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An der Wand kann man nicht nähen

Susanne Hesse

 

An der Wand kann man nicht nähen

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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14. Rückers 1941 - 1943

 

Im August brach ich schweren Herzens meine Zelte in Berlin ab. Nun saß ich wieder zu Hause an der Nähmaschine. Ich hatte gut zu tun, denn in gewissen Abständen konnten die Leute Bezugscheine für Kleidung oder Stoffe beantragen. Meine Kundinnen kauften dafür meistens Stoffe, denn Konfektionsware war teuer und Zwischengrößen gab es auch nicht. Immer häufiger nähte ich auch Trauerkleidung. Einige Männer aus unserem Dorf waren gefallen, darunter junge Familienväter.

 

Nach einigen Wochen war Mutters Armbruch geheilt und sie konnte wieder nähen. Nun hatte ich Zeit, Erkundigungen über die Meisterprüfung einzuholen. Die Handwerkskammer in Glatz verwies mich an die Obermeisterin der Innung des Damenschneiderhandwerks in Neurode. Ich packte einige selbst geschneiderte Kleider in den Koffer und fuhr zum vereinbarten Termin nach Neurode zur Obermeisterin. Sie prüfte meine Arbeiten gründlich und hatte daran nichts auszusetzen. Aber sie eröffnete mir, dass ich zunächst drei Gesellenjahre absolvieren müsste, bevor ich zur Meisterprüfung zugelassen würde. Sie empfahl mir eine Schneidermeisterin in unserem Nachbarort Reinerz, bei der ich als Gesellin arbeiten könnte. Ich nahm meinen Koffer mit den Kleidern und fuhr von Neurode direkt nach Reinerz, ohne in Rückers auszusteigen. Mit der Schneidermeisterin, Anna Stahl, wurde ich schnell einig und schon wenige Tage später durfte ich als Gesellin bei ihr arbeiten.

 

Der Winter nahte, aber noch lag kein Schnee und so fuhr ich mit dem Fahrrad von Rückers nach Reinerz. Als die Straßen zugeschneit waren, lief ich den vertrauten Weg über die Felder den Fleischersteig entlang. Manchmal erwies sich der Fußmarsch als sehr beschwerlich, vor allem wenn in der Nacht eine Menge Neuschnee gefallen war. Glücklicherweise befand sich Anna Stahls Haus am Ortseingang von Reinerz, da war der Weg für mich nicht ganz so lang. Denn am Abend wurde ich zu Hause gebraucht, da half ich Mutter beim Nähen der Trauerkleidung.

 

Ein halbes Jahr lang habe ich als Gesellin durchgehalten, dann mochte ich nicht mehr. Vor allem verdiente ich zu wenig bei fünfzehn Mark Wochenlohn. Die Arbeitszeit war lang, an sechs Tagen arbeitete ich jeweils neun Stunden. Ich kündigte, stellte bei der Handwerkskammer in Glatz einen Antrag auf Erlaubnis, selbstständig arbeiten zu dürfen und erhielt die Genehmigung. Aber die Meisterprüfung blieb noch immer mein Ziel. Aufgrund der Kriegsereignisse habe ich sie erst Jahre später in Hamburg abgelegt, als ich bereits verheiratet und Mutter von zwei kleinen Mädchen war.

Ab und zu betätigte ich mich nun für vier Mark am Tag bei verschiedenen Familien als Hausschneiderin. Dort bekam ich gutes Essen und konnte meine Lebensmittelmarken den Eltern geben. Wenn ich zu Hause arbeitete und besonders viel zu tun war, sprang Mutter ein. Überwiegend kümmerte sie sich jedoch um die Feriengäste. Unsere Gäste waren manchmal junge Soldaten. Mit ihren Frauen verbrachten sie ihren Fronturlaub in unserer Grafschaft Glatz, weit ab vom Kriegsgeschehen und ohne Fliegeralarm. Ein junges Ehepaar blieb mir unvergessen. Die Eheleute gingen gern spazieren. Eines Tages wanderten sie in die Goldbacher Felsen zwischen Oberrückers und Bad Reinerz. Die Landschaft dort war geprägt von Waldgebieten und bizarren von Wind und Wetter geformten Felsen. Im Fluss tummelten sich zahlreiche Forellen. Unseren Gast packte die Begeisterung und er fing Dutzende Fische einfach mit den bloßen Händen. So machten es meine Brüder früher auch, aber inzwischen standen die Forellen unter Naturschutz. Das wusste der junge Soldat nicht. Frohgemut kehrten er und seine Frau mit einem großen Beutel Forellen vom Spaziergang zurück. Auch wir waren beflügelt angesichts der Bereicherung unseres Speiseplans.

 

Cläre band sich einen Jutesack um die Hüften und zerlegte die Forellen. Da erspähte ich durch das Fenster zwei Polizisten in Begleitung eines etwa zehnjährigen Jungen, der ihnen den Weg zu unserem Haus wies. Cläre schob die Emailschüssel mit den Fischen schwungvoll unter die Ofenbank, wobei eine Forelle herausrutschte und der Kopf unter dem Vorhang hervorlugte. Doch das bemerkten wir erst, als der Spuk vorbei war. Einer der Polizisten stammte aus Reinerz. Der andere war unser Wachtmeister Witteck, und das beruhigte uns ein wenig. Wachtmeister Witteck erfreute sich allgemeiner Beliebtheit im ganzen Dorf. Ich schneiderte für seine Familie und war mit seiner jüngeren Tochter befreundet. Witteck füllte mit seiner Statur fast die ganze Türöffnung aus und stellte den rechten Fuß als Barriere auf die Türschwelle. Der andere Ordnungshüter hatte keine Chance, einzutreten. Unser Witteck überzeugte den Kollegen, der Junge habe sich geirrt, in der Küche gäbe es keine Forellen. Die drei zogen wieder ab. Nach einiger Zeit kam Wachtmeister Witteck zu uns zurück und sagte: „So, jetzt gebt mir doch ein paar Forellen ab“. Das taten wir sehr gern. Unser Feriengast war erleichtert, dass alles so glimpflich verlaufen war und ließ sich die gebratenen Forellen schmecken.

 

In dieser Zeit wechselten Freud und Leid. Bei unserem Nachbarn Kynast im Spritzenhaus traf die bittere Wahrheit ein, dass ihr Sohn Eduard für Großdeutschland gefallen war. So eine Nachricht erschütterte uns alle und diesmal mich besonders, war Eduard doch mein treuer Schulfreund gewesen. Für jeden Gefallenen fand in der Kirche ein Trauergottesdienst statt. Im Schlosspark wurde eine Gedenkstätte errichtet, an jeden gefallenen Soldaten erinnerte ein Gedenkstein mit seinem Namen. Der Park hieß nun Heldengedenkstätte. Wir wünschten uns sehnlichst das Ende des Krieges herbei und ahnten nicht, welch schweres Leid über unser Dorf und die ganze Menschheit noch kommen sollte.

 

Im Sommer 1942 erhielt Gerhard Heimaturlaub. Er verbrachte seinen Urlaub bei seiner kleinen Familie in Friedrichsgrund, Tochter Anita feierte gerade ihren ersten Geburtstag. Hubert bekam auch Heimaturlaub. Er und Herta hatten inzwischen geheiratet und wohnten in Mittelsteine. Gerhard und Hubert waren in Russland bei verschiedenen Kompanien und an unterschiedlichen Kampfabschnitten stationiert. Gerhard war zum Oberfeldwebel aufgestiegen und Hubert zum Hauptfeldwebel. Bevor sie sich wieder ihrer Garnison anschlossen, verbrachten sie einige wundervolle Tage bei uns in Rückers. Beim schmerzvollen Abschied hoffte jeder für sich im Stillen auf ein Wiedersehen.

 

Am Allerheiligenfest im November gedachten wir unserer Toten auf den Friedhöfen. Mit Begeisterung banden wir Kränze aus Tannenzweigen und verzierten sie mit Blumen, die wir aus buntem Seidenpapier liebevoll bastelten. Damit die Kunstwerke eine Stabilität erhielten, verflüssigten wir weiße Stearinkerzen und tauchten die Blumen darin ein. Am Tag vor Allerheiligen legten wir die Kränze auf die Gräber unserer verstorbenen Verwandten. Manches Jahr schneite es in der Nacht und unsere mühevolle Arbeit lag unter einer glitzernden Schneedecke begraben.

An diesem Allerheiligenfest wirkte Mutter unausgeschlafen und beunruhigt. Beim Frühstück erzählte sie uns, sie habe in der Nacht Huberts Stimme gehört. Deutlich habe er „Mutter!“ gerufen, und das ließ sie nicht wieder einschlafen. Auch war die Kuckucksuhr am frühen Morgen stehengeblieben, die Zeiger standen genau auf drei Uhr. Die Uhr ließe sich auch nicht wieder in Gang bringen und Mutter meinte, das habe etwas zu bedeuten. Cläre und ich versuchten, ihr die Sorge zu nehmen. Die Gedanken wären eben viel an der Front bei den Angehörigen und die Uhr hätte etliche Jahre hinter sich und ab und zu auch mal gemuckt. Sogar der Kuckuck hätte in der letzten Zeit ein bisschen das Zählen verlernt. Ganz überzeugen konnten wir Mutter nicht. Jedes Mal, wenn der Briefträger auf dem Weg zu unserem Haus war, befiel sie die Angst vor schlimmen Nachrichten.

 

Ich fuhr für eine Woche nach Habelschwerdt zur Familie Ludwig, um dort zu schneidern. Ludwigs führten ein Tabakwarengeschäft und manchmal durfte ich Tabakwaren mit nach Hause nehmen. Gegen Zigaretten ließ sich so manches eintauschen. Männer wie Frauen erhielten zusätzlich zu den Lebensmittelkarten eine Raucherkarte, und viele fingen an zu rauchen. Mitte November kehrte ich am späten Abend mit dem letzten Zug nach Hause zurück. Mutter war nicht da, sie verbrachte einige Tage bei ihrer Schwester Martha in Wilmsdorf. Vater schlief schon.

 

Als ich in die Stube kam, entdeckte ich den Brief hinter der Glasscheibe im Küchenschrank. Ein an Hubert geschriebener Feldpostbrief war zurückgekommen mit einem Stempelaufdruck: „ZURÜCK, gefallen für Großdeutschland“. Von Panik ergriffen eilte ich mit dem Brief die Treppe hinauf zu Vater und wunderte mich, wie er so sorglos schlafen konnte. Ich rüttelte ihn wach. Vater blieb ruhig und meinte, es handelte sich um einen Irrtum, Huberts Kompanie befände sich inzwischen an einem ganz anderen Abschnitt. Wie konnte Vater so sicher sein? Nun ging ich auch zu Bett, aber geschlafen habe ich in dieser Nacht nicht.

 

Am nächsten Morgen klopfte Schwägerin Herta aus Mittelsteine an unsere Haustür, die Augen verquollen, ich ahnte Furchtbares. Dann begann Herta zu weinen. Die Rücksendung des Briefes war kein Irrtum. Hubert war im Krieg umgekommen. Fassungslos umklammerte ich Herta und betete zu Gott, er möge uns aus diesem Albtraum befreien.

 

Herta und ich fuhren mit der Bahn nach Altheide, um Mutter aus Wilmsdorf abzuholen. Als wir so unerwartet bei Tante Martha und Onkel Max erschienen, wusste Mutter sofort Bescheid. Sie weinte bitterlich, als sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr. Martha und Max litten mit uns. Wie wir es Vater beibrachten, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich haben wir es ihm erst am Abend gesagt. Wir hätten ihn mit der Trauer nicht allein lassen können, er war doch selbst ein kranker Mann. Die nun folgende Zeit war bedrückend und leer, der Tod lastete schwer auf der Familie. In der Kirche fand die Trauerfeier für unseren Hubert statt, und im Schlosspark wurde wieder ein Gedenkstein mehr aufgestellt.

 

Monate später erfuhren wir von Huberts bestem Kameraden Heinz, wie Hubert ums Leben kam. Er starb an Flecktyphus. Zunächst glaubte er an eine harmlose Grippe, versuchte, sie mit Wodka zu bekämpfen. Als das Fieber stieg, verlor er das Bewusstsein und wurde ins Lazarett gebracht. Er konnte nicht mehr gerettet werden. Hubert ist in der Nacht zum 1. November gestorben, in der Nacht, als Mutter durch Huberts Ruf aus dem Schlaf erwachte und der Kuckuck verstummte. Die genaue Todesstunde konnten wir nicht ermitteln, aber der Kuckuck schwieg seit dem ersten November morgens um drei Uhr. Wir ließen die Uhr nicht reparieren.

Durch den Trauerfall in der Familie war viel Arbeit liegen geblieben. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Viele Dinge, die sich die Kinder wünschten, gab es nicht mehr zu kaufen. Deshalb wurde Kinderkleidung geschenkt, die wir aus alten Kleidungsstücken schneiderten. Ich wollte die Kinder nicht enttäuschen und habe die Nächte vor Weihnachten durchgenäht und kaum geschlafen.

 

Fisch für den Heiligen Abend gab es nicht mehr zu kaufen. Deshalb sparten wir vor Weihnachten unsere Fleischmarken auf, um für den Heiligen Abend genügend Bratwürste bestellen zu können. Wir kauften unsere Fleisch- und Wurstwaren beim Fleischer Drott, Cläre holte am Weihnachtsmorgen die bestellte Bratwurst ab. Freudestrahlend kam sie nach Hause und verkündete, Frau Drott Senior hätte vergessen, die Fleischmarken abzuschneiden. Deshalb beschlossen wir, für Silvester noch einmal die gleiche Menge an Bratwurst zu bestellen. Als ich Silvester die Wurst abholte, erinnerte Frau Drott an die Marken von der Weihnachtsbratwurst. Aber wir besaßen keine Fleischmarken mehr! Jetzt musste die junge Frau Drott einspringen. Bertel Drott war unsere Freundin. Beim Kleben der Marken ließ sie unbemerkt welche für uns verschwinden und wir konnten aufatmen. Bertel gab uns ab und zu ihr Baby in Obhut, so wusch eine Hand die andere. Bei Bertel haben wir manchen Sonntagnachmittag gesessen und Handarbeiten gemacht. Sie bewohnte die obere kleine Wohnung in der Fleischerei. Ihr Mann Otto war wie die meisten jungen Männer an der Front.

 

Seit der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten von Amerika im Dezember 1941 war der Weltkrieg entbrannt. Evakuierte aus den bombardierten Städten des Westens Deutschlands fanden in Rückers Zuflucht. Die Grafschaft Glatz war zum Hinterland geworden. Sie im Kampf zu erobern lohnte nicht. Dank der günstigen Lage, die Grafschaft ragte rechteckig in die Tschechei hinein, fanden Luftangriffe und Kämpfe bisher nicht statt.

 

Im Juli 1943 landeten die Alliierten in Sizilien und drangen weiter nach Italien vor. Der Krieg forderte immer mehr Opfer, auch auf deutscher Seite. Im Volksempfänger überschlugen sich die Sondermeldungen über militärische Erfolge. Zum Sendeschluss sang Lale Andersen die inoffizielle Soldatenhymne „Lili Marleen“, um das Volk bei Laune zu halten.

 

Währenddessen tobte der Krieg in Russland weiter, der Kampf um Stalingrad war unerbittlich und grausam. Cläre wartete seit langem auf eine Nachricht von Bruno. Durch Gerhard erfuhren wir, dass Bruno in der sechsten Armee in Stalingrad kämpfte. Cläre besaß ein größeres Radio als den Volksempfänger und konnte einen deutschsprachigen englischen Sender empfangen. Jeden Abend zu Sendebeginn ertönten Paukenschläge, danach sprach eine männliche Grabesstimme: „Frauen und Mütter, ihr werdet eure Männer nie wieder sehen!“. Das klang unheimlich und flößte uns Angst ein. Den Fremdsender einzuschalten war höchst gefährlich und musste absolut heimlich geschehen. Von Bruno kam keine Post. Aber Cläres Briefe an ihn wurden nicht zurückgesandt und das ließ hoffen, dass Bruno noch am Leben war. Cläre half jetzt viel in der Schneiderei. Nach vier Kriegsjahren waren die Stoffvorräte geschrumpft, aber noch hatten wir genügend Aufträge. Aus Wolldecken wurden Mäntel geschneidert, unmoderne Kleider zu modernen Blusen umfunktioniert und Tischdecken zu Röcken.

 

Eines Tages erschien die Mutter einer Parteifunktionärin an unserer Haustür. Sie benötigte in kürzester Zeit ein neues Kleid für ein Parteifest. Mir war es zeitlich nicht möglich, diese Arbeit einzuschieben. Die Frau beklagte sich, sie besäße nur ein einziges festliches Kleid und wir sollten ihr doch umgehend ein neues schneidern. Cläre, um Antworten nie verlegen, platzte heraus: „Dann trösten Sie sich mit den Soldaten, die haben auch nur eine Uniform“.

 

Mit diesem Satz war Cläres Schicksal besiegelt. Am nächsten Tag wurde sie als Briefträgerin dienstverpflichtet. Frauen wurden vorwiegend dort eingesetzt, wo ihre Männer vor deren Kriegsdienst beschäftigt waren. Bruno war Postangestellter und so musste Cläre den Dienst bei der Post antreten. Im Laufe der Zeit machte ihr diese Beschäftigung sogar Spaß. Die Leute freuten sich über die neue Briefträgerin, denn sie war kontaktfreudig und lustig.

 

Durch den neuen Beruf lernte Cläre Rückers und die Umgebung erst richtig kennen. Jede Woche erhielt sie eine andere Tour, mal war der Dorfkern dran, dann Hartau - Gläsendorf - Biebersdorf oder Oberrückers mit den Oberrückerser Feldern und Utschendorf. Am liebsten aber brachte sie die Post den Waldsteinern, denn die Tour führte auf die Burg Waldstein hi-nauf. Die neugotische Burg, in den 30er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts erbaut, war zum Lazarett für lungenkranke Soldaten umfunktioniert. Von den Missionaren auf der Burg erhielt Cläre immer eine warme Suppe.

 

Im November 1943 klopfte Marias Nachbarin in aller Frühe an unsere Haustür. Sie müsste schnell die Hebamme holen, und wir sollten uns um die kleine Anita kümmern. Ich machte mich sofort auf den Weg nach Friedrichsgrund zur Schwägerin Maria. Auf halbem Weg überholte mich die Hebamme auf ihrem Moped und als ich ins Haus eintrat, vernahm ich zarte Babyschreie. Maria hatte ein kleines Mädchen geboren. Nachdem das Baby von der Hebamme gebadet und die junge Mutter versorgt war, brachte ich Anita zu uns nach Hause. Im Winter benutzten wir bei Schneewetter statt einer Kinderkarre den Schlitten. Er hatte eine stabile Lehne und einen Griff zum schieben. Kissen und Wolldecken hielten Anita warm. Die kleine Anita wohnte nun ein paar Tage bei uns. Eine Woche später wurde ihre Schwester auf den Namen Brunhild getauft und ich bin seither die Patentante.

 

Wegen der Bombardierungen in Nord- und Westdeutschland wurden die Betriebe aus Frankfurt am Main und aus Hamburg in den Osten Deutschlands verlagert. Die Spinnereien und Webereien in Kudowa-Sackisch dienten nun der Rüstung. Mitte November erhielt ich den Dienstverpflichtungsbefehl und musste mich unverzüglich in Kudowa-Sackisch bei der VDM Luftfahrtwerke AG melden. Vergeblich hatte ich gehofft, noch einmal davonzukommen.

 

23. Sichtweisen

 

Mehr als 1,5 Millionen Menschen sind derzeit in Deutschland von Demenz betroffen. Der prozentuale Bevölkerungsanteil demenzkranker Menschen wird mit einer längeren Lebenserwartung weiterhin steigen. Gab es um 1910 herum kaum Hundertjährige, so konnten 100 Jahre später bereits über sechstausend deutsche Bürger ihren hundertsten Geburtstag feiern. Prognosen zufolge hat jedes zweite derzeit in Deutschland geborene Kind gute Chancen, seinen hundertsten Geburtstag zu erleben (Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie).

 

Die Diagnose „Demenz“ bedeutet nicht unweigerlich ein schnelles Ende der körperlichen und geistigen Fitness. Mit einer gesunden Lebensführung, sozialer Einbindung sowie körperlichen und geistigen Aktivitäten kann der Krankheitsverlauf hinausgezögert werden. Antidementiva können zur Verlangsamung beitragen, ein wirksames Heilmittel gibt es bisher aber nicht.

 

Etwa sechzig Prozent der Demenzkranken sind Alzheimerpatienten. Nach der Alzheimer Demenz ist die zweithäufigste Erscheinungsform die vaskuläre Demenz. Im Gehirn werden Nervenzellen zerstört, die für das Gedächtnis unerlässlich sind. Das Denk- und Lernvermögen und die Kontrolle über den Körper lassen nach und können bei Fortschreiten der Krankheit völlig außer Kraft gesetzt werden. Zu Beginn ist die vaskuläre Demenz leicht mit Alzheimer zu verwechseln. Zwar treten die Symptome häufig früher auf als bei Alzheimer-Patienten, aber auf längere Sicht schreitet der Gedächtnisverlust allgemein langsamer voran. Meistens schwindet zuerst das Kurzzeitgedächtnis.

 

Alte Menschen werden gerne mit Kindern verglichen. Aus der Hilflosigkeit heraus ähnelt das Verhalten an Demenz Erkrankter mitunter tatsächlich dem kleiner Kinder ‒ aber dennoch ist der Vergleich falsch. Das Gehirn bei Kindern entwickelt sich nach vorn, es kann sich Dinge merken. Bei Demenzkranken geht das Gehirn rückwärts und kann nichts Neues mehr aufnehmen. Was bei Kindern gelingt, nämlich ihnen Neues beizubringen, kann bei demenzkranken Menschen niemals funktionieren. Deshalb sollte man sie nicht mit Erklärungen und Diskussionen belasten, die sie nicht mehr erfassen können. Versuche, ihnen Neues beizubringen, enden meist in Frustration und Hilflosigkeit. Beschimpfungen dürfen Betreuer nicht persönlich nehmen. Sie gehören zum Krankheitsbild ebenso wie das Nichterkennen der nächsten Angehörigen.

 

Mit Fortschreiten der Erkrankung können die Betroffenen ihr Verhalten immer weniger kontrollieren. Manche laufen ziellos umher, starke Gefühlsausbrüche sind häufig. Spätestens wenn die Sprachfunktion zum Erliegen kommt und Blase und Darm nicht mehr funktionieren, wird eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung unausweichlich.

 

Nach Angabe des Bundesfamilienministeriums sind in Deutschland derzeit 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig, rund 1,25 Millionen werden ausschließlich durch Angehörige betreut. Die enorme Belastung für pflegende Angehörige wird häufig unterschätzt.

 

Im politischen Raum ist die Demenz erst seit wenigen Jahren zum übergeordneten Thema geworden. Immer mehr Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen wurden in den letzten Jahren ins Leben gerufen. Sozialverbände drängten die Politiker zur Pflegereform. Um dem drohenden Pflegenotstand entgegenzuwirken, müsste der Pflegeberuf schnellstens neu definiert werden. Die Wertschätzung der sowohl physisch als auch psychisch anspruchsvollen Tätigkeit im Pflegebereich muss weiter gestärkt werden. Zudem liegen die Löhne der Altenpflegekräfte noch immer deutlich unter dem Niveau derer in anderen Pflegeberufen.

 

Mit der Pflegereform 2008 wurden erstmals Pflegestützpunkte eingerichtet mit kompetenten Ansprechpartnern für alle Bereiche der Pflege. Jeder Pflegebedürftige hatte damit einen Rechtsanspruch auf Pflegeberatung.

 

Der 2009 eingeführte Pflege-Tüv, der die Pflegeheime und Pflegedienste mit Noten bewertete, wurde mangels Aussagekraft und Irreführung wieder eingestellt. Über ein neues Bewertungsmodell wird nachgedacht, bis 2018 sollen sich Heimbetreiber und Krankenkassen auf ein neues Konzept einigen.

 

Im Januar 2016 ist das Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) in Kraft getreten. Das neue Begutachtungsverfahren und die Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade sollen laut dem Bundesministerium für Gesundheit zum 1. Januar 2017 wirksam werden. Danach erhalten erstmals alle Pflegebedürftigen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung, unabhängig davon, ob sie von körperlichen oder psychischen Einschränkungen betroffen sind. Pflegende Angehörige werden in der Renten- und Arbeitslosenversicherung besser abgesichert.

 

Inwieweit die Verbesserungen umgesetzt werden können, sei dahingestellt. Aufgrund des demografischen Wandels wird der Personalmangel in der Pflege auch in Zukunft ein großes Problem darstellen. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts kann sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2050 verdoppeln.

 

Als unsere Mutter 2004 erkrankte, gab es viele der jetzigen Hilfsangebote noch nicht.

 

Meine Mutter litt an vaskulärer Demenz. Zu Beginn werteten wir das Nichterinnern an soeben zurückliegende Handlungen als die normale Altersvergesslichkeit und auch Mutter schien nicht sonderlich beunruhigt. Vielleicht spielte sie ihre Defizite aber herunter, aus Scham oder um die Familie nicht zu beunruhigen. Unsere Vermutung, dass mit Mutter etwas nicht stimmte, bestätigte sich, als Menschen ihrem Gedächtnis entschwanden, die sie erst in späteren Jahren kennenlernte.

 

Ihre geistige Leistungsfähigkeit nahm langsam aber kontinuierlich ab. Veränderungen ihrer Persönlichkeit hingegen, die Demenzerkrankungen meistens mit sich bringen, waren nicht in starkem Maße zu beobachten. Vielmehr verstärkten sich ihre alten Gewohnheiten. Antriebsschwäche und depressive Verstimmungen bestimmten auch ihr Empfinden. Ein leichtes Antidepressiva linderte die Stimmungsveränderungen.

 

Je größer der Verlust der Gegenwart wurde, desto intensiver richtete Mutter sich in der Vergangenheit ein, denn Neues ließ sich nicht mehr festhalten. Mit geradezu akribischer Genauigkeit erzählte sie Ereignisse aus ihrer Jugend und Kindheit. Einschneidende Ereignisse wie die Vertreibung aus Schlesien und der Verlust der Heimat blieben präsent. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war sie neunzehn Jahre alt. Mit sechsundzwanzig Jahren fand sie schließlich eine neue Heimat in Hamburg. Diese sieben Jahre haben ihr Leben am stärksten geprägt, die Kriegsereignisse hatte sie nie verarbeitet. In ihrer Lebensgeschichte, die sie mit achtzig Jahren für die Familie aufschrieb, nehmen die Zeiten des Krieges und der Vertreibung den größten Raum ein. Immer wieder erzählte sie von der grausamen Tragödie, die über die Welt hereingebrochen war. Auf ihre Erzählungen ging ich ein, auch wenn sie mich inzwischen langweilten. Ich kannte deren Inhalt zur Genüge und wusste, welcher Satz auf den nächsten folgte. Die Geschichten aber gaben mir die Möglichkeit, mich in ihre Welt zu begeben, denn Mutter hatte keine Chance mehr, an meinem oder einem anderen Leben teilzuhaben. In ihrer Vergangenheit fühlte sie sich zu Hause.

 

Ein eigenständiges Leben konnte sie in den letzten Lebensjahren nicht mehr führen. Sie war in hohem Maße abhängig von der Familie und fremden Personen, die meine Schwester und ich eingeschaltet hatten. Die Mutter-Kind-Situation hatte sich umgekehrt.

 

Mutter wohnte seit sechzig Jahren in ihrem Haus. Von daher fand sie sich lange in ihren eigenen Räumen gut zurecht. Doch am Ende ihres Lebens äußerte sie manchmal verwundert:

„Ich glaubte eben, ich wäre in Rückers. Aber das bin ich doch nicht? Wo bin ich denn hier?“

 

Allmählich vermischte sich die alte Heimat Rückers mit der neuen Heimat in Hamburg.

 

Mit Zunahme der Krankheit nahm die Anzahl derer ab, die sie noch erkannte. Der Hausarzt, Petra, Marga, Waltraud, sie alle wurden im Laufe der Zeit zu fremden Personen.

 

Veronikas Freundin Isabelle, die vor über fünfzig Jahren in Mutters Leben getreten war, blieb ihr bis zuletzt vertraut. Veronika, Isabelle und ich waren die Einzigen, die sie bis zu ihrem Tod sicher erkannte und richtig zuordnete. Manchmal grübelte sie:

 

„Wer ist Herbert? Ist das dein Mann oder Veronikas?“ Mich quälte die Sorge, Mutter würde mich bald nicht

 

mehr erkennen.

 

Wie lange noch würde sie in mir die Tochter sehen? Wann käme der Zeitpunkt, wo sie angstvoll und allein in

 

einer ihr fremden Welt zurückbliebe? Fragen, auf die es keine Antwort gab.

 

Jedes Fortgehen bereitete mir Unbehagen. Ich verließ die Wohnung mit dem Gedanken, der Abschied wäre vielleicht für immer.

 

Doch die Pflegebedürftigkeit entwickelte sich langsam, eine schwerste Demenz mit allen schrecklichen Konsequenzen blieben ihr und der Familie erspart. Die Funktionsfähigkeit des Gehirns kam nicht vollständig zum Erliegen, sie wurde nicht zum Pflegefall, der rund um die Uhr Betreuung benötigte. Als Mutter starb, befand sie sich in ihren Empfindungen am Ende der vierziger Jahre. Wäre sie einige Monate später gestorben, hätte sie den Zweiten Weltkrieg vermutlich noch einmal durchleben müssen. Insofern hatte sie Glück gehabt.

 

Viele Menschen machen sich keine Gedanken darüber, wie und wo sie im Alter leben möchten. Wenn das bisherige Leben ohne einschneidende gesundheitliche Einschränkungen verlief, dann wird das wohl auch im Alter so bleiben.

 

Daran glaubte auch meine Mutter. Aus ihrer Vergangenheit hatte sie gelernt, jede Hürde aus eigener Kraft zu überwinden. Sie war der festen Überzeugung, bis zuletzt alles selbst regeln zu können.

Meine Oma starb mit 86 Jahren. Sie wohnte in unserer Familie, bis zu ihrem Tod übernahm Mutter die Betreuung. Mein Vater, seit einer schweren Diphtherieerkrankung mit Diabetes behaftet, litt in den letzten Lebensjahren an häufigen epileptischen Anfällen. Als sein Gehirn krankhafte Veränderungen zeigte, legten die Ärzte der Mutter nahe, ihren Mann in ein Pflegeheim zu geben. Den meisten Pflegeheimen der siebziger Jahre haftete zwar nicht mehr der Anstaltscharakter an. Nach dem Leitbild der Krankenhäuser gebaut, waren sie jedoch kaum ein Wohnort für alte kranke Menschen. Die Einrichtung der Mehrbettzimmer erfolgte kühl und zweckmäßig, in der Regel fehlten Gemeinschaftsräume. Ihren Ehemann in solch ein Pflegeheim abzuschieben, kam für Mutter nicht infrage. Unterstützung von ambulanten Pflegediensten in der heutigen Form gab es damals nicht. Vier Jahre lang bis zu seinem Tod umsorgte Mutter unseren Vater allein zu Hause unter extremen Bedingungen. Auch deshalb stand das Thema „Seniorenheim“ in unserer Familie niemals zur Debatte.

 

Meine Schwester und ich haben nie darüber gesprochen, was mit Mutter werden soll, wenn sie es alleine nicht mehr schaffen kann. Für uns war sie immer die Frau, die in allen Lebenslagen sehr gut alleine zurechtkam. Dass dies irgendwann nicht mehr der Fall war, drang nur langsam in unser Bewusstsein vor.

 

Ich weiß nicht, was Veronika und ich getan hätten, wenn Mutter vollständig orientierungslos oder ein Pflegefall geworden wäre. Wir hatten kein Konzept, ließen die Entwicklung auf uns zukommen und hofften auf ein gutes Ende. Aufgrund des langsamen Krankheitsverlaufs wären wir in die Lage versetzt gewesen, Mutters Zukunft irgendwie zu planen. Aber ein Dialog fand diesbezüglich nicht statt. Ein Plan hätte sicherlich geholfen, den Stress zu reduzieren.

 

Wir waren uns sehr wohl der Aufgabe bewusst, für die Mutter zu sorgen. Aber wir erkannten auch unsere Grenzen und dass ein noch höherer Einsatz aufgrund der Doppelbelastung Beruf/Pflege nicht realisierbar wäre. Zudem waren Veronika und ich beide in einem Alter, wo die zusätzlichen Pflegetätigkeiten rasch an unsere Grenzen führten.

Die Unterbringung in einem Pflegeheim schlossen wir aus. Eine neue Umgebung wäre undenkbar, Mutter hätte sich in einer ihr fremden Welt nicht mehr zurechtgefunden. Die neuen Eindrücke ließen sich nicht mehr speichern, nichts wäre vertraut, alles unverständlich.

 

Während der jahrelangen Betreuung kam es aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen oft zu Spannungen in der Familie.

 

Ich arbeitete in der Nähe und war keinem Arbeitgeber unterstellt. Die Familie setzte voraus, dass ich jederzeit abkömmlich und einsatzbereit war. Ich war vor Ort, wenn Termine anstanden: Friseur, Physiotherapie, Fußpflege. Ich fuhr mit Mutter zu den Ärzten und ins Krankenhaus. Die Wäsche in Ordnung halten, Bettwäsche wechseln und die Beschaffung der Lebensmittel gehörte zu meinen Aufgaben. Die gesamte Organisation mit dem Pflegedienst, mit Isabelle, Petra, der Krankenkasse und dem medizinischen Dienst lag in meinen Händen. Ausflüge an der frischen Luft mit dem Gehwagen oder später mit dem Rollstuhl habe nur ich realisiert. Ich schlitterte in die Betreuungsfunktion hinein, ohne es wahrzunehmen. Gewissermaßen habe ich zwangsläufig die Verantwortung übernommen.

Meine Arbeit im Geschäft stand nicht zur Debatte. Oft nahm ich am Wochenende Arbeit mit nach Hause. Wichtige Angelegenheiten erledigte ich abends im Büro, bevor ich mich auf den langen Heimweg machte. Ich war in der glücklichen Lage, dass mein Mann meine Entscheidung mittrug und mich nicht unter Druck setzte. Er und die Kollegen übernahmen einen Teil meiner Arbeit im Büro.

 

Doch ich hatte den Kopf nicht mehr frei. Im Geschäft kreisten die Gedanken um Mutter und um Dinge, die für sie zu erledigen waren:

 

Habe ich ihr Essen bestellt?

Welche Lebensmittel muss ich für sie einkaufen? Sind Arzttermine wahrzunehmen?

 

Dazu die ständige Sorge wegen der nässenden Wunde am Bein:

Liegt die Wunde offen, weil sie den Verband abgewickelt hat?

Liegt erneut eine Entzündung vor, muss Antibiotika gegeben werden?

Der Grat zwischen Arztbesuch und Krankenhaus war schmal, die Angst vor einer Amputation gegenwärtig.

 

Auf dem Weg zu Mutters Haus stieg die Nervosität: Was erwartet mich, wenn ich bei ihr eintreffe?

In welcher Verfassung werde ich sie vorfinden? Wird sie nachts allein in ihrem Bett gestorben sein?

 

Gewissenskonflikte, wenn ich nicht rechtzeitig vor Ort sein konnte:

Ist sie heute aufgestanden? Wird sie etwas gegessen haben?

 

War ich bei ihr, dachte ich an die viele Arbeit im Büro und ging in Gedanken die Vorgänge durch, die an dem Tag noch erledigt werden mussten.

 

Ich versuchte, mich von diesen Gedanken frei zu machen, aber bis zum Schluss ist mir das nicht gelungen.

 

Die weite Entfernung zu meinem Wohnort war einerseits heilsam, andererseits eine Belastung. Ich war weit genug weg, um einigermaßen abschalten zu können und zu weit entfernt, um mal eben Hilfestellung zu leisten.

 

Zahlreiche weitere Faktoren führten während der sieben Jahre andauernden Betreuungszeit zu enormen Stresssituationen. Meine Schwiegermutter erkrankte an Lungenkrebs und starb ein Jahr nach der Diagnose. Während dieser Zeit konnte ich keine Hilfe von Herbert erwarten, er stand selbst am Limit seiner Kräfte. Beide haben wir versucht, heil durch den Tag zu kommen, der Arbeit im Geschäft und den Müttern irgendwie gerecht zu werden.

 

Veronika war ebenfalls berufstätig. Angestellt als Bürfachkraft in einer kleinen Firma war sie nicht so problemlos abkömmlich wie ich. Deshalb beschränkte sich ihre Hilfe für Mutter überwiegend auf den Sonntag. Meistens holte sie Mutter dann zu sich nach Hause. An den Sonntagen überließ ich Veronika die Verantwortung, konnte loslassen und durchatmen.

 

In den letzten zwei Jahren konnte Veronika Mutter nur noch selten dazu bewegen, sie zu sich nach Hause zu holen. Dann packte Veronika das Mittagessen ein, und die Familie aß gemeinsam bei Mutter. Manchmal wurde noch eine Weile gekniffelt, danach ging Mutter gewöhnlich wieder zu Bett. Mutter sagte nun häufig, sie fühle sich im Bett am wohlsten. Samstags, wenn kein Familienmitglied bei ihr war, stand sie nur noch selten auf.

 

Wenn ein nahestehender Mensch die Orientierung verliert und sein Wesen sich verändert, steht man meist ohnmächtig vor einer kaum zu bewältigenden psychischen und physischen Aufgabe. Plötzlich eintretende Situationen erzeugen bei Familienmitgliedern häufig Streit aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen. Jeder meint, das Richtige zu tun, und erwartet den gleichen Einsatz auch von den Geschwistern.

 

Ein Beispiel unterschiedlicher Sichtweisen:

 

„Ein alter Mensch hat das Recht darauf, im Bett zu bleiben, wenn die Kräfte nachlassen. Nach einem aktiven Leben hat er sich die Ruhe verdient.“

 

„Durch angemessene Aktivitäten wird die Lebensqualität erhöht, ständiges Liegen trägt zum schnellen Abbau der Kräfte bei.“

 

Ich befürchtete, Mutters Muskeln und ihre Gehirntätigkeit kämen zum Erliegen, wenn Herz und Kreislauf kaum noch beansprucht würden. Letztendlich bestünde die Gefahr eines Dekubitus, das sogenannte Wundliegen.

 

Deshalb bemühte ich mich, Mutter zumindest an den Wochentagen aus dem Bett zu locken. Mit viel Geduld ist mir dies fast immer gelungen. Wenn die erste Hürde des Aufstehens überwunden, das Anziehen und Waschen geschafft war, dann hatte sie Freude am Kniffeln und daran, dass ich ihr Gesellschaft leistete. Bei Demenzkranken lässt die Wahrnehmung im Laufe der Zeit nach. Wahrnehmung aber entsteht durch Eindrücke, und sei es nur in der eigenen Wohnung. Wahrnehmung zu fördern verlangsamt die Entwicklung der Demenz. Alles, was der Erkrankte noch alleine bewältigen kann, sollte er tun. Unterforderung fördert die Krankheit. Je mehr man ihm abnimmt, desto eher entstehen Unsicherheiten und Ängste. Ihn nicht mehr zum Aufstehen zu animieren, solange dies noch möglich ist, würde die Situation für alle Beteiligten nur verschlechtern.

 

Der Zusammenhalt der Familie in einer solch schwierigen Situation ist wichtig für das eigene Wohlbefinden. Spannungen zwischen Geschwistern durch ungleichen Arbeitseinsatz in der Pflege sind häufig und führen nicht selten zu Zerrüttungen innerhalb der Familie. Um dem enormen Druck standhalten zu können, habe ich für mich eine Erklärung gesucht, um meinen Platz im Familienverband besser einordnen zu können.

 

Früher war unsere Mutter fest in das Familienleben meiner Schwester eingebunden. Durch die Enkel Julia und Jens erfuhr sie große Freude und fand im Leben eine neue Erfüllung. Sie nahm an deren Entwicklung aktiv teil, sei es im schulischen Bereich, in Sportvereinen oder in der Kirchenmusik. Veronika sorgte auch für kulturelle Erlebnisse, indem sie Mutter öfters mit ins Theater nahm oder auf Reisen. Mutter hat viel für ihre Enkel getan, aber sie bekam auch viel zurück.

 

Ich habe keine Kinder und konnte Mutters Leben nur auf andere Art bereichern. Wir machten gemeinsame Ausflüge und unternahmen einige Kurzreisen, besuchten uns gegenseitig und waren natürlich immer füreinander da. So war es vielleicht meine Bestimmung, für Mutter im Alter zu sorgen. In den letzten Jahren sind wir uns sehr nahe gekommen. Die Krankheit gab mir die Möglichkeit, ihr meine Zuneigung zu schenken und Geborgenheit zu vermitteln. Sie hat mich niemals unter Druck gesetzt, wenn ich keine Zeit für sie hatte, freute sich über meinen Besuch und klagte nicht, weil ich fortmusste. Manchmal sagte sie:

 

„Wie schön, dass ihr euch um mich kümmert. Sonst müsste ich wohl ins Heim“.

 

Der indirekte Dank machte mir die Sache leichter. Und weil Veronika an den Sonntagen für Mutter sorgte, konnte ich dann zu Hause bleiben und Kraft tanken. Viele Betreuer haben keinen Tag in der Woche Zeit für sich alleine.

 

Aus beruflichen, gesundheitlichen oder anderen Aspekten ist Angehörigen eine Hilfe manchmal nicht möglich. Wenn die Schwester oder der Bruder keine Hilfe bieten will oder bieten kann, wäre vielleicht die Möglichkeit eines finanziellen Ausgleichs gegeben: Die Geschwister zahlen einen bestimmten Betrag für die Pflegeleistung der Schwester oder des Bruders. Ebenso könnte das spätere Erbe nach Arbeitsaufwand entsprechend aufgeteilt werden. Durch die Anerkennung ließe sich der Stress bei dem Pflegenden reduzieren und das Gewissen der anderen entlasten.

 

Von der Familie Dank zu erwarten, würde den eigenen Stress nur erhöhen.

 

„Kannst du das auch schaffen? Was kann ich tun, um dir zu helfen?“

 

Solche Fragen signalisieren Dank und Anerkennung, würden jedoch die ungleiche Arbeitsverteilung womöglich verdeutlichen.

 

Stresssituationen können auch entstehen, wenn der Pflegende ein Familienmitglied um eine Hilfeleistung bittet wie die Mutter/den Vater zum Arzt zu fahren. Wenn die gebetene Person sich erst nach langem Überlegen und diversen Einwänden dazu bereit erklärt, kommen negative Gefühle auf, weil der Eindruck vermittelt wird, der erwiesene Gefallen gelte nicht der Mutter/dem Vater, sondern einem selbst.

 

Menschen, die in einem lieblosen Elternhaus aufgewachsen sind, die Härte und Gewalt erfahren mussten, werden verständlicherweise kaum zur Betreuung der Eltern bereit sein. Sicherlich gibt es auch Menschen, die sagen:

 

„Ich habe mein Leben jetzt anders eingerichtet, es bleibt keine Zeit, mich um die Mutter oder um den Vater zu kümmern“.

 

Sich mit diesen Familienmitgliedern auseinanderzusetzen, kostet wertvolle Energie, die anderweitig benötigt wird. Vielmehr sollte man sich auf die eigenen Möglichkeiten konzentrieren und jede mögliche Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn die Geschwister weder zu Hilfestellung noch zu finanzieller Beteiligung bereit sind, muss das akzeptiert werden. Vielleicht ist es manchmal notwendig, den Kontakt zur Familie vorübergehend auf das Notwendigste zu reduzieren ‒ nicht um den anderen zu strafen, sondern um sich selbst zu schützen.

 

Doch oft bleibt keine andere Wahl als die Unterbringung in einem Pflegeheim. Die Großfamilie, wie es sie früher gab, kommt in der heutigen Gesellschaftsform kaum noch vor. Die berufliche Situation lässt eine umfangreiche Pflegetätigkeit nicht zu. Nicht selten wohnen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in verschiedenen Städten. Aufgrund der demoskopischen Entwicklung befinden sich die Angehörigen häufig selbst in einem Alter, in dem sie die Pflege nicht mehr bewältigen können. Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz zu betreuen, stellt selbst für gesunde junge Leute eine immense Herausforderung dar. Wenn finanzielle Probleme durch die höheren Kosten für Pflegebedürftige hinzukommen, steigt der Druck weiter an. Bei länger anhaltender Pflegeleistung erkennt man seine eigenen Grenzen oft zu spät. Ständig besorgt um das Wohl der Mutter oder des Vaters, tritt die eigene Gesundheit an hinterste Stelle.

 

Um das hohe Pensum zu bewältigen, war es für mich wichtig, eine Nische für mich alleine zu beanspruchen. Als Kind hatte ich Klavierunterricht. Mit Mitte vierzig habe ich das Klavierspielen wieder aufgenommen. Wann immer es die Zeit zuließ, habe ich mich am späten Abend und am Sonntag ans Klavier gesetzt. Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders musikalisch bin. Aber ich habe einen Klavierlehrer gefunden, der mir nicht die Motivation nahm. Durch das eigene Spielen habe ich zur klassischen Musik gefunden und erfahren, dass Musik mich durch Stimmungen hindurch tragen kann. So schwebte über Chopins Nocturnes ein schwermütiger Schleier, der sich mit meiner Stimmungslage verwob. Besonders geliebt habe ich das Nocturne in cis-Moll aus dem Jahre 1830. Das melancholische Klavierstück löst sich in den letzten vier Takten in sanften Dur-Klängen auf – alles wird gut. Alle vierzehn Tage fuhr ich in Hamburg zum Unterricht. Meistens kam ich dort abgehetzt an, die Gedanken kreisten um die Arbeit im Büro und um Mutter. Im Laufe der Klavierstunde legte sich die Spannung und mich befiel eine wundersame Ruhe. Ich fühlte mich im Einklang mit mir selbst. Die Gelassenheit meines Lehrers und der freundliche Raum versetzten mich in eine stille Welt, die ich so seit langem nicht mehr kannte. Gerne wäre ich nach der Klavierstunde geblieben, einfach so dasitzen zwischen all den Notenbüchern und Bildern, scheinbar schwerelos und sorgenfrei.

 

Nun ist ein Instrument zu spielen nicht jedermanns Sache. Manchmal verschaffen Entspannungstechniken wie autogenes Training oder Yoga einen inneren Ausgleich. Hobbys wie Gartenarbeit, malen, Spiele spielen und Sport können die Gedanken vorübergehend in andere Bahnen lenken. Häufig spielt das Zeitproblem jedoch eine entscheidende Rolle. Wer gleichzeitig beruflich und in der Pflege engagiert ist, wird kaum die Energie aufbringen, abends ins Fitnessstudio zu gehen. Deshalb ist eine erholsame Beschäftigung, die zu Hause ausgeübt werden kann, einfacher zu bewerkstelligen.

 

Ich war sechzig Jahre alt, als meine Mutter starb. In den Jahren der Betreuung wurde ich immer ruheloser, überschritt meine physischen Grenzen, ohne es gewahr zu werden. Wie hoch die Belastung und Anspannung war, wurde mir erst in den Monaten nach ihrem Tod bewusst. Als ich wieder Zeit und Muße hatte, brachen sämtliche Stresssymptome hervor und ich musste mich in ärztliche Behandlung begeben.

 

Und dennoch möchte die die letzten Jahre mit meiner Mutter nicht missen. Die intensive Zeit mit ihr hat mir unendlich viel gegeben. Vieles habe ich über das Altwerden gelernt und was Altsein bedeutet. Am Ende des Weges hatte meine Mutter keine Furcht vor dem Sterben und sah dem Tod gelassen entgegen. Wenn ich weiß, dass ich in meiner Todes-stunde keine Angst haben werde, dann gehe ich auch leichter durchs Leben.

 

25. Die letzten Stunden

 

Im Laufe der Jahre bemerkte ich, dass Mutters Interesse am Familiengeschehen deutlich nachließ. Zunächst konnte ich schwer damit umgehen, dass sie keinen Anteil mehr zeigte, nicht fragte, was uns beschäftigte, wie es uns ging. Sie, die immer alle Fäden zusammenhielt und die sich für die Freuden und Sorgen der Familie interessierte, wurde zusehends gleichgültiger.

 

Jetzt höre ich sie oft sagen:

 

„Wenn ich einmal friedlich einschlafe und nicht mehr aufwache, dann dürft ihr nicht traurig sein. Das ist mein größter Wunsch.“

 

„Möchtest du denn gar nicht Kimi aufwachsen sehen?“ Sie überlegt einen Moment.

 

„Kimi? Ist das nicht meine Enkelin?“

 

„Kimi ist deine Urenkelin. Sie ist jetzt acht Jahre alt“. „Na, dann wird sie wohl auch ohne mich groß werden“. Ich bemühe mich um Aufheiterung:

 

„Aber wir möchten doch noch deinen 100. Geburtstag feiern!“

 

In Unkenntnis ihres Alters, Mutter ist jetzt neunzig, antwortet sie:

 

„Wenn ich mal neunzig Jahre alt werde so wie die Martl, dann bin ich ganz zufrieden“.

 

Plötzlich ist ihr wieder eingefallen, in welchem Alter ihre älteste Schwester starb.

 

„Hast du denn gar keine Angst vor dem Tod?“, möchte ich erfahren.

 

„Nein, warum? Aber ich möchte nicht so dahinsiechen, bloß das nicht“.

 

Der einst so starke Lebenswille schwindet dahin.

 

Ich freute mich auf das Frühjahr, weil das Aufblühen der Natur Mutters Lebensgeister wecken und ihr vielleicht neue Kraft verleihen würde. Als es nun endlich warm genug ist, um draußen zu sitzen, decke ich auf der Terrasse den Kaffeetisch und spanne den Sonnenschirm auf, um eine einladende Atmosphäre zu vermitteln. Sie setzt sich zu mir, aber ich habe den Eindruck, sie tut es nur mir zum Gefallen und wäre eigentlich viel lieber im Haus geblieben.

 

Die Annahme, das Frühjahr erwecke zu neuem Lebensmut, mag auf jüngere Generationen zutreffen. Bei einem alten von Krankheit gezeichneten Menschen steht das Erblühen der Natur im Widerspruch zu seinen eigenen Empfindungen. Nicht im Herbst ist die Sterbequote am höchsten, sondern in den Monaten Januar bis März, wenn die Tage heller werden und der Frühling sich bereits erahnen lässt.

 

In diesem Frühjahr feiert die Familie das Osterfest gemeinsam im Haus der Mutter. Warme Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch weiße Wolken hindurch, bei Kaffee und Kuchen sitzen wir gemütlich auf der Terrasse. Mutter beobachtet teilnahmslos das Geschehen. Als Kimi übermütig auf dem Rasen herumtollt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie sieht noch blasser aus als gewöhnlich und offensichtlich fühlt sie sich nicht gut. Aber sie isst ein wenig von dem Kuchen, den Veronika gebacken hat.

 

Am Abend helfe ich ihr zeitig ins Bett. Bei der Blutdruckkontrolle stelle ich starke Schwankungen fest, der Pulsschlag ist hoch. Wegen der Ostertage hat die Arztpraxis geschlossen und so warten wir mit dem Arztbesuch bis Dienstag.

 

Am Dienstag fahre ich am Morgen zu ihr. Nun ist der Blutdruck einigermaßen stabil, ich zögere mit dem Arztbesuch, denn die vertraute Umgebung zu verlassen ruft jedes Mal Stress bei Mutter hervor. Ich vereinbare mit dem Pflegedienst, dass morgens und abends der Blutdruck gemessen wird. Mittags werde ich das übernehmen. Als am Donnerstag wieder starke Blutdruckschwankungen auftreten und das Messgerät schließlich nur noch Fehlermeldungen anzeigt, überprüfe ich die Batterien, aber die sind in Ordnung. Ich vereinbare einen Arzttermin.