image1
Logo

 

 

Störungsspezifische Psychotherapie

Begründet von

Anil Batra

Gerhard Bruchkremer

Herausgegeben von

Anil Batra

Fritz Hohagen

Stefan Gutwinski, Thorsten Kienast, Johannes Lindenmeyer, Martin Löb, Sabine Löber, Andreas Heinz

Alkoholabhängigkeit

Ein Leitfaden zur Gruppentherapie

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

 

2., überarbeitete Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030090-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030091-0

epub:    ISBN 978-3-17-030092-7

mobi:    ISBN 978-3-17-030093-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Einleitung

 

 

 

 

Chronische Verläufe einer Alkoholabhängigkeit sind häufig mit schwerwiegenden Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen verbunden: Der zunächst verborgene und später auffällige Verlust von Antrieb und Motivation für die erfolgreiche Bewältigung alltäglicher Anforderungen, der fortschreitende Verfall von kreativen Fertigkeiten, Fähigkeit zur Strukturierung und zur emotionalen Ausgeglichenheit können in Form einer Spirale der Ausgrenzung wesentlich dazu beitragen, dass die Betroffenen immer mehr aus den sozialen Strukturen unserer Gesellschaft herausfallen. Heute ist bekannt, dass die manifeste Abhängigkeit von Alkohol und anderen Substanzen keine angeborene Willensschwäche der Betroffenen widerspiegelt, sondern in erster Linie eine Folge von psychologischen Lernprozessen und verschiedenen neurobiologischen Veränderungen im Gehirn ist. Die Auswirkungen dieses neuropsychologischen Suchtgeschehens auf die Verhaltensebene der Betroffenen und deren Konsequenzen für die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen werden in diesem Buch besprochen.

Das Buch richtet sich in erster Linie an die Mitarbeiter aller Berufsgruppen aus den Einrichtungen für die ambulante oder stationäre medizinische Versorgung abhängigkeitserkrankter Menschen. Es bietet einen eigenständigen Leitfaden für den qualifizierten Entzug von Alkohol in Akutkliniken, mit dessen Hilfe das motivational günstige Zeitfenster während einer körperlichen Entzugsbehandlung durch ein einfach durchzuführendes psychotherapeutisches Angebot systematisch genutzt werden kann. Hiermit kann bei den Betroffenen ein Veränderungsprozess begonnen und vertieft werden, der sie aus ihrem süchtigen Verhalten führt.

Das Manual ist aber ebenfalls in der Alkoholentwöhnungsbehandlung in ambulanten, teilstationären oder stationären Rehabilitationseinrichtungen einsetzbar. In diesem Falle können einzelne Gruppeninterventionen des Manuals hilfreiche Therapiebausteine für die alkoholbezogene Bezugsgruppentherapie innerhalb des Gesamttherapieangebots darstellen.

Schließlich können einzelne Teile des Manuals, insbesondere die Integration des Aspektes der Neurobiologie in die Psychotherapie aber auch in anderen Behandlungsphasen, z. B. bei der ambulanten Behandlung durch niedergelassene Psychotherapeuten hilfreich sein.

Das Buch besteht aus zwei Teilen und berücksichtigt dabei die aktuellen Behandlungsleitlinien (AWMF, 2015): Der erste Teil »Theoretische Grundlagen« besitzt den Charakter eines Lehrbuchs. Ein besonderer Abschnitt ist hier die Diskussion der »Neurobiologie abhängigen Verhaltens«. Er vermittelt den aktuellen Forschungsstand der neurobiologischen Suchtforschung und ermöglicht psychotherapeutische Interventionen nachvollziehbar an die biologischen Gegebenheiten der Sucht anzupassen. Andere Abschnitte beinhalten entscheidende epidemiologische, medizinische und psychologisch-psychotherapeutische Grundlagen für die Behandlung dieser Klientel. Aber der erste Teil geht noch darüber hinaus: Die Lektüre bietet dem Leser die Möglichkeit, eine transparente und strukturierte Herangehensweise zu erlernen, die auch in schwierigen therapeutischen Konstellationen einfach aufrechtzuerhalten ist. Damit werden viele therapeutische Entscheidungen erleichtert. Die in diesem Teil des Buches ausgearbeitete Verflechtung zwischen neurobiologischen Befunden, motivationspsychologischen Modellen, der Erstellung von Therapiezielen und dem Algorithmus für den zeitlichen Ablauf einer Therapie rundet das Bild der Behandlung für diese Patienten in Einzel- und Gruppentherapie ab.

Der zweite Teil beinhaltet ein in sich abgeschlossenes modular aufgebautes Therapiemanual, bestehend aus 12 Therapiestunden. Es kann sowohl in ein ambulantes als auch in ein stationäres Setting integriert werden. Das Therapieprogramm ist so entworfen, dass neue Patienten zu jeder Sitzung in die Gruppe eintreten können. Die Form des Manuals ist mithilfe einer Schriftkodierung so gekennzeichnet, dass sich erfahrene Therapeuten zeitsparend einen Überblick über die aktuelle Stunde verschaffen können. Sichtlich davon abgegrenzt sind die näheren Ausführungen, die bei weitergehendem Interesse vertiefend gelesen werden können. Diese Ausführungen enthalten exemplarische Dialoge, Tipps und weitere Beispiele, die bei der Anwendung dieses Manuals hilfreich sind. Wesentliche Inhalte der einzelnen Therapiestunden sind dem Buch »Lieber schlau als blau« von J. Lindenmeyer (2016) entnommen und hier in eine direkte Anwendungsform umgearbeitet worden. Insofern erleichtert die Lektüre von »Lieber schlau als blau« durch Therapeuten und Gruppenteilnehmer die Durchführung des Programms erheblich. Einzelne Kapitel liegen auch als visuell animierter Vortrag auf der Website www.lieberschlaualsblau.de vor.

Inhalt

 

 

 

 

  1. Einleitung
  2. Arbeitsmaterial
  3. A Theoretische Grundlagen
  4. 1 Epidemiologische, medizinische und biologische Grundlagen fördern das Krankheitsverständnis
  5. 1.1 Epidemiologie der Alkoholabhängigkeit
  6. 1.2 Diagnostik und Begriffsklärungen
  7. 1.3 Ursachen für die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit
  8. 1.4 Neurobiologische Grundlagen der Alkoholabhängigkeit und deren Konsequenzen für die psychotherapeutische Behandlung
  9. 1.4.1 Der Kern süchtigen Verhaltens: Die Sensitivierung
  10. 1.4.2 Toleranzentwicklung und Entzug
  11. 1.4.3 Alkoholbedingte Schäden des Gehirns
  12. 1.4.4 Neurobiologie des Lernens und das Suchtgedächtnis
  13. 1.5 Weitere medizinische Folgen bei Alkoholabhängigkeit
  14. 1.5.1 Direkte durch Alkoholkonsum oder Entzug hervorgerufene Störungsbilder
  15. 1.5.2 Ausgewählte neurologische Folgeerkrankungen
  16. 1.5.3 Ausgewählte internistische Folgeerkrankungen
  17. 1.6 Medikamentöse Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit
  18. 2 Psychotherapeutische Grundlagen für die Anwendung des Manuals
  19. 2.1 Die therapeutische Haltung und weitere Grundvoraussetzungen
  20. 2.2 Anamnese bei Alkoholproblematik
  21. 2.3 Ausgewählte diagnostische Erhebungsinstrumente und -methoden
  22. 2.3.1 Screening
  23. 2.3.2 Entwicklung einer therapeutischen Strategie
  24. 2.3.3 Erfassen der Behandlungseffektivität
  25. 2.4 Erstellung eines Fallkonzeptes
  26. 2.5 Alkoholabhängigkeit und Komorbidität
  27. 3 Therapiemotivation und Motivationsstadien: Modelle und stadienspezifische Interventionen
  28. 3.1 Stadien der Veränderungsmotivation in Anlehnung an Prochaska und Di Clemente
  29. 3.2 Effiziente Psychotherapie durch motivationsstadienbezogene Interventionen
  30. 3.2.1 Phase der Präkontemplation
  31. 3.2.2 Phase der Kontemplation
  32. 3.2.3 Vorbereitungsphase
  33. 3.2.4 Handlungsphase
  34. 3.2.5 Phase der Aufrechterhaltung
  35. 3.2.6 Rückfall und Umgang mit Rückfällen während der Therapie
  36. 3.3 Das Konzept des Motivational Interviewing nach Miller und Rollnick
  37. 3.3.1 Grundlegende Haltung des Therapeuten beim Motivational Interviewing
  38. 3.3.2 Die vier Phasen des Motivational Interviewing
  39. 4 Hierarchisierung der Therapieziele
  40. 4.1 Vereinbaren therapeutischer Ziele und Evaluation der Therapiefortschritte
  41. 4.2 Hierarchisierung der Therapieziele nach therapeutischer Dringlichkeit
  42. B Therapiemanual
  43. Anwendung des Manuals in geschlossenen und offenen Therapiegruppen: Einführung
  44. Modul 1: Alkohol und Abhängigkeit
  45. 1. Gruppensitzung: »Der Untergang der Titanic« – Allgemeines zum Alkohol
  46. 2. Gruppensitzung: »Das Eisenbahnmodell« – Diagnostik und Modell
  47. 3. Gruppensitzung: »Der Irrtum des Suchtgedächtnisses« – individuelles Fallkonzept
  48. 4. Gruppensitzung: »Die Rationalisierungs- und Vermeidungsfalle«
  49. Modul 2: Alkoholabhängigkeit und Therapie
  50. 5. Gruppensitzung: »Kurzfristige Folgen durch Alkoholkonsum«
  51. 6. Gruppensitzung: »Längerfristige Folgen durch Alkoholkonsum«
  52. 7. Gruppensitzung: »Die Entscheidung: Weitertrinken oder Abstinenz?«
  53. 8. Gruppensitzung: »Behandlungsmöglichkeiten bei Alkoholabhängigkeit«
  54. Modul 3: Sozialer Rückfall und Zukunft
  55. 9. Gruppensitzung: »Ablauf eines Rückfalls«
  56. 10. Gruppensitzung: »Vor oder nach einem Rückfall – Was ist zu tun?«
  57. 11. Gruppensitzung: »Notfallplan«
  58. 12. Gruppensitzung: » Ablehnen von Alkohol –Rollenspiele«
  59. Evaluation
  60. Anhang: Aufgabenblätter
  61. Literatur
  62. Stichwortverzeichnis

Arbeitsmaterial

 

 

 

 

Die folgenden Arbeitsmaterialien können Sie mit nachfolgendem Passwort unter diesem Link kostenfrei herunterladen1: http://downloads.kohlhammer.de/?isbn=978-3-17-030090-3 (Passwort: o7fp1ljr).

Die Arbeitsmaterialien setzen sich zusammen aus:

1.  allen im Buch abgedruckten Abbildungen,

2.  allen im Anhang des Buches aufgeführten Arbeitsmaterialien, d. h. die für die Durchführung des Manuals benötigten Aufgabenblätter.

Übersicht der Zusatzmaterialien

Zu: A         Theoretische Grundlagen

1.    Epidemiologische, medizinische und biologische Grundlagen fördern das Krankheitsverständnis

–  Abb. 1: Teufelskreismodell der Sucht

2.    Psychotherapeutische Grundlagen für die Anwendung des Manuals

–  Abb. 2: Situationsanalyse

3.    Therapiemotivation und Motivationsstadien: Modelle und stadienspezifische Interventionen

–  Abb. 3: Stadien der Veränderungsmotivation in Anlehnung an Prochaska und Di Clemente

–  Abb. 4: Therapieansatz mit Berücksichtigung der Motivationsphase

Zu: B         Therapiemanual

Anwendung des Manuals in geschlossenen und offenen Therapiegruppen: Einführung

−  Abb. 5: Die Ablaufstruktur bei halboffenen Therapiegruppen

Modul 1: Alkohol und Abhängigkeit

1.  Gruppensitzung: »Der Untergang der Titanic« – Allgemeines zum Alkohol

−  Abb. 6: Eisberggraphik am Flipchart

−  Abb. 7: Phasen einer Abhängigkeitsentwicklung

−  Abb. 8: Flipchartnotiz

−  Abb. 9: Trinktypen nach Jellinek

−  Aufgabenblatt 1

2.  Gruppensitzung: »Das Eisenbahnmodell« – Diagnostik und Modell

−  Abb. 10: Das Eisenbahnmodell nach Lindenmeyer

−  Aufgabenblatt 2.1

−  Aufgabenblatt 2.2

3.  Gruppensitzung: »Der häufige Irrtum des Suchtgedächtnisses« – individuelles Fallkonzept

−  Abb. 11: Das Belohnungszentrum im menschlichen Gehirn

−  Abb. 12: Der Irrtum des Suchtgedächtnisses

−  Abb. 13: Ereigniskette, die in erneuten Konsum führt

−  Aufgabenblatt 3.1

−  Aufgabenblatt 3.2

4.  Gruppensitzung: »Die Rationalisierungs- und Vermeidungsfalle«

−  Abb. 14: Flipchartnotiz

−  Aufgabenblatt 4

Modul 2: Alkoholabhängigkeit und Therapie

5.  Gruppensitzung: »Kurzfristige Folgen durch Alkoholkonsum«

−  Abb. 15: Teufelskreis des Trinkens

−  Aufgabenblatt 5

6.  Gruppensitzung: »Längerfristige Folgen durch Alkoholkonsum«

−  Aufgabenblatt 6

7.  Gruppensitzung: »Die Entscheidung: Konsum oder Abstinenz?«

−  Aufgabenblatt 7

8.  Gruppensitzung: »Behandlungsmöglichkeiten bei Alkoholabhängigkeit«

−  Aufgabenblatt 8

Modul 3: Verlangen, Verführung und Rückfall

9.  Gruppensitzung: »Ablauf eines Rückfalls«

−  Abb. 16: Ablauf eines Rückfalls

−  Aufgabenblatt 9

10.  Gruppensitzung: »Vor oder nach einem Rückfall – Was ist zu tun?«

−  Abb. 17: Einfluss der Gedanken auf den Verlauf des Rückfalls

−  Aufgabenblatt 10.1

−  Aufgabenblatt 10.2

11.  Gruppensitzung: »Notfallplan«

−  Abb. 18: Notfallplan für die Brieftasche

−  Aufgabenblatt 11

12.  Gruppensitzung: »Ablehnen von Alkohol – Rollenspiele«

−  Arbeitsblatt E: Evaluation

 

 

 

 

1     Wichtiger urheberrechtlicher Hinweis: Alle zusätzlichen Materialien, die im Download-Bereich zur Verfügung gestellt werden, sind urheberrechtlich geschützt. Ihre Verwendung ist nur zum persönlichen und nichtgewerblichen Gebrauch erlaubt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

A         Theoretische Grundlagen

1          Epidemiologische, medizinische und biologische Grundlagen fördern das Krankheitsverständnis

 

1.1       Epidemiologie der Alkoholabhängigkeit

Die folgenden Angaben entstammen Untersuchungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2015). Der Pro-Kopf-Verbrauch an alkoholischen Getränken in Deutschland liegt nach Schätzungen aus dem Jahr 2013 bei ca. 137,2 Liter. Dabei trägt der Konsum von Bier mit ca. 52,8 % den Hauptanteil. Der Konsum von Wein stellt mit ca. 23,9 % der Gesamtmenge den zweitgrößten Anteil, danach folgen Spirituosen mit ca. 18,7 %. Am Ende der Liste stehen mit 4,5 % der gesamten konsumierten Menge Alkohol Schaumweinprodukte. Statistisch gesehen trinkt somit jeder Einwohner Deutschlands jährlich 9,7 Liter reinen Alkohol. Im Jahr 2010 lag Deutschland im europäischen Vergleich des Pro-Kopf-Konsums an reinem Alkohol an zwanzigster Stelle einer Liste von 53 europäischen Ländern (World Health Organization, 2014). Etwa 1,8 Millionen Menschen erfüllen in Deutschland die Kriterien einer Alkoholabhängigkeit und weitere 1,6 Millionen die Kriterien des Alkoholmissbrauchs. Jährlich sterben in Deutschland etwa 42.000 Personen direkt oder indirekt an den Folgen des akuten Alkoholkonsums (Bühringer et al., 2002). Schätzungen zur Morbidität aus dem Jahr 2012 zeigen, dass eine psychische oder verhaltensbezogene Störung durch Alkohol als zweithäufigste Einzeldiagnose in Krankenhäusern mit 345.034 Behandlungsfällen diagnostiziert wurde; 23.267 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 10 und 19 Jahren wurden 2013 aufgrund eines akuten Alkoholmissbrauchs stationär behandelt. Die durch Alkoholkonsum verursachten direkten und indirekten Kosten werden einer gesundheitsökonomischen Schätzung zufolge für das Jahr 2007 auf 26,7 Mrd. Euro beziffert. Im Hinblick auf psychiatrische Komorbidität zeigten verschiedene Studien, dass bei rund 20 % der alkoholabhängigen Personen eine psychiatrische Zusatzdiagnose vorliegt. Dabei sind die Diagnosen wie Depression und Angststörungen am häufigsten, bei weitaus weniger Patienten liegen zeitgleich eine oder mehrere Persönlichkeitsstörungen vor (Marschall et al., 2009).

1.2       Diagnostik und Begriffsklärungen

Abhängigkeit und Missbrauch

Ein ausgeprägter Alkoholkonsum ist nicht automatisch mit dem Vorliegen einer Abhängigkeitserkrankung gleichzusetzen. Weitere Kriterien müssen erfüllt sein, damit die Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung gestellt werden kann. Die diagnostischen Leitlinien für Alkoholabhängigkeit sind jeweils in den Klassifikationssystemen ICD-10 (Dilling et al., 2004) und DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) festgelegt. In der ICD-10 spielt die Unterscheidung zwischen »Abhängigkeit« und »Missbrauch« eine entscheidende Rolle. Grundlegend für die Unterscheidung dieser beiden Störungskategorien sind spezifische dysfunktionale Verhaltensmuster, deren neurobiologische Korrelate bereits zu einem Teil nachgewiesen werden konnten (image Teil A, Kap. 1.4). Während auch im DSM-IV zwischen »schädlichem Gebrauch« und »Abhängigkeit« unterschieden wurde, wird nun in der DSM-5 auf diese Unterscheidung verzichtet und vielmehr der Schweregrad der »Alkoholkonsumstörung« (American Psychiatric Association, 2013) festgelegt.

ICD-10 Kriterien Alkoholabhängigkeit

Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen im letzten Monat oder mehrfach in den vergangenen zwölf Monaten vorgelegen haben:

 

1.  Es besteht ein starker Wunsch oder Zwang Alkohol zu trinken.

2.  Der Betroffene besitzt eine verminderte Kontrollfähigkeit über seinen Alkoholkonsum.

3.  Alkoholspezifisches körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums oder Einnahme von Alkohol oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.

4.  Nachweis einer Toleranzbildung; Zeichen ist die Steigerung der Trinkmenge, um einen vergleichbaren psychotropen Effekt zu erreichen.

5.  Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Alkoholkonsums oder um sich von dessen Folgen zu erholen.

6.  Anhaltender Alkoholkonsum trotz des Nachweises und Wissens um eindeutig schädliche Folgen.

Die Kriterien der nordamerikanischen DSM-5 für die »Alkoholkonsumstörung« sind etwas detaillierter, auch wird den Folgen für die soziale Situation des Patienten eine größere Bedeutung beigemessen:

DSM-5 Kriterien Störung durch Alkoholkonsum (Alkoholkonsumstörung)

Mindestens zwei der folgenden Kriterien müssen innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten vorliegen:

1.  Alkohol wird häufig in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt konsumiert.

2.  Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Alkoholkonsum zu verringern oder zu kontrollieren.

3.  Hoher Zeitaufwand, um Alkohol zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von seiner Wirkung zu erholen.

4.  Craving oder starkes Verlangen, Alkohol zu konsumieren.

5.  Wiederholter Alkoholkonsum, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt.

6.  Fortgesetzter Alkoholkonsum trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Auswirkungen des Alkohols verursacht oder verstärkt werden.

7.  Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Alkoholkonsums aufgegeben oder eingeschränkt.

8.  Wiederholter Alkoholkonsum in Situationen, in denen der Konsum zu einer körperlichen Gefährdung führt.

9.  Fortgesetzter Alkoholkonsum trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch Alkohol verursacht wurde oder verstärkt wird.

10.  Toleranzentwicklung, definiert durch eines der folgenden Kriterien:

a) Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung, um einen Intoxikationszustand oder einen erwünschten Effekt herbeizuführen.

b) Deutlich verminderte Wirkung bei fortgesetztem Konsum derselben Menge an Alkohol.

11.  Entzugssymptome, die sich durch eines der folgenden Kriterien äußern:

a) Charakteristisches Entzugssymptom in Bezug auf Alkohol (siehe Kriterien A und B der Kriterien für Alkoholentzug).

b) Alkohol (oder eine sehr ähnliche Substanz, wie etwa Benzodiazepine) wird konsumiert, um Entzugssymptome zu lindern oder zu vermeiden.

Aktueller Schweregrad:

 

•  Leicht: 2 bis 3 Symptomkriterien sind erfüllt.

•  Mittel: 4 bis 5 Symptomkriterien sind erfüllt.

•  Schwer: 6 oder mehr Symptomkriterien sind erfüllt.

Tipp

Für die Kommunikation mit Patienten und ihren Angehörigen im klinischen Alltag ist die Heterogenität der Diagnosekriterien nach ICD-10 bzw. DSM-5 nur wenig befriedigend. Hier kann als einfach zu handhabende Faustregel gelten (Lindenmeyer, 2016):

Sehr wahrscheinlich alkoholabhängig ist

 

•  wer entweder den Konsum von Alkohol nicht beenden kann, ohne dass unangenehme Zustände körperlicher oder psychischer Art eintreten,

•  oder wer nicht aufhören kann zu trinken, obwohl er sich und anderen immer wieder schweren Schaden zufügt.

Führt der Alkoholkonsum zu einer Gesundheitsschädigung auf körperlicher oder psychischer Ebene, ohne dass die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllt sind, kann nach ICD-10 ein schädlicher Gebrauch von Alkohol (Alkoholmissbrauch) diagnostiziert werden (Dilling et al., 2004). Problematisch für den klinischen Alltag erweist sich hier aber, dass soziale Schäden in der ICD-10 wegen ihres unterschiedlichen interkulturellen Auftretens nicht aufgenommen wurden. Die Häufigkeit alkoholbedingter sozialer Schäden ist jedoch bei Männern und Frauen mit einem täglichen Konsum von 40 bis 60 g reinem Alkohol bereits verdoppelt. Bei einer gelegentlichen Menge von 100 g Alkohol/Tag versechsfacht sich das Risiko für soziale Schäden. Die psychotherapeutische Herangehensweise ist bei den beiden Kategorien Missbrauch und Abhängigkeit nach ICD-10 bzw. bei Vorliegen einer leichten Alkoholkonsumstörung nach DSM-5 in entscheidenden Punkten verschieden: Die Berücksichtigung der neurobiologischen Veränderungen bei Alkoholabhängigen und deren Konsequenzen auf Verhaltensebene stehen im Mittelpunkt der Therapie für Alkoholabhängige (image Teil A, Kap. 1.4). Ein wesentlicher Aspekt ist dabei der aktuellen Behandlungsleitlinie (AWMF, 2015) zufolge die absolute Abstinenz als das Therapieziel der Wahl. Lediglich wenn Abstinenz aktuell nicht möglich oder gewünscht ist, wird hier die Trinkmengenreduktion als Zwischenziel zur Abstinenz genannt. Entsprechend arbeitet das vorliegende Manual eindeutig abstinenzorientiert.

Für Personen mit einem Alkoholmissbrauch bzw. einer leichten Alkoholkonsumstörung bestehen dagegen schon langjährig Angebote der ambulanten Suchthilfe bezüglich kontrolliertem Trinkens und der primären Behandlung individueller Therapieziele, mit deren Erreichen möglicherweise eine Reduktion der Trinkfrequenz und -menge erreicht werden kann. Hierbei könnte lediglich der Einsatz einzelner Elemente des Manuals hilfreich sein.

Psychische Abhängigkeit

Die Bezeichnung Psychische Abhängigkeit ist ein überholter Begriff, da heute wichtige neurobiologische Korrelate des abhängigen Verhaltens im Organ Gehirn nachweisbar sind. Der Begriff beschrieb ursprünglich den Zustand des ständigen, zwanghaften Denkens an Alkoholkonsum, Konsumieren von Alkohol, der Sicherung der Versorgung mit Alkohol sowie einem hohen Rückfallrisiko während und nach Alkoholexposition. Einige der Betroffenen zeigen beispielsweise in einer für Außenstehende gut nachvollziehbaren Weise Einsicht in die Notwendigkeit einer Änderung ihres Trinkverhaltens. Dennoch werden Sie auch nach glaubhaften Abstinenzvorhaben wieder rückfällig, ohne sich ihr Verhalten selbst plausibel erklären zu können. Einige andere bemerken, dass sie ihr Denken und Verhalten in Bezug auf Alkohol kaum noch selbst beeinflussen können.

Craving

Der Begriff Craving beschreibt das bewusste, zwanghaft anmutende Verlangen nach Alkohol, das sogar bestehen kann, wenn der Konsum der Substanz nicht genossen wird (Tiffany und Carter, 1998; Wetterling et al., 1996). Dem steht gegenüber das nicht bewusste, motorisch automatisierte Verhalten, das in einen Rückfall münden kann. Ein Beispiel dafür ist das automatische Konsumieren der Alkoholvorräte zuhause. Wird ein solcher motorischer Automatismus unverhofft gestoppt, sind in unserem Beispiel also alle Vorräte geleert und kann der Konsum nicht in einer automatisierten Form weiter betrieben werden, wird der Handlungsautomatismus unterbrochen. Nun bemerkt der Betroffene in der Regel erst sein Verlangen nach dem Alkohol. Bewusstes Alkoholverlangen aber auch nicht bewusste motorische Automatismen werden von vielen Autoren als zentrale Variable in der Suchtentwicklung und insbesondere bei der Entstehung von Rückfällen betrachtet (siehe für eine Übersicht z. B. Everitt und Robbins, 2015). Der Stellenwert von Verlangen innerhalb des Suchtgeschehens ist jedoch weitgehend ungeklärt. Zwar berichten Kasuistiken oft von quälendem Verlangen, verbunden mit eindrucksvollen körperlichen Reaktionen, die bei Alkoholabhängigen auch nach langer Abstinenz auftreten und zum Rückfall führten. Andererseits kann das Auftreten von Verlangen auch einen Rückfall verhindern, indem es in das Bewusstsein der Betroffenen dringt und dadurch ein selbstkontrolliertes Unterbrechen des automatisierten Suchtgeschehens ermöglicht. Schließlich gibt nur ein Teil von Alkoholabhängigen an, jemals Alkoholverlangen verspürt zu haben.

Körperliche Abhängigkeit

Mit »körperlicher« Abhängigkeit wird die Ausbildung von Toleranzentwicklung und alkoholspezifischen Entzugssymptomen (u. a. Tremor, Schwitzen, Unruhe) bezeichnet, da sie körperlich sichtbar sind. Ein anderes Wort für Toleranz ist Gewöhnung. Gemeint ist die Abnahme der Alkoholwirkung bei wiederholter Einnahme derselben Dosis. Diese entsteht einerseits durch einen beschleunigten Abbau des Alkohols, zum Beispiel über eine Enzyminduktion in der Leber, aber auch durch die Desensitivierung zerebraler Zielregionen im Gehirn. Eine Entzugssymptomatik resultiert aus der Reduktion oder dem plötzlichen Wegfall von Alkohol. Sie kann sich nur bei einer vorbestehenden Toleranz ausbilden und entspricht der Störung der im adaptierten Gehirn während des Substanzkonsums ausgebildeten Homöostase. Entzugssymptome entwickeln sich in der Regel erst nach mehrjährigem Hochkonsum. Sie können allerdings bei Jugendlichen deutlich schneller auftreten.

Eine besondere Form des Entzuges ist der sogenannte konditionierte Entzug. Im konditionierten Entzug können abstinent lebende Betroffene in einer Umgebung, in der sie gewohnt waren Alkohol zu sich zu nehmen, plötzlich Entzugssymptome entwickeln. Andererseits ist es aber auch möglich, dass intoxikierte Patienten, die sich alkoholintoxikiert »im Spiegel« befinden, an einem Ort, an dem Sie früher einmal Entzugssymptome entwickelt hatten (z. B. Entgiftungsstation), Entzugssymptome entwickeln (Wikler, 1948). GABAerge sowie glutamaterge Regulationsprozesse scheinen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu spielen (Mann et al., 2014).

Alkoholreagibilität (Cue-Reactivity)

Situationen, die in der Vergangenheit mit der Einnahme von Alkohol verknüpft waren, wie beispielsweise Orte des Konsums, bestimmte Tageszeiten, Personen, in deren Gegenwart konsumiert wurde, Erinnerungen oder Stimmungen, können bei Alkoholabhängigen auch nach längerer Abstinenz das Auftreten eines Rückfalls wahrscheinlicher machen. Ursache sind klassische und operante Konditionierungsprozesse, die dazu führen können, dass die Konfrontation mit diesen Situationen eine neuronale Kaskade im verhaltensverstärkenden System (Syn. Belohnungssystem, Ncl. accumbens; image Teil A, Kap. 1.4) des Gehirns in Gang setzt. Folge kann eine Aktivierung automatischer Verhaltensmuster sein, die in einem erneuten Alkoholkonsum mündet (Magnetverhalten).

1.3       Ursachen für die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit

Warum nun einige Menschen, aber nicht alle, nach wiederholtem Alkoholkonsum eine Abhängigkeit entwickeln, ist noch nicht geklärt. Keine der psychologischen, soziologischen oder genetischen Theorien hielten bisher einer empirischen Überprüfung stand: Trotz aufwändiger und mehrfach wiederholter Forschungsbemühungen konnten beispielsweise weder die Annahme einer Suchtpersönlichkeit noch einer besonderen suchterzeugenden sozialen Situation oder gar die Existenz eines »Alkoholismusgens« bestätigt werden. Angesichts dieser Komplexität scheint derzeit ein bio-psycho-soziales Modell am ehesten geeignet, um Entstehung und Aufrecherhaltung des Suchtgeschehens zu beschreiben (image Abb. 1; Lindenmeyer, 2011, in Anlehnung an Küfner und Bühringer, 1996).

Images

Abb. 1: Teufelskreismodell der Sucht (aus Lindenmeyer, J (2011). Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit. In Wittchen H-U, Hoyer J (Hrsg.). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: ©Springer; S. 743–766. Mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags)

Wenn im Folgenden die neurobiologischen Aspekte des Suchtgeschehens vorrangig beschrieben werden, so geschieht dies auch aus folgender Überlegung heraus:

Chronischer Konsum und akuter Entzug von Alkohol führt zu Anpassungsvorgängen im Gehirn, die in der Regel mehrere Wochen andauern. Diese Vorgänge führen zu einer zeitweilig stark eingeschränkten Leistungsfähigkeit des

Gehirns mit deutlich erhöhtem Rückfallrisiko. Der Suchttherapeut muss von dieser biologisch bedingten Leistungsminderung wissen und seine therapeutischen Interventionen darauf abstimmen. Dieser Aspekt birgt möglicherweise den Schlüssel für einen erfolgreichen Verlauf der Behandlung und unterscheidet somit die psychotherapeutische Behandlung süchtiger Patienten wesentlich von der Behandlung anders erkrankter psychiatrischer Patienten (image Teil A, Kap. 1.4).

1.4       Neurobiologische Grundlagen der Alkoholabhängigkeit und deren Konsequenzen für die psychotherapeutische Behandlung

Es gibt derzeit noch keine abschließend ausgearbeitete neurobiologische Theorie der Alkoholabhängigkeit. Forschungsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass Unterschiede in der neurobiologischen Feinstruktur des verhaltensverstärkenden Systems im Gehirn (des sogenannten Belohnungssystems) für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit von Bedeutung sein könnten. Aus Sicht der Autoren haben insbesondere die Befunde aus der neurobiologischen Bildgebung wegweisende Ergebnisse ergeben. Diese Ergebnisse geben uns heute einen Eindruck über das Zusammenwirken von neurobiologischen, psychologischen und sozialen Aspekten des Suchtgeschehens, der sich bereits soweit verfestigt hat, dass schon jetzt wichtige therapeutische Schlussfolgerungen für die Behandlung von Alkoholabhängigen gezogen werden können. Die einzelnen Modellannahmen sind allerdings komplex, so dass bei der folgenden Darstellung eine grobe Vereinfachung unausweichlich ist.

Eine entscheidende Struktur des verhaltensverstärkenden Systems ist das Kerngebiet des Nucleus accumbens, das sich in der Tiefe beider Hemisphären des Gehirns befindet. Die Aktivität der dort verschalteten Nervenzellen wird unter anderem mittels des Botenstoffes Dopamin reguliert. Eine moderne Hypothese nimmt an, dass dieses Verstärkungssystem bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankung vermindert auf normale verhaltensverstärkende oder belohnende Reize reagiert wie beispielsweise schmackhafte Nahrungsmittel oder sexuelle Aktivität. Die Zufuhr von Alkohol, aber auch anderer abhängigkeitserzeugender Substanzen, führt zu einer erhöhten Verfügbarkeit von Dopamin in dieser Region und somit zu einer Verzerrung der Kommunikation zwischen den Nervenzellen im Ncl. accumbens. Dies ist ein möglicher Mechanismus, über den Suchtstoffe einen deutlich ausgeprägteren verhaltensverstärkenden Effekt produzieren können als natürlich belohnende Reize. Stoffgebundene Süchte, so auch die Alkoholabhängigkeit, entstehen nach dieser Theorie auf Basis der Erfahrung des betroffenen Individuums, dass deren Einnahme eine erhöhte Aktivierung dieses Systems bewirkt. In der Folge strebt das Gehirn den Konsum der entsprechenden Substanz erneut und hartnäckig an (für eine Übersicht siehe z. B. Charlet et al., 2013).

Untersuchungen mit radioaktiven Markern (Positronen-Emissions-Tomographie) erlauben es, das dopaminerge System zu markieren und so seine Funktionsfähigkeit zu beurteilen (z. B. Kienast und Heinz, 2005a). So wurde beobachtet, dass Konsumenten von Alkohol im Vergleich zu Gesunden über eine geringere Anzahl von dopaminergen D2-Rezeptoren im Striatum verfügen. Der D2-Rezeptor ist einer von fünf derzeit bekannten Rezeptortypen, dessen Funktion durch den Botenstoff Dopamin reguliert wird. Beim Menschen gibt es Hinweise darauf, dass eine niedrige Dopamin-D2-Rezeptorverfügbarkeit im Corpus striatum, der Region, die unter anderem auch den Ncl. accumbens beherbergt, mit einer Störung der emotionalen Erlebnis- und Reaktionsfähigkeit einhergeht, und dass dieser Rezeptortyp somit möglicherweise bei der Vermittlung einer emotionalen Reaktion von Bedeutung sein könnte (Heinz und Batra, 2003). Zusätzlich scheint die Anzahl der verfügbaren Dopamin-D2-Rezeptoren eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Drogenwirkungen zu spielen und könnte somit zur Disposition einer Abhängigkeitserkrankung beitragen (Volkow et al., 1999). Interessant ist die Beobachtung, dass die Verfügbarkeit von Dopamin-D2-Rezeptoren im Corpus striatum bei erhöhter Belastung durch Umgebungsstress bei einigen Personen herabgesetzt ist. Dies könnte auf einen molekularen Mechanismus hinweisen, der den Einfluss von Umgebungsstress auf die Neigung einer Person für die Ausbildung einer Abhängigkeitserkrankung beschreiben könnte (Heinz und Batra, 2003).

Es steht aber auch fest, dass neben dem dopaminergen System weitere Botenstoffe wichtige Rollen übernehmen. Darunter das serotonerge, GABAerge und glutamaterge System (Heinz und Batra, 2003). So gibt es Hinweise darauf, dass Störungen des serotonergen Systems die Reagibilität des zentral dämpfenden GABAergen Systems beeinflussen und so Einfluss auf die Alkoholverträglichkeit nehmen könnten (Heinz et al., 1998). Derselbe Mechanismus kann jedoch ebenfalls durch bestimmte GABA-Rezeptoren mit interindividuell höherer oder herabgesetzter Aktivierbarkeit imitiert werden. Solch verschiedene GABA-Rezeptoren sind individuell genetisch determiniert.

1.4.1     Der Kern süchtigen Verhaltens: Die Sensitivierung

Ein interessanter Aspekt bei der Abhängigkeitserkrankung mit weitreichenden Konsequenzen auf verhaltensbiologischer Ebene ist die Sensitivierung. Der Begriff der Sensitivierung beschreibt dabei ein neurobiologisches Modell und ersetzt die Begriffe der »psychischen Abhängigkeit« oder die unglücklicherweise weit verbreitete Annahme der »Willensschwäche der Patienten« als Grundlage für abhängiges Verhalten. Sensitivierung erklärt zu großen Teilen, warum Menschen nach wiederholter Einnahme einer abhängigkeitserzeugenden Substanz gegen ihren eigenen Wunsch wiederholt und sogar süchtig konsumieren.

Die Ableitung dieses Modells erfolgte aus tierexperimentellen Untersuchungen. Dabei zeigten die Tiere nach wiederholter Gabe von Stimulantien verstärkte psychomotorische Reaktionen. Die Ursache liegt sehr wahrscheinlich in einer anhaltenden Veränderung von Neuronen im Ncl. accumbens. Obwohl das Prinzip der Sensitivierung als genereller Mechanismus zu sehen ist, ist sie in hohem Maße substanzspezifisch. Der von Alkohol abhängige Patient ist beispielsweise durch den Konsum von Alkohol nicht automatisch auch von Kokain oder Cannabis abhängig.

Einfach gesprochen ist dieser Vorgang dem der Toleranzbildung entgegengerichtet. Sensitivierung führt offenbar zu einer krankhaft erhöhten Aktivität im Ncl. accumbens. Bestimmte Nervenzellen in dieser Region werden bereits bei kleinsten Alkoholmengen oder auch allein schon durch Reize, die eine betroffene Person mit Alkohol in Verbindung bringt (cues), aktiviert. Somit wird ausgehend vom Verstärkungssystem ein erhöhter Drang nach (noch mehr) Alkohol hervorgerufen. Dieser Mechanismus wird in der internationalen Literatur als »Incentive-Sensitization« bezeichnet und ist ein Erklärungsversuch für die Beobachtung, dass sich alkoholabhängige Patienten häufig Alkohol beschaffen und diesen auch ohne weiterhin positiv erlebte Wirkung und sogar gegen ihre erklärte Absicht konsumieren (Robinson und Berridge, 2008). Dieses Verhalten kann im Extremfall völlig automatisch ablaufen und so nicht einmal zwingend ein bewusstes Handeln zur Ursache haben.

Es gibt Hinweise darauf, dass andere Teile des Corpus striatum als Speicher für bereits routinierte Handlungsabläufe dienen könnten, die hier durch konditionierte Stimuli als Handlungsschablonen aktiviert werden können. So wie nach dem Erlernen von Tanzschritten nach einiger Übung kein bewusstes Überlegen über die Schrittfolge mehr notwendig ist, könnten auch Automatismen, wie zum Beispiel das Trinken eines bekannten alkoholischen Getränks (cue 1) auf dem heimischen Sofa (cue 2) mit den Freunden (cue 3) vor dem Fernseher (cue 4) usw., zu einem unwillkürlichen Konsum von Alkohol führen, ohne dass die Person erklären könnte, warum sie dies tut. Es kommt somit zu einem Übergang von zielgerichtetem zu automatisiertem Verhalten (Everitt und Robbins, 2006 und 2015). Erst wenn kein Alkohol mehr vorhanden ist, d. h. die Durchführung der automatisierten Handlung unterbrochen ist, entwickelt sich ein bewusstes Verlangen (Craving) nach (mehr) Alkohol. Erst ab dem Moment der Handlungsunterbrechung kann die Person ihr Verhalten rückwirkend bewerten (orbitofrontaler Kortex) und sich für den weiteren Verlauf des Verhaltens bewusst entscheiden (u. a. frontaler Kortex und anteriores Cingulum) (Tiffany und Carter, 1998).

Die Tatsache, dass der Patient dieses automatische Suchtverhalten erkennt und ihm widerstehen möchte, ist aber noch keine Garantie für eine erfolgreiche Kursänderung im Sinne einer Anwendung von alternativen Strategien, die z. B. in einer Therapie trainiert werden. Einige Patienten berichten darüber, dass sie sich bei ihrem ungewollten Konsum nur noch zuschauen, aber nicht eingreifen können. Eine denkbare Erklärung ist hierfür, dass die einmal angestoßene Aktivität im Verstärkungssystem des Ncl. accumbens so stark ist, dass sie nicht ausreichend von anderen Hirnregionen (z. B. frontaler Kortex und anteriorem Cingulum) beherrscht werden kann (Kienast und Heinz, 2006). Für den Psychotherapeuten sollten solche Angaben des Patienten ein Hinweis für die Indikation eines engmaschigen Rückfallpräventionstrainings sein.

Dopamin und das dopaminerge System spielen eine besondere Rolle bei der substanzinduzierten Sensitivierung. Man weiß heute, dass Verhaltensweisen, die zu einer Erhöhung der Verfügbarkeit von Dopamin im Ncl. accumbens (Belohnungszentrum) führen, vom Gehirn und somit auch von der Person in ihrem Verhalten erneut angestrebt werden. Auch Alkohol führt zu einer Freisetzung von Dopamin in dieser Region (Kienast und Heinz, 2006). Diesem Befund könnte bei einer zusätzlichen Störung der Funktion präfrontaler Hirnregionen, die Handlungs- und Planungsfunktionen übernehmen, eine besondere Bedeutung zukommen. Da bei übermäßigem Alkoholkonsum die übergeordneten »Kontrollfunktionen für Handlungsausführung« beeinträchtigt sind, steigt der Einfluss subkortikaler, also in der Tiefe des Gehirns liegender Kerngebiete wie der des Ncl. accumbens (vorderes Corpus striatum), der eine bedeutende Rolle bei der Motivations- und Antriebsbildung einnimmt, und des hinteren Corpus striatum, in dem Handlungsschablonen gespeichert sind. Werden diese Regionen durch spezifische, Suchtmittel anzeigende Reize aktiviert, können konsumspezifische Handlungsschablonen und somit eine Fortführung des abhängigen Verhaltens aktiviert werden (Goldstein und Volkow, 2002 und 2011). Zuletzt kann es dazu kommen, dass der Patient nun unabhängig von seinem erklärten Willen mit dem Konsumverhalten beginnt.

Die Schnittstelle zwischen den neurobiologischen Befunden und der angewandten Psychotherapie liegt dort, wo psychotherapeutische Interventionen entsprechende Hirnregionen der Patienten spezifisch trainieren und deren Einflussnahme auf das Verstärkungssystem erhöhen, damit eine Eindämmung der pathologischen Aktivität möglich wird. Eine verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie liefert in diesem Zusammenhang spezifische Methoden für das Training und den Ausbau der präfrontalen Kontrollfunktionen. Gerade im Hinblick auf die effektive Gestaltung solcher Trainings wurden in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte erzielt. So wurden computergestützte Trainings entwickelt, um eine automatische Lenkung der Aufmerksamkeit auf alkoholassoziierte Reize und automatisierte Verhaltenstendenzen zu reduzieren. Die Wirksamkeit solcher Alkohol-Vermeidungstrainings konnte in mehreren Untersuchungen bestätigt werden (z. B. Eberl et al., 2013) und in verschiedenen Stichproben repliziert werden (z. B. Wiers et al., 2015; Gladwin et al., 2015). Alkohol-Vermeidungstrainings scheinen somit eine effektive und ökonomische Intervention im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung alkoholabhängiger Patienten zu sein. Wird dieser Aspekt in der Behandlung vernachlässigt, können die tiefer liegenden Hirnstrukturen »wieder die Oberhand« gewinnen und auch nach einer langen Phase der Abstinenz Rückfallverhalten begünstigen. Entsprechend wurden jedoch auch sogenannte Reizexpositionstrainings (Lindenmeyer, 2016a) entwickelt, die darauf abzielen, verstärkte Reaktionen von Strukturen des Belohnungssystems auf alkoholassoziierte Reize zu löschen. Die gegenwärtige Studienlage verdeutlicht, dass dies insbesondere für bestimmte Patientengruppen ein effektives Verfahren sein könnte (Loeber et al., 2006) und insbesondere auf neurobiologischer Ebene zu der erwünschten Abnahme neuronaler Reaktionen auf alkoholassoziierte Reize führt (Vollstädt-Klein et al., 2011). Erste Untersuchungen lassen auch vermuten, dass die Effektivität eines Reizexpositiongstrainings durch die Kombination mit einer pharmakologischen Behandlung noch verstärkt werden könnte (Kiefer et al., 2015).