Inhalt

Julia Adrian

Die Dreizehnte Fee

Entschlafen

Astrid Behrendt
Rheinstraße 60, 51371 Leverkusen
www.drachenmond.de, info@drachenmond.de

Lektorat
 Ava Reed

Korrektorat
 Michaela Retetzki

Satz, Layout
Martin Behrendt

Illustrationen
 So Lil’art

Umschlaggestaltung
Alexander Kopainski, kopainski-artwork.weebly.com

Umschlagbildmaterial
Shutterstock

ISBN: 978-3-95991-233-4
ISBN der Druckausgabe: 978-3-95991-133-7

Zur Erinnerung

Die verstorbenen Feen:

Die Brunnenhexe

Das Rattenbiest

Die Kinderfresserin

Die Giftmischerin

Die Meerhexe

Das Orakel

Verbleiben unter den Lebenden:

Die Siebte Fee

Die Drachenreiterin

Die Rabenmutter

Die Zwillinge

Die Eishexe

Die Dreizehnte Fee

Danksagung

Meine Familie:

Mama. Ohne dich gäbe es hier und heute den dritten Band der Fee nicht, denn du bist nicht nur meine erste Testleserin, sondern hilfst mir auch zweimal die Woche mit dem Baby und den Kindern, um mir Zeit zum Schreiben zu geben. Danke dafür, deine Hilfe ist Gold wert!

Line. Einfach weil es dich gibt. Weil niemand mir so ähnlich ist wie du. Weil, egal wo du bist, ob hier oder auf der anderen Seite der Welt, du immer zu mir gehörst. Ich habe dich schrecklich lieb, Schwesterherz!

Papa und Susanne. Stille Hilfe, immer dann, wenn ich Rat brauche. Danke dafür!

Meine fleißigen Bienchen:

Astrid Behrendt. Verlegerin mit Herz, Drachenmama und Powerfrau. Du gabst der Fee ein Heim und mir ebenso. Ich bin wahnsinnig stolz, zu deinen Drachen zu gehören und freue mich auf viele weitere und aufregende Jahre unter dem Drachenmond und vor allem in der Drachenhöhle. Danke für dein Vertrauen in mich!

Ava Reed. Meine Freundin, Kollegin und nun sogar Lektorin! Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann wir uns kennenlernten, nur, dass ich dachte, Spiegelsplitter sei ebenfalls ein Märchen. Ist es nicht, wie ich jetzt weiß, und trotzdem verzauberten mich deine Geschichten, genauso du selbst, denn du bist – streite es nicht ab – herzlich, hilfsbereit und einfach fantastisch! Ich freue mich sehr auf unsere gemeinsame Signierstunde auf der FBM!

Alexander Kopainski. Endlich kenne ich dich auch persönlich und ich muss sagen, du bist nicht nur beim Designen ein ganz »Großer«. Ich liebe alle deine Werke und wünschte bei jedem, dass es für mich sei – Haha! Du schrecklich liebenswerter Covergott!

Soufiane. Ihr seid in letzter Minute eingesprungen und habt die Fee mit wundervollen Zeichnungen bereichert. Ich danke euch sehr für die schnelle und reibungslose Umsetzung meiner Vorstellung. Ihr habt gezaubert!

Michaela Retetzki. Danke für den letzten Schliff der Fee und die letzten, hilfreichen Verbesserungen! Astrid hat mir dein Lob weitergereicht und ich freue mich unendlich darüber!

Laura Newman und Martin Behrendt. Ich danke euch für die Rettung der Fee! Ihr seid die Besten! Und ab heute heißt es: kein Word, Open-Office und Papyrus mehr vermischen. Danke!

Wiebke Blankemeyer. Du hast mit mir geplottet und gebrainstormt, als ich keine Ahnung hatte, wie es in Band 3 zu einem Ende kommen soll. Deine Ideen haben mich letztendlich auf den richtigen Pfad geführt. Es gibt zwar keinen Wilhelm und auch keinen Jakob, aber ein Märchenbuch. Ich hoffe sehr, dass es dir gefällt!

Meine Testleser.

Im letzten Buch schrieb ich zu jeder von euch einen Text, da dieses hier aber schon alle Maße sprengt und viel zu lang geworden ist, danke ich euch gesammelt. Nehmt es mir nicht übel und seid euch meines Dankes sicher! Ohne euch wäre die Fee nur halb so gut!

Ute Pfeifer, Judith Schulte, Nele Logemann, Lydia Mick, Veronika Havre, Laura Evers, Nadine Dzaack, April Dawson, Sabrina Meller, Nadine Roth, Bianca Ritter, Julia Krokoszinski, Brigit Martin, Kerstin Göpfrich und Katharina Krais.

Mein Dank geht an dieser Stelle genauso an die Testleser, die meine beiden Kurzgeschichten über die Kinderfresserin und die Eishexe gelesen haben:

Helene Bormann, Klaudia Szabo, Leseleben Uli, Verena V. Biernacki und Kete Racipi.
Ich hoffe ihr seid bei den zukünftigen Projekten auch wieder mit dabei, wenn es auf die Spuren des verfluchten Prinzen, der Ascheprinzessin und des letzten Feenkindes geht.

Meine Leser:

Wir Autoren sind nichts ohne euch! Wir schreiben für uns, aber auch für euch. Und es bedeutet uns unglaublich viel, wenn wir sehen, dass unsere Geschichten ankommen, berühren, vielleicht sogar verzaubern. Wenn ihr die Zeit findet, dann schreibt eine ehrliche Rezension zu den Büchern, die ihr lest und liebt. Ihr gebt uns damit etwas zurück und dafür danken wir euch!

Und wie immer – meine eigene, nicht mehr ganz so kleine Familie:

Kosta. Ich liebe dich, auch wenn dir die Magie der Bücher für immer fremd sein wird. Wir sind unterschiedlich und das ist gut so. Sonst wäre es auch langweilig, oder?

Petros. Mein großer-kleiner Held. Mit dir über die Welt zu sprechen und sie mit deinen Augen erneut zu entdecken, kommt einem Wunder gleich. Du bist so voller Phantasie und Kreativität. Ich liebe die Bilder, die du an deine Tapete malst, die Geschichten, die du deinem Hund abends zum Einschlafen erzählst, und den Stolz in deinen Augen, wenn du anderen von mir und der Fee berichtest.

Emma. Meine Prinzessin, oder doch Papas? Du rettest mich vor Spinnen, weil du genau weißt, wie furchtbar ich sie finde, du nimmst mich in den Arm, wenn ich mal müde oder erschöpft bin, du hast ein Herz so groß wie die Welt. Dich wachsen zu sehen, erfüllt mich mit Stolz. Du bist mein ewiger Sonnenschein.

Stefanos. Mein kleinster, mein Herz. Wenn du lächelst, steht für einen Moment die Zeit still, denn da ist so viel Liebe und Vertrauen in deinem Blick, dass mir ganz warm wird. Du bist erst seit Kurzem in meinem Leben und doch fühlt es sich an, als wärst du schon immer Teil dessen gewesen. Du gehörst zu mir. Mein Kleiner. Mein Herz.

Für Stefanos, mein Baby.
Ich weiß noch nicht, was dein erstes Wort sein wird,
ob du lieber Rot oder Grün magst,
lieber ununterbrochen singen wirst oder in Ruhe alles beobachtest.
Ich weiß noch so wenig von dir,
doch ich freue mich darauf, dich kennenzulernen.

Und nun eine Warnung an all jene, die gerne die letzten Seiten zuerst lesen, bevor sie mit der Geschichte beginnen:

TUT ES NICHT!

Denn sonst verliert die Geschichte ihren Zauber.

Und solltet ihr es doch tun, so kann ich guten Gewissen sagen: Ich habe euch ja gewarnt.

In diesem Sinne:
Lasst euch verzaubern!

Prolog

Im Tümpel hinter dem Dorf lauert der Tod. Doch die Kinder, die sich ihm spielend nähern, wissen es nicht. Niemand weiß es, denn das Wesen, das in ihm haust, lebt erst seit Kurzem dort und doch lange genug, dass die Einsamkeit schrecklich groß geworden ist. Es sehnt sich danach, ein altes Spiel zu spielen, eines, das zu seinem Leben gehört wie die Sterne zu der Nacht. Und als es die fröhlichen Schritte hört und das Lachen der Kinderstimmen, da taucht es auf. In seinen Augen glimmt das Mondlicht, die Haare lang wie Seetang. Vorfreude lässt die Lippen über die gebleckten Zähne weichen zu einem grotesken Lächeln – und es beginnt zu singen.

Das Grab im Schnee

Der Schnee fällt in dicken Flocken vom Himmel. Sie scheinen friedlich und doch bringen sie den Tod – und sie verhüllen ihn. Die rote Spur im Schnee verblasst nach und nach, der steife und verrenkte Körper schwindet unter einer flauschigen, weißen Schicht. Als würde die Eishexe ein Leichentuch um ihn spinnen, um mir den grausamen Anblick zu ersparen.

Erneut ist die Welt von einer Fee befreit, einer Hexe, wie sie uns nennen. Die Liste der Verstorbenen wächst und wächst: Kinderfresserin, Giftmischerin, Meerhexe, Brunnenhexe und Rattenbiest, jetzt auch das Orakel. Die Menschen kennen ihre wahren Namen nicht, sie wissen nicht, wie sie wirklich waren, und eines Tages, wenn auch die letzten sieben von uns Feen vergangen sind, dann wird es niemanden mehr geben, der sich an uns erinnert – außer den Märchen, die von uns erzählen, von den Monstern, zu denen wir geworden sind. Dabei waren wir einst nichts weiter als Kinder, zufällig geboren mit den Merkmalen der Feen: Haut so weiß wie Schnee, Haare so schwarz wie Ebenholz und Lippen so rot wie Blut. Schneewittchenschönheit – oder besser: Schneewittchenfluch, denn Kinder wie wir wurden gejagt und getötet, weil die Magie in unseren Adern den Menschen Angst einflößte. Und so machten sie sich uns zu ihrem ärgsten Feind. Wir wurden zu ihren Königinnen, Tyrannen und Mördern, und lange Zeit wähnten wir uns unsterblich. Wir sind es nicht.

Kassandra ist tot. Sie starb meinetwegen.

Die Bäume, welche die Lichtung des Turms umschließen, verstummen, als ich mich ihnen nähere. Sie erkennen die einsame Gestalt, die sich mühsam durch den kniehohen Schnee kämpft, die grausige Fracht hinter sich herschleifend. Sie erkennen die Königin. Sie erkennen mich.

Die Tränen auf meinen Wangen sind längst gefroren. Ich kann nicht mehr weinen.

Kassandras Haut fühlt sich warm an, doch ich weiß, dass es nur ein Abbild meiner eigenen schwindenden Wärme ist. Denn wenn ich mit den Fingern an ihrem Knöchel ein Stück tiefer gleite, ist sie eiskalt. Ich habe sie verloren. Nicht heute, als sie aus dem Fenster des Turmes in den Tod stürzte, sondern vor vielen, vielen Jahren, an einem Tag im Frühling, als wir zusammen im Wald saßen und sie mir die Karten legte. Dorthin bin ich unterwegs, um meine Schwester, mein Kind zur letzten Ruhe zu betten.

»Wir sind gleich da«, murmele ich in die fallenden Flocken, als könnte Kassandra es noch hören. In Wahrheit ertrage ich schlicht die Stille des Waldes nicht. Als würden die Bäume mich mit ihrem Schweigen strafen – und verurteilen.

Ich könnte den magischen Ring drehen, den sie mir kurz vor ihrem Tod schenkte, und wäre sofort auf der Lichtung, tue es aber nicht. Vielleicht muss ich die beißende Kälte an den Beinen spüren, den mit jedem Schritt schlimmer werdenden Schmerz in all meinen Gliedern, damit ich den im Herzen ertragen kann. Vielleicht ist das meine verkorkste Art, mich selbst zu strafen.

Die Äste biegen sich uns unter der Last des Schnees entgegen, als würden sie sich verneigen. Vielleicht tun sie es auch. Sie weisen den Weg über die einst vom Mohn rot gefärbte Wiese. Jetzt färbt sie nur die blutige Spur des Orakels.

Schluchzend beschleunige ich die Schritte, haste durch den Schnee und kann meiner Schuld doch nicht entkommen. Sie hat mich eingeholt und fest im Griff. Ich werde einen Weg finden müssen, damit zu leben oder daran zugrunde zu gehen.

Das schützende Dach des Waldes umfängt uns, der Schnee wird flacher. Der gefrorene Waldboden knirscht unter den Füßen. Ein poröser Ast knackt. Irgendwo wispern ein paar Wichtel. Eine Elfe kreuzt den Weg, die Augen matt schimmernd. Sie blickt gehetzt zu mir, ehe sie seltsam taumelnd im schneebedeckten Geäst entschwindet. Der unnatürliche Winter der Eishexe macht allen zu schaffen. Er raubt dem Leben die Kraft. Er raubt sie mir.

Der Körper des Orakels bleibt an einer Baumwurzel hängen. Ich zerre, falle, ihre Füße rutschen mir aus den Händen und landen im Schnee. Dann liegt Kassandra da, halb bedeckt, und doch ist der schreckliche Zustand ihres Körpers nicht zu übersehen. Sie muss furchtbare Qualen durchlitten haben.

Der Hals schnürt sich mir zu, als ich an das kleine Kind von früher denke, das sie einst gewesen ist. Ich robbe zu ihr, ziehe den steifen Arm unter der Wurzel hervor. Er ist seltsam schwer und von schwarzen Beulen überzogen. Der Verband an ihrem Handgelenk verrutscht, als ich sie erneut zu packen versuche. Darunter … ist nichts!

Ich fahre hoch, die Hände um den erkalteten Arm meiner Schwester geschlungen, dem das Hexenmal fehlt! Es fehlt, weil es mitsamt der Haut entfernt wurde.

»Uhrmacher«, flüstere ich und weiß, wo es mich als Nächstes hintreiben wird, zu ihm, demjenigen, der die Hexenmale all meiner Schwestern sammelt. Er war Kassandras Vertrauter, ihr Diener, vielleicht weiß er mehr, als er bisher sagte. Ich brauche Antworten. Er muss sie mir geben. Denn auch wenn ich mich erinnere, wer ich einst war, begreife ich noch nicht, wieso ich erweckt wurde. Ich war die Feenmutter und deshalb ist es umso unverständlicher.

Ja, antwortet die Königin tief in mir drin. Ja, das ist es.

Plötzlich kann es nicht mehr schnell genug gehen. Ich drehe den Ring, den Kassandra einst stahl und während meines tausendjährigen Schlafes trug und der nun wieder an meiner Hand steckt, dort, wo er hingehört. Einen Wimpernschlag später befinden wir uns auf der Lichtung, wo wir vor so vielen Jahren auf einer roten Decke saßen und sie mir die Zukunft prophezeite. Heute ist alles weiß. Ich streiche kurz über Kassandras Finger, ehe ich mich von ihr löse und aufrichte. Meine Beine schmerzen, die Füße gleichen eisigen Klumpen.

»Ich komme zurück«, wispere ich in die Nacht. »Es dauert nicht lang. Versprochen!«

Erneut drehe ich den Ring und die Lichtung mit all den Erinnerungen an Kassandra und die Prophezeiung verschwindet. Stattdessen sehe ich die Umrisse einer kleinen Hütte durch den fallenden Schnee und andere Erinnerungen kommen hoch, von einer ebenso kalten Nacht und wärmenden Armen, die mich so eng trugen, so sicher. Er brachte mich in das Haus der Sieben. Sie ließen uns ein, weil er ihr Freund ist. Ich bin es nicht. Mich werden sie nicht hineinlassen und das will ich auch gar nicht. Ich strebe der Hütte entgegen, hinter deren beschlagenen Scheiben ein bläuliches Licht funkelt und muntere Stimmen zu hören sind. Eine Wand ist neu vernagelt, dort, wo der Nordwind eindrang, als ich den Schutz der Sieben brach. Ein einzelner Moment der Schwäche, in dem ich mir vorgestellt hatte, wie es sei, dort auf ewig zu leben, mit ihm, dem Hexenjäger; der Gedanke an eine Zukunft, die niemals sein kann, hatte ausgereicht, um der Eishexe den Weg zu öffnen. Fast, aber nur fast, wäre es das Ende der sieben Männer gewesen. Die letzten Nachfahren des Volks unter dem Siebengebirge hatten mir Schutz geboten und ich dankte es ihnen, indem ich sie fast ausrottete. Doch sie leben noch. Ich kann sie reden hören: Der Koch singt ein Lied, während zwei andere sich über irgendeine Suppe streiten.

Mit jedem Meter, den ich mich der Hütte nähere, wird es schwerer weiterzugehen. Der Schutz der Sieben wirkt bereits außerhalb. Der Zauber will mich hindern, ihnen zu nahe zu kommen und ihnen zu schaden.

»Ich komme in guter Absicht«, flüstere ich, doch der Zauber ist stark. Meine Beine beginnen zu zittern, die Welt schwankt. Mit größter Not zwinge ich den Arm empor und klopfe an die notdürftig reparierte Tür. Sofort wird es gespenstisch still im Haus.

Sie erwarten keinen Besuch, nicht jetzt, wo der Winter alles in Eis gehüllt hat. Sie beginnen leise zu tuscheln, wundern sich und beratschlagen, ob sie die Tür öffnen sollen oder lieber nicht.

»Ich bin es!«, rufe ich laut. »Ich kam mit dem Hexenjäger. Heute bin ich ohne ihn hier.«

»Was willst du?«, schallt dumpf die Stimme des Ältesten zurück. Ich sehe ihn fast schon vor mir mit den vielen goldenen Ringen im Bart. »Wenn du gekommen bist, um erneut Einlass zu erbitten, so hast du den Weg umsonst gemacht.«

»Nein, nein. Ich will nur einen Spaten.«

»Einen Spaten?«, höre ich den Koch ausrufen.

»Wofür braucht sie einen Spaten?«, fragt der Jüngste.

»Ich … muss meine Schwester begraben.«

Eisiges Schweigen, das fast kälter ist als der Winter selbst, legt sich um die Hütte. Sie werden mir nicht helfen und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Gerade als ich mich abwende, öffnet sich die Tür einen Spaltbreit.

»Du kannst nicht hinein!«, warnt mich der Älteste sofort. »Der Zauber wirkt auch bei geöffneter Tür.«

»Ich weiß«, erwidere ich nur matt. »Ich habe ihn geschaffen.«

Er zögert, dann zieht er die Tür weiter auf. Die anderen starren mir aus blassen Gesichtern misstrauisch entgegen.

»Welche Schwester?«, fragt der Koch.

Für einen Moment glaube ich, dass ich ihren Namen nicht hervorbringen kann, doch dann formt meine Zunge ihn langsam und schwer. Die Männer erblassen noch stärker.

»Das Orakel ist tot?«, flüstert der Koch und wirkt, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Ja«, sage ich und fühle mich unendlich erschöpft. Die Kälte raubt mir alle Kraft. Ich beginne, am ganzen Körper zu zittern, nicht wissend, was mich aufrecht hält, aber ich schaffe es, stehen zu bleiben. Ich muss erbärmlich aussehen – schwach und erbärmlich, denn in den Augen der Sieben funkelt Mitleid.

»Peter, hol einen Spaten.« Der Älteste nickt langsam. »Und eine Spitzhacke. Bei dieser Kälte ist der Boden hart wie Stein.«

Ich bin ihre Feindin und doch helfen sie mir. Im Nu erscheint der Koch namens Peter wieder an der Tür und wirft einen Spaten und eine Hacke hinaus. Sie bleiben wachsam. Steif bücke ich mich, greife nach dem Werkzeug.

»Wo ist der Hexenjäger?«, fragt einer.

»Hat er die Wasserstadt von der Giftmischerin befreit?«, fragt ein zweiter.

»Und die Nixen auf den Grund des Meeres verbannt?«, ruft ein dritter.

»Wir haben viel gehört«, sagt der Älteste und hebt die Hand, ehe er hinzufügt: »Die Schreie unter den Bergen sind verstummt.« Unausgesprochen hängt die Frage in der Luft, deren Antwort sie bereits zu ahnen scheinen.

Es ist der Jüngste, der es schließlich wagt. »Sie ist tot, nicht wahr? Die Kinderfresserin?«

Ich nicke. Sie seufzen.

»Danke«, sagt der Älteste nur, ehe er ganz langsam die Tür ins Schloss fallen lässt. Dann bin ich allein in der Kälte und der aufsteigenden Dunkelheit. Der Abend graut. Ich muss mich beeilen. Trotzdem betrachte ich für einen Moment wehmütig die erleuchteten Scheiben, die Vierecke aus Licht in den Schnee zeichnen und behagliche Wärme versprechen, die mir verwehrt bleibt.

»Danke«, sage auch ich, ehe ich den Ring drehe und das Haus am Siebengebirge zurücklasse, um zur Lichtung zurückzukehren.

Auf den ersten Blick ist das Orakel nicht mehr zu sehen, doch sie ist noch da – eine sanfte Erhöhung des Schnees im ansonsten flachen Grund. Ich knie neben ihr nieder, streiche den Frost von ihrem Gesicht. Aus leeren Augen scheint sie an mir vorbeizublicken. Schneeflocken verfangen sich in den dunklen Wimpern, wie Sterne am Himmel.

Dann wende ich mich ab, befreie ein großes Stück Waldboden vom Schnee und beginne, mit der Hacke hineinzustoßen. Ich habe keine Ahnung, woher die Kraft kommt, mit der ich unermüdlich zuschlage, immer und immer wieder, bis die ersten steinharten Brocken sich aus dem Erdreich lösen. Ich weiß nur, dass ich keine Wahl habe. Wenn ich sie nicht begrabe, wird es niemand tun. Sie muss unter die Erde und ihren Frieden finden. Wenigstens das schulde ich ihr. Und so hebe ich mit steifen Fingern die schwere Spitzhacke über den Kopf und lasse sie niedersausen, während die Schneeflocken unbeschwert tanzen. Ich ahne, dass die Eishexe jeden meiner Schritte beobachtet, so wie sie es schon immer tat, und frage mich, was sie wohl glauben mag. Ob sie es für einen Akt der Reue hält?

Doch meine Schuld wiegt zu schwer und nichts könnte meine Taten ungeschehen machen. Selbst wenn ich bis in alle Ewigkeit Gräber schaufeln würde, wären es nicht genug für die Opfer meiner Tyrannei.

»Soll ich dir helfen?«

Ich blicke auf, lasse die Spitzhacke sinken. Vor mir steht der Mogul. Sein Teppich liegt seltsam bunt auf dem Schnee. Er beobachtet mich aus dunklen Augen, ein wissendes Lächeln auf den Lippen. »Ich könnte dir ein Grab in wenigen Sekunden schaffen.«

»Nein, danke.« Ich hebe die Hacke, ramme sie erneut in die Erde und untermale jedes meiner Worte mit einem Schlag. »Was willst du?«

»Nach dir sehen.«

»Du hast mich gesehen, also geh.«

»Warum denn so unfreundlich?«

Ich würde schnauben, wäre ich nicht so erschöpft. »Beim letzten Mal hättest du mich beinahe getötet.«

»Dich getötet?« Er klingt ehrlich überrascht, dann grinst er. »Ah, der Kuss. Ich verstehe. Ich nahm dir nur ein bisschen deiner Kraft, nicht der Rede wert. Glaub mir, so leicht bist du nicht totzukriegen. Es war … zu verlockend für mich.«

Ich spüre, wie er seine Magie aussendet und damit meinen Körper umhüllt, wie er es schon einmal im Lager der Räuber tat. Kurz schließe ich die Augen, denn sie ist herrlich wohltuend, fast schon beschützend. Sie vertreibt die Kälte und bringt zärtliche Wärme. Aber sie ist nicht von dem, den ich will.

»Lass das«, fauche ich den Mogul an und schüttele mich. Doch weder die Wärme noch die Gedanken an den Hexenjäger kann ich vertreiben.

»Wenn ich dir schon nicht beim Graben helfen darf …«, meint er nur schulterzuckend und lässt die Magie weiter über meine Haut fließen. Wie eine zarte Liebkosung.

Kurz funkele ich ihn an, beschließe dann, ihn einfach zu ignorieren und greife nach dem Spaten. Ich spüre, wie seine Magie mir Kraft gibt. Der Spaten liegt fest in der Hand, die Finger erwärmen sich. Ungewollt bin ich ihm dankbar. Aber nur ein wenig. Und nur für einen Moment.

Während ich die Erdklumpen aus dem rechteckigen Loch im Boden schaufele, sucht sich der Mogul einen Sitzplatz. Er wählt einen umgestürzten Baum, den er kurzerhand vom Schnee befreit.

»Das Orakel ist also tot«, sagt er nach einer Weile. »Hast du sie getötet?«

»Nein.«

Er nickt, als würde er verstehen. »Ich dachte mir schon, dass sie es früher oder später selbst tun würde. Ich sah es in ihrem Blick.«

»Ach?« Überrascht hebe ich die Brauen und verharre mit der Arbeit.

»Der Schmerz muss unerträglich gewesen sein. Es wundert mich, dass den anderen Feen nichts aufgefallen ist. Dabei war es doch so offensichtlich.« Er verstummt für einen Moment, ehe er fortfährt. »Ihr Tod ändert natürlich einiges.«

»So?«

»Oh ja.«

»Und zwar?« Ich stütze mich auf den Spaten, um ihn zu fixieren. Er grinst. In seinen Augen tanzen die Schatten – wie sie auch in meinen waren.

»Du wirst nie erfahren, warum sie dich erwecken ließ, es sei denn …«

»Es sei denn was?«

Sein Grinsen wird eine Spur breiter. »Es sei denn, er verrät es dir.«

»Er?«

»Der Hexenjäger natürlich.«

Ich runzele die Stirn, mustere ihn, nicht sicher, ob ihm zu trauen ist. »Wieso sollte er es wissen?«

»Er weiß so viel mehr, als du glaubst.« Geschwind steht er auf und kommt mit drei großen Schritten herüber. Auf einen Wink seiner Finger fährt das Erdreich auseinander, öffnet sich zu einem tiefen Grab, für das ich noch Stunden gebraucht hätte.

»Keine Ursache«, sagt er nonchalant, ehe er eine Hand an meine Wange legt. Ich will zurückweichen, doch seine Magie hält mich gefangen. Hilflos stehe ich da und sehe in Augen, die mich seltsam schaudern lassen, denn sie sind den meinen zu ähnlich. Denen der Königin, voller Abgründe.

»Ich an deiner Stelle würde mich mit dem Zuschaufeln beeilen, denn bald wird es stockfinster sein und einem wehrlosen Mädchen kann im Wald so viel passieren.« Er lacht, ehe er kurz mit den Lippen die meinen berührt. Nur für eine Sekunde, und doch merke ich, wie ein Teil meiner Kraft schwindet. Als er sich löst, schmerzt die Trennung fast körperlich. Für einen Moment stehen wir einfach nur da und blicken uns an.

»Ich verstehe, was er an dir findet«, sagt er schließlich sehr leise und ungewöhnlich ernst. Dann dreht er sich um und steigt auf den Teppich. Einen Augenblick später ist er entschwunden.

Er nannte mich ein wehrloses Mädchen. Ganz unrecht hat er nicht, denn ich bin nicht nur meiner Magie beraubt und all der Fähigkeiten, die sie mit sich bringt, sondern auch noch durch den Eissplitter in meinem Herzen eingeschränkt. Er verhindert, dass ich die Magie meiner Schwestern lenken und sie vernichten kann. Wenn sie sich nicht selbst vernichten …

Ich blicke zu dem schwarzen Loch und mir wird schlecht. Der Spaten gleitet aus meinen Fingern, fällt dumpf neben die Hacke. Der Zeitpunkt des Abschieds ist viel zu schnell gekommen. Einen Augenblick lang bin ich versucht, das Grab zuzuschütten und es selbst erneut auszuheben, nur um mehr Zeit zu gewinnen. Der Gedanke, dass sie dort unten liegt, während ich ihren Körper Schaufel für Schaufel mit schwarzer Erde bedecke, schnürt mir die Kehle zu.

»Du weißt, dass es nicht anders geht«, flüstere ich. Mir bleibt keine Wahl, wenn ich nicht will, dass die Tiere sich an ihr nähren. Die anderen Feen könnten ihr ein passenderes Begräbnis bereiten, doch ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Die Drachenreiterin will meinen Tod, während die Rabenmutter mich gegen das Versprechen, sie möge die Letzte sein, verschonte. Was die Eishexe in mir sieht und warum sie mir aus dem Palast zu fliehen verhalf, verstehe ich kaum, und wo die Zwillinge und die unscheinbare Siebte Fee sind, weiß ich nicht. Nein. Die Feen sind keine Alternative.

So bleibt mir nur der Wald. Der Wald und das Grab vor meinen Füßen. Zu viele habe ich in meinem Leben ausgehoben, ein jedes für ein Feenkind, das in meinen Arm starb. Ich schwor mir, niemals wieder eines beerdigen zu müssen und nun liegt Kassandras Leiche neben mir und wartet darauf, dass ich sie der Erde übergebe. Ich greife nach ihren Armen, ignoriere die Kälte ihrer Haut und schleife sie über den Rand. Sie ist schwer. Der Tod ist schwer.

»Verzeih mir, Kassandra«, flüstere ich und lasse sie behutsam hinabgleiten, bis sie am Grunde liegt. Ich versuche, die Hände friedlich über der Brust zu falten. Doch sie strahlt keinen Frieden aus. Nur Qualen. Alles an ihr schreit die Qualen hinaus, die sie vor ihrem Ende erleiden musste. Sanft schließe ich ihre Lider.

»Du hast mir die Liebe prophezeit, dabei war sie die ganze Zeit schon da. Ich habe es nicht verstanden. Aber jetzt verstehe ich es, Kassandra. Du hast mir die Karten gelegt – zwölf Schwestern. Ihr standet nicht für den Dornröschenzauber, nein, den hätte ich auch allein vollbringen können, ich dachte nur fälschlicherweise, dass ich es in eurem Beisein tun musste. Jetzt erst begreife ich, dass ihr für die Liebe standet.« Meine Stimme wird brüchig. »Ich habe euch geliebt … Ich habe dich geliebt.« Für einen Moment ersticke ich beinahe. »Kassandra«, flüstere ich und lasse sie gehen.

Dann greife ich mit bebenden Händen zum Spaten und hoffe inständig, dass es das letzte Grab sein mag, das ich schließe. Doch in meinem Herzen nistet die Furcht, dass sechs weitere folgen werden.

Morgengrauen

Aufwachen, Schneewittchen.«

Die sanfte Stimme zieht mich aus einem traumlosen Schlaf. Traumlos – keine Schreie und kein Tod. Fast hätte ich gelacht, doch als ich die Augen öffne und den Mogul an meinem Bettrand sitzen sehe, vergeht der frohe Moment.

»Was willst du hier?«

»Freu dich bloß nicht zu sehr, mich zu sehen«, scherzt er lachend und lehnt sich entspannt in der ohnehin schon viel zu kleinen Koje zurück. »Gemütlich hast du es. Ja wirklich, so lässt es sich schlafen.«

»Was willst du?«, frage ich erneut und richte mich auf. Er ist mir viel zu nah, unsere Beine berühren sich, seine Hand liegt auf der Decke direkt über meinem Knie, als wolle er mich liebkosen. Ich ziehe die Beine an.

Er grinst. »Du kannst ja rot werden«, meint er amüsiert.

»Zum letzten Mal: Was willst du? Hast du irgendeinen perfiden Spaß daran, mir aufzulauern?«

»Das möchte ich gar nicht abstreiten«, gibt er direkt zu. »Nur bitte sei nicht so grob, kleine Fee. Ich möchte dein Freund sein.«

»Ach, und warum?«

»Weil ich glaube, dass du Freunde gut gebrauchen kannst.« Er greift mit einer Hand nach meinem Zopf, so wie es der Hexenjäger immer tat. Es fühlt sich an, als würde er etwas Intimes damit beschmutzen. »Er mag deine Haare. Sie haben ihn schon immer fasziniert. Wie Rapunzel.« Ehe ich fragen kann, was er meint, lässt er den Zopf fallen und richtet sich ebenfalls auf. »Nun denn, kommen wir zum wichtigen Teil. Heute Abend wird es einen Ball geben und ich wäre überglücklich, wenn ich dich dorthin begleiten dürfte.«

»Auf den Ball?«

»Richtig. Sehr viele Menschen werden dort sein. Ich hatte sowieso vor hinzugehen, aber in deiner Begleitung würde es mir wesentlich mehr Spaß machen und ich könnte dir hilfreich sein, falls du in Schwierigkeiten kommen solltest.« Bedeutungsvoll pausiert er und grinst. »Nicht dass ich dein Einverständnis bräuchte. Ich kann dir auch einfach folgen, ziehe es aber vor, als deine Begleitung aufzutreten.«

Für einen Moment frage ich mich, was auf diesem Ball passieren wird, dass sowohl der Uhrmacher als auch der Mogul ihm Bedeutung beimessen. Sich beinahe fürchten.

»Ich will offen sein«, fährt er fort. »Du warst einst eine sehr mächtige Fee, mächtiger als alles, was in dieser Welt existiert.«

»Nicht als alles«, murmele ich und denke an die Worte des Uhrmachers.

Der Mogul nickt, als wüsste er genau, wovon ich spreche. In seinen Augen glüht etwas. »Nur noch sechs Schwestern leben und ich gestehe, dass ich es bevorzugen würde, wenn es so bleibt.«

»Und warum?«, frage ich misstrauisch.

»Weil es ein Gleichgewicht schafft«, antwortet er schlicht.

»Gleichgewicht? Egal, wie viele Feen sterben, sollte auch nur eine von uns leben, so ist sie den Menschen bei Weitem überlegen. Es gibt kein Gleichgewicht!«

»Mir geht es nicht um die Menschen.«

»Nicht? Worum dann?«

Plötzlich ist er sehr ernst, aber statt zu antworten, stellt er eine Gegenfrage: »Willst du ihren Tod?«

»Ich – Ist das der Grund, warum du mir folgst? Weil du nicht willst, dass ich meinen Schwestern etwas antue?« Ich stoße die Decke von mir und steige kurzerhand über ihn hinaus aus der Koje. Er greift nach meinem Handgelenk.

»Willst du sie töten?«

»Nein!«

»Dann lass es mich anders formulieren«, sagt er gedehnt. »Kannst du garantieren, sie am Leben zu lassen, sollten sie dir erneut im Weg stehen? Kannst du sie verschonen und ihnen alle Taten verzeihen, selbst wenn sie versuchen, dich erneut zu töten?«

In meinem Kopf pocht ein dumpfer Schmerz, lässt die Welt vor meinen Augen schwanken. Mir ist schlecht. Tief in mir hallt das Lachen der Königin, dunkel und voll. Sie lacht und gleichzeitig weint sie, und ich begreife, dass ich es nicht versprechen kann, weil es etwas in mir gibt, eine dunkle Macht, eine dunkle Seite, die zu allem bereit ist. »Sie sind meine Schwestern«, flüstere ich erstickt und reiße mich los.

»Trotzdem kannst du mir nicht dein Wort geben«, erkennt er leise.

Nur mit Not bewahre ich Haltung. Ich würge das Schluchzen hinunter, das in meiner Brust unermüdlich wächst, und hebe den Kopf, um ihn zu fixieren. »Nein.«

Er seufzt. »Dann nimm mein Angebot an. Wir beide verfolgen dasselbe Ziel. Du willst deinen Schwestern nichts antun und ich habe großes Interesse daran, dass sie weiterleben.«

»Warum?«, frage ich nur.

»Ich sagte dir bereits, dass es eine Art Gleichgewicht schafft.«

Er sagt es und doch ist es nicht die Wahrheit. Er lügt. Irgendetwas verheimlicht er und ich glaube, zumindest einen Teil zu begreifen: Es geht ihm nicht um meine Schwestern, sie sind ihm vollkommen egal, die Macht aber nicht. Es geht allein um Macht und Kontrolle.

»Solange meine Magie verteilt ist, kann sie kontrolliert werden. Wenn ich sie aber zurückbekomme, dann …«

»Vielleicht«, sagt er und erhebt sich ebenfalls von der Koje. So steht er vor mir, in dieser seltsamen Werkstatt mit all den angefangenen und fast vollendeten Uhren. »Ich habe meine Gründe. Du hast deine. Lass mich dich begleiten und schützen, notfalls vor dir selbst.«

»Gut«, stimme ich langsam zu, obwohl ich ihm nicht vertraue. Soll er sich mir anschließen. Lieber weiß ich, wo er ist, als dass er mir wie ein Schatten folgt. Schatten in seinen Augen. In ihm hausen dieselben Abgründe wie in mir.

»Dann lass uns auf den Ball gehen.«

»Ich werde dich abholen«, verabschiedet er sich galant, ehe er meine Hand nimmt, sie zu lange küsst und auf seinen Teppich steigt, der zwischen Werkbank und den überfüllten Regalen liegt. Er verschwindet und mit ihm der Geruch nach Wüste und orientalischen Gewürzen. Im selben Moment höre ich Schritte auf der Treppe. Kurz darauf öffnet sich die Tür und der Uhrmacher steckt den Kopf herein. Im Tageslicht wirkt er noch blasser als gestern im Kerzenschein. Seine Augen haben jeglichen Glanz verloren, die Wangen sind eingefallen, als sei er in kürzester Zeit um Jahre gealtert.

»Er war hier, nicht wahr?« Ich frage gar nicht erst, woher er es weiß. Seufzend tritt er ein und greift mit fahrigen Händen nach einem Holzblock, der anscheinend eine kleine Uhr werden sollte. »Er redet viel und sagt doch niemals die Wahrheit.«

»Den Eindruck habe ich auch«, stimme ich zu. Er hebt den Kopf und lächelt mich kurz an. »Warum will er, dass die anderen Feen überleben?«

»Hat er das gesagt?«

»Er sprach von Gleichgewicht.«

»Aha«, seufzt der Uhrmacher und stellt den Holzblock zurück zu den anderen. Er fährt mit den Händen durch die Späne. Sie rieseln zu Boden wie kleine, tanzende Sterne.

»Will er verhindern, dass ich meine Macht zurückbekomme?«, frage ich direkt.

»Es ist nicht die Macht, die er fürchtet«, antwortet der Uhrmacher und reibt die Späne zwischen den Fingern. Es duftet nach Holz und Harz. »Es ist ihr Verlust, der ihn ängstigt.«

Ich muss an die Hautfetzen denken, die er nebenan in den Schubladen verwahrt, und an seine Worte vom Vorabend. Wenn die Zeit reif ist, wird er sie mir geben. Will er, dass ich wieder zur Königin werde?

»Ich will gar nichts, Lilith«, sagt er, als könne er meine Gedanken lesen. »Ich hüte lediglich die Zeit.«

»Was passiert hier?«, flüstere ich. »Was wisst Ihr, dass ich nicht weiß?«

»Ich weiß viel und doch nichts.«

»Wenn es etwas gibt, das mir helfen kann, nicht noch mehr Unglück über Pandora zu bringen, so sprecht!«

Die Hand mit den Spänen sinkt. »Liegt dir so viel an Pandora?«

Ich verstumme.

Der Uhrmacher nickt. »Du hast sehr viel Macht, Lilith. Selbst jetzt.«

»Nein, ich besitze keine Magie mehr.«

»Ich spreche nicht von Magie.«

»Wovon dann? Wovor fürchtet sich der Mogul so sehr, dass er bereit ist, mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen? Was wisst Ihr über ihn? Und über mich? Und diese andere Macht … Ist er es?«

»So viele Fragen.« Er stöhnt, als hätte er Kopfschmerzen, und schließt die Augen, schwankt wie ein Baum, dem die Wurzeln gekappt sind. »Wir haben nur so wenig Zeit.«

Mein Blick fällt auf sein Handgelenk und die große goldene Uhr, die beim letzten Mal so gut wie stillstand. Jetzt rasen die Zeiger über das Blatt, ziehen Runde für Runde, eine nach der anderen, immerfort.

»Was passiert hier?«

»Meine Zeit läuft ab.«

»Warum?«, bringe ich mühsam hervor.

»Der Ball«, sagt er statt einer Antwort, »dort wird sich alles entscheiden. Du wirst wundervoll aussehen, Lilith, wie eine Königin.«

»Bitte, was geschieht mit Euch?«, frage ich, doch er schüttelt den Kopf.

»Selbst wenn ich wollte, kann ich dir nichts sagen, weil es nicht der richtige Zeitpunkt ist.«

»Wird es ihn je geben?«

Er zwinkert mir zu. In seinem Haar entdecke ich erste graue Strähnen, die gestern noch nicht da waren. Als würde das Leben aus ihm fließen. »Es kommt, wie es kommen muss.«

»Kann ich irgendetwas für Euch tun?«

»Vertraue auf dein Herz«, antwortet er. Dann dreht er sich um. »Ich habe viel zu tun. Meide die Straßen, Lilith. Bleibe im Schatten und trage den neuen Umhang, den ich für dich anfertigen ließ. Er liegt vorne im Laden, zusammen mit den anderen Sachen, die du brauchen wirst. Ich vergaß gestern Abend, sie dir zu geben.«

Damit verlässt er die Werkstatt und kurz darauf den Laden. Ich weiß nicht, wohin er geht. Ich frage nicht nach. Alles, was er mir sagen wollte, hat er gesagt. Auch wenn es sich anfühlt, als wüsste ich kaum mehr als zuvor. Ich blicke zu der Schlafkoje und frage mich, ob ich je wieder darin schlafen werde – oder ob diese Nacht die letzte war. Es ist still, sonderbar still und ich ahne, dass es die Ruhe vor dem Sturm ist. Eine seltsame Ruhe, denn sie ist erfüllt von dem Ticken Tausender Uhren.

Das frühe Sonnenlicht fällt schräg durch die bunten Scheiben der Fenster, malt schillernde Kreise auf die dunklen Holzdielen. Ich trete neben den Tresen und bin kurz versucht, einen Blick in die Schubladen zu werfen. Die Versuchung zerrt an mir. Sie rufen mich, die Hautfetzen – meine Magie. Ehe der Drang zu stark wird und ich nicht mehr widerstehen kann, wende ich dem Tresen den Rücken zu. Auf dem roten Ledersessel unter dem Buntglasfenster liegt ein Päckchen. Es ist nahezu identisch mit dem, welches ich beim letzten Besuch vom Uhrmacher erhielt.

Als ich es auseinanderfalte, fällt mir zuerst ein dunkelblaues Cape in die Hände. Es ähnelt dem roten, nur ist es nicht mit Wolfsfell gefüttert, sondern luftig leicht, sodass ich mich gut darin bewegen kann. Dazu gibt es eine Rüstung, gleich der, die ich einst trug. Als ich an mir und dem verschmutzten Kleid hinuntersehe, überkommt mich das dringende Bedürfnis, all das von mir abzuwaschen: den Schmutz, den Staub, die Erinnerungen. Mit der neuen Kleidung unter dem Arm drehe ich den Ring.

Kurz darauf stehe ich vor den Mauern der Wasserstadt am Rande der Seen. Die Sonne steigt hinter den Hügeln im Osten empor, färbt den Himmel zartgelb, während er auf der anderen Seite noch dunkelviolett schimmert. Es ist beinahe zu ruhig. Die Stadt liegt im Rausch. Der Morgen kommt zu früh nach einer langen Nacht. Mir soll es recht sein. Geschwind steige ich aus den Schuhen und dem Kleid, das mir die Bewohner der Goldenen Stadt gaben, und lasse es ins taufeuchte Gras fallen, ehe ich in den See wate. Das Wasser ist nachtkalt, dichte Nebelschwaden hängen über den Ufern und ziehen über den See. Vereinzelt ragen Trauerweiden aus dem Dunst, die herabhängenden Zweige im Weiß verborgen. Irgendwo zwitschert ein Vogel, begrüßt den Tag. Ich gleite bis zu den Hüften in die eisigen Fluten, löse den Zopf und öffne die Haare. Dann tauche ich ein. Für einen Moment raubt mir die Kälte den Atem, ehe ich die Wärme meines Körpers und den Herzschlag spüre, der das Blut durch die Adern treibt. Ich lebe immer noch.

Solange ich kann, bleibe ich unter Wasser, starre hinauf zu der schimmernden Oberfläche und sehe mein Leben. Ich sehe alles. Und fühle mich frei.

»Willst du sie töten?«, höre ich den Mogul fragen.

Nein, antwortet es in meinem Kopf. Nein, will ich nicht, denn ich vergebe ihnen. Ich vergebe ihnen alles, was sie mir antaten und vielleicht noch antun wollen. Sie sind meine Schwestern. Mein Herz.

Prustend breche ich durch die spiegelglatte Oberfläche.

»Ich vergebe euch«, flüstere ich, doch der Nebel verschluckt meine Worte. Den Kopf im Nacken, die Haare schwer und nass wie ein Schleier, stehe ich inmitten der Seen vom Nebel verhüllt, spüre die Sonnenstrahlen und akzeptiere zum ersten Mal das Leben, so wie es ist. Ich bin Lilith, ich bin die Feenmutter, ich bin die Königin. Das alles sind Teile von mir. Das alles bin ich.

Und weil ich das weiß, kann ich entscheiden, wer ich in Zukunft sein will.

Leicht weht der Wind durch die Zweige der Trauerweiden. Das sanfte Rascheln klingt, als würden sie flüstern. Über morgen und gestern, über eine bessere Welt. Da ist noch ein weiteres Geräusch, eines, das die friedliche Idylle stört. Stampfende Hufe, Wiehern. Ich fahre herum, erblicke die Silhouetten der Pferde am Ufer. Sie reiten direkt auf das Päckchen mit der Kleidung zu. Schnell drehe ich den Ring, bin sofort da, schnappe mir das Paket und das alte Kleid. Ich will auch nach den Schuhen greifen, doch es bleibt keine Zeit. Der Ring trägt mich fort.

Nur wenige Schritte weiter presse ich mich keuchend hinter den Stamm einer Trauerweide, verborgen vor den Blicken der Reiter, und wage kaum zu atmen. Das Paket an die nasse Brust gedrückt stehe ich da und kann mich nicht rühren, nicht ein bisschen. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich meine, sie müssten es hören. Doch sie bemerken mich nicht.

Einer der Reiter steigt ab. Die Steigbügel klirren, Schritte im Gras. Ich ahne, dass er sich nach den Schuhen bückt, die ich zurückließ.

»War sie das?«, fragt eine Stimme, die mir nur allzu vertraut ist.

»Ja«, antwortet der Hexenjäger. »Ja, das war sie.«

»Dann hat sie das Orakel wahrlich getötet und ihr den Ring gestohlen.« Olga schnalzt mit der Zunge. Eines der Pferde tänzelt unruhig.

Sie sind zusammen, sie sind hier, Olga und er.

Ich schließe die Augen. Sehe erneut, wie er auf mich zu galoppierte, auf dem Rücken des Pferdes, Überraschung in den tiefgrünen Augen, nur für eine Sekunde, ehe der Ring mich forttrug, fort von ihm.

»Was sollen wir tun?«, fragt Olga.

»Gar nichts«, antwortet der Hexenjäger und alles in mir verzehrt sich nach seiner Stimme. Nach diesem vertrauten Klang.

»Gar nichts?«, echot Olga ungläubig. »Wenn sie den Ring hat, dann verfügt sie über einen Teil ihrer alten Magie. Wir dürfen sie nicht zu dem werden lassen, was sie einst war. Du kennst die Geschichten!«

Etwas in mir fürchtet die Antwort, ein anderer Teil sehnt sie geradezu herbei, nur um ihn erneut sprechen zu hören. Doch er schweigt. Wortlos steigt er auf das Pferd. Kurz darauf galoppieren sie weiter und ich bleibe zurück.

»Hexenjäger«, flüstere ich. Meine Hände zittern. Es kostet mich alle Kraft, ihm nicht nachzulaufen oder seinen Namen zu rufen. Ich will ihn spüren, seine Arme, seine Wärme – und ich will ihn anschreien, weil er verschwiegen hat, dass er es war, der mich küsste, damals im Turm. Er hat den Fluch gebrochen, nicht der Prinz. Er war es, der den Dornröschenschlaf mit dem Kuss brach, und hat doch niemals ein Wort darüber verloren. Nun ist er in der Wasserstadt, ob Zufall oder Schicksal, unsere Wege sind dazu bestimmt, sich immer wieder zu kreuzen. Er und ich.

Liebe?, fragt etwas hoffnungsvoll in mir und ich versuche die seltsame Pein zu verdrängen, die mich plötzlich am Atmen hindert.

Nein. Ich bin seine Feindin, antworte ich mir selbst. Doch da ist eine Frage, die mir in der Seele brennt und vor deren Antwort ich mich mehr fürchte, als dem Tod ins Auge zu blicken: »Warum hast du mich dann geküsst?«

Der neue König

Hoffnung ist überall, sie hängt wie ein stickiger, süßer Gestank in den nächtlichen Gassen der Wasserstadt, die einst vom Geruch der Angst durchflutet waren. Die Angst ist mir lieber, gab sie mir doch ein Gefühl der Vertrautheit. Diese kindliche Freude hingegen, die in den trunkenen Augen all der Menschen glänzt, die mir in den engen Gassen und Straßen entgegenkommen, lässt mich schaudern. Sie feiern noch immer den Sieg über die Giftmischerin. Sie feiern den Tod. Die Schankstuben sind überfüllt, Betrunkene liegen sich lallend in den Armen, überall erklingt Musik.

Ich bewege mich schnell, hoffe, dass niemand auf die Gestalt im weißen Leinenkleid achtet. Im Vorbeigehen schnappe ich mir einen Mantel, der achtlos über der Lehne eines verwaisten Stuhles hängt. Sein Besitzer ist irgendwo in den Massen, zu beschäftigt und vielleicht auch zu betrunken, um den Verlust zu bemerken. Eilig schlage ich die Kapuze über den Kopf und verberge mein Gesicht im Schatten, genauso das Kleid, das mir die Prinzen der goldenen Stadt gaben. Ich weiß nicht, ob die Feiernden mich als Fee erkennen würden. Wahrscheinlich nicht, denn die Nacht hängt schon tief über der Wasserstadt. Nur die Feuer in den offenen Kaminen der Wirtshäuser durchbrechen das Dunkel, erhellen die Fenster und zeichnen Quadrate aus Licht auf die Kopfsteinpflaster der Straßen. Vorsichtig husche ich unter den erleuchteten Scheiben entlang, bemüht, nicht in den Lichtschein zu treten. Zwei Dirnen torkeln kichernd aus einer Taverne, die Lippen geschwollen, die Haare zerzaust. Sie hatten eine gute Nacht. Die Freude über das Ende der Hexe lockert die Geldbeutel und die Stimmung. Für sie alle beginnt ein neues Leben. Doch der Alltag wird sie einholen, früher oder später, und sie werden begreifen, dass ein Tyrann immer nur durch einen weiteren Tyrannen ersetzt wird.

Im selben Moment öffnet sich die Tür des Wirtshauses gegenüber und spuckt eine Gruppe schwarz gekleideter Männer auf die Straße. Ich erkenne die drei Hexenjäger sofort, die in der Mühle Karten spielten und von denen einer versuchte, mich zu töten.

Sollten sie nicht am Grunde des Ozeans liegen?

Eine Frau ruft ihnen etwas Obszönes hinterher. Der Wirt lädt sie zum nächsten Abend erneut ein. Sie werden gefeiert wie Helden. Als hätten sie selbst die Wasserstadt von der Herrschaft meiner Schwester befreit. Ihnen folgt ein Mann, der mir genauso bekannt ist. Langsam gleite ich tiefer in den Schatten und halte den Atem an.

»Viktor«, hauche ich lautlos. Der Anführer der Hexenjäger lebt. Statt der gewohnten Rüstung trägt er jedoch ein prächtiges Hemd, die Ärmel bestickt mit allerlei Gold. Es reflektiert den Schein des Feuers. An seinem Arm hängt eine Frau, die kaum alleine gehen kann. Dutzende Menschen rufen ihm hinterher. Die Frau an seiner Seite gackert. Umringt von den Brüdern schlendert er die Gasse hinauf und kommt mir dabei ganz nah. Weder er noch die anderen bemerken mich.

»Eure Majestät«, höre ich seine Begleitung kichern.

Es braucht einen Moment, bis ich begreife, was das bedeutet. Viktor ist der neue Monarch der Wasserstadt, so wie er es schon im Heim der Hexenjäger geplant hat. Doch ich dachte, sie seien tot, hinfort gespült vom Fluss, ertränkt von den Nixen und Meerjungfrauen? Wenn er … wenn er überlebt hat, dann vielleicht auch …?

»Elle«, flüstere ich und will ihm hinterherstürzen, als sich eine Hand um meinen Arm schließt.

»Nicht jetzt«, raunt der Uhrmacher. »Komm mit. Ich warte schon eine Weile auf dich.«

»Aber …«

»Frag mich alles, was du wissen willst, sobald wir in der Uhrmacherwerkstatt sind«, unterbricht er und dirigiert mich sanft in die entgegengesetzte Richtung. Viktor und die Hexenjäger verschwinden aus meinem Blickfeld.

»Sie leben?«, frage ich flüsternd.

Der Uhrmacher nickt nur und lotst mich durch das Labyrinth der Gassen, bis wir unter der schwankenden Laterne seines Ladens stehen. Sofort schließt er die Tür auf und verschwindet im Innern. Ich werfe einen letzten Blick auf die ausgestorbene Gasse und denke an die Männer, die ich tot geglaubt hatte. Und an das Kind. Ich denke an Elle.

»Sie leben«, flüstere ich erneut und trete ein. Das Ticken hallt mir entgegen, nimmt mich gefangen in seinem unermüdlichen Rhythmus, wie das Schlagen Tausender Herzen, wie der Puls des Lebens.

»Was ist mit Elle?«

»Alles zu seiner Zeit«, sagt der Uhrmacher und zeigt zum Tresen. Er zieht einen alten Stuhl hervor und bittet mich, Platz zu nehmen. Er ist seltsam still. Dann setzt er sich selbst hinter den Tresen und entzündet zwei Kerzen. Die Flammen flackern kurz, ehe sie Ruhe finden. Das sanfte Licht reicht kaum bis zu den Wänden. Nur schemenhaft zeichnen sich all die Uhren ab, deren Schläge den Raum füllen, mir durch Mark und Bein gehen. Doch ist da gleichzeitig eine Stille, die mir die Luft nimmt. Erst als er eine kleine Uhr direkt neben die Kerzen stellt, begreife ich, dass es Trauer ist, die den Uhrmacher umgibt. Trauer um den Tod des Orakels. Und ich erkenne, dass wir erst über sie sprechen müssen, ehe ich Antworten über Elle bekomme.

»Ihr habt es gewusst?«

»Ja«, sagt er leise und streicht mit den Fingern über das Glas der Uhr, deren Zeiger stillstehen. »Ja, ich wusste es.« Die Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. »Ich dachte, uns würde noch ein bisschen mehr Zeit verbleiben, aber sie verrann unendlich schnell.«

»Uns?« Ich bemerke die Zärtlichkeit, mit der er die verstummte Uhr auf dem Tisch berührt.

»Ich war noch ein Kind, als sie mich auserwählte, ein Uhrmacher zu sein. Es war eine große Ehre.« Er scheint mich nicht wahrzunehmen, hat nur Augen für die Uhr, deren Schlag nie wieder erklingen wird, da er zusammen mit dem Herzen meiner Schwester verstummte. »Ich verließ meine Familie, um bei ihr das Handwerk des Uhrmachers zu erlernen, so wie es seit ewigen Zeiten Tradition ist.« Einen Moment schweigt er, versunken in Erinnerungen, dann blickt er auf. Er sieht müde aus, alt und müde. Schwere Ringe ziehen sich unter seinen Augen entlang. »Sie war keine Hexe, sondern ein Wesen voll Güte und … Reue. Sie gab sich an vielen Dingen die Schuld.« Plötzlich greift er nach meiner Hand. »Begreife eines, Lilith. Sie war das Orakel, sie sah die Zukunft und ja, sie spielte mit den Karten, die ihr gegeben wurden. Aber sie ist nicht das Schicksal. War es niemals. Du glaubst, dass sie dich und die Welt lenkte, aber das stimmt nur zum Teil. Sie war gebunden, so wie du es bist. An eine höhere Macht. An …« Er verstummt.

»An was?«, frage ich sofort.

Er zögert, lässt mich los und sinkt zurück in den Schatten. »Die Frage lautet: an wen?«

Für einen Moment herrscht Stille.

»Wer soll schon mächtiger als das Orakel sein?«

»Mächtiger sogar, als du es je warst«, fügt er hinzu.

»Niemand«, antworte ich.

Doch er schüttelt den Kopf. »Manche Antworten musst du noch finden.«

»Es gibt niemanden, der mächtiger ist als wir Feen«, beharre ich.