Drei Schwerter für Salassar

Jagd nach der Drachenblume

Band 1

von

Rolf Michael

 

Fantasy

 

Mondschein Corona – Verlag

Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

1. Auflage

Neuauflage Juli 2016

© 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona

Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Rolf Michael

Lektorat/Korrektorat: Mia Koch und Jasmin Kreuz

Grafikdesigner: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano

Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

 

ISBN: 978-3-96068-039-0

 

© Die Rechte des Textes liegen beim

Autor und Verlag

 

Mondschein Corona Verlag

Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.mondschein-corona.de

 

Das Lied von Chrysalitas

 

Sei mir willkommen, oh Suchender der Weisheit und der Wahrheit. Lagere dich zu meinen Füßen und lausche meinem Gesang und meinem Epos.

Denn ich, Cronnach, den sie den Sänger nennen, will dir erzählen und berichten von einer Welt, die so weit entfernt von uns ist wie die Sterne des Kosmos und doch zum Greifen nah, wenn du sie in deinen Gedanken träumst.

 Singen will ich und erzählen von der Welt Chrysalitas, die von den Weisen und Wissenden auch die Adamanten-Welt genannt wird. Einem Weltengebilde jenseits all deiner Vorstellungskraft und Fantasie. Sie liegt über dir, unter dir, neben dir und vielleicht liegt diese Welt auch in dir. Tief verschlossen in der geheimsten Kammer deiner Seele, in die du selbst die Götter nicht hineinblicken lässt.

Alles, was dir deine geheimsten Träume jemals vorgegaukelt haben, in Chrysalitas findest du es. Und in deiner Fantasie ziehst du selbst neben Legionen von eisenklirrenden Kriegern, kraftstrotzenden Barbaren und tollkühnen Amazonen in den Kampf. Oder durchstreifst mit ihnen wilde Länder und prunkvolle Städte, deren Schätze dem gehören, der stark und kühn genug ist, sie sich zu nehmen.

In deiner Fantasie reitest du auf einem wild schnaubenden Hengst über ein sich vor dir ausdehnendes gläsernes Meer einer Prärie oder du jagst durch eine graugelbe Steppenlandschaft, die hinter deinem Pferd eine Staubfahne wehen lässt. Oder du fliegst mit einem gewaltigen Drachen über schroffes, wild zackiges Felsengebirge bis hinauf zu den Gipfeln, wo ewiger Schnee liegt.

An der Seite von kühnen Abenteurern dringst du in die Höhlen des Zwergenreiches ein, staunst über die urwüchsige Kraft der Riesen, gerätst in den Schluchten der Trolle in Todesgefahr und bist Gast am Hofe des mystischen Elfenkönigs.

Spürst du, wie du bereits in die Wunderwelt von Chrysalitas hinüber und auch in sie hinein gleitest? Vielleicht bist du schon mittendrin in Chrysalitas und weißt nur noch nicht, dass dich das Abenteuer bereits in seinen Bann gezogen hat. Sieh dich doch einmal um. Mit deinen beiden Augen siehst du die Realität. Aber mit deinem dritten Auge erkennst du, was du sehen möchtest.

Chrysalitas!

Spürst du den Schauer, der dich überkommt, wenn du diesen Namen liest? Ja, sie sind bereits unsichtbar neben dir, die Gestalten, die dich hinüberziehen wollen. Unsichtbar für deine irdischen Augen stehst du bereits mittendrin im Traumreich deiner und meiner Fantasie.

Chrysalitas!

Eine Welt, die es nicht gab, nicht gibt und nicht geben wird. Weil es nichts geben darf, was nicht sein kann. Aber dennoch wurde Chrysalitas erdacht. Und alles, was erdacht wurde, kann auch Realität sein. Und irgendwo in den Tiefen der Universen wird all das, was der Mensch erdenkt und erträumt, zur Wirklichkeit.

Du willst eine Erklärung, wie das alles zusammenhängt? Es gibt keine Erklärung dafür.

Es ist alles eine Art von Magie.

Nicht der Hokuspokus, den Scharlatane, Taschenspieler und geschickten Illusionisten auf den Jahrmärkten zeigen und sich von der unwissenden Masse der Menschen beklatschen lassen. Diese Magie ist wahrhaftige Zauberkunst, die Berge einstürzen, Meere verdampfen und Planeten nach der geheimnisvollen Musik der Sphären tanzen lässt.

Sei also gewarnt, mein Freund!

Denn nicht nur gewaltige Herrscher, sondern auch dunkle, unbekannte Mächte regieren die Adamanten-Welt und breiten ihren Zauber über Chrysalitas aus. Magier, die mit einer verächtlichen Handbewegung Gewitter und Erdbeben hervor rufen können, stellen sich dir auf dem Weg entgegen. Und vor allem hüte dich vor dem Zorn der Götter. Denn in dieser Fantasiewelt jenseits von Zeit und Raum sind die Unsterblichen allgegenwärtig. Nicht nur in ihrer Allmacht der göttlichen Erscheinung. Wenn es ihnen beliebt, bewegen sie sich auch in menschlicher Gestalt, um zu segnen oder zu strafen.

Spürst du, wie du bereits wie von Elfenflügeln getragen über der Adamanten-Welt schwebst? Blicke hinab über die Meere und Kontinente. Sieh die schroff ansteigenden Gebirgsmassive. Blicke über die Wüsten hinweg in das fruchtbare, von Bächen und Flüssen durchzogene Ackerland. Betrachte das Leben in den stillen Dörfern des einfachen Volkes und den mächtigen Staaten, wo die Herrscher gewaltiger Reiche in prunkvollen Palästen residieren und in denen die schwarzen Türme dunkler Zauberer in den Himmel ragen.

Sieh hinein in die zerklüfteten Bergmassive, in deren Tiefen das Zwergenvolk kostbare Erze abbaut. Dein geistiger Blick durchdringe die Schatten der Wälder, in denen die Letzten vom Geschlecht der Riesen ihre Heimstatt haben. Erfreue dich an den lichten Auen, in denen die Elfen das Erbe der Altvorderen treulich bewahren. Tauche ein in die felsigen Schluchten, in denen die grässlichen Trolle hausen. Strebe hinauf zu der gewaltigen Höhenburg auf dem Gipfel des höchsten Berges im Norden der Welt, wo an der Grenze zur Eiswüste die Drachen hausen. Und öffne deine Sinne für den geheimnisvollen Wunderwald. Diesen Wald der Mysterien, der alle Kreaturen birgt, die jemals aus dem Geist denkender Wesen entsprangen. Sie wurden erdacht und somit Realität geworden sind. Hier im Wunderwald leben diese Kreaturen, auch wenn sie dem menschlichen Denken längst entschwunden sind.

Über allem aber schweben die Götter, die stets versuchen, die Geschicke der Welt und der Sterblichen zu beeinflussen. Doch seit undenklichen Zeiten ist die Gemeinschaft aller Götter zerbrochen. Ein Teil von ihnen lebt in Jhardischtan, einer gigantischen Höhlenwelt unter den westlichen Feuerbergen. Die anderen hausen auf den lichten Höhen des Brillantenberges von Jhinnischtan, der überirdischen Kristallwelt im Osten.

Die alten Mythen wollen wissen, dass die unsterblichen Götter einstmals die Menschen nur schufen, damit sie für die Götter kämpfen und an ihrer Stelle den Streit ausfechten sollen. Einen Kampf und Krieg, zum dem sonst die Götter in all ihrer Majestät selbst antreten müssten. Und deshalb werden die Götter versuchen, auch dich, wenn du dich in Chrysalitas befindest, auf die eine oder die andere Seite zu ziehen. Zum dunklen Jhardischtan hinüber oder zum strahlenden Jhinnischtan. Um dich also vor Schaden zu bewahren, vernimm deshalb, was in Chrysalitas einst war - was heute ist - und was vielleicht einmal sein wird.

Öffne dein Ohr und deine Sinne und vernimm, wie die Admanten-Welt entstanden ist. Und erfahre, wie sie beherrscht und regiert wird.

 

***

 

Irgendwann war der Anfang.

Aber dieser Anfang ist keine Materie. Es ist ein ewiges Gesetz.

Stelle dir diesen Anfang wie eine Waage vor. Eine Waage des Ausgleichs, die das Gute vom Bösen, die Ordnung vom Chaos, das Licht von Dunkelheit trennt. Eine Waage, die gleichzeitig dafür sorgt, dass alle Dinge und Ereignisse stets im harmonischen Gleichklang bleiben. Weder hell noch dunkel, weder Gut noch Böse - nichts darf die Übermacht gewinnen. Wobei der Begriff »Übermacht« weniger auf materielle als auf spirituelle Weise angesehen werden muss.

Entgegengesetzt wie Feuer und Wasser, die sich bekämpfen, wo immer sie aufeinandertreffen, ist das Gute ohne das Böse einfach nicht denkbar.

Wer kann die Güte eines Gottes begreifen, wenn er nicht die Tücke eines Teufels kennt?

Ohne die Dämonen der Unterwelt hören die oberen Lichtgötter auf, gut zu sein. Aber wie kann der Teufel ohne die Gerechtigkeit eines Gottes seine eigene Schlechtigkeit erkennen?

Der Teufel - das ist der Schatten Gottes, der über die Welt fällt.

Ein großer Schatten. Viel größer als das Teufelsgebilde, von dem er ausgeht. Aber es ist eben nur der Schatten des Teufels, der nur das verzerrt nachäffen kann, was der Schattengeber in seinen Bewegungen vormacht.

Was der Gott mit seiner Kraft tut, das ahmt sein Schatten, der Teufel, nach. Doch ohne den Gott, der den Schatten wirft, gibt es den Teufel nicht.

Doch, was ist »Gut«? Und was ist »Böse«?

Was sind »Götter«? Und was sind »Dämonen«?

Nicht einmal die Weisen dieser und anderer Welten wissen diese Fragen zu beantworten. Nur jenes Überwesen am Anfang von Zeit und Raum, gewaltiger und mächtiger als die Götter dieser und anderer Welten weiß es. Nur diese eine Kraft, die war - die ist - und die einst immer noch sein wird, nur diese Kraft vermag das Geheimnis zu lösen.

Denn dieses Überwesen, das hoch über allen Göttern waltet, wurde einst von der Urkraft aller Dinge der Schaffung und Zerstörung als Wächter eingesetzt, als sich eben diese Urkraft nach der Schöpfung gelangweilt von ihr abwandte und sie dieses Universum und die Welt den Kreaturen zum Spiel überließ, die sie einst mit Leben erfüllt in die Welt hinein gesetzt hatte.

Im Flüsterton reden die Eingeweihten vom Cherub der Waage des Ananke, ohne den eigentlichen, tiefen Sinn dieser Worte jemals zu begreifen. In der Sprache, die deine Zunge zu formen versteht, würde man dieses Geistwesen vom Anbeginn aller Zeiten als Wächter der Waage bezeichnen.

Zwar ist der Cherub der Waage des Ananke weder der Anfang noch das Ende alle Dinge, aber er ist doch weit erhabener als alles, was der Sinn des denkenden Menschen jemals als den einen Gott, der erschafft, erhält und zerstört jemals erahnen konnte.

Der Cherub ist von dieser göttlichen Macht aus dem Ur-Grund aller Dinge eingesetzt, die das Universum durch einen einzigen Hauch seines Willens erschuf. Und im Auftrag jener Macht muss der Cherub auf der Waage stets den Ausgleich herbeiführen, wenn sich eine der Schalen zu neigen beginnt. Und eine Schale der Waage neigt sich dann, wenn entweder das Gute oder das Böse die Oberhand zu gewinnen droht.

Weder darf das Chaos die Ordnung zerstören, noch soll das Gute jemals das Böse restlos vernichten. Was ist die Hitze, wenn die Kälte unbekannt ist? Wer wollte das Gute begreifen, würde ihm nicht das Böse offenbar? Wer wollte dem Teufel die Schlechtigkeit lehren, wenn nicht das göttliche Gesetz die Grenzen zwischen Licht und Dunkelheit aufzeigt?

Doch kann auch das Gute nicht entstehen ohne die Existenz des Bösen.

Hier wie dort hat der Cherub die Waage des Schicksals stets im rechten Lot zu halten. Völker und Reiche bilden die Substanz, die gewogen wird. Genauso wie die Götter, die einst erschaffen wurden und entstanden sind, um Chrysalitas nach ihrem Willen zu regieren.

Für jede Waage gibt es Gewichte verschiedener Größe, um die Balance auszupendeln. Dies können Helden wie Zauberer sein, die auf der einen wie der anderen Seite der Waage den Ausgleich herbeiführen müssen. Und dies zu begreifen, ist es notwendig, sich kurz mit den Grundlagen der Magie der Adamanten-Welt zu beschäftigen.

Wie überall im Universum gibt es auch in der Adamanten-Welt die beschwörende Magie in ihrer weißen, ihrer grauen und ihrer schwarzen Form. Beschwörungen sind jedoch meist in ihren Auswirkungen unkontrollierbar. Nur wenige innerlich Starke oder besonders Begnadete sind in der Lage, die Magie in ausgereifter Form zu nutzen. Denn alles bei der beschwörenden Magie beruht auf dem Zwang, sich Geister, Engel und Dämonen untertan zu machen.

Der kleinste Fehler in einer Beschwörung bedeutet jedoch, dass ein unirdisches Wesen, das gerufen wurde und zu einer Handlung gezwungen werden soll, Macht über den Beschwörer erhält.

Soll der beschworene Engel oder Dämon zu einer Handlung gezwungen werden, die nicht seinem Naturell entspricht, dann wehe dem Magier, der bei der Beschwörung einen Fehler gemacht hat, indem er vielleicht ein Wort verkehrt betont oder nicht das richtige Räucherwerk gemischt hat. Dreimal wehe ihm, wenn der Dämon durch eine solche Nachlässigkeit diesen Magier in seine Gewalt bekommt.

Keinem der armen Narren, die nach einer solchen missglückten Beschwörung noch in lebendigen Körpern als geistlose, lallende Idioten dahin vegetieren, sieht man an, dass sie einstmals gewaltige Zauberer war, die sich anmaßten, Engel oder Dämonen unter ihren Willen zu zwingen. Und weil diese Art von Magie unkontrollierbar ist, eignen sich Zauberer, deren Magie ausschließlich auf Beschwörungen von Geisterwesen beruht, nur sehr schwer als Gewichtssteine für die Waage des Schicksals.

Aber es gibt in Chrysalitas eine andere Art von Magie. Sie ist berechenbar und wird daher hauptsächlich durchgeführt. Auch diese Magie ist nicht ohne Gefahr für das Leben und den Geisteszustand des Kühnen, der sich ihrer bedient. Aber im Gegensatz zu einem Beschwörer von Engeln und Dämonen, der einem Bändiger wilder Raubtiere gleicht, die ihn bei der geringsten Schwäche anfallen und zerreißen, erinnert die andere Magie an die Beherrschung einer Maschine, deren Wirkungsweise und Reaktion man voraussehen kann.

Hast du jemals von den Sternstein-Juwelen singen gehört? Jenen geheimnisvollen, transparenten Steinen aus reinem Adamant in verschiedenen Farben, die vom Aussehen her an eine kristalline Mischung aus Quarz und Glas erinnert. Meist sind die Sternsteine auch als Kristalle geschliffen. Doch ihre Wirkung haben sie auch in ihrer ursprünglichen Form als Rohsteine, die von einer schützenden Felssubstanz umgeben sind.

In diesem Urzustand können die Sternsteine von jedem Wesen benutzt werden. Egal ob Mensch oder Zwerg, ob Riese oder Troll, dessen Geist und Wille stark genug ist, sie zu beherrschen. Einen zum Kristall geschliffenen Stein jedoch beherrscht ausschließlich ein Magier, der das Wissen, die Kraft und die Kühnheit hat, den Kristall aus seinem Schutz aus Stein heraus zu lösen, ihn zu unterwerfen und so in die Form eines Kristalles zu zwingen.

Khoralia-Kristalle nennt man diese ungefähr faustgroßen Steine nach Khoraliander, dem legendären Meister der Meister. Khoraliander war es, der es vor undenklichen Zeiten als erstes sterbliches Wesen wagte, es den Göttern gleich zu tun und sich einen der Sternsteine durch die Befreiung aus dem felsigen Urgestein und Feinschliff zum brillanten Untertan zu machen.

Legenden wollen wissen, dass die Sternsteine entstanden, als der unbekannte Gott, der alles geschaffen hat, vor der Schöpfung des Universums ein Gebilde von der Größe eines Planeten aus dem wirbelnden Chaos griff. In diesem Gebilde verspürte der Gott die Urkräfte jeglicher Magie und Zauberkunst.

Allein für die Schöpfung einer besonderen Welt war dieses Gebilde aus Felsen und Adamant ungeeignet, denn seine wahre Kraft wohnte ganz in seinem Inneren. Also begann der geheimnisvolle Schöpfergott ohne Namen, diese Kraft aus dem weltengroßen Gebilde heraus zu schlagen. Heraus zu meißeln, wie ein Bildhauer eine Statue formt, die bereits im Marmorblock lebt und von ihm von der schützenden Hülle aus Stein befreit wird.

Die abgeschlagenen Splitter der Planetensubstanz, in dem die Kraft der Magie konzentriert war, flogen überall in dem noch nicht entstandenen Universum herum und verbanden sich mit ihm, als das Universum Realität wurde. Überall im Kosmos schwirren größere und kleinere Teile dieses einstigen Planeten herum. Die Weisen raunen, dass die größeren Stücke durch das Universum gleiten und einen Schweif aus Sternenfeuer nach sich ziehen. Doch nicht in allen Welten, auf denen diese Stücke mit dem Sternenfeuer niedergehen, erkennt man ihre Kräfte und weiß sie zu nutzen.

Einstmals war das Wissen um die Kraft der Steine nur den Göttern bekannt, die es eifersüchtig hüteten. In jenen Tagen vermochten nur die Götter zu zaubern, während die sterblichen Wesen auf allen Welten sich die Erleichterungen ihres täglichen Lebens mit ihren Geisteskräften selbst erfinden mussten. Genau so, wie es auf den meisten Welten im Universum bis auf den heutigen Tag ist. Man versteht die Kräfte der Magie dort nicht zu nutzen oder lehnt sie direkt ab, weil sich die Zauberkunst zwar in seltsamen Formeln, nicht aber in Berechnungen fassen lässt.

Bei den Menschen von Chrysalitas gibt es die Legende, wie einst das Geheimnis der Sternsteine bekannt wurde. In grauer Vorzeit mischte sich einmal ein Gott unter die Sterblichen, um in menschlicher Gestalt ein junges Mädchen zu verführen. Um diesem Mädchen zu imponieren, damit es sich ihm willig hingab, zauberte der Gott mithilfe seines Sternsteins alles, was sie begehrte. Das Mädchen aber gab dem Gott nicht nur ihre Liebe, sondern auch viel Wein zu trinken. Als er dann vom Wein und von der Liebe völlig trunken war, fragte ihn das kluge Mädchen nach den Geheimnissen seiner Zauberei. Seiner selbst nicht mächtig und benebelt vom reichhaltigen Trunk gab der Gott bereitwillig Auskunft. Und so kam das Geheimnis der Sternsteine an die Sterblichen von Chrysalitas.

Es dauerte jedoch Myriaden von Generationen bis zur heutigen Erkenntnis, dass die Machtgrade der Steine und damit die Kräfte, die in ihnen wohnen, nach den Farben der Kristalle verschieden sind. Denn das Planetengebilde, dessen Herz der Schöpfergott herausschlug, um damit das Universum zu gestalten, war vergleichbar mit einer Zwiebel aus mehreren ineinandergefügten Schalen. Und je näher die Schale einst dem Zentrum saß, umso größer ist die Zauberkraft des Kristalls.

Einen Stein aus der äußeren Ummantelung vermag auch ein sonst der Zauberei unkundiger Mensch zu beherrschen, wenn sein Geist besonders willensstark ist. Für den zweiten Grad wird jedoch bereits das Wissen einen Karcisten benötigt, also des Gehilfen eines Zauberers. Und so geht es fort. Ein Adept schafft es vielleicht noch, einen Sternstein vierten Grades zu beherrschen. Das Höchste, was ein normaler Zaubermeister erreichen kann, ist die Nutzung eines Sternsteines des sechsten Grades.

Bestimmte Priester und Eremiten, die ihr Leben den Göttern geweiht haben, sollen angeblich auch zu Khoralia-Kristallen geformte Sternsteine siebten Grades nutzen können. Man rechnet die Zahl der Grade bis zu zehn. Aber Kristalle dieser Stärke vermögen nur die Götter selbst zu regieren.

Doch flüstern sich die Wissenden zu, dass es noch die Steine der Hochgrade geben soll. Kristalle, die man bis in den zwölften Grad rechnet. Doch tragen die »Steine der Hochgrade« Kräfte in sich, die selbst von den Göttern nicht beherrscht werden können.

Also höre, was die Lieder von den Göttern der Adamanten-Welt singen ...

 

***

 

Einst, am Anbeginn aller Zeiten oder am Ende einer Zeit, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegt, entstand der Kosmos mit einer Unzahl von Universen, für die der denkende Sinn des Menschen keine Zahl kennt.

Der Mensch benennt den Urgeist, der all dieses erdacht und geschaffen hat, nicht nur den einen, sondern einfach d e n Gott.

Ein Gott, der keinen Namen hat und zu dem niemand betet, weil er über jedes Gebet erhaben ist. Dieser Gott e r d a c h t e und s c h u f alles - und überließ seine Schöpfung dann gelangweilt sich selbst.

Warum also soll man diesen Gott anrufen und preisen, wo er dessen nicht Bedarf? Warum ihm opfern, wo er keine Opfer benötigt? Und warum soll man Bitten zu diesem Gott senden, wenn er sich um das, was er einmal geschaffen hat, nicht mehr kümmert, weil er auch Wesen erschuf, die nun mit seiner Schöpfung spielen? Diese Wesen, das sind die, welche sich Götter nennen. Und die doch vor der Allgewalt des Gottes ein Nichts sind.

Es lohnt sich nicht, dem Schöpfer aller Dinge und Spender allen Lebens Tempel zu errichten oder Opfer darzubringen, weil er weder auf Gebete noch Opfer reagiert. Also klammern sich die Lebewesen von Chrysalitas an jene Götterwesen. Denn bei diesen Göttern ist Hilfe, wenn man sich ihnen in frommer Verehrung naht und die notwendigen Opfergaben nicht fehlen.

Wer oder was aber ist dieser Urgeist, dessen Name die Sprache der Menschen in die kleine Silbe Gott zwängt?

Niemand weiß es zu sagen. Nicht die Weisesten der Weisen oder die Hochpriester der Pantheen von Jhardischtan und Jhinnischtan. Und auch die Götter der Tempel und Altäre, die man die älteren Götter nennt und die schon vor der Zeit als Teile der Schöpfung entstanden sind. Sie wurden erdacht und geschaffen, um die Schöpfung des Urgottes in ihrem Sinne fortzuführen. Und auch jene neuen Licht- und Schattenwesen wissen es nicht, die heute von den Menschen als Götter angebetet werden und von kristallenen Höhen herab oder aus dunklen Klüften herauf Chrysalitas beherrschen.

Nach den Vorstellungen der Weisen und Philosophen ist der Urgeist, der G o t t, aus den zwei Komponenten entstanden, die in Wahrheit das ausmachen, was die Urkraft aller Schöpfung und Zerstörung ist.

Der Gott, das ist die Natur und die Notwendigkeit.

Stets baut die Natur Materie und neues Leben auf. Selbst im gestaltlosen Nichts oder wo kein Leben möglich ist. Die Notwendigkeit aber lässt dieses Leben vergehen, damit der Kosmos nicht zu eng wird für alle Welten und eine Welt Raum und Nahrung genug bietet für alle Bewohner.

Ist die Natur das Gute, weil sie Leben schafft? Oder ist die Notwendigkeit das Böse, weil es das von der Natur geschaffene Leben dahin rafft?

Die Philosophen vom Siebenten Grade der Einweihung lehren, dass die Natur der einzige, wahre Gott ist, der lebt und alles geschaffen hat. Doch die Notwendigkeit, so lehren sie auch, regiert die Götter. Es ist eine Notwendigkeit, das alles stirbt, um Platz für neues Leben zu schaffen, das die Natur stets aufs Neue hervor bringt.

So teilt sich also dieser eine Gott in sich z w e i Gottheiten. Beide müssten sich krass gegenüberstehen. Und sie sind doch ein Ganzes.

Und so ist es auch mit den Gottheiten, die Chrysalitas schufen und regieren. Stets sind es zwei, die eins sind. Zwei, die sich gegenüberstehen und die dennoch zusammengehören.

Vernimm also die Kunde von Dhasor, den die Zungen aller Lebewesen als den Weltenvater preisen. Er war, er ist und er wird sein. Und in Dhasor wird in der Adamanten-Welt auch jenes mystische Gott-Wesen und Schöpfer aller Universen verehrt, das weder Tempel noch Opfer und Gebete beansprucht.

Für alle Lebewesen in Chrysalitas ist Dhasor der Urgeist der Natur und der Ordnung. Gesetze und Regeln, die nie aufgeschrieben wurden, sind seine Gebote. Es gibt keine Sprache und keine Schrift, mit denen die Gebote des Dhasor zu fassen sind. Doch jedes Lebewesen, gleich, welcher Art und Gestalt es auch ist, bewahrt sie in seinem Innersten.

Nach der Lehre der Priester, die kaum jemand anzweifelt, entspringt alles, was lebt und existiert, den Gedanken Dhasors. Auch Chrysalitas, die Adamanten-Welt, ist nur ein Gedanke des Weltenvaters. Er verband sich mit der Zauberkraft seines Sternsteins, um diese Welt zu erschaffen. Ein Gedanke des Weltenvaters, der Gestalt annahm und nun in schillernder Vielfalt erblüht. Der Gedanke und der Wille waren das Material und die Kraft des Sternsteins fügte alles zusammen.

Der Sternen-Kristall des Weltenvaters muss von unglaublicher Stärke sein. Ob er jedoch das Herz des Zauberplaneten darstellt oder ob er nur sehr nahe am Zentrum seinen Sitz hatte, werden selbst die Götter nicht beantworten können. Aber nicht nur Dhasor verfügt über einen Sternstein in dieser Machtfülle. Denn der Weltenvater war es nicht allein, der durch den Hauch eines Traums entstanden ist.

Wo Dhasor die Ordnung darstellt, da ist Thuolla das Chaos.

Thuolla, die grauenvolle Göttin mit der Schädelkette, die von den Menschen mit Scheu die Herrin der Tiefe genannt wird.

Ist Dhasor die Natur, so ist Thuolla die Notwendigkeit.

Dhasor und Thuolla sind der Anfang, die Mitte und das Ende. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Doch das ist auch alles, was sie mit einem geistigen Band umschlingt und einigt. Ansonsten sind ihre Substanzen so unvereinbar wie Feuer und Wasser.

Dem Ja des Dhasor setzt Thuolla ein kaltes Nein entgegen. Wo Dhasor das Werden ist, stellt Thuolla das Vergehen dar. Regieren die Herrscher der Welt ihre Völker nach den Gesetzen des Weltenvaters, so sind Rebellen und Renegaten die Vollstrecker von Thuollas Willen.

Während Dhasor über Luft und Wasser gebietet, sind Erde und Feuer Thuollas Elemente. Luft und Wasser sind die Grundbedingungen des Lebens. In Erde und Feuer wird dieses Leben einmal vergehen.

Doch wie Luft und Wasser Leben in jeder Form erst möglich machen, so dienen die Erde und die Wärme des Feuers zu seiner Erhaltung.

Auch über diesen Grundelementen liegen für die Sterblichen nach dem Gebot der Waage Fluch und Segen zugleich. Die Leben spendende Luft vermag auch als tobender, alles zerstörender Wirbelsturm über das Land fegen und alles vernichten. Die ungebändigte Kraft des lebenserhaltenden Wassers aber rast auch über die Lande hinweg und ertränkt alles, was da atmen muss.

Die Erde ernährt alle Lebewesen mit ihren Pflanzen. Doch wenn sie in Bewegung gerät, frisst sie alles, was auf ihr steht und wandelt. Und das Feuer, das gebändigt die Körper erwärmt und Licht in der Dunkelheit spendet, vermag zur tödlichen Gefahr für alles, was lebt werden, wenn es die Möglichkeit hat, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten.

Die alten Legenden wollen wissen, dass Dhasor und Thuolla am Anbeginn der Zeit zueinanderfanden und gemeinsam die Adamanten-Welt erträumten. Mithilfe der Zaubermacht ihrer Sternen-Kristalle entstand so aus ihrem Traum heraus aus Erde, Wasser, Luft und Feuer die Welt, wie wir sie kennen und lieben.

Doch aus dieser Gemeinsamkeit des Weltenvaters und der Herrin der Tiefe entstand nicht nur diese Welt, sondern aus dieser Verbindung gingen auch zwei Kinder hervor, in denen sich das Erbe von Dhasor und Thuolla fortsetzt. Die Kinder des Weltenvaters und der Herrin der Tiefe aber sind Alessandra, die Göttin der Liebe und Mamertus, der schreckliche Herr des Krieges.

Der liebreizenden Anmut der Alessandra steht das harte Gesicht des Mamertus gegenüber. Der melodische Klang von Alessandras Stimme hat als scharfen Kontrast den harten, knarrenden Befehlston und den gellenden Kriegsruf des Mamertus. Wo der Spiegel der milden Göttin blinkt, da schimmert auch der gewaltige Schild des Kriegsherrn. Und wo Alessandra mit ihrem aus einem einzigen Rubin geschnittenen Kamm ihr Goldhaar kämmt, da sirrt des Mamertus blitzendes Schwert aus der Scheide und fliegt sein Speer. Und der süße Wohlklang von Alessandras Harfe wird oft genug übertönt von den klirrenden Waffen des Kriegsgottes.

Die Liebe, die Alessandra ausstrahlt, das ist die Natur. Doch die Flamme des Krieges, die auf der Helmzier des Mamertus sprüht, das ist die Notwendigkeit. Leben entsteht aus Liebe aber Leben und Liebe frisst der Krieg. Und der Cherub der Waage des Ananke wacht darüber, dass der Krieg des Mamertus nicht mehr Leben zerstört, als die von Alessandra ausgehende Liebe erschaffen kann.

Doch wie der Weltenvater und die Herrin der Tiefe sind auch die Göttin der Liebe und der Herr des Krieges den Welten der Sterblichen weit entrückt. Zwar verehrt man sie in den Tempeln mit Opfern und Gebeten, doch man weiß auch, dass weder Alessandra noch Mamertus in die Geschicke einzelner Personen, ganzer Völkerstämme oder gar in den Wandel ganzer Welten eingegriffen haben.

Den Menschen für ihre Gebete und Opfer Schutz und Hilfe zu gewähnten, dies ist in der Adamanten-Welt den Göttern vorbehalten. Geheimnisvolle Gottwesen, die aus der Unio mystica von Alessandra und Mamertus, aus der mystischen Vereinigung von Liebe und Krieg, hervor gegangen sind.

Nur diese Götter, die Kinder von Alessandra und Mamertus, nehmen regen Anteil an allem, was sich in der Adamanten-Welt tut und hoffen, aus jedem Ereignis einen persönlichen Vorteil zu ziehen.

Entstanden durch die Vereinigung von Natur und Notwendigkeit und durch die Unio mystica von Liebe und Krieg weisen die Götter Chrysalitas doch in all ihre Göttlichkeit nur allzu menschliche Schwächen auf.

Als alles seinen Anfang nahm, waren die Götter eine einheitliche Gemeinschaft, die Chrysalitas mit Wesen aller Art bevölkerten, die sie in trauter Gemeinsamkeit erschufen. Doch der Reigen der Unsterblichen zerbrach, als sie gemeinsam das schönste und herrlichste aller Wesen schaffen wollten und jeder Gott dieser Schöpfung seine besten Eigenschaften mitgeben wollte.

So entstand Dhaytor eck Akaro, der Drachenvater. Der erste Drache und Stammvater des ganzen Geschlechts.

Doch wegen dieses Drachens, seinem Aussehen und seiner Eigenschaften, zerstritten sich die Götter untereinander. Einige schreckte der Feueratem des gewaltigen Geschöpfes ab. Anderen missfielen die Schuppen am Körper oder der lange, sich ringelnde Schweif. Auch das mächtige Gebiss mit den sichelförmig gekrümmten Reißzähnen sorgte für Entsetzen. Doch auch der Umstand, dass der Drache reden konnte und eine absolut friedliche Einstellung zum Leben hatte, legten einige der Götter bei so einem mächtigen Wesen als absoluten Fehlgriff aus.

So standen sich zwei getrennte Parteien der Götter im Zorn gegenüber und wollten übereinander herfallen. Die einen, um den Drachen zu zerstören, die anderen, um diese Schöpfung zu erhalten. Doch rasch erkannten die Götter, dass keine der Parteien bei einer Auseinandersetzung mit Kraft und Gewalt unbedingt der Sieger sein musste. Und dass sie außerdem selbst aus einem Kampf nicht ohne Wunden und Blessuren kommen konnten. Wunden aber bedeuten Schmerz.

Und Schmerz empfinden und fürchten auch die Götter. Ja, auch die Götter kennen Furcht und Angst. Auch die Angst vor dem Tod.

Und deshalb wagten sie nach der Erschaffung des Drachenvaters keine kämpferische Auseinandersetzung mehr untereinander. Doch ihre bis dahin gepflegte Gemeinschaft zerbrach an jenem Tage. Die Götter der Adamanten-Welt entzweiten sich in zwei Gruppen, die sich bis auf den heutigen Tag feindlich gegenüberstehen.

Eine der Gruppen schuf sich auf einer unbezwinglichen Felsenhöhe im Osten die Kristallwelt von Jhinnischtan, die andere formte tief unter den Felsengebirgen auf der entgegengesetzten Seite der Welt das Höhlenlabyrinth von Jhardischtan. Und den zehn Göttern von Jhardischtan stehen zehn andere Gottheiten in Jhinnischtan gegenüber.

Drei der Götter zogen sich allerdings von Anfang an von den Feindseligkeiten zurück. Sie leben seit jenem Tag des Zerwürfnisses auf Geliagaldar, einer Insel im Zentrum der Chrysalischen See.

Dieses gewaltige Binnenmeer liegt ungefähr in der Mitte der Landmasse von Chrysalitas und die Menschen haben diesen Göttern auf dieser Insel drei Tempel errichtet. Wenn es die Umstände erfordern, kommen die Götter von Jhardischtan wie von Jhinnischtan trotz aller Rivalität an einem bestimmten Punkt auf dieser Insel zusammen, um über alle ihre Feindschaften hinweg Rat zu halten und Beschlüsse zu fassen. Und gerade die Stimmen dieser drei neutralen Gottheiten sind es, die im Gesamtrat der Götter den Ausschlag geben. Und weder die Gebieter von Jhardischtan noch die Herren von Jhinnischtan wissen, wie diese drei Götter abstimmen werden ...

 

***

 

Als Oberhaupt der Götter von Jhardischtan gilt Fulcor, der Gott des Feuers. Ihm zur Seite steht sein ungestümer Bruder Sulphor, der Herr der Vulkane. Zardoz ist der Gebieter über die Winde, die Stürme und die Orkane. Das Reich der Göttin Oceana sind das unendliche Meer, von denen die Landmasse der Adamanten-Welt umgeben ist und die Chrysalische See im Zentrum der Weltenscheibe. Von den Jünglingen und Männern wird Cromos, der Gott der Kraft und Stärke, hoch verehrt. Die Feiglinge und Lügner dagegen rufen Wokat, den Gott der Niedertracht und des Verrats, um Hilfe an. Die dunkle Schwester des Wokat aber ist Assassina, die grausamste Göttin von Jhinnischtan. Sie gilt als die Schutzpatronin der Mörder und Attentäter. Entsetzlich erscheint Vira, die Herrin der Krankheiten und Seuchen. In ihrem Gefolge geht meist der Schatten.

Der Schatten - das ist der Gott, der keinen Namen hat. Jedenfalls keinen Namen, den ein sterbliches Wesen auszusprechen wagt. Wer in Kühnheit oder Narretei den Namen des Schwarzen nennt, der ruft ihn damit herbei. Denn der Schatten, das ist der Tod. Obwohl er einer der Ihren ist, weichen auch die Götter von Jhardischtan und Jhinnischtan vor ihm zurück. Denn sie wissen sehr gut, dass der Schatten die Macht hat, auch die Götter selbst in die ewige Dunkelheit zu ziehen, wenn es die Umstände erfordern.

Einsam und wenig geachtet lebt die letzte Göttin des Jhradischtan in ihrer Kemenate. Es ist Stulta, die Göttin der Einfalt und des Unverstandes. Böse Zungen nennen sie auch die Göttin der Dummheit, obwohl sie ihr damit bitteres Unrecht antun. Denn eigentlich ist Stulta eine gutherzige Göttin, die sich weniger von ihrem Verstand als von ihren Gefühlen her leiten lässt. Durch ihre törichten Handlungen hat sie schon oft unbewusst die dunklen Pläne von Jhardischtan durchkreuzt.

Im Grunde genommen gehört Stulta genau so wenig nach Jhardischtan wie beispielsweise Mano in Jhinnischtan hausen dürfte. Denn Mano ist der Gott aller Diebe und Spitzbuben. Sein Gegenstück ist Croesor, der Gott des Geldes und der guten Geschäfte, zu dem die Kaufleute beten und den sie um Schutz vor seinem gerissenen Bruder Mano anflehen.

Das Haupt der Götter in der Kristallwelt von Jhinnischtan ist Baran, der Gott der Weisheit und Einsicht, zu dem die Philosophen beten. Die Göttin Vitana gewährt allen Daseinsformen der Welt das Leben. Fiona ist die Gebieterin der Bäume, Sträucher und Pflanzen. Ihre Schwester Anima dagegen ist Herrin der Tiere jeder Art und Gattung. Watran wacht über Flüsse, Quellen und Seen und spendet auch den Regen. Die Bauern flehen zu Fruga, der Göttin der Erde und ihrer Fruchtbarkeit. Junge Mädchen und Frauen dagegen bitten Sabella, die Göttin der Schönheit, um ihre Gunst. Und Medon ist der Gott der Ärzte und der Heilkunst.

Wer tiefen Einblick in das Wesen der Götter gewinnt, der erkennt, dass alle Götter in ihrem Wesen weder gut noch schlecht sind, sondern Segen und Fluch in sich vereinigen können. Die Menschen aller Völker von Chrysalitas wissen das. Sie ehren und fürchten die Götter. Denn sie wissen nur zu genau, dass die Hohen von Jhardischtan und Jhinnischtan sich grausig und tückisch rächen können, wenn man sie vergisst oder ihren Willen missachtet.

Die Feuer des Fulcors zerstören nicht nur, die Feuer wärmen auch die Menschen, wenn sie es in ihren Häusern sicher in den Öfen halten und eifrig mit Holz oder mit Kohle füttern. Die Winde des Zardoz treiben rasch die Schiffe über das Element der Oceana. Sein Zorn aber zerfetzt ihre Segel und das aufkochende, graugrüne Blut des Meeres reißt die Schiffe hinab in ein nasses, unergründliches Grab. Die Arbeiter der Welt bitten genauso wie die Krieger den Gott Cromos um Kraft und Ausdauer für ihr schweres Tagewerk oder für den bevorstehenden Kampf.

Die Kinder Animas, die Tiere, sie können gezähmt werden und dem Menschen bei der Arbeit und der Jagd helfen. Oder sie geben ihm als Schoßtier einen Teil an der Freude des Lebens. Doch Animas Wesen sind unberechenbar und der Zorn der Göttin lässt den Stier das Joch und den Elefanten die Kette brechen.

Das Element des Watran trägt Schiffe und Lastkähne über die Binnengewässer und die Fische aus den Flüssen und Seen geben den Menschen Nahrung. Doch im Zorn lässt Watran auch die Flüsse über die Ufer treten und das Land überschwemmen. Und Fruga, die vorher ihre segnende Hand über das aus ihrem Reich heraus wachsende Korn hielt, lässt im Wutrausch die Erde beben und verschlingt in den sich auf tuenden Erdspalten die Bewohner der Welt.

Kaufleute und alle anderen wohlhabenden Menschen fürchten mit Recht Mano, den Diebesgott und seine Verehrer. Doch auch Croesor kann, wenn man sich nicht in Andacht seiner erinnert, einen guten Geschäftsabschluss in aller Tücke so verkehren, dass bereits im Gewinn ein Verlust begründet liegt.

Alle Wesen der Welt weichen zurück vor dem Schatten. Doch gäbe es den Tod nicht, der immer wieder einen Ausgleich zu Vitanas Lebensodem schafft, dann wäre in der Adamanten-Welt kein Platz mehr.

Dies also sind die Parteien der Götter, die sich seit jenem Tag in Rivalität gegenüberstehen. Nun vernimm noch die Namen der drei Götter, die weder in der Kristallwelt von Jhardischtan noch in der unheimlichen Höhlenwelt von Jhinnischtan zu Hause sind. Die Menschen haben ihnen auf Geliagaldar, der heiligen Insel der drei Tempel im Zentrum der Chrysalischen See Heiligtümer errichtet, zu denen sie immer wieder Pilgerfahrten unternehmen.

Solmani wird hier hoch verehrt. Er ist der Herr über Licht und Dunkelheit, der Regent von Sonne und Mond und der Gebieter über die Zeit. Der zweite Tempel ist die Weihestätte der Zirkania. Sie ist die Herrin aller Künste und schenkt Malern, Dichtern, Musikern und Bildhauern ihre Gunst. Über den dritten Tempel gebietet Lhamondo, der Herr über Speise und Trank, und der Gott des Genusses. In Chrysalitas verehren recht schaffende und fromme Leute Lhamondo, indem sie in seinem Gedenken den ersten Bissen der Speisung zu sich nehmen und ihm den ersten Schluck des Trankes weihen.

Die alten Mythen wollen wissen, dass die Götter die Menschen nicht nur deshalb schufen, damit sie von ihnen durch das, was die Menschen täglich tun und lassen unterhalten werden oder, wo es notwendig ist, an ihrer Stelle für die Götter kämpfen können. Nein, hauptsächlich wurden die Menschen geschaffen, damit die Götter regelmäßig angebetet werden. Denn das Gebet ist die Speisung und der Trank der Unsterblichen in Jhardischtan wie in Jhinischtan.

Ein Gott, zu dem nicht mehr gebetet wird und an den es keine Erinnerung mehr gibt, dieser Gott stirbt zwar nicht. Aber er vergeht.

Die Götter wissen ganz genau, dass sie Kriege unter den Menschen immer nur im begrenzten Maß hervorrufen können. Denn wenn alle Menschen sterben, dann ist niemand mehr da, der sie anbetet. Und das ist dann auch für die Götter das Ende und sie gehen hinüber. Wohin? Niemand weiß es zu sagen.

Auch die Götter nicht. Aber sie fürchten es genau wie die Menschen den Tod.

 

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Soweit mein Lied vom Anbeginn der Zeit und von den Göttern. Doch nun höre von den Sterblichen und ihren Reichen in der Adamanten-Welt.

Halb vergessene Legenden flüstern, dass die Welt Chrysalitas am Anfang nur einen einzigen Herrscher hatte. Es waren die Tage des verfluchten Hexenreiches von Szylamar. Im Zentrum der Welt türmte sich ein mächtiger Berg in den Himmel, auf dem der Hexenkönig in Nijinjaczora, der Zitadelle der Grausamkeit, in abscheulicher Majestät regierte. Und so geschah es, dass sich die Waage von Ananke zum ersten Mal auf die Seite des Bösen neigte und der Cherub ein starkes Gegengewicht auflegen musste.

In den verbotenen Schriften findet sich kein Hinweis darauf, warum das Reich von Szylamar unterging. Andeutungsweise ist die Rede von einem Zirkel der Mächtigen, dem jeweils ein Zauberer aller Wesen, die Chrysalitas bewohnten, angehörte. Von den Bewohnern der Adamanten-Welt kennen wir heute nur die Menschen, die Elfen, die Trolle, die Riesen, die Zwerge und die Drachen. Doch einstmals müssen es mehr Völker in den verschiedenartigsten Gestalten gewesen sein.

Alle Zauberer, die dem Zirkel der Mächtigen angehörten, starben bei der Beschwörung der Urgewalten, die das Verderben über Szylamar heraufbeschworen und herabströmen ließen. In einem Regen aus Feuer vergingen das verfluchte Reich und seine Herrscher. Der Berg stürzte in sich zusammen und das verfluchte Szylamar wurde von der Erde hinab geschlürft. Dort, wo einst der Hexenkönig seinen düsteren Schatten über die Adamanten-Welt warf, kräuseln sich jetzt die Welle der Chrysalischen See. Und der höchste Berg des alten Hexenreiches jedoch, das ist Geliagaldar, die Insel der drei Tempel.

Doch steht in den alten Schriften, dass der Hexenkönig nicht tot ist, sondern tief auf dem Grund der Chrysalischen See in Sarkophagen aus Rosenquarz schläft und den Tag herbei träumt, an dem sich sein Reich wieder aus den Fluten erhebt. Überall in Chrysalitas sind magische Relikte verborgen, mit denen ihm die Macht zurückgegeben werden kann. Doch niemand weiß mehr, was das für Dinge sind und wo wie sich befinden.

Irgendwo in der Chrysalischen See soll es eine Stelle geben, wo das Wasser gerade so tief ist, dass Schiffe darüber hinweggleiten können. An dieser Stelle liegt der zerborstene Turm der Allgewalt, in dem die Krone des Hexenkönigs aufbewahrt wurde. Dem Kühnen, dem es gelingt, hinabzutauchen und diese Krone der Meeresflut zu entreißen, der vermag auch die Relikte zu finden, die Szylamar neu erstehen lassen. Oder er ist närrisch genug, sich die Krone selbst aufzusetzen. Doch bis jetzt hat noch niemand die Stelle im Meer gefunden, die den zerborstenen Turm und seine grauenvollen Geheimnisse hütet.

Nach dem Fall des weltumspannenden Hexenreiches gab es in der Welt der Menschen von Chrysalitas unzählige kleine Königreiche, Fürstentümer und Republiken. Doch zum jetzigen Zeitpunkt sind die verschiedensten Volksstämme und Nationen in drei großen Reichen vereinigt. Mit kriegerischer Gewalt, mit listiger Diplomatie und mit geschickten Heirats- und Erbverträgen wurden die drei Großreiche Decumania, Cabachos und Mohairedsch geschaffen.

Decumania, in dessen Zentralgebirge auf der Höhe des Kristallfelsens die Götterwelt Jhinnischtan liegt, wird von zwei Herrschern regiert, die gemeinsam die Majestät eines Gottkaisers bilden. Die weltliche Seite vertritt der Kyrios, der Herrscher, mit staatspolitischer Klugheit und Gerechtigkeitssinn. Die geistige Seite beherrscht der oberste Priester, der Hierophant.

Volubius Cardo, der Hierophant. stellt als Priesterkönig für das Volk von Decumania eine Art Bindeglied zwischen den Menschen und den Göttern dar. Als Zeichen führt er eine Peitsche und den Krummstab. Mycanos Gordios ist der Kyrios, dem das Schwert der Gerechtigkeit und der Schild als Beschirmung des Landes gegeben sind.

Als oberste Richter entscheiden Kyrios und Hierophant getrennt jeder für sich in geistlichen und weltlichen Dingen. In den Regierungsgeschäften jedoch sprechen sie aus einem Mund. Außerdem entscheiden sie nur gemeinsam über Krieg und Frieden. Aber bei den Feldzügen ist der Kyrios der Oberste Kriegsherr, während der Hierophant die erste Stimme bei Friedensverhandlungen hat. Als gemeinsame Herrschergestalt ihres Gottkaisertums führen der Kyrios und der Hierophant den Titel Basileios. Mycanos Gordios und Volubius Cardo regieren gemeinsam zu Villavortas, der Hauptstadt von Decumania, im Goldenen Haus, einem Palast, der das Ausmaß einer ganzen Stadt besitzt.