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Prof. Dr. Tanja Sturm lehrt Inclusive Didaktik und Heterogenität an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Basel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 3893

ISBN 978-3-8252-4615-0 (Print)

ISBN 978-3-8453-4615-0 (EPUB)

2., überarbeitete Auflage

© 2016 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Covermotiv: ©istockphoto.com / Kudryashka

Satz: SatzBild, Ursula Weisgerber

Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

1      Einleitung

2      Differenzen in Schule und Unterricht

2.1    Heterogenität in der Schule – eine Definition

2.2    Heterogenität von Milieus

2.2.1 Zugehörigkeit zu Milieus

2.2.2 Milieus im sozialen Raum

2.3    Schule als Organisation

2.4    Übungsaufgaben

2.5    Literaturempfehlungen

3      Schule: Institutionelle Bearbeitung und Herstellung von Differenzen

3.1    Funktionen der Schule in der Gesellschaft

3.2    Differenzbearbeitung durch die Schule im Wandel der Zeit

3.2.1 Umbruch: Lösung vom Ständeprinzip und Einführung des Leistungsprinzips

3.2.2 Ausweitung formaler Gleichheit, bestehende Ungleichheit

3.2.3 Entwicklungen und Diskurse seit 2000

3.3    Differenzherstellung und -bearbeitung durch Schule am Beispiel schulischer Leistungsbewertung

3.4    Übungsaufgaben

3.5    Literaturempfehlungen

4      Heterogene Milieus in Schule und Unterricht

4.1    Sozio-ökonomische Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht

4.1.1 Sozio-ökonomische Heterogenität

4.1.2 Benachteiligungen und Schlechterstellung in Schule und Unterricht

4.2    Geschlechterbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht

4.2.1 Geschlechtsbedingte Heterogenität

4.2.2 Benachteiligungen und Schlechterstellung in Schule und Unterricht

4.3    Migrationsbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht

4.3.1 Migrationsbedingte Heterogenität

4.3.2 Benachteiligungen und Schlechterstellung in Schule und Unterricht

4.4    Behinderungsbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht

4.4.1 Behinderungsbedingte Heterogenität

4.4.2 Benachteiligungen und Schlechterstellung in Schule und Unterricht

4.5    Leistungsdifferenzen im Kontext von Schule und Unterricht

4.6    Übungsaufgaben

4.7    Literatur- und Websiteempfehlungen

5      Inklusion als Perspektive schulischer und unterrichtlicher Bearbeitung von Heterogenität

5.1    Inklusion als pädagogisches Rahmenkonzept

5.2    Lern- und Bildungsprozesse – eine Definition

5.3    Diagnostik: systematische Annäherung an Lern- und Bildungsprozesse

5.4    Unterricht: Anforderungen an die Initiierung von Lern- und Bildungsprozessen

5.4.1 Didaktik – eine Definition

5.4.2 Unterricht als Milieu

5.4.3 Unterrichtliche Herausforderung: Vermittlung zwischen widersprüchlichen Erwartungen

5.5    Übungsaufgaben

5.6    Literatur- und Websiteempfehlungen

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

     Images Merksatz
Images Fallbeispiel
Images Literaturtipps
Images Websiteempfehlungen
Images Übungsaufgaben

Für die Inhalte dieses Buches gibt es zwei Formen der Lernzielkontrolle:

1 Am Ende jedes Kapitels gibt es Übungsaufgaben mit offenen Fragen. Musterlösungen zu diesen Fragen finden Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages und der UTB GmbH bei der Darstellung dieses Titels: www.reinhardt-verlag.de, www.utb.de

2 Direkt passend zum Buch ist darüber hinaus eine Lern-App erhältlich, die weitere Lernaufgaben in Form von Multiple-Choice-Fragen, Single-Choice-Fragen sowie Lückentexten u. a. enthält. So können Sie sich optimal auf Ihre Prüfung vorbereiten! Über folgenden Link gelangen Sie zu dieser App:

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www.utb.de/mehr-wissen/heterogenitaet

1 Einleitung

„Heterogenität“ ist ein zentraler Begriff des schulpädagogischen Diskurses, der allgemein auf Unterschiede zwischen Schüler / -innen verweist. Vorwiegend wird der Terminus im Zusammenhang mit Ungleichheit in Schule und Unterricht genannt, also mit Benachteiligungen, die Kinder und Jugendliche im schulischen und unterrichtlichen Kontext erfahren. Dieser Fokus wird auch hier gesetzt.

Heterogenität wird zumeist in Differenzkategorien gefasst, die soziale Gruppen umschreiben. Diese Beschreibungen bringen das Dilemma mit sich, einerseits auf einzelne soziale Dimensionen fokussierende Zugehörigkeit zu erzeugen, fortzuschreiben und zu bestätigen und andererseits zum Erkennen und Beschreiben systematischer, gruppenbezogener Benachteiligungen notwendig zu sein.

Die Diskussion um Heterogenität wird in Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft mit der Erwartung verknüpft, die aktuell bestehenden Ungleichheiten der Beteiligung an schulischen Bildungsgängen zwischen sozialen Gruppen zu überwinden. Die bestehende Chancengleichheit im Zugang zu Bildungsgängen liegt lediglich formal vor, was sich beispielsweise darin zeigt, dass Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch nicht privilegierten Familien im Vergleich zu privilegierten Gleichaltrigen deutlich seltener das Gymnasium besuchen. Von der Realisierung des demokratischen Anspruchs, einen von der familiären Sozialisation unabhängigen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, ist die Schule in Deutschland, Österreich und der Schweiz weit entfernt. Benachteiligung besteht über den Zugang zu Bildungsgängen hinaus auch hinsichtlich des fachlichen Kompetenzerwerbs. So weisen Schüler / -innen mit Migrationshintergrund niedrigere Kompetenzwerte im Lesen auf als ihre Peers ohne einen solchen. Die Schule nimmt bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in struktureller und kultureller Hinsicht eine Schlüsselstellung ein, da sie die Legitimationsgrundlage für den weiteren Schulbesuch sowie berufliche Perspektiven schafft. Dies bezieht sich auf alle Schulformen und Schulstufen der Bildungsorganisation Schule.

Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, die strukturellen und kulturellen Herstellungs- und Bearbeitungsformen von Differenzen in Schule und Unterricht sowie die dabei hervorgebrachten Praktiken von systematischer Benachteiligung sozialer Gruppen zu reflektieren. Es wird eine theoretische Folie bereitgestellt, um Strukturen und Praktiken, die zu Ausgrenzung und Marginalisierung in Schule und Unterricht führen (im Kontext ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs), zu erkennen und eigene unterrichtliche Planungen hieran zu kontrastieren. Mit anderen Worten, Heterogenität bzw. Differenzen werden nicht nur von außen an Schule und Unterricht herangetragen, sondern in ihnen selbst hervorgebracht.

Dass Schule und Unterricht und ihre Akteur/-innen dabei selbst als Produzierende von Heterogenität bzw. Differenzen agieren, ist eine zentrale Linie dieses Buches. Die Akzeptanz des Beteiligtseins an Prozessen von Differenzerzeugung und Benachteiligung ist die Grundlage für einen reflektierten Umgang mit den widersprüchlichen An- und Herausforderungen in Schule und Unterricht. Dies erfolgt hier mithilfe der wissenssoziologisch fundierten Begriffe der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ (Nohl 2010, 145 ff). Diese Begriffe werden für den Kontext der pädagogischen Organisation Schule aufgegriffen, um Überlegungen zur Einbindung von Milieus in gesellschaftliche Machtverhältnisse erweitert und in einem Ansatz inklusiver Pädagogik spezifiziert. Dies erfolgt mit einem doppelten Anspruch: Die aktuelle Situation der Benachteiligungen in Schule und Unterricht in ihrer Entstehung nachvollziehbar zu machen und Perspektiven für zukünftige Gestaltungsformen und Praktiken aufzuwerfen. Beides orientiert sich am Abbau bestehender Bildungsungleichheit als Voraussetzung und Notwendigkeit für ein demokratisches Miteinander in einer pluralen Gesellschaft.

Die Ausführungen sollen es ermöglichen, Strukturen und Praktiken mithilfe des begrifflich-theoretischen Werkzeugs zu betrachten, einzuordnen und zu reflektieren. Es wird eine begrifflich-theoretische Perspektive eingenommen, die entsprechend exemplarisch bleiben muss, wenn es um spezifische Formen von Heterogenität in der unterrichtlichen und schulischen Bearbeitung geht. Dies erfolgt entlang darzustellender Möglichkeiten einer Bearbeitung, welche die pädagogischen Professionen zwar herausfordern, nicht aber überfordern oder als alleinig verantwortlich verstehen. Vielmehr wird Heterogenität als ein wünschenswerter und notwendiger Teil einer demokratischen Gesellschaft gesehen, die sich egalitär begegnen. In Schule und Unterricht treffen vielfältige Milieus aufeinander und können in Austausch miteinander gelangen. Dieser eröffnet die Möglichkeit eines pädagogisch reflektierten Miteinanders unterschiedlicher Personen bzw. Milieus.

Vornehmlich adressiert das Buch Studierende, deren Ziel es ist, als Lehrer / -innen bzw. in anderen pädagogischen Professionen in der Organisation Schule zu arbeiten. Es richtet sich gleichermaßen an interessierte Personen, die bereits im schulischen Feld tätig oder mit der (Aus-)Bildung von Lehrkräften betraut sind, sei es in der ersten, der zweiten oder der dritten Phase der Lehrerbildung.

Die vorliegende Einführung bietet eine wissenschaftlich fundierte Form der Auseinandersetzung mit der Praxis und ihrer Reflexion. Dennoch ist hervorzuheben, dass es sich um ein Studienbuch handelt, das als solches nur einen begrenzten Umfang hat, sodass nur ausgewählte Themen platziert werden und Darstellungen keine vergleichbare Tiefe aufweisen können, wie dies in spezifischer Fachliteratur möglich ist; auf entsprechende Fachliteratur wird jeweils am Ende der Kapitel verwiesen. Mit dieser Einführung möchte ich zur Auseinandersetzung mit dem komplexen Themenfeld „Heterogenität in Schule und Unterricht“ einladen und neugierig machen, sich anschließend mit der Thematik weiter und tiefgehender auseinanderzusetzen.

Meine eigene berufliche Tätigkeit, in Form von Forschung und Lehre an Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, verdeutlicht mir in mehrfacher Hinsicht, dass der schulgesetzliche ebenso wie der schulstrukturelle Kontext und die Gestaltung der Lehrerbildung erheblichen Einfluss auf die Praxis der Differenzherstellung und -bearbeitung im Unterricht haben. Dass diese Punkte nicht in allen Einzelheiten in diesem Buch diskutiert und miteinander verglichen werden können, gibt der begrenzte Rahmen einer grundlegenden Einführung vor. Zugleich fordert eben dieser zu einer abstrakteren Betrachtung heraus, in der Gemeinsamkeiten deutlich werden. An jenen Stellen, an denen die konkreten Rahmenbedingungen ausgeführt werden, wird dies explizit angeführt.

Das Ziel des Buches, Reflexionsebenen und -inhalte darzustellen und in ihrem Zusammenspiel vorzustellen, findet sich in seinem strukturellen Aufbau wieder, der in aufeinander aufbauenden Einheiten konzipiert ist: Im Anschluss an diese Einleitung wird im zweiten Kapitel eine allgemeine Definition von Heterogenität gegeben, die auf die Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie aufgebaut, und um die Theorie sozialer Felder erweitert wird. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden entsprechend von Milieus gedacht, deren Angehörige bei der Strukturierung ihres Alltags auf vergleichbare Erfahrungen zurückgreifen. Das Kapitel endet mit der Einführung in die Spezifität, mit der sich Milieus in gesellschaftlichen Organisationen begegnen und ihre gemeinsame Praxis gestalten.

Im dritten Kapitel wird dies für die Bildungsorganisation Schule konkretisiert. Die Funktionen, welche die Schule in der Gesellschaft übernimmt, werden vorgestellt, ebenso der historische Prozess, in dem sich diese Funktionen in ihrer heutigen Konkretheit herausgebildet haben. Diese Betrachtung der formalen Seite der Schule nimmt deren strukturelle Verfasstheit in den Blick, die eine Rahmenbedingung innerschulischer Herstellung und Bearbeitung von Heterogenität darstellt. An der Vergabe von Noten wird dies konkretisiert.

Das vierte Kapitel zeigt entlang von vier ausgewählten Differenzdimensionen auf, wie sich Benachteiligungen in Schule und Unterricht zeigen. Das Zusammenspiel struktureller und kultureller Bearbeitung wird entlang der sozialen Gruppen sozio-ökonomisch bedingter, migrationsbedingter, geschlechtsbedingter und behinderungsbedingter Heterogenität konkretisiert, unter besonderer Berücksichtigung von Benachteiligungen, die mit ihnen einhergehen. Diese vier Kategorien wurden ausgewählt, da sie besonders aussagekräftig in der Reproduktion von Ungleichheit in und durch Schule und Unterricht sind, und um die der Leistung ergänzt. Letztere stellen schul- und unterrichtsspezifische Formen von Differenz dar.

Das fünfte Kapitel widmet sich einer perspektivisch ausgerichteten Zusammenfassung, indem Inklusion als Möglichkeit für Reflexion über Heterogenität und Bearbeitung von Heterogenität in Schule und Unterricht insgesamt aufgeworfen wird. Das Konzept der Inklusion wird anhand erziehungswissenschaftlicher Orientierungen veranschaulicht. Eine konkrete Reflexionsfolie für das Erkennen und die Bearbeitung von Heterogenität im Unterricht, die an der Überwindung von Benachteiligung orientiert ist, wird aufgegriffen. In dem Kapitel fließen die Darstellungen der vorangegangenen Kapitel zusammen, da Unterricht jener Interaktionsraum ist, in dem die sozialen Milieus der Schüler / -innen und Lehrpersonen aufeinandertreffen – mit dem Ziel von Erziehung und Bildung im organisatorischen Kontext der Schule. Entlang dieses Ziels wird zunächst zusammengefasst vorgestellt, was Lern- und Bildungsprozesse charakterisiert. Anschließend wird deren Spezifität im schulischen Kontext beleuchtet und schließlich vorgestellt, wie sich Lehrpersonen diesen Prozessen systematisch annähern können. Darauf aufbauend werden Bezüge für die Reflexion von Heterogenität im Unterricht, aus der Perspektive von Lehrkräften, betrachtet.

Die Gestaltung einer inklusiven Schule, die perspektivisch formuliert wird, stellt zugleich die Chance und Herausforderung für angehende Lehrer / -innen dar, diesen Prozess aktiv mitzugestalten. Die Möglichkeit besteht, eine schulische Lernkultur zu gestalten, die zwar im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion angesiedelt ist, jedoch die Mitgliedschaft und Verteilung von Privilegien nicht in vergleichbarer Weise reproduziert, wie es aktuell zu beobachten ist. Ziel dieses Buches ist es, einzuladen, an dieser Gestaltungsaufgabe zu partizipieren.

Mit diesem Vorhaben möchte dieses Buch dazu anregen, Heterogenität als Chance für Schul- und Unterrichtsentwicklung zu begreifen, ihren Anteil an der systematischen Benachteiligung sozialer Gruppen zu erkennen und Alternativen zu entwickeln. Dies erfordert, dass die Leser / -innen sich zuweilen darauf einlassen, ihre bisherigen Vorstellungen von Schule und Unterricht irritieren zu lassen. Es sollen Perspektiven aufgeworfen und Neugierde geweckt werden, sich weitergehend mit der Thematik auseinanderzusetzen; hierfür werden Literaturhinweise gegeben und Übungsaufgaben bereitgestellt. Letztere sollen zum Diskutieren anregen und so gleichermaßen eine vertiefte Auseinandersetzung herausfordern. Das Buch möchte einen Anlass für eine reflektierte Auseinandersetzung und Bearbeitung von Heterogenität in Schule und Unterricht schaffen.

Basel, im August 2015

2 Differenzen in Schule und Unterricht

„Heterogenität“ ist etwa seit dem Jahr 2000 zu einem zentralen Begriff geworden, wenn es um die Beschreibung schulischer und unterrichtlicher Realität geht (Budde 2012). Dieser Abschnitt möchte in das Verständnis von Heterogenität und Homogenität respektive von Differenz und Gleichheit einführen. Ziel dieser einleitenden Überlegung ist es, eine Analysefolie bereitzustellen für pädagogische, v. a. für unterrichtliche Zusammenhänge, zu denen Bildungs-, Lern-, Erziehungs- und Sozialisationsprozesse zählen. Die aufzuführenden theoretischen Konzepte sollen dabei helfen, den Blick für Heterogenität in Schule und Unterricht zu schärfen.

Im ersten Abschnitt wird eine allgemeine Definition von Heterogenität vorgenommen. Diese Perspektive wird im darauffolgenden Abschnitt um eine sozialkonstruktivistische und wissenschaftssoziologische Perspektive, die wesentlich auf der Konzeption der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ Arnd-Michael Nohls (2010, 145) aufbaut, differenziert und anhand der Überlegungen zu Milieus als Felder im sozialen Raum erweitert.

2.1 Heterogenität in der Schule – eine Definition

Heterogenität hat sich etwa seit der Jahrtausendwende zu einem zentralen Bezugs- und Erklärungspunkt in (schul-)pädagogischen Zusammenhängen entwickelt (Budde 2012; Schroeder 2007, 33). In diesem Abschnitt soll Heterogenität als Beschreibungsansatz im schulischen und unterrichtlichen Kontext in allgemeiner Hinsicht erklärt werden. Die Definition orientiert sich an einem sozial-konstruktivistischen Verständnis und unterscheidet sich folglich von Perspektiven, die aus anderen theoretischen Positionen heraus Heterogenität definieren. So verweist diese Definition, im Gegensatz zu kognitionspsychologischen Überlegungen darauf, dass Differenzen nicht aufgrund von Dispositionen bestehen, die sich in verschiedenen Merkmalen verdichten, sondern in sozialen Interaktionen hergestellt und bearbeitet werden (Trautmann / Wischer 2011, 42 f).

Sozial-konstruktivistische Überlegungen definieren Heterogenität mehrheitlich, z. T. auch mithilfe anderer Begriffe, anhand der folgenden vier Punkte: relativ, sozial-kulturell eingebunden, sozial konstruiert und partial (Lang et al. 2010, 315 f; Prengel 2006, 30 ff; Wenning 2007). Sie werden nachfolgend für die Definition herangezogen. Die Kriterien werden hier zwar analytisch voneinander getrennt, sind jedoch aufeinander bezogen und erlangen im Zusammenspiel einen definitorischen Charakter.

relativ

„Heterogenität“ kommt aus dem Griechischen, bedeutet übersetzt „Ungleichartigkeit“ und bezeichnet somit Unterschiede oder Differenzen. Diese können dann erkannt und beschrieben werden, wenn mindestens zwei Aspekte oder Eigenschaften miteinander in Beziehung gesetzt, also verglichen werden. Dies erfolgt mithilfe eines Maßstabs, der an die zu vergleichenden Aspekte angelegt wird und so ihre Relation zueinander beschreibbar macht. Das Ergebnis dieses Vergleiches lautet dann gleich oder ungleich respektive homogen oder heterogen.

Eine Differenz beschreibt also die Relation von mindestens zwei zueinander in Beziehung gesetzten Eigenschaften oder von anderen verglichenen Aspekten. Das Resultat des Vergleiches ist eine Relation (Lang et al. 2010, 315).

der Vergleichsmaßstab

Ein Aspekt wie die schulisch erbrachte Leistung kann folglich nicht per se heterogen sein. Erst der Vergleich konkretisiert, auf welchen Aspekt schulischer Leistung genau Bezug genommen wird und worin die Verschiedenartigkeit besteht. In der Schule wird die Relation häufig zwischen den Leistungen eines Schülers zu unterschiedlichen Zeitpunkten bestimmt, gegenüber der Klasse oder Lerngruppe (soziale Bezugsnorm), oder gegenüber einer formalen, objektiven Bezugsnorm (Schuck 2004, 353 f). Letzteres wird in Bildungsstandards und / oder Klassenzielen festgeschrieben. Je nachdem, wie verglichen wird, kann die Relation anders ausfallen.

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Der Grundschüler Paul verfügt zu Beginn des dritten Schuljahres über keinerlei Englischkenntnisse. In der dritten Klasse beginnt der Englischunterricht. Zu den Herbstferien, also etwa zwei Monate später, kann Paul einige Obstsorten und die Farben auf Englisch bezeichnen. Ein Vergleich seiner Englischkenntnisse zu den zwei Zeitpunkten zeigt, dass diese different sind.

Seine Lehrerin, Frau Ackermann, vergleicht Pauls englischsprachliche Leistungen im Herbst mit denen seiner Mitschüler / -innen – sie nimmt seine Lerngruppe als Vergleichsgruppe (soziale Bezugsnorm). Dabei erkennt sie, dass einige Schüler / -innen zwar die Obstsorten, nicht aber die Farben im Englischen benennen können; zudem stellt Frau Ackermann fest, dass es Kinder gibt, die auch die englische Bezeichnung einiger Tiere kennen. Hier werden, bezogen auf die einzelnen Schüler / -innen einer Schulklasse, heterogene Lernstände im Vergleich ersichtlich.

Ein Vergleich der Englischkenntnisse Pauls mit denen des Bildungs- und Rahmenplans für den Englischunterricht in der Grundschule kann zeigen, dass er die erwarteten Leistungen erfüllt (objektive Bezugsnorm). Seine Kompetenzen und die schuladministrativ gesetzten Erwartungen sind identisch oder homolog zueinander.

Wechselspiel von Gleichheit und Verschiedenheit

Vergleiche setzen ihrerseits Gleichheit voraus. Heterogenität und Differenzen sind nur zu bestimmen und zu erkennen, wenn Homogenität, also Gleichheit, auf einer übergeordneten Ebene vorhanden ist.

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So kann die Feststellung, dass zwei Personen unterschiedliche Sprachen sprechen – Deutsch und Italienisch – nur dann erfolgen, wenn davon ausgegangen wird, dass beide sich linguistischer Symbolsysteme bedienen, um mit anderen Menschen in Interaktion zu treten. Diese Gemeinsamkeit gesprochener Sprachen ist die Basis des Vergleiches, mit dem festgestellt werden kann, dass es sich um unterschiedliche, also differente Sprachen handelt.

Eine Gleichheit, auf die Bezug genommen wird, ist bei der Feststellung von Heterogenität und Homogenität auf übergeordneter Ebene notwendig. Folglich kann nur Gleiches mit Gleichem verglichen werden. Eigenschaften oder Dinge, die auf abstrakterer Ebene gleich sind, können zueinander in Relation gesetzt werden, die dann als gleich / ungleich beschrieben wird. Homogenität und Heterogenität sind folglich dialektisch aufeinander bezogen und miteinander verbunden, da sich das eine nicht ohne das andere beschreiben lässt. Ein solcher vergleichsinterner und zu bestimmender Maßstab wird auch „tertium comparationis“ genannt (Prengel 2009, 141).

Im schulischen Kontext besteht Homogenität, also die Vergleichsgrundlage, zunächst darin, dass alle Kinder und Jugendlichen als Schüler / -innen gesehen werden (Wenning 2008, 6). Als solche werden sie miteinander verglichen, zueinander und / oder zu anderen Maßstäben in Relation gesetzt. Diese Form der Homogenisierung hat eine positive und eine negative Seite, die miteinander verbunden sind – wie die zwei Seiten einer Medaille: Positiv ist, dass damit für alle Schüler / -innen das Recht auf vergleichbare Teilhabe an Schule und Unterricht ermöglicht wird – im Vergleich zu einem nach sozialen Ständen differenzierten Schulwesen; negativ ist, dass die Unterschiede, anhand derer sie sich unterscheiden, ausgeblendet werden (müssen). Homogenität und Heterogenität beziehen sich in Schule und Unterricht häufig nicht auf eine absolute Gleichheit, wie im vorherigen Sprachbeispiel. Vielmehr wird Homogenität als Streuung um eine Norm verstanden, die als gleich angesehen wird (Gomolla 2009, 22). Das, was jeweils als homogen verstanden wird, unterscheidet sich je nach dem kulturellen, historischen und sozialen Kontext, in dem eine Aussage formuliert wird.

soziale und kulturelle Rahmungen

Vergleiche, deren Ergebnis Gleichheit oder Unterschiedlichkeit darstellt, finden immer in sozialen und historischen Kontexten statt. Als solche sind sie nicht neutral, sondern eingebunden in die Bedeutungen und Werte des jeweiligen Kontextes. Die Vergleiche werden aus einer Perspektive heraus vorgenommen, die durch spezifische kulturelle und soziale Bedeutungen gekennzeichnet ist, in denen die Ergebnisse mit positiverer oder negativerer Bedeutung (Wenning 2008, 6) bzw. mit Rangordnungen und Hierarchien (Prengel 2006, 34) verbunden sind. So ist in der Organisation Schule die Unterscheidung relevant, ob und wie viele Aufgaben ein Schüler / eine Schülerin in einer Klassenarbeit richtig und falsch bearbeitet hat. Dieser Vergleich wird in eine Punktzahl überführt, die anschließend in eine Zensur übersetzt wird. Irgendwo wird eine Grenze als Maßstab und Bedeutung festgelegt, die besagt, ob die Klassenarbeit bestanden wurde oder nicht. Dies ist eine Unterscheidung, die eher im sozialen Rahmen der Schule eine Bedeutung hat und insofern hierarchisch aufgeladen ist, als sie mit einer Besser- / Schlechterstellung im Schulsystem einhergeht.

Das Ergebnis eines Vergleiches ist verbunden mit Konsequenzen, die im jeweiligen Kontext daraus gezogen werden. Diese Bedeutung ist spezifisch für die Schule; andere Unterschiedlichkeiten, wie die Schuhgrößen einer Schulklasse, sind im Rahmen der Bildungsorganisation nicht relevant. Dass Merkmale, Eigenschaften oder andere Aspekte miteinander verglichen werden, steht in einer Wechselbeziehung zu den Bedeutungen und Werten innerhalb des sozialen Zusammenhangs und der spezifischen Interessen, die in dem kulturellen und sozialen Rahmen bestehen (z. B. der Klärung, ob jemand aufgrund seiner Leistung Teil einer spezifischen Lerngruppe bleiben kann oder nicht); aus den jeweiligen Zusammenhängen gehen sie hervor und bleiben zugleich mit ihnen verbunden. Sowohl die Maßstäbe, die herangezogen werden, um Differenzen zu erkennen und zu beschreiben, als auch die Wertung der Ergebnisse unterscheiden sich in kultureller, sozialer und auch in historischer Hinsicht, und sie sind nicht statisch, sondern wandelbar.

sozial konstruiert

Aus kontinuierlich vorgenommenen und in einem sozialen Zusammenhang relevanten Vergleichen heraus können sich feste Begriffe oder Kategorien entwickeln, die zur Beschreibung herangezogen werden. Diese Verdichtungen werden auf sprachlicher Ebene durch Begriffe und Wörter repräsentiert. Auf nonverbaler Ebene stellen Symbole kultureller Repräsentationen solche Verdichtungen dar (Nohl 2010, 146 f).

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So stellt die Beschreibung Geschlecht, die in der Regel zwischen männlich und weiblich unterscheidet, eine begriffliche Verdichtung für Unterschiede bzw. kontinuierlich vorgenommene Vergleiche dar. In unserer derzeitigen Gesellschaft sind mit dieser Unterscheidung diverse kulturelle Repräsentationen verbunden, wie beispielsweise Kleidung und Frisuren.

In gesellschaftlichen und somit auch in schulischen Zusammenhängen haben Differenzen zugleich eine distinktive Funktion (sie dienen der Abgrenzung gegenüber anderem und anderen) und eine konjunktive, auf Gemeinsamkeiten bezogene Bedeutung (siehe Kapitel 2.2).

Heterogenität und Homogenität sind Konstruktionen, die perspektivisch gebunden hergestellt und wahrgenommen werden, da sie immer von einem Standpunkt aus, d. h. vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen vorgenommen werden (Seitz 2008, 228). Als solche wirken sie zugleich distinktiv, also abgrenzend, da Differenzen und Unterschiede durch sie sichtbar werden, und konjunktiv, also Gemeinsamkeit stiftend, die durch sie erkennbar wird. Abgrenzungen gegenüber anderem und Zugehörigkeit zu Eigenem bzw. zu Gleichem sind zwei Seiten von Differenzkonstruktionen.

Differenzen werden aus einer konkreten sozialen Position heraus gesehen, in der die zu erkennende Unterscheidung bedeutsam ist. In dieser Bedeutungszuschreibung wird zugleich die Differenz, da sie als relevant genutzt wird, reaktualisiert und damit auch reproduziert. Dies kommt in den Praktiken, die auf die Unterscheidung folgen und auf sie aufbauen, auch zum Ausdruck.

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Dies erfolgt z. B. in der Art und Weise, wie auf jemanden zugegangen wird: So werden Kinder von Erwachsenen anders adressiert als dies Erwachsene untereinander tun. Die Differenz, die zwischen den Generationen besteht, wird also in einem Gespräch zwischen den Generationen produziert und reproduziert.

Die sozialen Prozesse der Produktion und Reproduktion von Differenzen sind nicht abgeschlossen, sondern fester Bestandteil jeder menschlichen Interaktion (West / Fenstermaker 1995, 9).

Heterogenität ist partial

Heterogenität, die als sozial konstruiert verstanden wird, ist immer auf einzelne Aspekte bezogen, auf konkrete Differenzen. Im schulisch-unterrichtlichen Kontext wird der Terminus „heterogen“ häufig auf eine Lerngruppe bezogen; gemeint sind jedoch einzelne Aspekte, anhand derer eine konkrete Gruppe als different beschrieben wird (Klafki / Stöcker 1976, 497). Identifizierte Heterogenität oder auch Homogenität besteht für einen konkreten Zeitpunkt, da die Unterschiede zwischen den Vergleichsobjekten jederzeit veränderbar sind. So führt Lernen dazu, dass die Diskrepanz zwischen etwas nicht Gekonntem zugunsten von Können überwunden werden kann. Die Feststellung, ob etwas heterogen und homogen ist, ist die zeitlich begrenzte Beschreibung eines Zustandes, dessen Ergebnis sich durch Entwicklung verändern kann (Wenning 2007, 23). Differenzen in schulischen Leistungen stellen folglich keine stabilen Merkmale dar. Sie sind veränderbar, wie das Beispiel über die Englischkompetenzen des Schülers Paul oben zeigt. So kann sich durch Lernen die Relation zwischen Verglichenem verändern.

2.2 Heterogenität von Milieus

Im Anschluss an diese allgemeine und begriffliche Definition von Heterogenität soll sie, anknüpfend an die Ausführungen der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ von Arnd-Michael Nohl (2010) konkretisiert und durch Ausführungen zum sozialen Raum der Gesellschaft von Bourdieu (1987, 2009) erweitert werden. Arnd-Michael Nohl hat seine Ausführungen an die Überlegungen zur praxeologischen Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1980) und Ralf Bohnsack (2010) aufgebaut.

Heterogenität und Homogenität werden in dieser theoretischen Position mithilfe des Milieubegriffs erklärt. Zunächst soll jedoch der Grundbegriff der Perspektivität von Milieus (siehe Kapitel 2.2.1) besprochen werden. Dann werden Bourdieus (1992) Überlegungen zum relationalen Zusammenhang von Milieu und sozialem Feld im sozialen Raum der Gesellschaft beschrieben (siehe Kapitel 2.2.2) und anschließend die besondere Situation von Milieus in Organisationen vorgestellt.

2.2.1 Zugehörigkeit zu Milieus

zwei Wissensformen

Um Differenzen aus der Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie heraus zu betrachten, ist es notwendig, zwischen zwei unterschiedlichen Wissensformen zu unterscheiden: der kommunikativ-generalisierten und der konjunktiven bzw. handlungspraktischen. Kommunikativ-generalisiertes Wissen steht v. a. sprachlich auf wörtlich-begrifflicher Ebene zur Verfügung und ist milieuübergreifend zugänglich (Nohl 2010, 149 f). Seine Verwendung setzt eine Distanz gegenüber den umschriebenen Gegenständen und Sachverhalten sowie Abstraktheit voraus. So wissen andere, wenn wir den Begriff „Buch“ verwenden, dass wir uns auf ein Bündel gebundener Blätter beziehen, die mit Schrift und / oder Bildern bedruckt sind.

Das handlungspraktische Wissen beschreibt hingegen Erfahrungswissen, das einzelne durch die Beziehung zu anderen Personen und / oder zu Gegenständen gemacht haben; so beispielsweise die Kindheitserfahrung, aus Büchern vorgelesen zu bekommen. In der je konkreten Situation wird die Erfahrung der Beziehung, gemeinsam eine Geschichte zu verfolgen, einer „Kontagion“ (Mannheim 1980, 208), gemacht – einer existenziellen Bezogenheit auf den Gegenstand „Buch“, der diese bereithält. Derartige Erfahrungen, die Mannheim als „konjunktive“ Erfahrungen (Mannheim 1980, 215) bezeichnet (einander existenziell verbindende Erfahrungen), stehen nicht notwendigerweise begrifflich reflexiv zur Verfügung. Sie machen jedoch einen wesentlichen Teil menschlichen Wissens aus und sind zugleich orientierende Grundlage für Praktiken und Handlungen, in die sie einfließen.

Definition:

Das handlungspraktische Erfahrungswissen ist jenes, das in der Auseinandersetzung mit der sozialen und materialen Welt gesammelt wird. Aus dieser Erfahrung ergibt sich ein praktisches Verhältnis der Menschen zur Welt, das vorbegrifflich zur Verfügung steht. Dieses Praxiswissen steht nicht unmittelbar reflexiv zur Verfügung (Mannheim 1980, 205 ff). Das in eigener Handlungspraxis erworbene Erfahrungswissen wird in Handlungssituationen reaktualisiert.

Folglich fungiert es als „Praxissinn“ (Bourdieu 1998, 41, Herv. im Original), also aus selbst erfahrener Handlungspraxis heraus wird die Praxis generiert.

Praxis

Dass Menschen über unterschiedliche Erfahrungen verfügen, zeigt sich in ihren je verschiedenen alltäglichen Praktiken. Die Gestaltung des Alltags umfasst jegliche Bereiche menschlichen Lebens, u. a. sich ernähren, sich kleiden, einer Arbeit nachgehen, die Freizeit gestalten. Für und in den unterschiedlichen Bereichen haben Menschen Praktiken entwickelt, die sie zwar nicht notwendigerweise explizit beschreiben können, die jedoch handlungsleitend sind. Diese Orientierung erfolgt auf der Erfahrungsgrundlage entlang des inkorporierten Wissens, das den Praktiken zugrunde liegt und in konkreten Erlebniszusammenhängen generiert wurde (Bohnsack 2010, 43). Innerhalb pluraler Gesellschaften finden sich unterschiedliche Formen der Lebenspraxis, die als „Milieus“ (Nohl 2010, 148) bezeichnet werden.

Definition:

Milieus stellen Kulturen der praktischen Lebensführung und der Alltagsgestaltung dar, die auf der Grundlage kollektiver Erfahrungen basieren (Nohl 2010, 145).

Verstehen

Milieus stellen gelebte Praxis innerhalb kollektiver Zugehörigkeiten dar, welche die Angehörigen durch Einbindung in vergleichbare, homologe, soziale Lebenszusammenhänge erwerben. Diese strukturidentischen Erfahrungen fungieren als eine Art Brille, durch die der Alltag betrachtet und Partizipation daran eröffnet wird. Die milieubezogenen Erfahrungen, die „kollektiven Erlebnisschichtungen“ (Bohnsack 2010, 63), müssen nicht in konkreten, gemeinsamen Erlebnissen gemacht werden, sondern lediglich gleichartig sein. Die Erfahrungen verbinden die Angehörigen eines Milieus miteinander, sie stellen die „Konjunktion“, eine Verbindung, zwischen ihnen her und dar. Das geteilte Erfahrungs- und Orientierungswissen wird auch als „konjunktives“, also verbindendes Erfahrungswissen bezeichnet. Es ermöglicht den Angehörigen eines Milieus, sich untereinander unmittelbar zu verstehen (Mannheim 1980, 217 ff).

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Erfahrungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher generationeller Milieus, beispielsweise in Bezug auf die Nutzung von und den selbstverständlichen Zugang zu digitalen Medien, können sich unterscheiden. Die generationelle Differenz kann sprachlich zum Ausdruck kommen, in der Nutzung von Fachtermini und/oder handlungspraktisch, wie die Medien im Alltag genutzt und herangezogen werden.

Die Erfahrungen erlauben es den Angehörigen eines Milieus, in vergleichbarer Weise materiale und soziale Gegenstände bzw. Zusammenhänge zu betrachten und so auf sie in ihrem Alltag Bezug zu nehmen, da sie in gemeinsamen oder vergleichbaren Erlebnissen gewonnen wurden. Die Zusammenhänge müssen nicht weiter expliziert werden, sie werden verstanden, da sie in ihrer Existenz verstanden werden, die innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums besteht. Die Zugehörigkeit zu Milieus kann zwar reflexiv zugänglich sein, ist es jedoch im Alltag üblicherweise nicht (Bohnsack 2010, 63).

In diese Praxen werden Menschen hineingeboren und einsozialisiert. Milieus sind entsprechend der Individualität der / des Einzelnen vorgeordnet, da sich Individualität nur innerhalb von Milieus entfalten kann. Das konjunktive Wissen, über das ein Milieu zur Bearbeitung des Lebensalltags verfügt, wird v. a. in mimetischer Hinsicht sowie durch Beobachten und Aushandeln erlernt und zur Bearbeitung der eigenen Lebenspraxis herangezogen. Dabei determiniert ein Milieu die Handlungen und Praxen einzelner Personen nicht derart, dass konkrete Handlungen vorgegeben sind. Vielmehr eröffnen Milieus Optionen und Variationen. Die individuellen Spielräume ergeben sich auch durch und für die Zugehörigkeit von Menschen zu mehreren Milieus, die sich in je spezifischer Art überlagern (Nohl 2010, 149). Nohl (2013, 55) nennt die „gesellschaftlich etablierten Dimensionen von Heterogenität“ (Nohl 2013, 55), zu denen beispielsweise Geschlecht und die sozial-ökonomische Situation zählen. Dass entsprechende Milieuerfahrungen mit unterschiedlichen Handlungspraktiken einhergehen, konnte empirisch-rekonstruktiv nachgewiesen werden (z. B. Bohnsack et al. 1995; Schittenhelm 2005). Von diesen zu unterscheiden sind Milieus, die noch im Entstehen sind und/oder die noch nicht rekonstruiert wurden (Nohl 2013, 60).

Mehrdimensionalität von Milieus

Die Mehrdimensionalität von Milieus ergibt sich aus der Überlappung unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen, wie beispielsweise der geschlechtlichen Erfahrungsdimension mit der des sozio-kulturellen Milieus.

Folglich ist nicht von einem eindimensionalen – und totalen – Verständnis von Milieu auszugehen, vielmehr überlagern sich Milieudimensionen. Die unterschiedlichen Erfahrungen, aus denen sich das handlungsleitende Wissen einzelner speist, können in Konflikt oder Widerspruch miteinander stehen. In diesen Konflikten liegt das Potenzial für bildende Entwicklung und Neugestaltung von Milieus. Die Überlappung der Milieus in einer konkreten Person führen ebenso zur Individualität respektive zu einem individuellen oder persönlichen Habitus wie die unterschiedlichen Lösungs- und Bearbeitungsformen des Alltags, die Milieus aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität inhärent sind (Nohl 2010, 166).

Images

Milieus sind weder einheitlich noch statisch, sondern vielfältig, dynamisch und damit wandelbar. Unterschiedliche Erfahrungen überlagern sich, sodass verschiedene Erfahrungsdimensionen zusammenkommen. Einen Menschen auf die Zugehörigkeit zu nur einem Milieu zu reduzieren, wäre eine Verkürzung seiner Realität (Nohl 2010, 174). Derartige Reduktionen auf eine Milieuzugehörigkeit werden häufig praktiziert. Auch Forschung und Wissenschaft sind hiervon nicht frei.

Die Mehrdimensionalität von Milieus eröffnet eine Perspektive der Betrachtung von Differenzen, die über eindimensionale Zuschreibungen hinausgeht. Dennoch finden in der Gesellschaft häufig eindimensionale Betrachtungen und Zuschreibungen statt, bis hin zu einer kategorialen Verfestigung, wie sie z. B. in „die Männer“ zum Ausdruck kommt. Dass dieser einseitige Blick auf Heterogenitätsdimensionen häufig eingenommen wird, lässt sich mithilfe der „Übersetzung“ konjunktiven Erfahrungswissens in kommunikativ generalisiertes Wissen erklären (Nohl 2010, 168 f), die häufig dann und dort erfolgt, wenn die Angehörigen unterschiedlicher Milieus sich einander erklären.

Konjunktion und Distinktion

Es bestehen Differenzen zwischen unterschiedlichen und innerhalb erfahrungsbezogener Milieus. Sie fußen auf den verschiedenartigen Erfahrungen, die Menschen machen, und bieten Zugehörigkeit zu einer Lebenspraxis, also zu Konjunktionen, die es erlauben, den komplexen Alltag zu bewältigen. In den Konjunktionen sind zugleich Distinktionen enthalten, da Zugehörigkeit zu einem Milieu immer auf Abgrenzung gegenüber anderen Milieus verweist (Nohl 2010, 147).

überkonjunktiver Zusammenhang

Der wissenssoziologischen Perspektive folgend, besteht neben dem Praxiswissen, den konjunktiven Erfahrungen und ihren Gehalten, die nur innerhalb des Milieus verständlich sind, also in der existenziellen Gemeinschaft, in der sie generiert wurden (Nohl 2010, 149), wörtlich-begriffliches und nonverbales, symbolisches Wissen über die soziale wie materiale Welt und somit auch über die Milieus selbst. Anders als konjunktives Erfahrungswissen, das auf unmittelbarem Verstehen (Bohnsack 2010, 55 ff) basiert, ist das kommunikativ-generalisierte auf Interpretationen angewiesen. Dort, wo über die Grenzen von Milieus und geteilten konjunktiven Erfahrungen hinweg kommuniziert wird, wird kommunikatives Verstehen notwendig. Die Verständigung ist darauf angewiesen, dass milieugebundene Selbstverständlichkeiten überkonjunktiv expliziert werden. Um die Bedeutung von etwas zu erklären, ist es erforderlich, konkrete Erfahrungen in abstrakte Sprachlichkeit zu übersetzen. Hierfür bedarf es der Kommunikation auf explizit-begrifflicher Ebene, die auf Abstraktionen von der milieugebundenen Perspektive angewiesen ist (Nohl 2010, 150).

kulturelle Repräsentationen

Neben verbalen Formen liegt dieses auf der Ebene kultureller Repräsentationen vor (Nohl 2010, 145 ff). Sie korrespondieren mit kommunikativ-generalisierten Bedeutungen, sind in sprachlicher und in symbolischer sowie nonverbaler Hinsicht vorhanden. Wörter und Begriffe der sprachlichen Ebene finden als explizite Äußerungen ihr Äquivalent auf nonverbaler symbolischer Ebene in materialer und sozialer Hinsicht. Sie bestehen aus Selbst- und Fremdzuschreibungen der Zugehörigkeit zu kulturellen Gruppen. Die Kleidung stellt eine solche kulturelle Repräsentation dar, die uns Hinweise z. B. auf das Geschlecht einer Person gibt.

Zuschreibungsprozesse finden überwiegend auf der Grundlage kultureller Repräsentationen statt, die aufgrund der Eindeutigkeit, mit der sie von allen erkannt werden können und sollen zugleich von der Vielfalt abstrahieren, die in Milieus anzutreffen ist (Nohl 2010, 147 f). Dabei wird die Vielfalt der milieuspezifischen Repräsentation häufig verdichtet und es werden eindimensionale Reduktionen vorgenommen, die sich in stereotypisierenden Zuschreibungen zuspitzen können. Durch die Reaktualisierung der eigenen kollektiven Zugehörigkeit, durch Abgrenzungen und Distinktionen in der Beschreibung verstärkten sich diese (Nohl 2010, 168 f).

Sozialisation

Zugehörigkeit zu Milieus: Milieus bestehen durch die und in den Lebenspraxen ihrer Angehörigen. Die Aktualisierung und Weitergabe milieuspezifischen Wissens an die nächste Generation, mittels Sozialisation, erfolgt durch die Reaktualisierung in Alltagspraktiken. Sozialisation verläuft dabei nicht linear; Milieus sind weder statisch noch eindimensional, sondern dynamisch und mehrdimensional, da mehrere Differenzdimensionen in ihnen aufgehen (Nohl 2010, 177). Folglich sind keine homogenen Milieus denkbar, in die Kinder und Jugendliche einsozialisiert werden. Die frühe familiäre und außerfamiliäre Sozialisation beschreibt jenen Prozess, in dem implizites Wissen eines Milieus an die jüngere Generation weitergegeben wird; ohne dass Sozialisation je als abgeschlossener Prozess verstanden werden kann, da eine kontinuierliche, erfahrungsbezogene Differenzierung im Laufe des Lebens stattfindet. Im Vergleich zu Erziehung ist Sozialisation, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen wie Familie, Kita und Schule vollzogen wird, nicht bzw. nur selten intentional (Marotzki et al. 2006, 138 ff).

schwach heterogene Milieus

Mehrdimensionalität findet sich auch in sogenannten „schwach heterogenen Milieus“ ebenso wie in „stark heterogenen“. Zu schwach heterogenen Milieus gehören in der aktuellen Gesellschaft jene, die lediglich in Bezug auf die Generation und – je nachdem – das Geschlecht verschiedenartig sind (Nohl 2010, 180). Für die Bewältigung einer generationsbezogenen Weitergabe handlungspraktischen Wissens, wie in der Adoleszenz, stellen die schwach heterogenen Milieus Vorbilder und Modelle bereit, an denen sich die Kinder bzw. Jugendlichen orientieren können. Milieus, die auf diese Weise tradiert werden, zeichnen sich durch biografische Dauerhaftigkeit und Kontinuität aus, auf die sich ihre Mitglieder beziehen können (Nohl 2010, 158; 179).

stark heterogene Milieus

Liegen keine derartigen Orientierungsmodelle und Vorbilder handlungspraktischen Wissens vor bzw. sind diese nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen zu vereinbaren, vor die die nachwachsende Generation gestellt ist, spricht man von „stark heterogenen Milieus“. Diese verweisen darauf, dass zwischen Erwachsenen und Kindern mehr als geschlechts- und ggf. generationsspezifische Unterschiede bestehen. Dies kann beispielsweise durch die Erfahrung von Migration oder durch gesamtgesellschaftliche Umbrüche, wie dem „Fall der Berliner Mauer“ bedingt sein. Solche Ereignisse, die biografische Brüche oder Diskontinuitäten für die Betroffenen darstellen, können (so sie von mehreren Personen erfahren werden) die Entwicklung neuer Milieus eröffnen. Deren Genese findet dort statt, wo die ältere Generation praktisch anwendbare Vorbilder der Lebensbewältigung nicht an ihre Kinder weitergeben kann und die nachwachsende Generation individuelle Handlungsweisen hervorbringt (Nohl 2010, 180 ff).

Nohl 2010, 158Nohl 2010, 180 ff