Die Todesuhr

 

 

 

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Band 47

 

Die Todesuhr

 

von Michael Marcus Thurner und Logan Dee

nach Exposés von Michael Marcus Thurner und Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2016

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind …

Unterdessen wird Coco Zamis von Asmodi erpresst. Der Fürst der Finsternis entreißt ihr das noch ungeborene Kind und benutzt es als Pfand. Während die junge Hexe bisher sicher war, dass sie es von dem Verräter Dorian Hunter empfangen hat, behauptet Asmodi, dass er es ist, der sie geschwängert hat.

Um ihr ungeborenes Kind wiederzuerlangen, begibt sie sich in Asmodis Hände. Doch keine der Aufgaben, die er ihr stellt, erfüllt sie zu seiner Zufriedenheit. Behauptet zumindest er und erpresst sie weiterhin.

Schließlich gelingt es ihr mit der Hilfe ihrer Familie, Asmodi den Fötus zu entreißen.

Aber jetzt ist es ihr eigener Vater, Michael Zamis, der ihr den Fötus verweigert.

Auf der Suche nach ihrem gestohlenen Dämonen-Fötus reist Coco Zamis nach London. Zufällig trifft sie ihren tot geglaubten Liebhaber wieder: Dorian Hunter. Doch der erkennt sie nicht, lädt sie aber in seine Villa in der Baring Road ein. Dort stößt Coco auf ein entsetzliches Geheimnis: Hinter einer mit magischen Schutzzeichen versperrten Kellertür wird ihr ungeborenes Kind versteckt gehalten. Dorian Hunter entpuppt sich als Marionette ihrer Familie. Er lebt in einer magisch erzeugten Scheinwelt. Coco kämpft mit allen Mitteln um ihr Kind. Mithilfe des geheimnisvollen Damon Chacal gelingt es ihr schließlich, den Fötus an sich zu bringen. Um ihn fürs Erste allen Widersachern zu entziehen, beschwört sie den einstigen Hüter des Hauses Zamis aus dem Reich der Toten und gibt ihr Ungeborenes in dessen Obhut.

Coco Zamis hat vorerst genug von ihrer Familie. Um Abstand zu gewinnen, flüchtet sie aus Wien und Europa. Es trifft sich gut, dass ihre alte Freundin, die Vampirin Rebecca, gerade ein neues Domizil in New York bezogen hat und Coco einlädt, sie zu besuchen. Es handelt sich um das legendäre Dakota Building. Schnell stellt Coco fest, dass ihre Freundin in größter Gefahr schwebt.

Rebecca ist schwanger und steht unter dem Einfluss der Vanderbuilds, einer mächtigen Dämonenfamilie, die im legendären Dakota Building residiert.

Coco erhofft sich Hilfe von der Voodoo-Priesterin Mama Wédo, doch nach dem Ritual behauptet Rebecca, mit Mama Wédo den Körper getauscht zu haben.

Gleichzeitig zeigen die Bewohner im Dakota Building ihr wahres dämonisches Gesicht. Immer deutlicher wird, dass sie Rebeccas Baby für ihre teuflischen Machtspiele benötigen. Und auch Coco gerät in die Fänge der Vanderbuilds. Als Rebeccas Kind auf die Welt kommt, entpuppt es sich als dämonische Kreatur.

Schließlich gelingt es Coco, ihre Widersacher zu besiegen, das Dämonenkind zu töten und mit Rebecca aus dem Dakota zu fliehen.

Zurück in Wien erwarten Coco weitere Schwierigkeiten: Nicht nur in ihrem Café stimmt etwas nicht, auch eine Dämonin namens Irene trachtet ihr nach dem Leben.

 

 

 

 

Erstes Buch: Acedia

 

 

Acedia

 

von Michael Marcus Thurner

nach einem Exposé von Michael Marcus Thurner und Uwe Voehl

 

1.

 

»Menschen verschwenden ihre Energien für nichtige Dinge«, sagte Anton Requin und platzierte den Kugelschreiber sorgfältig auf der Fläche vor ihm. So, dass er parallel zu seinem Schreibblock lag. »Ihre Wolkenkratzer ragen Hunderte Meter hoch. Sie wollen sich damit beweisen, dass sie dank ihrer Baukunst den widrigsten Bedingungen trotzen können.«

»Richtig«, sagte Vif Andersson, Requins persönlicher Sekretär.

»Sie erschaffen sich eine Scheinwelt, die von protzigen, glänzenden, mächtig wirkenden Dingen dominiert wird. Doch das Sein ihrer Existenz ist ganz anders. Die Menschen sind klein, schwach und unbedarft – und sie wissen, dass da noch etwas ganz anderes ist. Mächte, die sie nicht kontrollieren können. Die sie erahnen, aber nicht begreifen.« Requin tastete über die Schuppen an seiner Stirn. »Sie fühlen unsere Anwesenheit, sehen uns – und können uns doch nicht in ihr Wertesystem einfügen. Würden sie uns ausmachen, würde es ihre Zivilisation erschüttern.«

»So ist es.«

»Ich langweile Sie, Vif?«

Der hagere Mann überkreuzte die Beine und blickte auf die Uhr. »Wir haben Geschäftliches zu besprechen, Sir. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass auch Sie nicht frei von Eitelkeiten sind. Schließlich sitzen wir im Penthouse eines der höchsten Wolkenkratzer auf Manhattan. Mit einer Verglasung ringsum, die es uns erlaubt, die von Ihnen so gering geschätzten Menschen in ihrem Treiben zu beobachten.«

»Ich bin schwach, Vif. Verzeihen Sie mir?«

»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben. Sie sind der Boss.«

Requin erhob sich aus dem Stuhl und reckte den Körper. Er hatte Hunger. »Sie hassen mich wirklich sehr, nicht wahr?«

»Sie wissen, dass Hass die treibende Kraft meiner Art ist. Machen Sie sich also keine Gedanken. Können wir nun zur Tagesordnung …«

»Sie waren niemals illoyal, haben mich stets auf meinem Weg unterstützt und begleitet, haben die Drecksarbeit für mich erledigt und niemals allzu unverschämte Forderungen gestellt. Warum eigentlich?«

Andersson seufzte. »Sie stellen mir dieselbe Frage immer wieder. Muss ich denn darauf antworten?«

»Ich bitte darum.«

Der Sekretär nahm die Brille ab, faltete sie zusammen und steckte sie mit spitzen Fingern in die Brusttasche seines Armani-Anzugs. »Wir sind nur noch wenige. Wir müssen uns an die Verhältnisse anpassen. Unsichtbar bleiben, dienen, die schlechten Zeiten überstehen und auf eine Gelegenheit warten, die Erhabenheit unseres Geschlechts wiederherzustellen.«

»Aber leider haben Sie noch keine passende Partnerin gefunden, um ihr ach so großartiges Geschlecht mit Nachwuchs zu bereichern. Wie bedauerlich.«

Andersson presste die Lippen fest aufeinander und schwieg.

»Vielleicht sind Sie gar der Allerletzte Ihrer Art? Womöglich hoffen Sie vergeblich? Und je älter Sie werden, desto deutlicher wird Ihnen die Hoffnungslosigkeit Ihrer Lage bewusst. Deshalb suchen Sie einen Platz an den Schalthebeln der Macht. Weil Sie wissen, dass einer wie ich über die Mittel verfügt, Ihnen Gewissheit über die Existenz anderer Ihres Geschlechts zu verschaffen.«

»Können wir endlich zum Geschäftlichen übergehen?«, fragte Andersson.

Sein Sekretär vermochte sich kaum mehr zu beherrschen. Requin sah amüsiert zu, wie sich der schlaksige Mann auf dem Stuhl wand, wie er seinen Ärger nur mühsam runterschluckte.

»Also schön, Vif. Was steht heute an?«

»Die Geschäfte laufen zufriedenstellend. An der Westküste gibt es interne Reibereien in der Organisation. Ich habe veranlasst, dass sich zwei Troubleshooter um das Problem kümmern.«

»An der Westküste gibt es immer Ärger. Die Clans werden unverschämt, wenn man die Zügel zu locker lässt. – Weiter, Andersson.«

»Der Aktienindex zeigt nach oben. Menschen-Investoren pumpen beständig Geld in unsere Startups. Allein der Gedanke, dass wir the next big thing durch unsere Entwicklungsarbeiten im Silicon Valley liefern könnten, bringt sie dazu, Millionen in unsere Fonds reinzustopfen. Sie sind fasziniert von einer App, die den Handy-Benutzer über Gewaltverbrechen in seiner unmittelbaren Nähe informiert. Das Thema Virtual Reality im Sado-Maso-Bereich reizt sie. Und auf einer anderen, viel banaleren Ebene haben wir Erfolg bei der Markteinführung von Blutschokolade unter dem Namen Soylent Green …«

»Ich brauche keine Jubelmeldungen von Ihnen, Vif. Ich möchte wissen, ob es Schwierigkeiten im System gibt. Dinge, um die ich mich persönlich kümmern sollte.«

»Ich rate Ihnen seit Jahr und Tag, sich ausschließlich um Planung und Geschäftsgebarung des Konzerns zu kümmern. Es bleibt nun mal keine Zeit mehr für die Niederungen des Alltagsgeschäfts.«

Requins Magen grummelte. Er hatte wirklichen Hunger. »Ich schätze Sie sehr, Vif. Aber Sie werden die Entscheidungen darüber, was wichtig ist und was nicht, gefälligst mir überlassen.«

»Ich verstehe, Mister Requin.« Andersson räusperte sich, zog sein Tablet hervor, wischte darüber hinweg und sagte dann: »In Kolumbien gab es Schwierigkeiten mit einem Polizeipräfekten, der sich nicht bestechen lassen wollte. Als seine Leiche in einem Rinnsal gefunden wurde, kam es zu lokalen Protesten, die sich allmählich ausweiten.«

»Das übliche südamerikanische Durcheinander also.« Requin zuckte mit den Schultern. »Schickt einen schönen Blumenkranz und eine angemessene Zahlung an die Witwe, sorgt für ein paar kleine infrastrukturelle Verbesserungen in diesem Wie-auch-immer-es-heißt-Nest, und die Angelegenheit ist in einigen Wochen vergessen. Weiter!«

»China ist ein Hoffnungsmarkt, aber auch ein schwieriges Terrain. Einheimische Gruppierungen stellen sich uns entgegen.«

»Sind sie an Geld interessiert?«

»Wie die meisten Dämonen gieren sie nach Macht.«

»Dann versucht es mit einer Beteiligung. Mit Joint-Ventures. Lullt sie ein, und schlagt dann zu, wenn die inneren Strukturen der Gegner bekannt sind.«

»So ist es angedacht.«

»Sollte sich die Gelegenheit ergeben, beschafft mir dabei endlich die Haut eines Vietnamesen. Sie wissen, dass mir ein derartiges Hautmuster noch in meiner Sammlung fehlt. Man sollte nicht glauben, wie schwer es ist, an ein derartiges Objekt heranzukommen.«

»Ich weiß, Mister Requin. Ich darf Sie daran erinnern, dass ich seit Jahren mit der Komplettierung Ihrer Hautsammlung beschäftigt bin.«

»Vielleicht liegt es an Ihrem mangelnden Engagement, dass mir immer noch sieben Muster fehlen?«

»Ich tue mein Bestes«, sagte sein Sekretär.

»Gibt es sonst noch etwas?«

»Da wäre diese Angelegenheit mit dem verwüsteten Bates Motel.«

»Ich erinnere mich vage, einen Vermerk gelesen zu haben. Worum geht es genau?«

»Unsere neue Akquisition, eine Motel-Kette, deren Räumlichkeiten fast ausschließlich für Dämonen und deren Horden zur Verfügung stehen. Das neue Konzept wurde gut angenommen. Wir konnten den schlechten Ruf der Vorbesitzer vergessen machen und haben kräftig expandiert. Nun gab es allerdings einen unangenehmen Zwischenfall am Interstate Highway 80, dreihundert Meilen westlich von New York City.«

Requin griff nach der Kristall-Karaffe. Ihr Schliff war einzigartig und beruhte auf der Arbeit eines deutschen Meisters aus dem achtzehnten Jahrhundert. Vorsichtig goss er Salzwasser in ein bereitstehendes Glas und trank in einem Zug aus.

»Tote und Verletzte«, sagte er. »Highway-Polizisten, die drangsaliert werden mussten, damit sie uns die Angelegenheit überließen. Ärger mit dämonischen Gruppierungen, mit Angehörigen des toten ghoulschen Lizenznehmers, mit lokalen Menschen-Behörden.« Requin erinnerte sich nun wieder an die Details. »Konnte man den Schuldigen ausfindig machen?«

»Eine der mutmaßlichen Täterinnen wurde identifiziert. Es handelt sich um eine europäische Dämonin. Um eine ganz besondere.«

»Und zwar?«

»Die Sippe der Zamis ist Ihnen ein Begriff?«

»Ein alteingesessenes Geschlecht, das Familienzweige in Russland, in Spanien, Frankreich und vor allem in Österreich besitzt. Alte Dämonen, die sich den Herausforderungen der modernen Zeit kaum stellen. Wie es halt so üblich ist bei Europäern.«

»Richtig, Mister Requin. Eine der Töchter des Familienoberhauptes ist allem Anschein nach für das Massaker im Motel verantwortlich. Ihr Name ist Coco Zamis.«

Requin öffnete eine Datei in seinem Netbook und suchte nach der Trägerin dieses Namens. Sie war nicht schwer zu finden. Es gab dutzendweise Einträge zu einer jungen Frau. Ihr Register war durchgehend negativ belegt. Sie hatte sich als Menschenfreundin entpuppt, hatte sich gegen ihre Sippe gestellt, versuchte sich in Unabhängigkeit, galt als stur und aufsässig.

»Ein weißes Schaf.«

»So ist es. Umso weniger verwundert es, dass sie mehrere Dämonen getötet haben soll.«

Coco Zamis besaß ein ausnehmend hübsches Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde. Grüne Augen glitzerten, die Mundwinkel waren spöttisch verzogen. Oh, sie reizte ihn. Requin lief das Wasser im Mund zusammen.

»Nicht schon wieder!«

»Wie bitte, Vif?«

»Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, Mister Requin. Sie vergessen, dass Ihr Platz hier in New York ist. Sie sind einer Gruppe der wohlhabendsten Investoren und einer erklecklichen Anzahl dämonischer Aktionäre verpflichtet.«

»Auch ein Vorstandsvorsitzender benötigt einmal Urlaub, verbunden mit ein wenig Vergnügen. Und ich war schon lange nicht mehr in der Alten Welt.«

»Ich muss energisch protestieren, Mister Requin. Im Namen aller Mitarbeiter der …«

»Ach, sparen Sie sich Ihr Geplapper. Ich erledige diese kleine Angelegenheit – und keine Widerrede.« Er klopfte energisch auf den Tisch. »Wo bleibt mein Essen? Ich habe Hunger, ich will Nahrung!«

Andersson seufzte tief. »Natürlich, Mister Requin. Ich möchte Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass es immer schwieriger wird, Ihren exklusiven Geschmack zu befriedigen.«

»Es schert mich nicht, wo Sie die Beute herbekommen! Sorgen Sie gefälligst dafür, dass ich satt werde. Ein hungriger Vorstandsvorsitzender ist ein schlechter Vorstandsvorsitzender.«

Andersson läutete eine Handglocke, gleich darauf betrat der Mittagskoch den Raum. Er schob einen Handwagen vor sich her, auf dem eine gewaltig große und chromblitzende Haube thronte.

Die Haube wackelte, und aus dem Darunter drangen dumpfe Geräusche hervor.

Requin leckte sich über die Lippen und schob sie so weit nach hinten, dass seine Zahnreihen hervorstoßen konnten.

Er öffnete die Haube und blickte das Essen an. In den Augen seines Opfers war das Entsetzen zu erkennen. Gut so.

Requin hängte das Gebiss aus, öffnete sein Maul und warf sich auf die Beute.

 

 

2.

 

Wir kehrten in Hugos – oder Carthes – Spiegellabyrinth zurück und fanden mit Vindobenes Hilfe unseren Weg in dessen Inneres. Von den Dämonen, die noch vor wenigen Stunden hier gehaust hatten, war nichts mehr zu sehen.

»Sie sind ausgebrochen«, sagte der Kleine achselzuckend. »New York wird sich in nächster Zeit mit einigen ungewöhnlichen Geschehnissen auseinandersetzen müssen. Menschenfresser, Seelendiebe, massenmordende Verrückte und so.« Er griff in die Tasche seiner ausgebeulten Hose und holte einen Asthmaspray hervor. Genussvoll inhalierte er und nahm dann etwas zu sich, das wie getrocknete Rossäpfel aussah.

Er ernährte sich von Düften und Geschmäckern, von flüssigen sowie festen Stoffen, die aus Wien stammten. Andernfalls bestand die Gefahr, dass er schrumpfte und sich im Nichts verlor. Er und die Stadt, sie waren unabdinglich miteinander verknüpft.

Wir wanderten angespannt durch Gänge und Räume, die jenseits der Realität lagen und eine leicht verschobene Abbildung der Wirklichkeit zeigten.

Blickte ich an mir hinab, entdeckte ich Beulen und Dellen an meinem Leib. Ich war selbst zum gespiegelten Objekt geworden, das von minderwertigem Glas in diesen ganz besonderen Raum übertragen worden war.

Was war dieses Land eigentlich? Existierten Vindobene, Georg und ich nun mehrfach, einmal innerhalb und einmal außerhalb der Realität?

Es gibt dich nur einmal, sagte ich mir und konzentrierte mich auf den Weg, der vor uns lag. Hier warf die Dunkelheit Schatten, während helles Licht im Raum versickerte. Farben besaßen eine obszöne Note und erweckten sonderbare Assoziationen, während manche Töne und Geräusche angsterregend wirkten. Insbesondere Vindobene zuckte ein ums andere Mal nervös zusammen und blickte sich nach allen Richtungen um.

Der Kleine deutete auf eine ovale Spiegelfläche, die Teil eines größeren Nebenraums war. »Hier wäre ein Ausgang nach Versailles«, sagte er, und zu einer anderen Gelegenheit: »Dies ist das Tor zum Laurenziberg in Prag. Eine schöne Gegend. Damals, zu Zeiten der Habsburger Monarchie, als Böhmen noch bei Österreich war, konnte ich mich dort problemlos aufhalten. Die Prager hatten einen ähnlichen Beigeschmack wie die Wiener und nährten mich ausgezeichnet.«

Er lotste uns durch weitere Bereiche des Spiegellabyrinths, bis wir vor jener Fläche standen, die nach Schönbrunn führen sollte. Sie war gerade mal kopfgroß und befand sich in einer Art Abstellkammer.

Ich sah mich aufmerksam um und entdeckte aufgehäufte Kleidungsstücke, Wertgegenstände und persönliche Habseligkeiten, die andere Benutzer der Spiegelverbindungen einstmals vergessen hatten. Aber auch Dinge, die ich in solch einer Umgebung nicht vermutet hätte: ein Straßenschild, das einen Kutscher zeigte, einen öligen Fahrzeugkolben, Schaufeln, einen Reisigbesen, ein handbesticktes Taschentuch, mehrere Papyrusstreifen, antike Münzen, Bierflaschen. Gegenstände, die aus mehreren Jahrhunderten stammten.

»Wie alt ist dieses System der Spiegeltore?«, fragte ich interessiert.

»Das weiß niemand so recht. Die Papyrusreste dürften allerdings echt sein.«

Ich schauderte. Waren etwa schon Dämonen in der hohen Zeit der altägyptischen Kultur von einem Ort zum nächsten gewechselt?

»Das Wissen darüber ist verloren gegangen«, fuhr Vindobene fort, während sich Georg gedankenverloren auf einen Holzklotz setzte und tief durchatmete. »Man erzählte mir einmal, dass es nur noch wenige Geschöpfe gibt, die die Spiegeltore begehen würden. Doch das scheint sich geändert haben. Andernfalls hätten wir nicht so einfach hierher vordringen können.«

Es war also eine Änderung eingetreten. Waren neue, alte Geister auf diese Welt zurückgekehrt? Warteten unangenehme Überraschungen auf die herrschenden Dämonenfamilien und auf die ahnungslosen Menschen?

Darüber würde ich mir ein anderes Mal den Kopf zerbrechen. Vordergründig gab es wichtigere Probleme.

»Da sollen wir hinein?«, fragte ich Vindobene und deutete auf jenes kleine Spiegeltor, durch das wir ins Schloss Schönbrunn gelangen sollten.

»Mach dir keine Sorgen, Coco. Räumliche Dimensionen haben im Hinten nur wenig Bedeutung.« Vindobene schleppte einen Pflasterstein herbei, stieg darauf und starrte angestrengt auf die spiegelnde Fläche.

Ich schob mich neben ihn und tat es ihm gleich. Es dauerte eine Weile, bis ich in den Schlieren des Spiegels etwas erkennen konnte. Sie markierten den Übergang auf die andere Seite und ließen mich sehen, was dort vor sich ging. Je länger ich auf die Schlieren blickte, desto deutlicher wurden die Bilder. Ich sah Touristen, die durch den Spiegelraum des Schlosses Schönbrunn flanierten und sich meist gelangweilt umsahen. Eine ältere Frau trat ganz nahe an unseren Spiegel heran.

Ich wollte zurückweichen. Konnte sie uns sehen?

Nein. Schon nach wenigen Sekunden wandte sie sich ab, gähnend und desinteressiert.

Zwei der Besucher erweckten mein Interesse. Sie trugen elegante Anzüge, die allerdings nicht über ihr wahres Wesen hinwegtäuschen konnten. Beiden haftete etwas Dämonisches an. Sie gingen im Raum auf und ab, ohne die Spiegel oder die bemerkenswerten Stuckarbeiten eines Blicks zu würdigen. Als warteten sie auf jemanden.

Auf uns vielleicht?

»Kennst du die beiden?«, fragte ich Vindobene und wies ihn auf die Dämonen hin.

»Noch nie gesehen. Wiener sind sie keine. Das würde ich spüren.«

»Selbst durch die trennende Spiegelwand?«

»Natürlich.«

Auch mir waren sie unbekannt. Ich kannte die Mitglieder der meisten Wiener Sippen und war mir sicher, dass sie nicht hierhergehörten. Sie hatten etwas an sich, das mich ahnen ließ, dass sie keine Europäer waren.

Vielleicht wusste Georg mehr?

Ich wandte mich ihm zu – und erschrak. Sein Zustand hatte sich während der letzten Minuten drastisch verschlechtert. Er stand da, zittrig und lethargisch. Die Augen waren blutunterlaufen. Immer wieder vollführte er sonderbare Gesten, als würde er einen unsichtbaren Feind abwehren.

»Wir müssen so rasch wie möglich nach Hause!«, sagte ich zu Vindobene. »Ich bringe ihn in die Villa Zamis, zu Vater und Mutter! Sie werden wissen, was mit Georg zu tun ist.«

»Natürlich«, murmelte Vindobene.

Ich kannte den Kleinen. Ich wusste zwischen seiner natürlichen Griesgrämigkeit und einem schlechten Gewissen zu unterscheiden.

Nun, da wir vor dem verbindenden Spiegel standen, irrten seine Blicke immer wieder zwischen Georg und mir hin und her. Sein Blick flackerte.

Nein. Es war nicht Georg, für den er sich interessierte. Er fixierte auf einen Punkt oberhalb meines Bruders.

»Spuck's aus, Vindobene. Ich will wissen, was hier los ist.«

»Was meinst du, Coco?« Der Kleine blinzelte.

»Hör auf, das Unschuldslamm zu spielen! Sag schon: Was hast du ausgefressen? Was hast du mit Georg angestellt?«

»Gar nichts, Coco!«, sagte er voll Empörung. »Ich schwöre dir, dass ich an seinem Zustand völlig unschuldig bin.«

Oh, er war so leicht zu durchschauen! »Aber du weißt etwas, nicht wahr?«, bohrte ich nach.

Vindobene sah beiseite und schwieg.

»Wir beide bekommen ein Problem, wenn du mir nicht augenblicklich sagst, was mit Georg los ist!«

»Aberaberaber er ist ein Arschloch!«, ereiferte sich der Kleine. »Dein Bruder behandelt mich wie Abschaum, er …«

»Er ist Familie, Vindobene.« Ich blieb so ruhig wie möglich. »Er ist der Dämon, der mir am nächsten steht. Ich werde nicht zulassen, dass ihm etwas geschieht. Hast du mich verstanden?«

»Schon gut.« Er tat eine resignative Handbewegung. »Ich habe dir doch von Acedia erzählt.«

»Von der Trägheit. Von einer der sieben Todsünden, die im Café Zamis wütet. Mir ist schon klar, dass Georg von ihr befallen ist, aber …«

»Acedia manifestiert sich in Gestalten, die anscheinend nur ich sehen kann.« Vindobene deutete an meinem Bruder vorbei. »Da ist ein kleines, buckliges Männlein, das auf Georgs Rücken hockt. Es starrt mich hasserfüllt an, nun, da ich über ihn rede. Er hat lange Fangzähne, von denen Flüssigkeit auf die Haut deines Bruders tropft.«

Ich konzentrierte mich und versuchte zu erkennen, was Vindobene sah. Ich erahnte einen mehrfarbigen Schatten. Doch die Eindrücke waren vage, und sie vergingen, sobald ich mich auf sie konzentrierte.

»Dieses Männchen ist verantwortlich dafür, dass es Georg so schlecht geht?«

»Es vergiftet ihn«, wich Vindobene einer direkten Antwort aus.

»Kannst du es beseitigen? Kannst du es fassen?«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil du sonst deine Arbeit im Café Zamis und damit meinen Schutz verlierst. Ich denke, du hast während der letzten Wochen und Monate eine erkleckliche Anzahl an Dämonen beleidigt, die bloß darauf warten, dir eine ordentliche Abreibung verpassen zu können. Ich glaube nicht, dass dich einer von ihnen gleich töten wollte. Sie würden eine Weile mit dir spielen, bevor sie dir das steinerne Herz aus dem Leib reißen und …«

»Jaja, ich hab schon verstanden«, brummelte Vindobene. »Ich dachte stets, du wärst eine Freundin. Aber du bist bloß eine gemeine, bösartige Frau wie alle anderen Dämonenabkömmlinge.«

»Du verdrehst die Tatsachen, mein Kleiner. Du enttäuschst mich ein ums andere Mal. Du hintergehst und betrügst mich, du stehst nicht zu mir.«

»Ich bin dir zur Hilfe gekommen …«

»Aber nicht freiwillig! Du hast meinen Bruder begleitet.«

Allmählich wurde ich böse – und Vindobene bemerkte es. Er wusste, dass er im Begriff war, eine Grenze zu überschreiten.

»Also schön«, sagte er leise. »Ich kümmere mich um den Acedia-Geist.«

»Danke.« Ich nickte Vindobene zu, freundlicher, als er es verdient hatte.

Gespannt sah ich zu, wie er sich meinem Bruder näherte. Der tat gar nichts, starrte bloß stupide vor sich hin. Als Vindobene ihn am Rücken berührte, stieß er einen Seufzer aus – und wurde plötzlich wie wild durchgeschüttelt. Es war, als würde ihn ein Puppenspieler bewegen, als wäre er bloß eine Marionette. Das dunkle Haar seines Schopfes flog umher.

Er gab schreckliche Töne von sich. Solche, die ich niemals zuvor gehört hatte.

Vindobene ächzte. Er hatte etwas Unsichtbares gegriffen und zog wie wild daran, während er Worte in einer Sprache rief, die tief in mir etwas rührten und deren Sinn ich nicht erfasste.

Ich nahm den Acedia wahr, endlich! Schemenhaft zuerst, dann immer deutlicher in die Wirklichkeit tretend. Er manifestierte sich als kleines, hasserfüllt starrendes Männlein, dessen nackter Leib von einem aufgeschwappten Bäuchlein dominiert wurde.

Über eine blaurot pulsierende Nabelschnur war der Acedia mit Georg verbunden. Das Gewand meines Bruders war im Kampf zerrissen worden, sein Rücken entblößt. Die Nabelschnur des dämonischen Geschöpfs endete auf einem eitrigen Furunkel zwischen den Schulterblättern meines Bruders. Feinste Verästelungen gingen von dort aus. Sie zogen hässliche, pulsierende Linien über Georgs Haut.

Das Männlein schimpfte und fluchte. Es kratzte, biss, spuckte, hieb auf Vindobene ein, wehrte sich mit Händen und Füßen.

Ich trat näher und griff zu. Ich erwischte den Acedia an einem seiner dünnen Beinchen – und musste gleich wieder loslassen. Das Wesen war glitschig und erzeugte in meinem Kopf Bilder von Ekel, wie ich sie sonst nicht kannte.

Vindobene schrie. Wand sich in Agonie, während er eisern zugepackt hielt und gegen den Acedia ankämpfte. Das Geschöpf, das Trägheit und Müdigkeit weiterverbreitete, war im Gegensatz dazu hochaktiv, ein nahezu unkontrollierbarer Wildfang.

Ich musste eingreifen. Ich wechselte in den rascheren Zeitverlauf und sah die beiden kleinen Gestalten erstarren. Vindobenes Schrei wurde zu einem tiefen Ton an der Grenze des Hörbaren.

Bevor ich etwas unternahm, betrachtete ich den Acedia genauer. Ihm haftete eine Schicht sonderbaren Schleims an, die wie Schweiß aus den Poren des kleinen Geschöpfs drang. War das der Grund für die Lethargie, die jedermann befiel, der mit Acedia zu tun hatte?

Der kleine Quälgeist zerrte eben an Vindobenes Haaren und riss ihm ein Büschel aus, während er sich mit spitzen Zähnen in seinem rechten Ohr verbeißen wollte. Ich hatte diesen Feind sträflich unterschätzt – und von Vindobene viel zu viel verlangt.

Ich zog meine Jacke aus und stopfte einen Ärmel in das Maul des Acedia. Mit dem Rest des Bekleidungsstücks umwickelte ich seinen Leib, so, dass ich zugreifen konnte, und zog ihn von Vindobene. Ich setzte ihn vor mir am Boden ab, besah ihn eingehender – und sprang ihm dann mit beiden Beinen in den aufgeblähten Bauch.

Die Decke zerbrach unter den Stöckel meiner Schuhe. Sämige Flüssigkeit quoll aus dem Inneren seines Leibes hervor, so langsam, dass ich gemächlich von ihm heruntersteigen konnte.

Der Acedia war dem Tod geweiht, sein Körper zertreten und zerschmettert. Ich kniete mich neben ihm nieder und betrachtete ihn ausführlich. Mir war bewusst, dass er nicht der Einzige sein würde, mit dem ich es zu tun hatte. Diese Vertreter der Todsünde der Trägheit würden sich im Café Zamis mittlerweile ausgebreitet und womöglich einen Teil der Gäste in Beschlag genommen haben.

Das Gesicht des Acedia war im Gegensatz zum Rest seines Körpers frei von Schleim. Es wirkte zart, fast hübsch, wenn man von den Reißzähnen und den hasserfüllten Augen absah. Da und dort zeigten sich winzige Tattoos, die die Blicke wie magisch anzogen. Je genauer ich sie betrachtete, desto tiefer drohte ich in den Mustern aus ineinander verschlungenen Kreisen zu versinken.

Die Hände waren von Altersflecken übersät, der Hals ebenso. Die Nabelschnur trocknete in rasend schnellem Tempo aus. Obwohl ich mich im raschen Zeitablauf befand, konnte ich zusehen, wie sie welk und brüchig wurde.

Genug davon! Ich ließ mich in die Normalzeit zurückfallen, bevor dieser ganz besondere Zauber mich zu sehr schwächte.

Kaum angekommen, erreichten Töne und Geräusche wieder ihren Normalklang. Georg ächzte vor Schmerzen – und Vindobene schrie, schrill und laut. Er hielt sich den Kopf, dort, wo ihm der Acedia Haut und Haar abgerissen hatte.

 

Der Kleine beruhigte sich bald wieder. Ich behandelte ihn mit einem Heilzauber, der zumindest den Schmerz nahm und die Blutung stoppte.

Indes kam mein Bruder zu sich. Sein Blick klärte sich, er nahm eine aufrechte Körperhaltung an.

»Was ist geschehen?«, fragte er. »Ich kann mich kaum an etwas erinnern, seitdem wir das Hotel verlassen haben.«

Ich klärte Georg auf und bat ihn anschließend, durch den Spiegel auf die andere Seite der Realität zu blicken.

»Ich kenne beide nicht«, sagte er. »Es wird sich um einen Zufall handeln, dass ausgerechnet jetzt Dämonen das Schloss besichtigen. Das Spiegellabyrinth in Schönbrunn übt seit jeher große Anziehungskraft aus. Nun wissen wir auch, warum. Das Tor in eine andere Realität lockt und verlockt.«

Er wandte sich ab, hustete und tat einen Schritt zurück. »Wir warten, bis die beiden verschwunden sind, und treten dann zurück in die Realität.«

»Einverstanden.« Ich beobachtete weiterhin die beiden Gestalten. Sie hatten ausdruckslose Gesichter, dichten Haar- sowie Bartwuchs und benahmen sich wölfisch. Mehrmals streckten sie den Kopf weit in die Luft, als würden sie wittern. Allem Anschein gehörten sie zum Geschlecht der Werwölfe – und waren doch irgendwie anders.

Eine Stunde verging. Wir wechselten uns beim Beobachten ab. Der Leib des Acedia verrottete indes. Brüchige Haut hing um einen schwach skelettierten Leib. Da und dort krochen Würmer aus dem Leibesinneren, und irgendwann schwappte Leichensaft aus dem Toten, um eine rotbraune Lache rings um den Acedia zu bilden.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mit rasch verwesenden Dämonenleichen konfrontiert wurde. Doch diese da stank besonders penetrant.

Irgendwann hatte Georg genug. Er packte ein Bein des Toten und zog ihn hinter sich her. Er schaffte die Leiche in eine der vielen Nischen, die wir entdeckt hatten. Eine schlierige, bunt schillernde Spur blieb zurück.

»Sie gehen!«, rief Vindobene und winkte uns zu sich.

Ich stellte mich neben ihn und beobachtete die Vorgänge auf der anderen Seite, in der Wirklichkeit.

Tatsächlich. Der Größere der beiden Männer verließ den Spiegelsaal. Der andere wollte bleiben, wurde aber von einem menschlichen Wärter des Raums verwiesen. Das Schloss Schönbrunn schloss seine Tore, und die beiden Dämonen wollten kein Aufsehen erregen. Also gehorchten sie dem Uniformierten.

»Wir warten, bis der Raum völlig leer ist und das Licht abgedreht wird«, meinte Georg.

»Ich würde nur zu gerne wissen, was die beiden im Spiegelsaal zu suchen hatten«, sagte ich.

»Bereits bei unserem Eintritt auf der Suche nach dir haben wir mehrere von ihnen beobachtet«, meldete sich Vindobene zu Wort.

»Und das ist euch nicht sonderbar vorgekommen?«

»Wie ich bereits sagte: Der Saal übt eine Anziehungskraft auf alles Dämonische aus. Wahrscheinlich findest du an jedem Tag zu jeder Zeit einen Angehörigen der Schwarzen Familie im Spiegelsaal.«

»Da steckt mehr dahinter«, behauptete ich, meinen Instinkten vertrauend.

»Wir werden vorsichtig sein. Wir werden Wege durch Schönbrunn nehmen, die Ortsfremde nicht kennen. Sollten diese Werwölfe in der Nähe geblieben sein, werden sie uns dennoch niemals entdecken.«

»Sie besitzen einen ausgezeichneten Geruchssinn.«

»Den habe ich auch.« Vindobene zog durch die Nase hoch und blies dann durch. Feuchter Rotz blieb auf dem Boden kleben.

»Du bist das unappetitlichste Geschöpf, das ich kenne«, sagte Georg. »Du widerst mich sogar noch mehr an als der tote, verwesende Acedia.«

»Ich bin Wien, Wien ist ich«, meinte der Kleine ungerührt, als wäre damals alles gesagt.

Eine halbe Stunde verging. Wir saßen wortlos da und warteten. Irgendwann wurde es im Saal dunkel, einige Minuten später waren die Lichtreflexe einer Taschenlampe zu erkennen. Sie tanzten über die Spiegel und die Tapeten des Raumes. Ein Nachtwächter brachte seine erste Runde hinter sich.

»Jetzt!«, meinte Georg.

Vindobene rubbelte über den Spiegel und erzeugte eine Art blinden Fleck, nur wenige Zentimeter im Durchmesser. Mit spitzen Fingern zog er an zwei Rändern des Flecks und stülpte sie hoch. Energisch zog und zerrte er daran, bis sich Risse bildeten. Solche, die jene Welt zerstörten, in der wir uns derzeit befanden.