was ich von meinem Heimatdorf sah, als ich es verließ, um die Welt zu entdecken. Sie stand, alt und gebückt, oben auf der Böschung und sah mir schweigend nach; eine knochige rote Hand zum Lebewohl und Abschiedssegen erhoben, ohne zu fragen, warum ich ging. An der Wegkrümmung blickte ich noch einmal zurück und sah das goldene Licht hinter ihr vergehen, dann bog ich um die Ecke, ging an der Dorfschule vorbei und schloss mit diesem Kapitel meines Lebens für immer ab.

Es war ein strahlender Sonntagmorgen Anfang Juni, die richtige Zeit, seine Heimat zu verlassen. Meine drei Schwestern und ein Bruder waren schon vor mir gegangen; zwei andere Brüder mussten sich erst noch dazu entschließen. Sie schliefen noch an diesem Morgen, aber meine Mutter war früh aufgestanden und hatte mir ein kräftiges Frühstück zubereitet; während ich aß, hatte sie, die Hand auf meiner Stuhllehne, schweigend dabeigestanden und mir dann geholfen, meine paar Habseligkeiten zusammenzupacken. Es hatte keine Aufregung gegeben, keine Bitten, keine Ratschläge oder Überredungsversuche, nur einen langen und prüfenden Blick. Dann war ich mit meinem Gepäck auf dem Rücken in den morgendlichen Sonnenschein hinausgetreten und durch das hohe nasse Gras zur Straße hinaufgestapft.

Es war 1934. Ich war neunzehn Jahre alt, noch nicht trocken hinter den Ohren, aber gesegnet mit einem sicheren Glauben an mein Glück. Bei mir trug ich ein kleines zusammengerolltes Zelt, eine Geige in einer Wolldecke, Wäsche zum Wechseln, eine Dose Kekse und etwas Käse. Ich war aufgeregt, sehr von mir überzeugt und wusste, dass ich weit gehen würde; wie weit, das wusste ich allerdings noch nicht. Als ich an diesem Morgen von zu Hause fortwanderte und das schlafende Dorf hinter mir ließ, kam mir nicht ein einziges Mal der Gedanke, dass ich nicht der Erste war, der so auszog.

Natürlich trieben mich die alten Kräfte an, die schon viele Generationen auf die Landstraße geschickt hatten — das enge kleine Tal, das einen erdrückte und mit dem Hauch seines moosigen Mauls erstickte, die Mauern des kleinen Hauses, die einen wie die Arme einer Eisernen Jungfrau umklammerten, und die Mädchen im Dorf, die einem ihr »Heirate und bleib hier« zuflüsterten.

Monate rastloser Unruhe waren vergangen, mit langen Wanderungen, melancholischem Pfeifen und starren Blicken auf die hohen weiten Flächen, die sich unter riesigen Wolkenbänken nach Osten hinzogen, bis der Augenblick kam, der kommen musste.

Und jetzt war ich auf meiner Reise, in festen Schuhen und mit einem Haselstock in der Hand. Selbstverständlich wollte ich nach London, das 160 Kilometer weiter ostwärts lag, und genauso klar war auch, dass ich zu Fuß gehen würde. Aber erst mal wollte ich zur Küste wandern, denn ich hatte noch nie das Meer gesehen. Damit wurde mein Weg, wenn ich ihn über Southampton nahm, noch um 160 Kilometer länger. Aber ich hatte ja den ganzen Sommer vor mir und alle Zeit dieser Welt.

Jener erste Tag allein — denn jetzt war ich endlich wirklich allein — senkte meine Erregung und meinen Schwung zusehends. Während ich durch den Staub auf die Wiltshire Downs zumarschierte, lastete ein immer stärkerer Widerwille auf mir. Weiße Holunderblüten und wilde Rosen hingen in den Hecken, nichtssagend wie unbeschriebenes Papier, und die heiße, verlassene Straße — es gab damals nur wenige Autos — reflektierte die Leere und Teilnahmslosigkeit des Sonntags. Der träge Sommer sog mich ein und ich bot ihm keinen Widerstand. In der Einsamkeit des Vormittags und Nachmittags spürte ich plötzlich, wie ich mich nach einem Hindernis, nach Rettung sehnte, nach dem Geräusch eiliger Schritte hinter mir und den Stimmen meiner Familie, die mich heimriefen.

Niemand kam. Ich war frei. Bis zum Überdruss frei. Das Schweigen des Tages sagte: Geh, wohin du willst. Dir steht alles offen. Du hast es so gewollt. Jetzt liegt es bei dir. Du bist auf dich gestellt, und niemand wird dich aufhalten. Im Gehen verhöhnten mich heimische Bilder und Klänge, das Klirren aus der Küche; Sonnenstrahlen, die von den Fenstern her über die vertrauten Möbel fielen, quer durchs Schlafzimmer und über das Bett, das ich verlassen hatte.

Als ich entschied, nun müsse Teezeit sein, setzte ich mich auf eine alte Steinmauer und öffnete meine Keksdose. Beim Essen hörte ich, wie meine Mutter den Kessel auf den Kamineinsatz stellte und meine Brüder mit den Teetassen klapperten. Die Kekse schmeckten süß nach der geliebten Unordnung meines Zuhauses — das nur etwa 20 Kilometer von mir entfernt lag.

Hätte es meine Brüder nicht gegeben, wäre ich in jenem Augenblick vielleicht umgekehrt, aber ich hätte den Anblick ihrer Gesichter nicht ertragen können. Also stieg ich von der Mauer und machte mich wieder auf den Weg. Die langen abendlichen Schatten fielen auf Dörfer wie Ansammlungen von Kartenhäusern, auf heimkehrende Kühe und Menschen, die aus der Kirche kamen. Ich hielt mich an den Straßenrand, die Augen auf meine staubigen Füße geheftet, und ging ein paar Stunden ohne anzuhalten.

Als die Dämmerung kam, voller Motten und Käfer, war ich zu müde, um mein Zelt aufzuschlagen. Also legte ich mich mitten auf einem Feld nieder und blickte hinauf zu den strahlenden Sternen. Die samtene Leere der Welt und die breiten Streifen weichen Grases, auf denen ich lag, überwältigten mich. Schließlich schläferten mich die nächtlichen Nebel ein — in meiner ersten Nacht ohne Dach und Bett.

Kurz nach Mitternacht wurde ich vom Regen, der mir ins Gesicht sprühte, geweckt; der Himmel war schwarz und alle Sterne verschwunden. Zwei Kühe standen vor mir und bliesen mir ihren Atem ins Gesicht, der Jammer jenes Augenblicks verfolgt mich noch heute. Ich kroch in einen Graben und lag wach bis zum Morgengrauen, völlig durchnässt auf fremdem Boden. Doch als am Morgen die Sonne aufging, verschwand das Gefühl der Trostlosigkeit. Vögel sangen, und warmer Dunst stieg aus dem Gras. Ich stand auf und schüttelte mich, aß ein Stück Käse und wandte mich wieder südwärts.

Ich kam nun hinunter nach Wiltshire, verbannte alle Gedanken an das, was hinter mir lag, und bekam allmählich neuen Auftrieb; ich ließ mir Zeit, bummelte durch Städte und Dörfer und genoss es, dass ich nicht zur Arbeit gehen musste. Vier Jahre lang war ich als junger Angestellter an dieses nervtötende Büro in Stroud gekettet gewesen. Jetzt leistete ich mir den Luxus, werktags frei zu sein; um elf Uhr vormittags eine Seitenstraße entlangzutrödeln und einem Mann beim Schafehüten zuzusehen; eine Katze im Gras beim Anpirschen zu beobachten oder von einer Hausfrau ein bisschen Tee zu erbetteln, damit in den Wald zu gehen und eine Stunde damit zu verbringen, eine Kanne frisches Quellwasser aufzukochen.

Das bisschen England, das ich durchwanderte, kam mir riesig vor. Ein Auto freilich hätte es in ein paar Stunden durchquert, doch ich brauchte dazu fast eine Woche; ich ging behutsam vor, durchmaß es Schritt für Schritt, erschnupperte die unterschiedlichen Gerüche des Erdreichs, nahm mir einen ganzen Vormittag Zeit, um einen Berg zu umgehen. Ich weiß, ich hatte großes Glück, damals auf Wanderschaft zu gehen, als das Land noch nicht der Geschwindigkeit wegen platt gewalzt war. Viele der Landstraßen verliefen noch so, wie sie in den alten Zeiten von Packpferd und rumpelnden Wagenrädern gezogen worden waren, sie folgten zärtlich der Windung eines Tales oder wichen einem Gebirgsvorsprung aus wie das schweifende Band eines Flusses. Das alles ist noch gar nicht so lange her, und doch könnte heute niemand mehr meinen Weg nachgehen. Von den alten Landstraßen sind die meisten verschwunden, in der Zwischenzeit hat das Auto die Landschaft zerstückelt, und der Reisende durchbraust sie auf Rinnsteinhöhe und sieht dabei noch weniger als ein Hund im Straßengraben.

Aber für mich war damals alles neu, was ich sah, und ich konnte es vom Morgen bis zum Abend langsam an mir vorüberziehen lassen. Noch war ich, als ich durch Malmesbury und Chippenham kam, erst einen Tagesmarsch von zu Hause entfernt, und stellte doch schon verschiedene Schattierungen in der Sprache fest. Etwa einen Tag später kam ich hinunter ins Wylye Valley und hinaus auf eine weite, sanft geschwungene Ebene — einen Streifen alten, dürren Landes, bedeckt von struppigem Gras, das aussah, als hätten da eben noch Mammuts geweidet.

Von Ortschaften wusste ich noch nicht viel und war deshalb auf die zarte Turmspitze nicht vorbereitet, die sich plötzlich aus der leeren Fläche erhob. Als ich weiterging, glitt sie mal vor mir her, verschwand dann hinter der Wölbung des Hügels und verriet nichts von der Stadt, die unter ihr lag.

Nur eine Turmspitze im Gras; mein erster Anblick von Salisbury, der umso schöner war, als er mich unerwartet traf. Als ich in die Stadt kam, merkte ich, dass Markttag war; dünnbeinige Schafe drängten sich auf dem Hauptplatz. Die Bauern standen in Grüppchen herum, redeten miteinander und sahen dabei alle in verschiedene Richtungen. Die Pubs barsten von Händlern, die zerknitterte Geldscheine zählten. Schäfer und Hunde saßen auf den Gehwegen. Über alledem türmte sich erhaben und nebelhaft die Kathedrale; noch Herrscherin über die geduckte Stadt, warf sie ihren langsam wandernden Schatten quer über den Marktplatz und ließ ihre Glocken wie Münzen klingen.

Nach einer Woche auf der Landstraße kam ich schließlich in Southampton an; man hatte mir gesagt, dass ich dort das Meer sehen würde. Ich sah stattdessen ein paar rostige Kräne und einen zwischen Häusern eng eingekeilten Dampfer, der aussah wie gepresst, dazu ein paar traurige Gartenparzellen als Einfassung eines schmutzigen Flusses, von dem es hieß, das sei Southampton Water.

Southampton Town dagegen erfüllte alle Erwartungen, zeigte sich mal gerissen, mal geschäftstüchtig — wie ein entlaufener Seemann, der dem Meer den Rücken gekehrt hat und verzweifelt versucht, sein Glück auf dem Festland zu machen. Die Straßen am Wasser waren voller Läden, die mehr der Unterhaltung als dem Profit dienten, mitsamt seinen Tätowierern, Ohr-Piercern, Wahrsagern, Schneckenlokalen und Blutpuddingköchen. Es gab auch Läden, in denen Drachen verkauft wurden — sogar chinesische Papierdrachen —, farbiger Sand und tropische Vögel; und unzählige kleine Kellerlokale mit rumgetränkter Holztäfelung, in denen es nach eingelegten Eiern und Zwiebeln stank.

Da ich eine Woche lang unter freiem Himmel geschlafen hatte, dachte ich mir, es sei an der Zeit, es wieder einmal mit einem Bett zu versuchen, und ging zu einem Obdachlosenquartier unten bei den Docks. Die Wirtin, eine alte Hexe mit einem Gebiss wie ein Dosenöffner, sagte, es koste einen Shilling die Nacht, verlangte das Geld im Voraus, spendierte mir einen Becher Whisky und zeigte mir den Weg hinauf zur Dachkammer.

Frühmorgens am nächsten Tag brachte sie mir eine Tasse Tee und Wasser in einem hölzernen Eimer. Sie warf mir einen flüchtigen Blick zu, fragte, von welchem Schiff ich sei und grunzte bloß, als ich sagte, ich komme aus Stroud. Dann entdeckte sie meine Geige, die am Bettpfosten hing, und kratzte mit ihren blauen Nägeln über die Saiten. »Aha, ein Fiedler«, murmelte sie und huschte flink aus der Kammer. Gleich danach stand ich auf, zog mich an, steckte meine Geige unter die Jacke und ging auf die Straße hinaus, um mein Glück zu versuchen. Es hieß jetzt oder nie. Ich musste es jetzt wagen, sonst konnte ich zusammenpacken und wieder nach Hause gehen.

Fast eine Stunde lief ich auf der Suche nach einem passenden Platz umher, und kam mir dabei vor, als stünde ich im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Schließlich blieb ich unter einer Brücke in der Nähe des Bahnhofs stehen und entschloss mich, es hier zu versuchen. Ich war aufgeregt und ängstlich. Es war immerhin das erste Mal. Ich zog die Geige wie eine Flinte unter meiner Jacke hervor. Hier in Southampton, wo die Züge über meinem Kopf dahinratterten, kam der Moment, in dem ich mich beweisen sollte. Eben noch war ich Teil der hastenden Menge gewesen, jetzt war ich ganz nackt, stand allein, mit dem Rücken gegen die Wand, den Hut vor meinen Füßen, die Geige unter das Kinn geklemmt.

Die ersten Töne, die ich spielte, kamen laut und rau, wie eine heisere Stimme des Protests, doch dann richteten sie sich ein und klangen geschmeidiger und einigermaßen harmonisch. Zu meiner großen Überraschung wurde ich weder verhaftet, noch angeschrien, still zu sein. Vielmehr beachtete mich überhaupt niemand. Dann warf ein alter Mann, ohne anzuhalten, verstohlen einen Penny in meinen Hut, als wolle er damit ein lästiges Beweisstück loswerden.

Langsam, aber stetig folgten weitere Pennies, von Schatten geworfen, die mich weder zu sehen noch zu hören schienen. Es war, als bringe der Klang der Fiedel im Unbewussten eine Saite zum Klingen, die zum Handeln zwang — wie das Weinen eines Babys. Als ich mit dem ersten Lied fertig war, hatte ich über einen Shilling in meinem Hut — das kam mir fast zu einfach vor, wie ein Schwindel. Aber ich hatte Mut gefasst; wohin auch immer ich ab jetzt gehen würde, mit diesem Trick konnte ich mein Dasein fristen.

So arbeitete ich mich mehrere Tage lang durch die Straßen von Southampton und eignete mir allmählich die Kniffe an, die zum Geschäft gehörten. Lagen sie für alte Hasen klar zutage und waren einfach, wenn man sie einmal gelernt hatte, musste ich sie mir durch Versuch und Irrtum erst aneignen. So war es zum Beispiel nicht klug, zu viele Münzen im Hut zu lassen — dieser Anblick konnte den Kunden abschrecken; ebenso unschlau war es, den Hut vollständig zu leeren, auch das stiftete Verwirrung, weil er dann keinen Hinweis hatte, wohin er sein Geld legen sollte. Bald wurde es zur festen Gewohnheit, dass ich einige Münzen in den Hut legte, um die Sache anzukurbeln; zwischen den Stücken vergaß ich das Abschöpfen nicht, ließ jedoch stets zwei Münzen im Hut.

Am besten bewährten sich langsame Melodien, weil sie die Leute zum Bummeln verleiteten (bei irischen Tänzen flitzten sie nur so vorbei); und es schien klüger zu sein, so gut zu spielen, wie man konnte und nicht das Klagelied des berufsmäßigen Landstreichers nachzuäffen. Mitleid oder Schuldgefühle zu erregen, trug immer einen Penny ein, aber auch nicht mehr; während ein mit nüchternem Fleiß gespielter melodischer Ohrenschmaus nicht selten mit Silber belohnt wurde.

Alte Damen waren höchst freizügig, und das galt auch für Frauen mit Kindern, für Verkäuferinnen, Sekretärinnen und Kellnerinnen. Was die Männer betraf, so waren Alkoholiker immer empfänglich, ebenso Kerle mit dicken Muskeln, Buchmacher und Spekulanten. Niemals jedoch ein Mann mit Melone, Aktentasche oder Hund; und die ehrenwerten Männer waren die geizigsten von allen. Ausgenommen pensionierte Offiziere — die bellten einen an: »Warum arbeiten Sie nicht, junger Mann?«, und gaben dann zu viel, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

Ich fand heraus, dass bestimmte Melodien immer Aufmerksamkeit erregten, während andere gar niemanden berührten. Am ergiebigsten waren unweigerlich die Teesalonklassiker und gefühlvolle Volksballaden. »Loch Lomond«, »Wales! Wales!« und »Die Rose von Tralee« fanden überall ihre Freunde, und das galt auch für Händels »Largo«, für »Ave Maria«, Tosellis »Serenade« und »Der Pfeifer und sein Hund«. Am wenigsten lohnten sich, wie ich schon sagte, schnelle oder schrille Melodien, etwa Tartinis »Teufelstriller« oder »Picking up Sticks« — die den Fußgänger anscheinend völlig aus dem Takt brachten und seine Mildtätigkeit erschütterten.

Alles in allem erwies sich meine Lehrzeit als einträglich und leicht, und mein Lampenfieber verschwand bald. Es wurde mir zum erfolgshungrigen Vergnügen, hinaus auf die Straßen zu gehen, am Bahnhof oder auf dem Markt Stellung zu beziehen und loszugeigen, während unter meinen Augen und beim Klang einer gefühlvollen Melodie das Münzenhäufchen wuchs. Jene ersten Tage in Southampton war ich wie besessen; ich blieb von frühmorgens bis spätabends auf der Straße, wanderte wie im Goldrausch von einem Platz zum anderen und spielte, bis mir die Fingerspitzen brannten.

Als ich entschieden hatte, Southampton sei nun abgegrast, beschloss ich, mich nach Osten zu wenden. Ich kam mir schon wie ein Veteran vor, und auf dem Weg aus der Stadt ging ich in eine Marktbude und ließ mich fotografieren. Das Bild wurde in weniger als einer Minute in einem Eimer entwickelt und hat sich über dreißig Jahre gehalten. Ich habe immer noch einen Abzug dieses Sommergespenstes vor mir — ein blasser, öliger Schatten, elegant vor eine Landschaft aus brüchiger Leinwand postiert, die abgetragene Kleidung von Staub überpudert. Es trägt einen schäbigen Schlapphut, schwere Stiefel, ausgebeulte Hosen; Zelt und Geige über die Schulter gehängt, und aus dem langen leeren Gesicht starrt, so gelblich-weiß wie Eier, ein Paar Augen, unausgebrütet und heute nicht mehr zu erkennen.

Ein paar Meilen nach Southampton sah ich endlich das wirkliche Meer; da lag es vor mir, ein jäher Abschluss des Landes, der riesige Schwall eines gewölbten Nichts, das einem unsichtbaren Horizont zurollte und mehr Entfernung freigab, als ich je zuvor gesehen hatte. Es war grün, blähte sich sacht wie die Haut eines Frosches und trug schläfrige kleine Schiffe wie Fliegen. Im Vergleich mit dem Land erschien es wie eine ungeheure hypnotisch wirkende Leere, die alles einschläferte, was mit ihr in Berührung kam.

Als ich die Küste entlangwanderte, stand ich bald ganz im Bann ihrer Stimmungen, neu, mysteriös, fremdartig: der körnigen Schärfe des Windes, des Geschmacks von Salz und Teer, des Geruchs nach Muscheln, nassen Straßen und Regenmänteln und des Anblicks der kurzen Sommerstürme, die in das Meer hineinglitten wie Schichten von schmutzigem Glas.

Allerdings war die Südküste ganz anders, als ich sie mir — nach der Lektüre von Hardy und Jeffery Farnol — vorgestellt hatte, denn hier am Strand begann sich schon jene schäbige Vorstadtlandschaft herauszubilden, die zu der wunderlichen Fäulnis der dreißiger Jahre gehörte. Hier lagen die Strandbudenstädte, lang ausgestreckt wie eine Flutmarke aus Abfall, der wirre Unrat aus Land und Meer — kilometerlang Teebuden und Hütten, die offenbar aus Strandgut erbaut waren und Namen trugen wie »Wellengischt« oder »Kobold des Meeres«. Hier und da saßen bärtige Männer auf brüchigen Veranden und malten Aquarelle von Schiffen und Sonnenuntergängen, während dicke Frauen, von Hunden mit funkelnden Zähnen begleitet, ihre Privatstrände bewachten. Mir gefiel die schäbige Unordnung dieser melancholischen Küste, die noch nicht vom Wohlstand heimgesucht war und so aussah, als wäre alles, was es hier gab, vom Wind zusammengetragen und könnte jeden Augenblick wieder weggeweht werden.

Ich verbrachte eine Woche am Meer, bewegte mich langsam in Richtung Osten, schlief am Strand und graste die Städte ab. Mir ist eine verschwommene Erinnerung an einen trägen, unbestimmten Sommer geblieben, gelegentlich unterbrochen von seltsamen Begegnungen. In Gosport veranstaltete ich als Gegenleistung für eine Ration Rindfleisch aus Heeresbeständen ein Konzert in einer Kasernenstube. Vor der Kathedrale von Chichester spielte ich »Gesegnet sei dies Haus« und wurde sofort von der Polizei weggeschickt. In Bognor Regis kampierte ich auf dem Sandstrand und traf dort ein geschmeidiges junges Mädchen von sechzehn Jahren, das mich einen langen heißen Tag hindurch nicht aus den Armen ließ und nur ein Kleidchen mit Trägern auf seinem meeresfeuchten Körper trug. In Littlehampton hatte ich gerade eben achtzehn Pennies eingenommen, als mich die Polizei vertrieb. »Nicht hier. Versuch Worthing«, sagte der Beamte. Das tat ich und wurde reich belohnt.

Worthing war damals eine Art Cheltenham-on-Sea, voll von reichen, perlenbehängten alten Damen. Jeden Nachmittag kamen sie in ihren Rollstühlen heraus und wurden von schmächtigen Pflegern im Park umhergeschoben. Als ich am Parktor im Hauptdurchzugsgebiet der Ladys stand und eine Reihe geistlicher Lieder spielte, bekam ich in kaum mehr als einer Stunde achtunddreißig Shilling, was mehr war, als ein Landarbeiter in einer Woche verdiente.

Worthing bildete den Schluss dieses Kapitels, es war ein Wendepunkt in meiner Reise, denn länger wollte ich meinen Weg der Küste entlang nicht fortsetzen. Ich kehrte dem Meer also den Rücken und wandte mich nordwärts, nach London, das noch über achtzig Kilometer entfernt lag. Es war die dritte Juniwoche, und die Landschaft war von Blütenstaub überzuckert und noch immer von Holunderblüten bedeckt. Das weit überschaubare Tiefland, das von den Schafen kurzgerupfte Gras, die Buchenhänge an den Talrändern, der Geruch nach Kalk, lila Orchideen, blauen Schmetterlingen und Disteln erinnerte mich an die Cotswolds, die ich so unbekümmert verlassen hatte. Zwar hätte Chanctonbury Ring, wo ich die Nacht verbrachte, genauso gut einer von den Hügeln um Painswick oder Haresfield sein können; doch fühlte ich mich trotz dieser mir wohlbekannten Umgebung weiter von zu Hause entfernt als jemals später in einem fremden Land.

Als ich am nächsten Tag wieder auf die Straße nach London kam, dachte ich aber nur noch an den Weg, der vor mir lag. Ich schritt stetig dahin, mühelos ging ich Stunde um Stunde wie in einem schwingenden, schwerelosen Traum. Ich war in jenem Alter, das weder Strapaze noch Müdigkeit kennt; der Körper verbrennt magische Kraftstoffe und gleitet durch die warme Luft, etwa kniehoch über dem Boden, seinem Gespür mühelos folgend. Selbst Erschöpfung hatte, wenn sie sich bemerkbar machte, noch etwas Sinnliches, Wollüstiges, und der Schlaf war sanft und tief wie Öl. Es war der Höhepunkt auf der Kurve des sich körperlich Verschwendens, bevor einem die erste Rechnung präsentiert wird.

Ich lebte damals von getrockneten Datteln und Keksen, die ich mir täglich zuteilte, als zöge ich quer durch die Wüste. Sussex bot natürlich auch andere Kost, aber ich zog es vor, bei meinen Gewohnheiten zu bleiben. Ich tat so, als wäre ich T. E. Lawrence auf einer selbstquälerischen Odyssee, verschwendete meine Jugend in einem unbarmherzigen Hadhramaut und kniff die Augen zusammen vor den Sandstürmen, die in einer Illusion, in der ich mich als einsamer Dulder sah, aus den Wadis von Godalming bliesen.

Aber ich war nicht der Einzige auf der Landstraße; ich merkte bald, dass es noch viele andere gab, die alle in einer düsteren Prozession nach Norden stapften. Manche von ihnen waren professionelle Landstreicher, aber die Mehrzahl gehörte zu jener Heerschar Arbeitsloser, die damals ziellos in ganz England umherstreifte.

Die Profis konnte man leicht erkennen; sie kochten Tee am Straßenrand, hetzten sich nicht ab und inspizierten stets ihre Füße. Die anderen aber, die Mehrzahl, marschierten dahin wie Schlafwandler, blieben für sich und sprachen nur selten miteinander. Hier im Landesinneren waren sie zahlreicher als an der Küste — vielleicht hatte die Polizei dafür gesorgt. Sie waren wie ein geschlagenes Heer, das aus einem Krieg heimzieht; die Wangen eingesunken und die Augen vor Müdigkeit erloschen. Manche hatten Beutel mit Werkzeugen oder brüchige Pappkoffer bei sich, andere trugen Anzüge, die nur noch Schatten ihrer selbst waren; manche zogen, wenn sie Rast machten, sorgsam ihre Schuhe aus und polierten sie planlos mit einer Handvoll Gras. Unter ihnen waren Tischler, Büroangestellte und Ingenieure aus den Midlands, viele waren schon seit Monaten unterwegs, waren landauf und landab gezogen durch ein Labyrinth achselzuckender Abweisungen, die Tretmühle der Mittdreißiger Jahre …

Dann bekam ich für ein paar Tage einen Gefährten. Veteran Alf nahm sich meiner an. Ich hatte die Straße verlassen, um mein Zelt für die Nacht aufzuschlagen, als er aus den Büschen stieg.

Ich hatte ihn schon vorher gesehen; er war circa anderthalb Meter groß und gehörte offensichtlich zur Zunft. Er trug einen Jägerhut, der so durchweicht und zerfetzt war, dass er aussah wie etwas, das vom Frühstück übrig blieb, und um die Taille seines Regenmantels, der mit einem Strick zusammengebunden war, hingen Töpfe und Löffel.

Scheppernd wie eine Mülltonne setzte er sich neben mich und begann seine Stiefel auszuziehen.

»Na«, sagte er, während er angeekelt meine Datteln beäugte, »du bist ein armer Tropf, wie?« Er schüttelte seine Schuhe aus, zog sie wieder an und warf noch einen Blick auf mein Nachtmahl. »Von diesem grässlichen Fraß kannst du doch nicht leben — da wird einem ja ganz flau. Was du brauchst, is ein Topf. Was, wo drin du kochen kannst. Hier, pass auf — Moment mal …« Er durchwühlte das Geschirr an seinem Gürtel und brachte eine ramponierte Dose zum Vorschein, so ein Ding, wie es meine Onkel aus dem Krieg heimgebracht hatten — viereckig, mit einem dreieckigen Henkel. Es war ein Miniaturkessel, außen rauchgeschwärzt und innen braun verbrannt. »Da, nimm’s«, sagte er. »Du machst mich ganz krank.« Er fing an Feuer zu machen. »Ich koch dir jetzt ’n bisschen Tee und Erdäpfel.« Und das tat er.

Wir blieben bis Guildford beieinander, und ich bekam noch öfter von seinen beißenden Gebräuen zu kosten. Er war ein Landstreicher durch und durch, wickelte sich ständig ein und wieder aus und sortierte dauernd sein bisschen Hab und Gut. Er war nicht auf der Suche nach Arbeit; dies war einfach sein Leben, und er hielt sorgfältig Haus mit seinen Kräften — ging an keinem Rasenstück vorüber, das für eine Rast geeignet war, und auch an keinem Haus, das eine mildtätige Gabe verhieß. Er sagte, sein Name sei Alf, aber niemand wusste, ob das stimmte, denn er nannte auch mich Alf und jeden anderen. »In der Stadt hier sind voriges Jahr ’n paar Alfs eingelocht worden«, sagte er etwa. »Haben sich was aus ’n Läden geangelt — mit Angelhaken, weißte.« Oder: »Hab mal ’n Alf gekannt, der machte zwanzig Kilometer am Tag. So ’nen verrückten Alf gibt’s kein zweites Mal auf der Landstraße. Sagte, so käm er schneller rum. Stimmte auch. Aber die Leute konnten ihn nich’ mehr sehen.«

Alf redete den ganzen Tag, war aber trotz aller Geschwätzigkeit verschlossen und verriet nie, wo er selber herkam. Wahrscheinlich brauchte er bei aller Exponiertheit auf der Straße diesen lockeren Zaun von Wörtern um sich herum. Genauso fragte er auch mich nie aus, obwohl es für ihn klar war, dass ich ein Greenhorn war; und er gab mir gute Ratschläge, wie man sich vor schlechtem Wetter schützt, wie man Hausfrauen um den Finger wickelt und um Polizisten einen Bogen macht.

Was seine eigene Technik auf der Landstraße betraf, so war er nicht etwa aus Faulheit langsam, sondern weil er nach einem festen Zeitplan vorging und seine berufliche Tour in einem Zwölfmonatsrhythmus absolvierte, der für ihn schnell genug war. Den Winter über verkroch er sich in einem Londoner Obdachlosenasyl, um dann wieder zu seiner gemächlichen Rundreise durch England aufzubrechen und dabei jedes Jahr in den einzelnen Ortschaften mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten aufzutauchen. So war er in den Midlands der vagabundierende Vorbote des Frühlings, im Süden ein Sommervogel, für das Hügelland von Kent ein Vorbote des Herbstes — ich glaube wirklich, er war davon überzeugt, dass die Regelmäßigkeit seines Erscheinens den Hausfrauen ein Gefühl der Sicherheit gab, sodass sie ihn als ein stets wiederkehrendes Naturphänomen betrachteten, ja sogar erwarteten und deshalb auch entsprechend belohnten.

Seine Bettelei brachte ihm jedenfalls viel ein, und er tauchte nie hinter einem Gatter auf, ohne die Hände voll Essen zu haben — Beutel mit Tee und Zucker, Fleischknochen und Kuchen; und aus alledem kochte er dann eine furchtbare Brühe. Er war sauber, abgerissen, gutmütig und schlau, und mir gegenüber zeigte er echte, wenn auch überhebliche Freundlichkeit. »Du bist ’n elender Schandfleck«, pflegte er zu sagen, »ein echter Klotz am Bein.«

Alf hatte eine seltsame Angewohnheit — eine Leidenschaft für Kinderreime, die er beim Gehen vor sich hin brummte:

Alle meine Entchen
schwimmen auf dem See,
Köpfchen in das Wasser
Schwänzchen in die Hand.

Wenn ich ein Vöglein wär
und auch zwei Flügel hätt,
flög ich in den Himmel.

Hatte man ein Dutzend davon gehört, alle ohne den richtigen Schlussreim, konnte einen das in den Wahnsinn treiben.

In Guildford trennten wir uns, Alf wollte nach Osten gehen, ins Hügelland, das für ihn noch drei Monate entfernt lag.

»Mach’s gut, Alf«, sagte ich.

»Mach’s gut, Alf«, antwortete er. »Treib mal nich’ zu viel Unfug.«

Er verschwand unter der Eisenbahnbrücke und aus meinem Leben, ein schlurfendes Geklapper alter Blechbüchsen, und er sah winzig und dreieckig aus mit seinem spitzigen Hut auf dem Kopf und dem schwarzen Regenmantel, der bis zum Boden herabhing.

London war jetzt ganz nahe, nicht mehr als zwei Tagesmärsche entfernt, aber ich hatte es noch immer nicht besonders eilig. So wandte ich mich nach Nordwesten und begann es zu umrunden wie eine Wespe, die sich an ein Marmeladeglas heranmacht. Nachdem ich Guildford verlassen hatte, schlief ich in der Heide bei Bagshot — alles voller Birken, Sand und Bremsen —, die mir so wüst und trostlos vorkam wie ein riesiges totes Stück Land in Russland. Am nächsten Morgen dann, als ich kaum ein paar Meilen auf der Landstraße hinter mir hatte, war plötzlich alles wieder ganz anders, und ich wanderte durch eine Parklandschaft, die grün war wie aus dem Bilderbuch und von Buchen und weichem Gras überquoll.

Jetzt war jeder Wagen auf der Landstraße entweder ein Rolls-Royce oder ein Daimler — eine dahingleitender Zug von silbernen Seufzern —, der gläserne Innenraum vollgepackt mit Mädchen und Fresskörben und Männern, die kerzengerade Zylinder trugen. In meinem ganzen Leben vorher hatte ich erst zwei solche Autos gesehen; jetzt schien es auf der Welt keine anderen mehr zu geben, und ich fragte mich, ob das schon ein Vorgeschmack auf künftige Herrlichkeiten sei, ob ganz London so reich sei wie dies hier.

Als ich so im Staube dieses Glanzes dahinwanderte, wunderte es mich also gar nicht, dass einer von den Daimlers anhielt und ein Arm mir vom Fenster aus zuwinkte. Ich lief schnell hin, vielleicht war es ja ein lang verschollener Verwandter, aber es saß niemand drin, den ich kannte. »Wollen Sie einen Fasan, guter Mann?«, fragte eine Stimme von drinnen. »Wir haben grad ein Prachtstück überfahren, hundert Meter weiter hinten.«

Eine Viertelstunde später kam ich nach Ascot. Es war Rennwoche, und ich war mitten hineingeraten. Weiße Festzelte und Fahnen; junge Stallburschen und Jockeys, die zwischen den langen glänzenden Beinen von Rassepferden herumschwirrten; und die Besitzer dieser Stammbäume, die ihre langen stolzen Hälse in Körbe voll Pasteten und Möweneier tauchten.

Ich drang bis zum Eingang vor, wollte gerne hineingehen, aber plötzlich starrten mich ein paar Polizisten an. Ich meinerseits starrte eine wunderschöne Frau am Tor an, die mir für einen Moment verwirrend nahe kam, mit einem Gesicht von seidener Vollkommenheit wie eine persische Statue, einem Körper, wie in Tulpenblätter gehüllt, und sandalenbekleideten Füßen, wie von durchsichtigem Reispapier bedeckt, sodass ich jede einzelne ihrer blitzeblanken, kleinen Zehen zählen konnte.

Reichtum und Schönheit waren hier die Devise, und ich merkte, dass ich nun eine andere Welt betreten hatte. Hier zu musizieren oder sich anderswie hervorzutun, wäre völlig fehl am Platz gewesen. Alf und die zerlumpten Scharen von Arbeitslosen gehörten in eine ferne Welt …. Also verließ ich Ascot wieder, kam bald darauf in einen Park voller Eichen und grasenden Rotwilds, und erblickte Windsor Castle auf seinem Hügel aus grünem Billardtuch wie ein verbeultes silbernes Essigkännchen. Ich schlief in jener stickig heißen Nacht auf einem Feld bei Stoke Poges, nachdem ich den Abend auf dem Dorffriedhof verbracht hatte, wo ich, auf einem moosigen Grabstein sitzend, den Krähen lauschte und mich fragte, warum mir dieser Ort so bekannt vorkam.

Ein paar Tage später, als ich morgens aus einem Gehölz bei Beaconsfield trat, hatte ich endlich London vor mir — eine lang gezogene rauchige Silhouette im Morgendunst, die den gesamten östlichen Horizont ausfüllte. Rostrot und dürr lag es da wie riesiger flacher Schorf, wie die Asche eines erloschenen Vulkans, sacht in der Morgensonne brodelnd und umtönt von einem schwachen metallischen Brausen.

Keine architektonischen Herrlichkeiten, keine Türme oder Paläste, nur eine kriechende heimtückische Präsenz, seine enorme Ausdehnung hier und da unterbrochen von einem Gaskessel oder Fabrikschornstein. Und doch spürte ich schon jetzt seine starke Ausstrahlung — eine elektrische Ladung im Himmel —, die von den Millionen Dächern in einer zitternden Fata Morgana aufstieg, magnetisch, nahezu sichtbar, wirksam nach allen Seiten hin.

Irgendwo da drüben war meine Freundin Cleo, die (wie ich hoffte) meine Briefe hortete und auf mich wartete. Da waren auch Geheimnis, Verheißung, Glück und Reichtum — alles, was zu finden ich in diese Stadt gekommen war. Ich eilte darauf zu, jetzt voller Ungeduld, den beißenden Schwefelatem in der Nase. Einen Monat hatte ich auf der Landstraße zugebracht, und die Vorstadtbezirke waren lang und leer. Schließlich nahm ich die U-Bahn.

LONDON

Mein Dorf und meine Heimatstadt hatten beide eine Art Ententeich-Zentrum, aber London hatte überhaupt kein Zentrum — nur kauernde kleine Straßen, die endlos wucherten wie die Kräuselungen im Schlick einer Flussmündung. Ich kam am frühen Abend in Paddington an und lief eine Weile umher. Der Himmel war hier anders, hoch, weit und still, rosa vom Rauch und der untergehenden Sonne. Es roch nach ranzigem Öl, fauligem Fisch und welkem Gemüse, nach heißem Pflaster und zertrampeltem Teer; ich spürte eine sich aufbauende Spannung — die schwere, verbrauchte Luft des engen Beisammenlebens rund um mich —, all diese Familien, die hinter schlaffen ausgeblichenen Vorhängen, über Läden und in widerhallenden Mietshäusern vor sich hin gärten; mit ihren Söhnen, die ihre Hemden wechselten, den Töchtern, die ihr Haar trockneten, ihren Väter in Westen, die ihren Tee anstarrten; und auf den Straßen dicht an dicht die vollgestopften Omnibusse, und die großartige Nacht, die nun hereinbrach.

Ich war freudig erregt, weil ich hier angekommen war, aber auch unvorbereitet und wusste nicht recht, was ich tun sollte. Doch ich hatte Cleos Adresse — sonst kannte ich niemanden —, also entschied ich, jetzt sei der richtige Augenblick, darauf zurückzukommen. Ich hatte Cleo im Frühling kennengelernt, in einer Art tolstojanischen Siedlung in der Nähe von Stroud, wo sie mit ihrem gut aussehenden Vater — einem Linksradikalen mit Adlernase — und ihrer unglücklichen Mutter aus vornehmem Hause in einem geliehenen Wohnwagen lebte. Wo sie herstammten, blieb unklar, aber sie waren vor Kurzem aus Amerika geflohen, wo der Vater wohl in politische Schwierigkeiten geraten war. Das sechzehnjährige Mädchen war ganz anders als meine früheren Bekanntschaften, und ihre Schönheit hatte mich ganz verrückt gemacht. Sie sprach mit deftigem amerikanischen Akzent, hatte große braune Augen, gesprenkelt wie körniger Honig, war anmutig und langbeinig, geschmeidig wie ein Wildpferd, und wir hatten so getan, als liebten wir uns.

Sie waren arm wie die Kirchenmäuse, hatten aber Verbindungen, und es gab immer Freunde, die ihnen Häuser überließen; die Adresse des letzten — irgendwo in Putney Heath — klang wirklich großartig.

Als ich, nachdem ich mehrere Kilometer durch die Abenddämmerung gewandert war, endlich dort ankam, wirkte das Haus wie von einer Bombe getroffen — nur einer der Flügel und die Haupttreppe standen noch in einem riesengroßen Garten voll aufgewühlter Wurzeln.

Sie saßen auf der Treppe unter freiem Himmel und waren ziemlich überrascht, mich zu sehen — mit Ausnahme der reizenden Cleo, die »Ich hab’s doch gewusst!« rief und mir auf den Stufen entgegenlief. Sie war noch genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte, ja sie sah sogar noch besser aus mit ihrer palisanderfarbenen Haut und einer Figur, die Bluse und kurze Hose prachtvoll betonten.

»Du bist zu Fuß gekommen, stimmt’s? — Ich hab’s dir doch gesagt, Papa.« Sie führte mich stolz die ausgewaschenen Stufen hinauf und nahm mich dann mit in ihr Zimmer, wo sie mir mein Bündel Briefe zeigte, das sie in ihr duftendes Nachthemd gewickelt hatte.

Ich wurde also aufgefordert zu bleiben. Cleo verbrannte meine Kleider und stattete mich mit ein paar Sachen ihres Vaters aus. Man war dabei, die Villa abzureißen, weil für einen Block mit Mietwohnungen Raum geschaffen werden sollte, und der Vater arbeitete für die Baufirma; inzwischen konnten sie in der halben Ruine wohnen bleiben, waren also vorübergehend in Sicherheit, und die Mutter kam allmählich wieder zu Sinnen.

Ich schlief auf dem Fußboden in dem noch vorhandenen Rest eines Ballsaales und aß mit der Familie in der viktorianischen Küche, deren hohe gotische Fenster einen Blick vom Rand der Heide über London hinweg bis auf die Hügel von Hampstead boten. Ich hatte Glück gehabt, ich wusste es und genoss es zunächst auch. Ich konnte mit diesem netten, sanften Ort ganz zufrieden sein.

Manchmal hielt mir der Vater mit seiner lauten Rednerstimme einen Vortrag über die Theorie der Anarchie, über die Notwendigkeit politischer und persönlicher Freiheit und über seine Verachtung der Sittengesetze. War er nicht im Hause, dann erzählte die Mutter mit feuchten, bleichen Augen von ihrer Kindheit daheim in der Grafschaft und klagte über die vergammelte Welt verschwörerischer Dachkammern, durch die dieser unwiderstehliche Schurke sie geschleppt hatte. Dann wieder führte mich die Tochter, atemberaubend sinnlich in ihrer kurzen knapp sitzenden Hose, an der Hand durch den verfallenen Garten, bis zur letzten Gruppe noch verwurzelter Myrtensträucher, hockte sich mit bloßen Knien hin, zog mich neben sich auf den Boden und verlangte Rechenschaft über meine politischen Überzeugungen.

Bildschöne Cleo — sie hatte keine Ahnung, was sie bei mir anrichtete mit ihren schrägen Augen unter dem Myrtenlaub, ihren wendigen rotbraunen Schenkeln, wie aus einem Dschungel von Rousseau, ihrem Geschnatter, das keine Sekunde verstummte. Aber nie sagte sie das, was ich erwartete; nie ein Wort von Liebe, oder von meiner Sehnsucht, oder der Sommernacht. Sie war außerstande, mir etwas anderes zu servieren als die toten, dürren Früchte des väterlichen Geistes. Er bedeutete alles für sie, und ich war noch nicht alt genug, um an seine Stelle zu treten. Sie erschien mir wie das entzückendste, zugleich vergeblichste Wesen auf der ganzen Welt.

Dann, eines Abends, führte ich sie hinaus auf die dämmerige Heide, wo die Liebespaare dicht wie Heuballen lagen. Wir stiegen meilenweit hin und her, und Cleo holte nicht ein einziges Mal Luft; ihr reizender Mund war ein politisches Megaphon. Schließlich drängte ich sie an einen Baum und küsste sie voller Verzweiflung. Sie lieh mir ihre Lippen wie ein Lehrbuch. »Aber ich brauche die politische Bewegung. Du verstehst das, oder? Du musst in die Partei eintreten«, sagte sie.

Ich gab nicht auf. Ich machte einen letzten Versuch; schließlich litt ich nicht unbeträchtliche Qualen. Also schnappte ich mir am nächsten Morgen, als es dämmerte, eine Leiter von den Bauarbeitern und kletterte durch ihr Schlafzimmerfenster. Da lag sie, in ihrem rosenfarbenen Nachthemdchen, und schlief behaglich, ein sanft atmendes Häufchen Liebe. Die ruhige Morgendämmerung, die ersten Vogelstimmen, und ich in meinem schwarzen Pyjama – sie musste in diesem zaubervollen Augenblick doch einfach dahinschmelzen! Als ich in ihr Bett schlüpfte, rollte sie mir schläfrig in die Arme, erwachte dann und erstarrte. »Wenn Papa das wüsste, würde er dich umbringen«, sagte sie. Und es war nicht nur eine Redensart.

Als ich im frühen Licht der Dämmerung die Leiter wieder hinunterkletterte, wurde mir klar, dass Blut dicker war als jede Theorie. Später am selben Tag verschaffte mir Cleos Vater Arbeit beim Bau und gab mir die Adresse einer Unterkunft in Putney. Ich weiß nicht, was Cleo ihm erzählt hatte, jedenfalls reagierte er flink. Es erschien mir als vernünftiger Kompromiss zwischen seinem Reformdenken und der Pferdepeitsche.