Cover
Haupttitel

Unter dem Kardamond ist erstmals erschienen in: Maik Martschinkowsky, Von nichts kommt was, Voland & Quist 2014

2. Auflage 2016

Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2015

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlag: Roman Klein

Coverillustration: BTSA

Illustrationen: Astrid Henn

Satz: Fred Uhde

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-160-7

www.voland-quist.de

Inhalt

  1. Marc-Uwe Kling: VX 2000
  2. Julius Fischer: Ich hasse Menschen – heute: Moderne Eltern
  3. Maik Martschinkowsky: Teenage Kicks
  4. Sebastian Lehmann: Magister
  5. Marc-Uwe Kling: Schwedische Wissenschaftler
  6. Julius Fischer: Tourtagebuch – Donnerstag
  7. Maik Martschinkowsky: Die dritte Seite
  8. Sebastian Lehmann: Willkommen in Berlin
  9. Marc-Uwe Kling: Vergleichen & Optimieren
  10. Julius Fischer: Tourtagebuch – Donnerstag, später
  11. Sebastian Lehmann: Das Fest der Liebe
  12. Maik Martschinkowsky: Die Ware Geschichte
  13. Julius Fischer: Und was machst du so?
  14. Marc-Uwe Kling: Judgement Day
  15. Sebastian Lehmann: Jeden Tag eine gute Tat
  16. Julius Fischer: Nunus
  17. Maik Martschinkowsky: Sehr guter Text
  18. Sebastian Lehmann: Das milde Leben
  19. Marc-Uwe Kling: Das Märchen vom dicken, fetten Arbeitsplatz
  20. Julius Fischer: Tourtagebuch – Freitag
  21. Maik Martschinkowsky: Zerberus-Welpen
  22. Sebastian Lehmann: Ich war nicht dabei
  23. Marc-Uwe Kling: Herrn Keuners Matratze
  24. Julius Fischer: Tourtagebuch – Freitag, später
  25. Sebastian Lehmann: Hamburg
  26. Maik Martschinkowsky: Tag der Arbeit
  27. Marc-Uwe Kling: Der große Lebowski-Abend
  28. Julius Fischer: Und was machst du sonst so?
  29. Sebastian Lehmann: WG-Partys
  30. Maik Martschinkowsky: Bundeswehrbung
  31. Marc-Uwe Kling: Unbekannte Nummern
  32. Julius Fischer: Tourtagebuch – Samstag
  33. Sebastian Lehmann: Rommé
  34. Maik Martschinkowsky: Ein Tag im Leben und Sterben des A.O.
  35. Julius Fischer: Tourtagebuch – Samstag, später
  36. Marc-Uwe Kling: Das Übliche
  37. Sebastian Lehmann: So lebendig
  38. Julius Fischer: Lake Ship
  39. Maik Martschinkowsky: Unter dem Kardamond
  40. Marc-Uwe Kling: Bis einer heult
  41. Sebastian Lehmann: Eltern und Technik
  42. Julius Fischer: Ich hasse Menschen – heute: Umzug
  43. Maik Martschinkowsky: Verwünscht
  44. Sebastian Lehmann: Dazwischen
  45. Marc-Uwe Kling: Das Ticket
  46. Anhang

Marc-Uwe Kling

VX 2000

Die Heizung ist kaputt. Es ist kalt. Sehr, sehr kalt.

»Guck mal! Ich bin eine Nebelmaschine«, sage ich und atme aus.

»Ich habe gestern schon einen Handwerker bestellt«, sagt das Känguru.

»Du hast was?«, frage ich verstört.

Da klingelt es an der Tür.

Aus Reflex öffne ich und stehe verdutzt einem Schnurrbartträger im Blaumann gegenüber. In Anbetracht der etwas eingelaufenen Arbeitskleidung und der wirklich exorbitanten Oberlippenbehaarung sollte ich vielleicht lieber sagen: einem Blaumannträger im Schnurrbart.

»Ronny der Name. Ick komm wejen die Heizung.«

Ich blinzle.

»Der Handwerker!«, sagt der Mann.

Ich kreische und werfe die Tür zu.

»Was geht’n?«, fragt das Känguru.

»Ich leide an einer Tekhnítēphobie«, sage ich leise.

»Was?«, fragt das Känguru.

»Panische Angst vor Handwerkern.«

Es klingelt wieder an der Tür.

Ich kreische und verstecke mich hinter dem Känguru.

»Der Handwerker hier«, ruft der Mann.

Es klingelt.

Ich kreische.

Das Känguru öffnet. Ich wende mich zur Flucht, stolpere wegen einem etwa suppentellertiefen Loch in den Dielen, rapple mich auf, renne ins Band und sperre mich ein. Erleichtert setze ich mich auf den Toilettendeckel, schließe die Augen und begebe mich auf eine mentale Reise zu meinem Happy Place. Es ist das Bällebad im Textileinkaufszentrum »Rentner-Kleidung«. Plötzlich klopft jemand an die Badezimmertür. Ich kreische.

»Ich bin’s nur«, flüstert das Känguru.

Ich öffne, lasse das Känguru herein und schließe sofort wieder ab.

»Isser weg?«, frage ich.

»Nein«, sagt das Känguru. »Er arbeitet an der Heizung. Was soll denn der Quatsch?«

»Handwerker verunsichern mich.«

»So?«

»Ja. Zum Beispiel bilden sie oft Sätze, in denen sie statt ›ich‹ als Subjekt ›die Firma‹ benutzen.«

»Das ist ja entsetzlich.«

»Oder«, sage ich, »ist dir schon mal aufgefallen, dass Handwerker immer Koffer mit unzähligen undefinierbaren Metallgegenständen dabeihaben, aber mit Sicherheit nicht das Teil, welches sie benötigen?«

»Wirklich beängstigend.«

»Manchmal habe ich Albträume, dass ich verflucht sei, mein ganzes Leben lang einen Handwerker in der Wohnung zu haben. Da habe ich dann niemals mehr meine Ruhe. Will ich spülen, dreht er das Wasser ab. Mache ich den Fernseher an, knallt er die Sicherungen raus. Immerzu stöbert er durch die Wohnung, verlegt Rohre, dreht hier was, fummelt dort was, ohne freilich auch nur ein Wort darüber zu verlieren, was er denn tut, oder ob er überhaupt etwas tut – außer natürlich mit jeder Geste zu verstehen zu geben: ›Du bist keen richtiga Mann. Richtige Männer brauchn mir jar nich.‹«

»Dein Albdruckhandwerker spricht Dialekt?«, fragt das Känguru.

»Alle Handwerker sprechen Dialekt.«

»Sogar in Hannover?«

»Natürlich. Die werden extra in Friesland gezüchtet.«

»Und diese Phobie hast du von Geburt an, oder gab es da irgendeinen Auslöser?«

»Sagen wir mal, es gab ein verstärkendes Erlebnis. Als ich hier eingezogen bin, da wollte ich natürlich wie jeder zugezogene Neuberliner …«

»… die Dielen abschleifen«, sagt das Känguru.

»Korrekt. Und zufälligerweise war ein Handwerker des Vermieters im Haus gewesen, dem hatte ich das erzählt, und am Tag darauf stellte der mir einen Koffer vor die Füße und sagte: ›Is ne janz normale VX 2000. Is ja bekannt, wie man damit umjeht.‹«

»War aber gar nicht bekannt.«

»Nee. Handwerker sind von einer faszinierenden Arroganz allen gegenüber, die nicht ein fünfstöckiges Fachwerkhaus nur mit ihren eigenen Händen bauen können«, sage ich. »Jedenfalls folgte nun seinerseits eine dahingerotzte Aufzählung hundert verschiedener Handgriffe, von der bei mir ungefähr Folgendes hängen blieb: ›Hier das und dort dies und jenes machen, diesen Regler schieben, dann jenen und dann wieder nen anderen und dann das Gerät aufdrücken, doch nicht zu stark, aber auch nicht zu schwach, und kreisen, bloß nicht zu rund und nicht zu groß, jedoch auch nicht zu klein, sondern halt genau richtig, und überhaupt ganz einfach.‹ Ich hatte nichts verstanden, aber gesagt habe ich: ›Ah klar, ne ganze normale VX 2000. Kennt ja jeder.‹«

Der Handwerker klopft gegen die Badezimmertür.

Ich kreische.

»Das ist ja wie in The Shining«, sagt das Känguru belustigt. »Gleich wird er seine Axt aus dem Handwerkerkoffer holen und …«

»Hier is Ronny!«, ruft der Handwerker.

Ich kreische.

»Hörnse?«, fragt Ronny.

»Ja?«, fragt das Känguru und verlässt das Bad. Ich schließe sofort wieder ab.

»Det is een kleenerer Defekt«, sagt Ronny. »Det müsstense eigentlich selber reparieren können. Aba ick mach det natürlich für Sie. Bloß ick brauch da so en 8er Kreuzkopfquerstrebeventil …«

»Ich wusste es«, murmle ich.

»So en Teil, det hab ick leider nich bei mir.«

»Schon klar«, sagt das Känguru.

»Aber ick stell Ihnen schon mal die Heizung wieder ein. Wann stehnse denn uff?«

»Wieso?«, fragt das Känguru

»Na weil die Heizung muss ja wissn, wann se losbollan soll.«

»Ah ja«, sagt das Känguru. »So um halb neun.«

»Un werktags?«, fragt Ronny.

Das Känguru schweigt. Der Handwerker schnaubt. Dabei hat das Beuteltier schon extra gelogen.

»Sie haben eine ungesunde Einstellung zum Thema Ausschlafen«, sagt das Känguru.

Der Handwerker klopft gegen die Badezimmertür. Ich kreische.

»Sie da drinne? Wollense wirklich nich rauskommen? Ick brauch nämlich noch en Autogramm.«

»Schreiben Sie an meine Agentur«, sage ich.

»Wat? Ick brauch ne Unterschrift! Dat ick hier war.«

»Er hat ein wenig Angst«, sagt das Känguru.

»Wat macht er denn beruflich?«, fragt der Handwerker.

»Kleinkünstler«, sagt das Känguru.

Ich seufze.

»Ick versteh schon«, sagt Ronny. »Es handelt sich hier meiner Meinung nach um den klassischen Minderwertigkeitskomplex des Homo ludens, also det spielenden Menschen, jegenüber dem Homo faber, also dem schaffenden Menschen. Aber wissense … Wie sagte schon Schiller: ›Der Mensch ist nur da janz Mensch, wo er spielt.‹ Ick selber schreibe ja ooch Jedichte und spiele jerne mal die eene oder andere Partie Dungeons & Dragons. Vor mir brauchense keene Angst zu ham.«

Ich öffne vorsichtig die Badezimmertür, trete heraus, hole einen Kugelschreiber aus meiner Hosentasche und unterschreibe irgendeinen Wisch.

»Die Firma dankt«, sagt Ronny und steckt meinen Kugelschreiber ein. Plötzlich ruft er: »Momentchen! Ick kenn Sie doch! Sie sinn doch der Clown, dem ick ma die VX 2000 jeliehn hab … Da hamses n weenich zu jut jemeint, wa?«

Ich sage nichts.

»Da werdense wohl nich viel wiedersehn von Ihre Kaution, wa?«

Er lacht.

Ȇba Sie hab ick sojar en Jedicht jemacht! Passense uff:

Einst dreht ick meene Runde

Da kam des Wegs een junger Kunde

Wie jeder Zujezojene kriegte der nen Steifen

Beim Jedanken dran, die Dielen abzuschleifen

Ick lieh ihm dafür en jutet Jerät

Und erklärte et ihm, damit er’s versteht

Aba die Liebesmüh, die war verlorn

Denn der Kunde wollt jar nicht schleifen, der wollt nach Erdöl bohrn.«

»Das muss wirklich frustrierend sein«, sagt das Känguru zu mir. »Sogar dichten kann er besser.«

Julius Fischer

Ich hasse Menschen

– heute: Moderne Eltern

Je älter man wird, desto mehr Leute aus dem eigenen Umfeld schaffen sich Kinder an. Das war schon immer so, auch in der Steinzeit.

Kindermachen ist neben ins Internet gehen, Musikfestivals besuchen und Autofahren eine der menschlichen Tätigkeiten, die besonders niederschwellig angelegt ist.

Das kann jeder. Deshalb gibt es unter den Eltern auch besonders viele Idioten.

Und die meisten von denen fahren Auto. Und gehen ins Internet. Und auf Festivals. Aber vor allem ins Internet.

Gerade dort ist man ihnen hilflos ausgeliefert.

Analog geht anders. Ein Beispiel: Freunde von mir bekamen ein Kind. Die Geburt war spitze, ich bekam eine SMS, freute mich. Das Kind hielten die beiden aber erst einmal für ein paar Wochen unter Verschluss.

Nach etwa einem Jahr blätterte ich gemeinsam mit diesen Freunden ein Fotoalbum mit Bildern vom Kinde durch. Nach der Durchsicht klappte ich das Album zu und sprach:

»Habt Dank, dass ihr mir das Kind nicht direkt nach der Geburt gezeigt habt. Das war ja unfassbar hässlich.«

Und der Freund antwortete: »Ja, wir hatten auch Schiss, dass es so bleibt. Da wollten wir erst einmal abwarten.«

Und die Freundin antwortete: »Ja, der Kopf war auch irgendwie so alienmäßig lang. So eine Geburt ist schon ein durchaus physikalischer Vorgang.«

Und wir lachten und tranken guten Rotwein und fertig. Keine Details, kein Blut.

Das machen heute leider die wenigsten. Meist twittern oder instagrammen die aufgeregten Eltern direkt aus dem Kreißsaal die freudige Meldung nebst sepiabefiltertem Daumenhoch-Bild: »Endlich ist es da. #längstegeburtever #dammbruch«

Moderne Eltern sind scheiße. Alles wird geteilt, erzählt, ins Netz gestellt ohne Sinn und Verstand.

Der erste Schiss, der erste Zahn, der erste Fernseher.

Ich kann mir sogar vorstellen, dass Leute ihre »Freunde« in sozialen Netzwerken darüber abstimmen lassen, wie ihr Kind heißen soll. Und plötzlich stehen sie da mit ihrer Shanaya Delfin.

Und dann sehen das im Internet einfach viel mehr Menschen. Das Kind wird plötzlich zu einer Person öffentlichen Interesses.

Mir war es schon immer unangenehm, wenn meine Mutter ihren Freundinnen erzählte, dass das mit der Phimose bei mir endlich vorbei ist. Mit vierzehn. Phimose ist eine famose Peniserkrankung, besser bekannt als Vorhautverengung. Klar war es mein größter Wunsch, dass alle Leute, die mich kannten, allen voran die hübschen Freundinnen meiner Mutter, das auch sofort wussten.

»Kommt alle her!«, rief ich. »Schauet und staunet. Seit meine Vorhaut wieder reibungslos funktioniert, liebe ich meinen adipösen pubertierenden Körper noch mehr, und jeder soll daran teilhaben.« #Ironie

Kinder haben ein Recht auf Privatsphäre. Wenn plötzlich jeder teilen kann, wie ein Kind das erste Mal von der Schaukel fällt oder nach dem Zahnarztbesuch und der ersten Vollnarkose im Auto vor sich hin deliriert, dann kommt das Kind vielleicht noch auf den Gedanken, dass es berühmt wäre. Und wird arrogant.

»Hier guck mal, Shanaya Delfin, mein Video, wo ich aufs Sofa pinkle, weil meine Eltern nicht mit mir aufs Klo gehen, sondern mich lieber die ganze Zeit filmen, hat schon dreißig Millionen Klicks.«

Das ist im höchsten Grade gefährlich. Und eine Illusion.

Nicht, dass Illusion generell schädlich wäre. Der Weihnachtsmann zum Beispiel ‒ ist eine Illusion. Aber da verarscht man die Kinder nicht zur eigenen Belustigung, sondern zu deren Freude. Und es ist ein Ding der Familie. Eine Illusion, die irgendwann verantwortungsvoll zum Platzen gebracht wird. Wohingegen die Illusion einer Internet-Öffentlichkeit und damit Relevanz nie zerbrechen wird, weil die Eltern ja selbst daran glauben.

Im echten Leben wird einem das ja irgendwann gesagt mit dem Weihnachtsmann. Oder man erfährt es auf die harte Tour. Indem der Onkel den Weihnachtsmann einfach sehr schlecht spielt. Obwohl er Schauspieler ist. Vielleicht hätte er keinen zu engen roten Ledermantel tragen und sich den Bart von d’Artagnan aus dem Sommertheater ein bisschen besser ankleben sollen. Damals war ich neun. Schweine.

Den Glauben an den Weihnachtsmann verliert man meistens zu Beginn der Pubertät. Oder anders formuliert: Der Verlust des Glaubens an den Weihnachtsmann führt zur Pubertät. In anderen Kulturen gibt es ja so etwas wie Pubertät gar nicht.

Indianer ‒ keine Pubertät. Wer alt genug ist, einen Bogen zu halten, der erschießt halt den Bären.

Es ist ja auch nicht schlimm, das Konzept Weihnachtsmann irgendwann aufzugeben. Es ist sogar wichtig, sonst bleibt man in der Illusion hängen und bekommt Angst davor, dass andere einem diese Vorstellung rauben. #ichhabjanixgegenausländeraberdienehmenunsdieweihnachtsmännerweg

Ein weiterer furchtbarer Auswuchs des Natalen sind vagina cakes, Kuchen in Form der weiblichen Scheide, ein Trend aus den USA. [Der folgende Textabschnitt ist in Ihrem Buch nicht verfügbar. Nicht etwa wegen des Copyrights, es ist einfach zu eklig. Ich wollte nur erwähnen, dass es so etwas gibt. Vielleicht sollte ich besser erwähnen, was es nicht im Internet gibt. Nichts!]

Ich bin für generelles Internetverbot für Eltern. Bis die Kinder aus dem Haus sind. Man fragt sich eh, wo die noch die Zeit hernehmen. Die haben doch mit den Kindern zu tun. Oder ist das mit Eltern so wie mit Musikfans? Vor lauter fotografieren und filmen und posten merkt man gar nicht, was auf der Bühne oder in der Wiege eigentlich vor sich geht, und zack!, schon sind achtzehn Jahre um und das Kind ist weg, steht an irgendeinem Hauptbahnhof und ärgert sich über die gestiegenen Crystal-Meth-Preise.

Vielleicht bräuchte ich auch einfach Internetverbot. Wäre sicherlich gut fürs Herz. Aber wenn man sich nicht im Internet aufhält, trifft man nur noch Leute, die sich auch nicht im Internet aufhalten, quasi aus ideologischen Gründen. #Ökos #ganzheitlicheerfahrung

Da kriegt man dann wieder die andere Seite mit.

Neulich erzählte eine Bekannte, dass Freunde von ihr die Plazenta samt Nabelschnur nach der Geburt am Kind drangelassen hätten, weil das früher auch so war. Denn da hätten die ersten Menschen ja auch nicht gewusst, ob man damit noch was machen könne.

Erschaffen wir vor unserem inneren Auge zwei junge Krieger der Steinzeit, die als Prüfung ihrer Manneskraft ins Gebirge gesandt werden. Ohne Waffen, ohne Essen. Was werden die wohl gemacht haben, wenn Todesgefahr dräute?

»Oh nein, oh nein! Ein Bär, was sollen wir nur tun?«, hätte einer gerufen. Also wahrscheinlich hätte er gerufen: »Hnnnnggggg! Uh!«

Und sein Kollege hätte geantwortet: »Ububu!«

Was so viel heißt wie: »Kein Problem, ich hab meine Plazenta dabei, den Bären mach ich fertig!«

Jetzt ist natürlich die Frage, wie konnten diese jungen Krieger die Plazenta über die Zeit konservieren? Das ist ja totes Gewebe, prädestiniert zum Vor-sich-hin-Faulen. Das Verfahren ist sehr einfach und findet auch heute, wie ich nun leider weiß, noch Anwendung: Pökeln. Einfach jeden Tag Salz drauf oder ins Solebad und das Ding hält ewig. #fleurdesel

Vielleicht werden einfach alle Leute verrückt, wenn sie Kinder bekommen. Oder bereits vorhandene Crazyness wird durch Kinder verstärkt. Ich zum Beispiel neige zu übertriebener Empathie. Und bin konfliktscheu. Und liebe Regeln. Nee, Kinder, das wäre nix. Außerdem: Wenn das eh jeder kann, ist es ja nichts Besonderes.

Maik Martschinkowsky

Teenage Kicks

Zum Geburtstag des SO36

Es gibt Dinge, die ich meinen Kindern nicht erlauben werde. Dazu gehört, mit sechzehn allein in eine vierhundert Kilometer entfernte Großstadt zu fahren um ein Punkkonzert zu besuchen, und zwar in einem Laden, der vor allem dafür bekannt ist, dass davor ständig Straßenschlachten stattfinden. Genau genommen hatten meine Eltern mir das auch nicht erlaubt. Ich habe ihnen einfach gesagt, ich würde das Wochenende bei meinem Punkerfreund »Dose« verbringen, und der wiederum hat seinen Eltern erzählt, er würde das Wochenende bei mir verbringen. So einfach kann Freiheit sein.

Ich erwähnte, dass mein Punkerfreund »Dose« hieß. Es ist und war schon immer Sitte innerhalb der deutschen Punkkultur, sich seltsame Spitznamen zu geben, so was wie »Zecke«, »Kröte« oder »Spinne«. Kein Mensch weiß, warum. In unserer Clique waren es die Namen von Getränkebehältnissen, die dafür herangezogen wurden. Meine Freunde hießen: »Dose«, »Pulle« und »Eima«, die einzige Frau in unserer Runde war auf den Namen »Tasse« getauft worden. Tasse hatte auch einen kleinen Hund, der hieß »Pinnchen«. Damit waren eigentlich alle uns bekannten Getränkebehältnisse vergeben, außer dem, dessen Name mir feierlich zuerkannt wurde: »Tetra Pak«. Zum Glück verkürzte sich das Ganze recht schnell auf Teti oder einfach Tet, da den ganzen Namen zum einen eh kein Mensch im betrunkenen Zustand aussprechen konnte, und zum anderen, weil alle der Meinung waren, dass ein laut gerufenes »Pak« in manchen Zusammenhängen zu Verwirrungen führen könnte.

Dose und ich verbrachten die Freitagnacht mit Styling – die Eitelkeit des ehrlichen Punks wird oft unterschätzt –, stellten uns am Samstagmorgen an irgendeine Landstraße, die unserer Meinung nach nach Berlin führte, und hielten den Daumen raus. Unser Ziel fest im strahlenden Auge: ein Punkkonzert-Marathon im legendären SO36.

Die erste Hälfte der Strecke verlief überraschend gut, auch wenn es für uns etwas verstörend war, dass wir einen Großteil davon in dem fetten Jaguar eines netten alten Mannes verbrachten, der uns freundlich darum bat, mit unseren Nieten keine Kratzer in die Ledersitze zu machen, ansonsten aber beeindrückend wenig Anstoß an unserer Erscheinung nahm. Vielleicht wollte der Bonze mal n paar Punks schocken. Immerhin schauten an der Raststätte, an der er uns rausließ, ein paar Leute sehr irritiert, als zwei Punks aus der dicken schwarzen Limousine stiegen. Wenigstens etwas.

Nachdem wir uns an der Raststätte mit ein paar Dosen Bier versorgt und die Wachleute abgehängt hatten, standen wir eine Ewigkeit an der Autobahnauffahrt und warteten darauf, mitgenommen zu werden.

»Wir schaffen es nicht!«, jammerte Dose etwa alle zehn Autos, und sein Iro knickte dabei immer traurig nach vorne. – Doses emotionale Verbindung zu seinem Iro war so groß wie dieser hoch.

Als auch ich allmählich resignierte und anfing, darüber nachzudenken, wie es wohl sein würde, das restliche Leben an einer Autobahnraststätte zu verbringen, hielt plötzlich ein kleiner Ford Fiesta vor uns. Die Tür öffnete sich und uns schallte lauter Punkrock entgegen. Ein Typ sprang heraus, gefolgt von diversen Sorten Rauch und Bierdunst. Aus dem Auto strahlten uns vier weitere bunte Vögel an und prosteten uns zu.

»Springt rein!«, rief der Typ, der ausgestiegen war. Doses Iro richtete sich schlagartig auf.

Wir quetschten uns mit auf die Rückbank und Dose versuchte seinen Iro nicht mit den Haarprachten der anderen zu verheddern. Denn drei von ihnen hatten eine ähnlich hohe Frisur wie er und mussten daher den Kopf, wie eben jetzt auch Dose, aus naheliegenden Gründen während der gesamten Fahrt schief halten. So auch die Fahrerin, aber die hatte immerhin mehr Platz.

»Ich bin Stulle«, sagte der Typ auf dem Beifahrersitz, als wir losfuhren, und stellte uns der Reihe nach die anderen vor: »Das sind Schnidde, Brötchen, Knifte, und der da schon wieder eingeschlafen ist, ist der stramme Max.«

»Ich bin Dose«, sagte Dose, »und das ist Tet.«

»Was’n das fürn komischer Name?«, fragte Stulle.

»Eigentlich Tetra Pak«, sagte ich.

»Ach so«, meinte Stulle, »davon kenn ich auch einen. Aber den ganzen Namen kann ja kein Mensch im betrunkenen Zustand aussprechen, deswegen nennen wir den einfach immer Tepa. – Bierchen?«

Jeder bekam eine Dose Bier, die er sich mit den anderen teilte, aus den Lautsprechern dröhnten die Undertones und bis Berlin waren es nur noch zweihundert Kilometer. Diese Fahrt gehört zu den schönsten acht Stunden meines Lebens – wir hatten uns ein paar Mal verfahren und mussten auch ziemlich viele Pinkelpausen einlegen.

In Berlin angekommen, parkten wir irgendwo in Kreuzberg und begaben uns auf die Suche nach dem SO36. Konnt ja nicht so weit sein, schließlich waren wir ja schon in Kreuzberg. Als wir dann zwei Stunden später endlich das SO erblickten, gab es für Dose und mich kein Halten mehr. Wie auf ein unsichtbares Kommando fingen wir gleichzeitig an, die Strophe eines unserer Lieblingslieder zu grölen, was von einem vor dem SO stehenden Grüppchen direkt mit dem passenden Refrain erwidert wurde. Wir rannten bis zur Tür und reduzierten das obligatorische Davorherumstehen und Neue-Bierbekanntschaften-Knüpfen auf ein Minimum. Das Grüppchen, mit dem wir hergekommen waren, wollte noch ein bisschen draußen bleiben, aber Dose und mich zog es magisch in die Katakomben des SO fucking 36. Wir stürzten die letzten Dosen Bier, zählten unser Kleingeld, klatschten lachend ab, als wir merkten, dass wir noch mehr hatten, als wir dachten, rannten die Treppe hoch – und endeten vor einem Türsteher, der uns nicht reinließ, weil er meinte, wir wären zu jung. Doses Iro fiel einfach um.

Wir gingen bedröppelt zurück zu unserer Peergroup und erzählten von unserer Misere.

Ein älterer Punk, der sich »Schüssel« nannte, hatte das mitbekommen und sagte: »Soll ick euch ma zeijen, wie man rinkommt, Jungs?«

Doses Iro richtete sich hoffnungsvoll auf. Ich nickte begeistert. Schüssel zuckte mit den Schultern, ging mit dem Bier in der Hand auf die andere Straßenseite, hob mit der freien Hand etwas auf, ging lässig zu einem geparkten Auto und zerschlug damit die Fensterscheibe.

Sofort kam Bewegung in die Leute vor der Tür, einige johlten, andere meckerten, und die Türsteher riefen: »Scheiße, Mann! Kommt ma rein, bevor wieder die Bullen anrücken!«

Wir wurden einfach in dem Grüppchen an den Türstehern vorbeigeschwemmt und mussten nicht mal Eintritt zahlen. Völlig euphorisch liefen wir durch den langen Gang zum Konzertraum und jubelten über unseren Triumph.

Aber als ob das noch nicht genug gewesen wäre, überkam uns beim Betreten des Konzertsaals ein Gefühl von Offenbarung: Hier waren mehr Punks, Skins, Psychobillys, Rude Boys und was es noch so alles gab versammelt, als in unserem ganzen Dorf Einwohner lebten. An jeder Ecke, auf jedem Podest, auf den Boxen, auf der Theke, auf der Bühne und natürlich auf der riesigen Tanzfläche – überall waren dunkelbunte Leute, tanzten, sangen, jubelten, knutschten rum oder hatten auf andere Weise Spaß, während in angenehm unerträglicher Lautstärke grade die Adicts aufspielten.

»Das ist der Himmel!«, sagte Dose, dessen Iro ein bisschen zu wachsen schien.

»Punkeluja!«, bestätigte ich, und wir holten uns erst mal Bier. Dann stürzten wir uns ins Gewühl, pogten, tanzten, lachten, crowdsurften gelegentlich zur Bar, um ein Bier zu zischen, hüpften, sangen, grölten. Während der Umbaupausen erzählten wir uns bei ein, zwei Bierchen, was wir gerade so gemacht hatten. Irgendwann verlor ich Dose auf der Tanzfläche aus den Augen – sonst war er ja leicht an seinem Iro zu erkennen. Das funktionierte hier nicht so gut, ebenso wenig der Versuch, zwischen den Liedern einfach laut seinen Namen zu rufen, denn daraufhin schallte es immer aus verschiedenen Richtungen im Saal zurück: »Ja?«

In der Hoffnung, ihn wiederzufinden ging ich noch ein bisschen pogen. Kaum, dass ich in die Menge eingetaucht war, verpasste mir ein wild gewordener Psychobilly einen ziemlich derben … nennen wir es Tanzmove.

Als ich daraufhin in den Wellnessbereich ging, um mir anzuschauen, wie groß das Veilchen wohl werden würde, das ich meinen Eltern erklären müsste (und wie stark der Kajal verwischt war), sah ich Dose in einer geöffneten Kabine stehen und neben das Klo kotzen.