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Thomas Le Blanc (Hrsg.)

Auf phantastischen

Pfaden

Eine Anthologie mit den
Figuren Karl Mays

KARL - MAY - VERLAG
BAMBERG
RADEBEUL

Herausgeber der Reihe „Karl Mays Magischer Orient“:
Thomas Le Blanc und Bernhard Schmid

In der Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ sind bisher erschienen:

Band 1 – Alexander Röder Im Banne des Mächtigen

Band 2 – Alexander Röder Der Fluch des Skipetaren

Band 3 – Alexander Röder Der Sturz des Verschwörers (2017)

Band 4 – Alexander Röder Die Berge der Rache (2017)

Thomas Le Blanc (Hrsg.) Auf phantastischen Pfaden

Eine Anthologie mit den Figuren Karl Mays

Weitere Informationen finden Sie im Internet auf
www.magischer-orient.karl-may.de

© 2016 Karl-May-Verlag, Bamberg

Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten
Illustration: Elif Siebenpfeiffer
Umschlaggestaltung: Petry & Schwamb, Freiburg

ISBN 978-3-7802-1499-7
www.karl-may.de

Inhalt

Vorwort

MIT KARA BEN NEMSI IM MAGISCHEN ORIENT

Maike Braun: Die Weisheit des Hadschi Halef Omar

Hans-Dieter Furrer: Fata Morgana

Thomas Le Blanc: Merhamehs Tochter

Jacqueline Montemurri: Das Vermächtnis des Kara

Monika Niehaus: Das Auge des Zyklopen

Alexander Röder: Die Zedern des Libanon

Friedhelm Schneidewind: Senitzas wahre Befreiung

Jörg Weigand: Halef in Nöten

Thomas Le Blanc: Allein mit Qendressa

Kai Riedemann: Durch Wüste und Hades

MIT OLD SHATTERHAND BEI DEN SCHAMANEN DER INDIANER

Kirsten Brox: Zedernzauber

Karl-Ulrich Burgdorf: Der Frevel des Waka-teh

Paul Felber: Windigo

Kai Focke: Wetten unter Gentlemen

Tanja Kinkel: Lehrmeister

Holger Marks: Begegnung mit einem Scout

Jacqueline Montemurri: Durchs wilde Ernstthal

Tim Piepenburg: Der Shatterhand Security Service

Kai Riedemann: Unter der Teufelskanzel

Rainer Schorm: Old Undeath

Anja Stürzer: Old Onehand

Karla Weigand: Das Geisterpferd

Ansgar Schwarzkopf: Reservat

Über die Autoren

Vorwort

Als Karl May in den 1880ern und 1890ern seine beliebten und erfolgreichen Reiseerzählungen verfasste, da konnte er seine Helden in exotischen Kulissen wie der Prärie, den Kaktuswüsten und den Felsengebirgen des amerikanischen Westens, den argentinischen Pampas, den nordafrikanischen und arabischen Sandwüsten sowie dem wilden Kurdistan und einigen hinterindischen Inseln frei agieren lassen, da alle diese Schauplätze dem damaligen Leser wie Traumwelten erschienen, weil es seine finanziellen wie logistischen Möglichkeiten überstieg, diese Weltgegenden selbst zu besuchen. Heute bieten ungezählte Reiseveranstalter an, für erschwingliche Preise uns in jeden Winkel dieses Planeten zu transportieren, außerdem können wir mittels Google Earth jeden beliebigen Ort der Erde am heimischen PC aus der Vogelperspektive betrachten.

Wenn Karl May heute noch leben würde und seine Leser heute zu literarischen Abenteuern in unbekannte Regionen entführen wollte, dann müsste er Fantasy schreiben und seine Geschichten in magisch verfremdeten irdischen Gegenden oder gar in parallelen Welten mit fiktiver Geografie ansiedeln. Wie solch phantastische Geschichten mit den uns vertrauten Helden aussehen könnten, das zeigen wir in dieser Anthologie, mit der wir quasi auf phantastischen Pfaden wandeln wollen. Wir haben deshalb einige moderne deutsche Autoren gebeten, Karl Mays literarisches Universum nicht bloß um neue Abenteuer, sondern um neue phantastische Abenteuer zu bereichern.

Die Autoren haben sich auf Karl Mays bevorzugte Weltgegenden beschränkt – auf den Orient des Osmanischen Reichs und auf den Wilden Westen – und haben einerseits die Fabelwesen aus 1001-Nacht-Geschichten und andererseits das schamanische Denken der nordamerikanischen Indianer in ihre Abenteuer eingebracht. Aber sie sind auch noch einen Schritt weitergegangen und haben das Vermischen von Welten, das Karl May so virtuos beherrschte, aufgegriffen und Karl May selbst in sein imaginiertes Universum hineingetragen und somit seine literarischen Träume neu geträumt.

So sind 23 abenteuerliche Erzählungen von 20 Autoren entstanden, humorvolle wie auch dramatische Geschichten, Geschichten, die nahe am Karl-May-Feeling geblieben sind, sowie einige sehr bemerkenswerte Phantasien, die die Barriere zwischen Erzähler und Held durchbrochen haben – auf diesem literarischen Pfad bewegte sich Karl May sein Leben lang. Durchweg sind es Geschichten geworden, bei denen man von der ersten bis zur letzten Zeile spürt, mit welchem Vergnügen sie geschrieben wurden.

Ich wünsche deshalb allen Lesern, dass sie mit eben solcher Freude die hier präsentierten Abenteuer lesen werden.

Thomas Le Blanc

Maike Braun

Die Weisheit des Hadschi Halef Omar

Ich riss mich wahrlich nicht darum, den Schott noch einmal zu durchqueren. Aber wenn wir unsere Verabredung einhalten wollten, blieb uns nichts anderes übrig. Der Weg von der kleinen Oasenstadt im Süden des Landes, von woher wir kamen, um den See herum bis nach Tozeur war wesentlich länger als die direkte Durchquerung. Unser Freund Omar begleitete uns auch dieses Mal, doch ich merkte gleich, dass er sich nicht wohl dabei fühlte. Vielleicht lag es an dem weiteren Reisenden, einem Korbhändler, der sich uns mit seinen mit sperrigen Palmwedeln und Körben aller Art bepackten Lastkamelen angeschlossen hatte. Jedenfalls schien unsere Reise unter keinem guten Stern zu stehen.

Kaum hatten wir die Oasenstadt hinter uns gelassen, als eines der Lastkamele des Händlers zu lahmen begann. Wir debattierten, ob wir zurückkehren sollten, doch der Korbhändler hatte es genauso eilig wie wir, und Omar war auf das Geld angewiesen.

Gerade passierten wir eine Felsengruppe, die den Beginn des Sees markierte. Irgendwer spielte auf einer Flöte ein einsames Lied. Es klang, als wehte es vom Jenseits herüber. Mein kleiner Berberhengst warf aufgeregt den Kopf in den Nacken. Selbst Halef, der sonst kaum in seinem Redefluss zu bremsen war, starrte finster vor sich hin.

„Was hast du?“, fragte ich ihn.

„Ich glaube, wir fordern das Schicksal heraus“, antwortete er und sprach aus, was mir schon die gesamte Zeit schwer auf der Seele lag. Er sei die Schluchten des Dschebel Aures hinunter- und wieder hinaufgeklettert, habe den Dschebel Chelia erklommen – was nicht stimmte, da uns der Führer zum höchsten Gipfel des Gebirges kurzfristig abgesprungen war – Allah sei Dank immer wohlbehalten, und noch immer habe er seiner Pflicht als Rechtgläubiger nicht Genüge getan, schlimmer noch, er befinde sich bald weiter denn je von Mekka entfernt.

„Ich verspreche dir, mein lieber Halef, du wirst deine Pilgerreise bald antreten können. Ich werde dich nach Kräften dabei unterstützen.“

„Das würdest du, ein Ungläubiger, für mich tun?“

„Wenn ich es dir doch sage.“

Sofort trat ein munteres Glitzern in die Augen meines Dieners und er schlenkerte mit den kurzen Beinen auf seinem klapprigen Gaul.

Dann ließen wir den letzten sicheren Grund hinter uns und vor uns breitete sich eine weiße Ödnis aus, die sich über den gesamten Horizont erstreckte. Tiefe Risse durchzogen die Salzkruste, als ob sich die Erde selbst schuppte, darüber spannte sich ein ausgebleichter Himmel. Niemand sprach.

Vorsichtig betrat Omar den Schott, gefolgt von dem Korbhändler, der nervös um sich blickte. Ich bildete den Abschluss.

Plötzlich veränderte sich der Untergrund rechts und links unseres schmalen Pfades. Eine in giftigem Rosa gefärbte Salzlake leckte an dem schmalen Streifen begehbaren Untergrunds. Omar erzählte, wie einmal ein Verzweifelter davon Wasser geschöpft hätte und wenige Stunden später an den Krämpfen in seinem Leib verendet sei.

„Allmächtiger Gott, bewahre uns vor solchem Schicksal“, hörte ich Halef vor mir.

Schweigend ritten wir voran. Mein kleiner Diener drehte sich immer wieder um, um sich anhand der schwindenden Felsbrocken am Eingang des Salzsees zu überzeugen, dass wir uns vorwärtsbewegten. Der Horizont gab uns keinerlei Anhaltspunkte. Wir hätten genauso gut auf der Stelle treten können.

Die Farbe der Salzkruste veränderte sich. Auf der Oberfläche hatte sich Wasser angesammelt. Omar hielt an, um den Untergrund zu prüfen.

Der Korbhändler drängte ihn weiterzugehen. „Ich sehe keinen Unterschied zwischen hier“, er deutete auf die Stelle, vor der Omar stehengeblieben war, „und dort“, er deutete auf den Pfad, den wir gekommen waren.

„Du kannst geradeaus weitergehen, wenn es dir beliebt“, sagte Omar. „Ich aber werde einen Bogen um diese Pfütze einschlagen.“

Mürrisch folgte ihm der Händler.

„Der Mann gefällt mir nicht, Sihdi. Ich glaube, ihm folgt ein böser Geist, ein Dschinn.“

„Wir können ihn aber nicht zurücklassen.“

Darauf wusste Halef keine Antwort. Aber es erging mir genauso wie ihm. Entweder der Mann war wirklich in großer Eile, oder er führte etwas im Schilde. Wie dem auch sei, jetzt war es zu spät, darüber nachzudenken. Auf dem Schott galt es zusammenzuhalten, sonst war man verloren.

Ich weiß nicht, wie lange wir so weitergingen. Ich hing meinen Gedanken nach, sah mich im Schatten von Palmen Datteln verzehren, mich in meinem Lieblingskaffeehaus in Tozeur an der köstlichen Flüssigkeit laben, malte mir aus, auf einer Dehabïe den mächtigen Nil entlangzusegeln ...

... und fiel fast vom Pferd. Die Hitze musste mir mehr zugesetzt haben als gedacht, und ich war kurz weggetreten. Mein kleiner Diener stand neben mir und richtete mich wieder auf. Ich lächelte ihm dankbar zu, als mir das grünlich schimmernde Wasser um die Fesseln seines Pferdes auffiel. „Halef!“, rief ich und klopfte seinem Gaul auf den knochigen Hintern, als er nicht sogleich reagierte und weiterritt. Seiner Mähre hatte die Hitze wohl auch zugesetzt, denn sie bäumte sich auf, und Halef, völlig von dieser unerwarteten Kraftanwandlung seines Pferdes überrascht, stürzte zu Boden. Ich sprang sogleich von meinem Berberhengst, um ihm zu Hilfe zu eilen.

Ich weiß nicht, was in diesem Moment in Halefs Kopf vorging, doch er trat einen Schritt zur Seite von mir weg, statt auf mich zu.

Sofort brach er ein. Grünes Salzwasser schnappte nach seinen Knöcheln, seinen Waden – ein Ruck, und nur noch sein Oberkörper ragte heraus. Ich warf mich flach auf die Salzkruste, der Riss vergrößerte sich, öffnete sich wie das Maul eines hungrigen Ungeheuers, Halefs Hand verschwand und dann sah ich nur noch die angstgeweiteten Augen meines Dieners.

Das alles geschah schneller als ein Wimpernschlag.

Allah ïa Sahtir, o du Bewahrer, so hilf mir!, rief Halef und ruderte mit den Armen. Für einen Moment schöpfte er Hoffnung, als sich sein Turban in der Salzkruste über ihm verhakte und sein Fall sich verlangsamte – allah kerim, Gott ist gnädig –, bis das Tuch riss und er mit halb entblößtem Haupt tiefer hinabsank. Der letzte Lichtfleck schrumpfte auf einen Punkt, dann war auch dieser erloschen.

Ich griff nach dem Seil, das mir Omar reichte, und warf es Halef hinterher. „Halt dich fest, Halef!“, rief ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte. Es verschwand in dem grün schillernden Loch. Nur die Spitze von Halefs Turban war noch zu sehen. Doch dann – dem Herrn sei Dank! – blieb Halef stecken, hatte vermutlich festen Grund unter den Füßen gefunden, jedenfalls sank er nicht tiefer.

Ich robbte ein paar Zentimeter weiter, um ihn am Arm zu greifen, als das Loch weiter aufbrach und mich ebenfalls in den Abgrund zu ziehen drohte. Ein Stück von Halefs Turban löste sich, ich griff danach, versuchte die Stoffbahn und damit meinen treuen Diener einzuholen wie ein Fischernetz, doch das Tuch riss.

Von Halef keine Spur. Nicht einmal Luftblasen.

Er sank weiter, das Salz brannte auf seinen Lippen und in seinen Augen, sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb, verlangte hinaus, drohte die Lunge zu sprengen, als er Boden unter den Füßen spürte. Allah akbar, Gott ist groß, presste er in Gedanken hervor und versuchte sich abzustoßen. Doch es gelang ihm nicht. Stattdessen fiel er auf die Knie und der letzte Rest Luft entwich ihm. Da wusste er, das Ende war gekommen, und er bereitete sich auf das Sterben vor. La illah illa e llahu, es gibt keinen Gott außer Gott.

Hinter dem kalten Schleier des Salzwassers sah er ein grünliches Licht aufleuchten.

O Allah, Allmächtiger, ist das der Eingang zur Hölle, sollte es tatsächlich so weit sein?

Er schmeckte das bittere Salz seiner Tränen, als sich eine Gestalt aus der phosphoreszierenden Finsternis schälte. Es war ein Mann nach Art der Türken gekleidet. Er trug eine Pumphose und einen Spitzbart. Der Schnurrbart war dünn und schmal wie auch sein Träger. Seine Augen funkelten wie Smaragde im Kerzenschein. Er beugte sich zu Halef hinunter und reichte ihm die Hand.

„Ich brauche ein paar Palmwedel, schnell“, sagte ich zu Omar, „wir müssen mein Gewicht auf eine größere Fläche verteilen.“ Im Hintergrund hörte ich den Händler erst Stoßgebete aussenden und dann Omar beschimpfen. Der ließ sich davon nicht von seinem Vorhaben abbringen und löste rasch ein Bündel Palmwedel von einem der Kamele.

„Gott erbarme dich, genauso habe ich es in meinem Traum gesehen“, rief der Händler. „Wir können nichts mehr für ihn tun, lasst uns weitergehen, damit uns nicht dasselbe Schicksal ereilt“, fuhr er fort und zerrte an meinem Arm.

„Mach dich nützlich“, herrschte ich ihn an, „und führe die Tiere ein Stück vor und wieder ein Stück zurück.“ Die Gefahr, dass er sich auf eigene Faust durchkämpfen würde, schätzte ich als gering ein. Mut war nicht seine Stärke. Aber es war wichtig, dass die Tiere nicht zu lange auf der Stelle verharrten, weil sonst die Gefahr bestand, dass ihr Gewicht die tragende Salzschicht durchbrach. Außerdem konnte ich das Gejammer des Mannes nicht länger ertragen.

„Versuch es damit“, sagte Omar, der in der Zwischenzeit ein paar der Palmwedel notdürftig miteinander verflochten hatte.

Ich ging ein Stück um die Einbruchstelle herum und robbte mich Zentimeter für Zentimeter auf der behelfsmäßigen Unterlage dichter an die Stelle heran, an der ich Halef vermutete. Zwar sank ich auch hier einen Daumen breit ein, doch die provisorische Matte trug mein Gewicht. Omar wies ich an, in der Zwischenzeit das Seil an einem der Wedel zu befestigen. Als ich mich so weit auf das Salz hinausgewagt hatte, wie mir möglich schien, stocherte ich mit diesem Wedel in dem grün schillernden Spalt.

Dankbar ergriff Halef die ausgestreckte Hand, und im selben Moment konnte er nicht länger an sich halten und riss den Mund auf. Doch maschallah, Wunder Gottes, statt brackigem Salzwasser strömte herrliche, klare Luft in seine Lunge hinein. Fast meinte er den Duft von Jasmin einzuatmen. Er blähte die Nasenflügel auf und sog das köstliche Nass in sich hinein.

Hamdulillah, Preis sei Allah, rief er und ließ die Hand des Fremden los, um auf die Knie zu sinken und Allah, dem Barmherzigen, dafür zu danken, seine Sünderseele gerettet zu haben. In dem Moment schnürte sich seine Kehle zusammen, ein Hustenanfall rüttelte seinen Leib und er versuchte mit der letzten ihm verbleibenden Kraft, das Wasser, das plötzlich wieder in ihn hineinströmte, hinauszupressen.

Oh, du Hund, Verfluchter, welch übles Spiel spielst du mit mir?, wollte er dem Fremden zurufen, doch er stieß nur Wolken braunen Wassers aus.

Der Fremde griff nach ihm, und im selben Moment vermochte Halef wieder zu atmen. Willig folgte er seinem Retter durch das grüne Dämmerlicht.

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Es war Omar. Er sah mich schweigend an. Er hatte seinen Vater an den Schott verloren, und wir hatten ihn überzeugen müssen, ihn dem Salz zu überlassen. Jetzt war es an ihm, mich im Leben zu halten.

Aber ich wollte nicht aufgeben, noch nicht.

„Ich will es nur noch einmal etwas weiter hier drüben versuchen“, sagte ich, erhob mich vorsichtig und ging ein paar Schritte weiter.

„Sihdi, es ist genug“, sagte Omar und fasste mich sanft am Arm. „Wir können nichts mehr für ihn tun.“

Halef konnte nicht sehen, wohin er trat, doch spürte er Steine unter seinen Sandalen, dann wieder weichen Untergrund, als ob unter dem Salzsee ein weiterer verborgen sei. Vielleicht befand er sich doch in der Dschehenna, der Hölle, und sein Führer brachte ihn lediglich zu dem ihm vorherbestimmten Platz. Die Angst legte sich um Halefs Brust wie Lederriemen, und mit jedem Schritt schnitten sie stärker ein. Er wurde langsamer und langsamer.

Der Fremde blieb stehen und musterte ihn.

So schnell gibst du auf?, schien sein Blick zu sagen.

Irgendetwas an seinem Retter erinnerte ihn an den Effendi, vielleicht der spöttische Blick. Halef gedachte all der Abenteuer, die sie zusammen ausgestanden hatten, und ihm wurde warm dabei ums Herz. Ich werde dich nicht enttäuschen, Sihdi, sagte er und spürte, wie sich das Lederkorsett um seine Brust lockerte und sein Atem wieder leichter ging. Mit der Luft strömte Hoffnung ein, und er nahm sich fest vor, den Weg tapfer und aufrecht bis zum Ende zu gehen, ganz gleich, was da noch kommen mochte.

Ich richtete mich auf, als plötzlich der Boden zu schwanken schien. Wie auf einer Eisscholle trieb ich ein Stück nach links. Auch die Tiere bemerkten die Veränderung und begannen unruhig zu werden. Etwas bewegte sich im Untergrund, als ob ein riesiger Lindwurm seine Kreise unter uns zog, bereit, jederzeit zuzuschnappen.

„Allah ïa Sahtir, o du Bewahrer, hilf uns!“, rief der Händler und warf sich auf die Knie. „Es geschieht genau wie in meinem Traum. Nur ein Baum kann uns jetzt noch retten.“

„Ein Baum, bist du verrückt geworden?“ Omar deutete auf das gleißende Weiß um uns. Er hatte Mühe, die Tiere beieinanderzuhalten. Wenn wir nicht bald festeren Untergrund finden würden, wären auch wir verloren.

Sie kamen an eine düstere Burg. In dem schummrigen Licht konnte Halef nur die Umrisse ausmachen. Zwischen zwei Toren stand ein Wächter mit gekreuzten Armen und einem Krummsäbel an der Seite. Er nickte Halefs Retter finster zu.

Der verneigte sich und schickte sich an zu gehen. Halef lief ihm hinterher. Noch einmal würde er nicht die Hand seines Retters loslassen und erneut eisiges und zugleich in der Kehle brennendes Wasser einatmen.

Doch der Wächter hielt ihn am Arm fest. Er deutete auf einen Teppich vor ihm.

Solange du dich darauf befindest, passiert dir nichts, hörte Halef eine tiefe Stimme in seinem Kopf. Und jetzt erkläre mir, warum ich dich nicht zu den anderen schicken soll.

Er stieß mit der Hand eines der Tore auf. Dahinter befand sich eine Höhle, in der eine dreiköpfige Bestie, eine Mischung aus Atlasbär und Schakal, an seinen Ketten rüttelte. Vor ihm lagen die zerrissenen Leiber anderer Opfer des Schott. Manche waren bereits bis auf die Knochen abgenagt, andere schienen erst vor Kurzem diesem Ungetüm zum Fraß vorgeworfen worden zu sein.

Halef wusste keine Antwort auf die Frage des Wächters.

Sollte das die Hölle sein? Aber wo befand sich dann Ssirath, die Brücke, die so schmal war wie die Klinge eines Schwertes, und das Kitab, das Buch der guten und der bösen Taten?

Der Wächter schien seine Gedanken zu hören, denn er sagte: Das hier ist der Seiteneingang, und drückte mit seiner Pranke das zweite Tor einen Spaltbreit auf.

Halef erblickte einen lieblichen Garten. Jasmin rankte sich an einem Holzgatter, in einem Brunnen plätscherte das Wasser, Palmen spendeten Schatten.

Ist das Dschennet, das Paradies?, fragte Halef.

So ist es, aber in deinem Fall ist wohl eher die Dschehennah, die Hölle hier links, angemessen, sagte der Wächter, und sein Lachen schepperte in Halefs Kopf.

Halef fiel auf die Knie. Allah akbar, Gott ist groß, ja, ich habe gesündigt, gewiss habe ich dem einen oder anderen Dummkopf mehr Piaster abgeschwatzt als angemessen, aber das ist doch keine Sünde.

Schweig!, donnerte es in seinem Schädel, und Halef presste die Hände gegen die Ohren.

Als die Stimme des Wächters verhallt war, fragte er kleinlaut: Was also wirfst du mir vor?

Du nennst dich Hadschi Halef Omar, sagte der Hüne. Ist es nicht so?

Halef nickte.

Wie der Vater und der Vater deines Vaters?

Wiederum nickte Halef. Er wusste, was jetzt kam, doch er wagte nicht zu sprechen.

Das ist auch gut so, sagte der Hüne in seinem Kopf, der offensichtlich Halefs Gedanken hören konnte.

Was geschieht mit Lügnern und Heuchlern?, fragte der Wächter und Halef schwieg.

Nicht einmal das weißt du?

Der siebente Höllenkreis ist für die Lügner vorgesehen, flüsterte Halef.

Wie bitte? Sag es laut, ich will es hören, tönte es in Halefs Kopf.

Lügner und Heuchler brennen im siebenten und tiefsten Höllenkreis, sagte Halef.

So ist es. Bist du also bereit, durch das linke Tor in den Vorhof der Hölle zu treten?

Die Frage des Wächters erklang nun so laut in Halefs Kopf, dass er Angst hatte, sein Kopf werde bersten.

Ich bitte dich, o Herr, mir noch so lange Atemluft zu schenken, bis ich dir meine Erklärung unterbreitet habe, sagte Halef. Dann werde ich mich willig durch das linke Tor begeben und mich dieser dreiköpfigen Bestie zum Fraß vorwerfen, und die abscheulichsten Kreaturen, die hier unten hausen, Würmer und Krebse und wer weiß noch welches Teufelsgetier, sollen sich an mir weiden, und ich werde es klaglos hinnehmen. Den schlimmsten Tod will ich willig ertragen und Allah dafür preisen, denn gerecht ist er, wenn du denn so entscheidest, nachdem du meine Rede empfangen hast.

Der Hüne verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Halef misstrauisch.

Nun gut, sagte er schließlich, du hast einen Versuch, mich davon zu überzeugen, dich nicht in die Hölle zu schicken. So lautet das Gesetz.

Du Herrlicher, allah, allah maschallah – Gott tut Wunder, ihm sei Dank, ich danke dir für diese Gelegenheit.

Der Hüne winkte ab. Komm zur Sache, ich habe nicht alle Ewigkeit.

Es stimmt, o Herr, du sollst mein Richter sein, sagte Halef und warf sich auf die Knie. Ich habe die Hadsch nicht vollendet …

Du gibst es also zu, eine Lüge. Der Wächter stieß das linke Tor weit auf, ein fauler Geruch nach Gerbstoffen und Gülle drang heraus. Er bedeutete Halef hindurchzutreten. Halef winkte mit beiden Händen ab.

Keine Lüge, Effendi, keine Lüge, wenngleich mir bewusst ist, dass es an der Oberfläche wie eine aussehen könnte.

An der Oberfläche, sagst du? Da bin ich ja gespannt. Aber fasse dich kurz. Meine Ohren sind langes Zuhören nicht mehr gewohnt.

Suchend sah sich Halef nach etwas um, das ihm in dem dämmrigen Grün eine Hilfe sein könnte. Dann hatte er einen Einfall.

Es ist wie der Schott el Dscherid, o Effendi, fuhr er fort. Von Weitem betrachtet sieht er aus wie ein großer, flacher und ausgetrockneter See. Eine Kruste aus Salz glitzert in der Sonne, der Wanderer macht sich dafür bereit, Schrunden an den nackten Füßen zu bekommen, sich vielleicht die Zehen aufzuschürfen …

Du sollst dich kurz fassen, habe ich gesagt. Ich bin nicht von gestern. Er rieb sich die Ohrmuscheln, als schmerzten sie von Halefs Rede.

Halef nickte eifrig.

Unter diesem See, dem Schott, verbirgt sich eine ganze Welt, er beschrieb mit dem Arm einen Bogen, diese, deine Welt. Es ist ganz anders hier unten, als man sich das oben jemals vorstellen könnte. Genauso, mein Herr, verhält es sich mit meiner Pilgerfahrt.

Der Wächter rollte mit den Augen und steckte sich einen Finger in das Ohr. Nachdem er ihn ein paar Mal hin- und hergedreht hatte, forderte er Halef auf, weiterzusprechen.

Du bist doch hier schon eine Ewigkeit, Herr?

Vom Anbeginn der Zeiten bis zu deren Ende.

Es gibt also keine Zukunft und keine Vergangenheit wie für uns Sünder, habe ich Recht?

Da magst du richtig liegen.

Siehst du, so ist es mit meiner Pilgerreise. Es ist nicht so, dass ich sie nicht gemacht hätte.

Sofort verfinsterte sich das Gesicht des Wächters. Willst du mich zum Narren halten? Komm zur Sache!

Nein, o Herr, selbstverständlich nicht. Deine Weisheit ist unermesslich. Aber ich habe die Hadsch gemacht – in der Zukunft. Ich habe die Pilgerreise schon so oft in Gedanken durchgeführt, dass es mir zur Gewissheit wurde. Ich habe die Wahrheit gesagt, aber eine Wahrheit, die in der Zukunft spielt. Wenn du aber, o weiser, gnädiger, geduldiger Wächter dieser Tore, mich jetzt schon dieser Bestie zum Fraß vorwirfst, muss der Eintrag ins Kitab, das Buch der guten und bösen Taten, gestrichen werden. Wenn du mich jetzt meines Lebens beraubst, dann bist du es, der mich zum Lügner macht. Denn erst am Ende meiner Tage, am Ende eines vollen Lebens wird sich zeigen, ob ich gelogen habe. Du bist also derjenige, der das, was schon ins Kitab eingetragen war, mein Lobpreisen zu Ehren Allahs, zunichte macht. Das kannst du doch nicht wollen?

Doch der Wächter hörte gar nicht hin, sondern hielt sich die Ohren zu.

Wäre es nicht gerechter, mich zurückzuschicken, damit ich die Zukunft erfülle, die Gewissheit gewiss werden lasse, statt mich hier unten verrotten zu lassen?, fuhr Halef fort.

Oh, verflucht, unterbrach ihn da der Wächter, schlimm genug, dass ich dir in deinem Kopf zuhören muss. Aber du bist auch in dem meinen. Hör auf damit und mach, dass du davonkommst. Das Höllentor fiel mit einem lauten Krachen zu.

So lässt du mich also in das Paradies eintreten?

Nein, du Dummkopf, ich schicke dich wieder nach oben, damit du deine Zukunft erfüllen kannst.

In dem Moment schloss sich auch das Tor zum Paradies wieder.

Halef warf sich zu Boden. Hamdulillah, Preis sei Allah, rief er wieder und wieder.

Sei endlich still!, rief der Wächter und legte den Arm über den Kopf, um seine Ohren zu schützen.

Für eine Weile hing unser aller Schicksal in der Schwebe. Jeden Moment konnten wir einbrechen. Schritt für Schritt tasteten wir uns vor, bis wir wieder festen Untergrund unter den Füßen spürten. Dennoch fühlte ich keine Erleichterung. Im Gegenteil, ich hatte meinen treuen Diener im Stich gelassen und nun auch meine Reisegefährten mit in den Tod gerissen, denn wir hatten jegliche Orientierung verloren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir in der glühenden Sonne eines qualvollen Todes starben.

Der Korbhändler drehte sich im Kreis und faselte von seinem Traum, nach dem nur ein Baum uns retten könne. „Mitten auf dem Schott“, rief ich, „denk doch mal nach: Wo soll denn hier ein Baum herkommen?“

Omar schirmte mit der Hand die Augen ab und suchte den Horizont nach Markierungen oder anderen Reisenden ab. Nichts. Nichts außer Salz und Sonne.

Nur noch eine Frage, sagte Halef, der Morgenluft witterte.

Du versprichst: eine und keine mehr?, fragte der Wächter gequält. Halef nickte.

Der Effendi und seine Gefährten haben womöglich den Weg aus den Augen verloren…

Die Frage!

Wie finden wir sicher über den Schott?

Weiter nichts?

Jetzt war es an Halef, den Kopf zu schütteln.

Nicht grundlos heißt der Schott ‚See der Markierungen‘, erklärte der Hüne. Du folgst den Baumstämmen. Vier einzelnen Baumstämmen folgt ein Paar von Baumstümpfen, dann wieder vier einzelne im Abstand von 60 Schritt.

Allah segne dich, o Herr, in deiner Güte und Weisheit … Mach, dass du verschwindest!

Der Hüne packte Halef am Burnus und schleuderte ihn nach oben.

Und in diesem Moment schoss Halefs Kopf durch das krustige Salz nach oben. Grelles Licht blendete seine Augen und für einen Augenblick glaubte er sich im Paradies oder doch zumindest auf dem Weg dorthin, als er eine rettende Hand spürte.

Da entdeckte der Korbhändler einen Baumstumpf und lief ohne darüber nachzudenken darauf zu.

Omar folgte ihm vorsichtig. „Sihdi, eine alte Wegmarkierung“, rief er, als er ihn erreichte.

Keine zwei Armlängen von mir entfernt begann das Salzwasser zu brodeln, und ein Kopf schoss in die Höhe. Halef! Mein lieber kleiner, treuer, mutiger, tapferer Halef! Sogleich lief ich auf ihn zu und streckte beide Hände nach ihm aus.

Ich glaube, in diesem Moment wäre es mir egal gewesen, wenn ich mit ihm versunken wäre. Ich zog ihn heraus, auf den festen Boden direkt neben dem Baumstamm.

Halef prustete und hustete, und als er wieder sprechen konnte, deutete er auf die Markierung und sagte: „Wahrhaft, Effendi, du bist der größte Weise unter der Sonne Allahs, des Allmächtigen. Woher hast du von dieser Markierung gewusst?“

Der Händler kniete fassungslos neben dem Baumstamm und betastete ihn, um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Fata Morgana handelte.

Wir sollten noch einige Abenteuer durchstehen, bevor wir uns auf den Weg nach Mekka machten. Die Reise über den Schott jedoch verlief ohne weitere erwähnenswerte Ereignisse.

Hans-Dieter Furrer

Fata Morgana

Um die Mittagszeit rasteten wir im Wadi Tarfaui im Schatten eines mächtigen Felsbrockens.

„Sihdi, da drüben ist der Schott!“ Halef deutete nach Osten, in die Ebene hinaus, wo etwas glitzerte und glänzte wie flüssiges Blei.

„Mein lieber Halef, von hier aus kann man den Schott el Dscherid noch nicht sehen. Es muss sich um eine Fata Morgana handeln, eine Sinnestäuschung. Du wirst sehen, der Salzsumpf wird sich, wenn wir ihn erreichen, in Luft aufgelöst haben.“

Da es ohnehin meine Absicht war, das Wadi zu verlassen und nach Osten abzubiegen, ritten wir eine Stunde später direkt auf die Erscheinung zu. Doch je näher wir dieser glänzenden und gleißenden Luftspiegelung kamen, umso genauer konnte ich erkennen, dass es gar keine Fata Morgana war. Unzählige wannenförmige Spiegelflächen blitzten in langen Reihen vor uns im Sonnenlicht. Und kurz vor dem rätselhaften Spiegelfeld scheute mein kleiner Berberhengst, stellte sich auf die Hinterbeine und hätte mich beinahe abgeworfen.

Auch Halef bekundete große Mühe, seine Stute zu beruhigen. „Was ist das, Sihdi? Ich glaube, wir sollten uns einen anderen Weg suchen.“

Doch meine Neugier war geweckt, mein Entschluss gefasst. Ich stieg ab, riet Halef das Gleiche, und wir führten unsere unruhigen Pferde am Zügel weiter.

Da! – Es fühlte sich an, als ob man durch einen unsichtbaren Vorhang aus Spinnweben treten würde. Ich blieb stehen und entdeckte die seltsamen Radspuren. Sie mussten von einem Gefährt mit breiten Rädern stammen, die regelmäßige Zackenmuster in den Sand gedrückt hatten.

Halef machte große Augen. „Sihdi, kannst du diese Spuren lesen? Mir erscheinen sie wie die von Riesenschlangen aus der Dschehenna.“

„Ich glaube nicht, dass uns diese Spuren geradewegs in die Hölle führen“, beruhigte ich meinen treuen Begleiter. „Doch wir werden ihnen folgen und herausfinden, wovon sie stammen.“

Wir ritten dem Spiegelfeld entlang, und nach wenigen hundert Metern hatten wir das gesuchte Objekt vor uns, ein weiß lackiertes, mannhohes Ungetüm auf vier breiten Rädern, mit dunklen Fenstern und der Aufschrift SOLAR POWER BY DESERTEC.

Was bedeutete das? Wir stiegen ab und näherten uns vorsichtig dem seltsamen Gefährt.

„Was zum Teufel macht ihr hier?“ Ein großgewachsener Mann, ganz in weißes Tuch gekleidet, kam zwischen den Spiegelwannen auf uns zu. „Wie seid ihr überhaupt hier hereingekommen?“

„Es selâm alejkum“, grüßte ich. „Mein Name ist Kara Ben Nemsi. Und das hier ist mein Begleiter Halef.“

Der Mann starrte uns verwundert an. Unser Aufzug schien ihn zu verblüffen. Ich hatte meinen Henrystutzen und den schweren Bärentöter umgehängt und Halef seine langläufige Flinte.

„Sie müssen dieses Werksgelände verlassen! Sie befinden sich hier im größten solarthermischen Kraftwerk der Sahara. Wir beliefern halb Europa mit elektrischem Strom.“ Ich musste ihn völlig verständnislos angeblickt haben. Er zog ein flaches, handtellergroßes Ding aus der Tasche und tippte kurz darauf herum. „Hier, schauen Sie!“

Auf dem kleinen Gerät war eine farbige Landkarte zu sehen. Von der Sahara führte eine rote Linie durchs Mittelmeer und verzweigte sich in die Länder Europas. „Mit der Sonnenenergie betreiben wir Dampfturbinen, die elektrischen Strom erzeugen.“

Fasziniert schaute ich auf das kleine Gerät. Ich versuchte zu verstehen. In was für eine Welt waren wir geraten? Und dann entdeckte ich rechts unten das Datum:

JUNE:14:2036.

Die Erkenntnis ließ mich in der Gluthitze frösteln. Wir befanden uns in der Zukunft. Hatte uns der unsichtbare Vorhang in eine zukünftige Welt geführt?

Ich blickte mich nach Halef um, der abwartend hinter mir stand. Es gab nur einen Weg! Wir mussten zu der Stelle zurück, wo die Wagenspuren begannen, um dieser seltsamen Fata Morgana zu entkommen!

Wie zur Bekräftigung meiner Fluchtgedanken war jetzt über uns ein dröhnendes Geräusch zu hören. Zwei ungeheure fliegende Maschinen, die aussahen wie riesige Heuschrecken, donnerten über unsere Köpfe hinweg und gingen in rund fünfzig Metern Entfernung in einer wirbelnden Sandwolke zu Boden. Halef war beim Anblick der fliegenden Ungeheuer bereits auf sein Pferd gesprungen und losgeprescht, und ich tat es ihm nun gleich. Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie vier Gestalten aus der Sandwolke gerannt kamen.

In gestrecktem Galopp erreichten wir das Ende des Spiegelfeldes und den Spinnwebenvorhang. Dann waren wir draußen und unsere Pferde wieherten vor Aufregung. Erst nach einem schnellen Ritt über rund zwei Kilometer wagte ich mich umzublicken.

Die Fata Morgana war verschwunden!

Erleichtert stiegen wir ab und ließen unsere Tiere ausruhen.

Durch die Wüste ritten wir dann gleichentags weiter nach Seddada. Am nächsten Tag führte uns Sadek, ein Freund von Halef, über den lebensgefährlichen Schott el Dscherid.

Thomas Le Blanc

Merhamehs Tochter

Wer ihr Vater war, wusste sie nicht. Natürlich war auch ihr das Gerücht zu Ohren gekommen, dass, als der greise Kara ein letztes Mal in Ardistan gewesen war, er sich vom Liebreiz Merhamehs hätte verzaubern lassen. Aber ihre Haut war zu dunkel, um Nemsi-Blut in sich zu haben. Sie war wohl eher der Spross eines arabischen Scheik oder eines persischen Mirza, den Merhameh nicht nur mit Worten besiegt hatte und der dann erfahren hatte, dass Frieden stets mit Liebe zu besiegeln ist.

Merhameh war bei der Geburt ihrer Tochter gestorben, und so hatte man den Säugling wiederum Merhameh getauft – in der Erwartung, dass das Mädchen die Stärke der engelsgleichen Mutter in sich tragen würde. Die Stärke und die Fähigkeit jener unvergleichlichen Frau, die mit bloßen Worten die erbittertsten Feinde zur Versöhnung bewegen konnte, deren Blick kein Hass standhielt, deren sparsame Gesten stärker waren als jedes Gewehr und jedes Schwert.

Als nun die ersten Orks aufgetaucht waren, eingewandert von Ard nach Ardistan, da rief man sie deshalb, obschon sie erst sieben Jahre alt war.

„Geh zu deinem Dunklen Herrn zurück und sag ihm, dass in unserer Welt kein Platz für euch und euresgleichen ist.“ Mit diesen Worten trat sie vor den gewaltigen Ork, der an der Grenze ihres Landes aufragte und es nun mit Krieg und Terror überziehen wollte.

Ein siebenjähriges Mädchen, kaum größer als ein Halbling, mit hüftlangen braunen Haaren und einem leisen Stimmchen, das in Kontrast zur Kraft seiner Worte stand. Das Mädchen verschwand fast vor der Masse des zottigen, acht Fuß hohen und dreihundert Pfund schweren Monsters, dessen grollende Stimme wie ein unterirdischer Donner klang. Einer verständlichen Sprache war der Ork nicht mächtig, er gab lediglich gutturale Laute von sich, die in tiefem Bass drohten, die jeden Gegner niederbrüllten, die angriffen und vernichteten, die namenlose Angst verbreiteten: die Urangst vor dem Bösen.

Doch nicht bei dem Mädchen, das unverrückbar vor dem Monster stand und sich nicht beeindrucken ließ. „Geh wieder“, wiederholte es. „Verlass unsere Welt wieder.“ Merhamehs Stimme war um keinen Grad lauter geworden, aber jedem Zuschauer schien es, als ob ein rosiger Äther um die Gestalt entstanden war.

Mit einem einzigen Fußtritt hätte der Ork das Mädchen zerschmettern können, seine mächtigen Hände hätten den kleinen, zarten Körper mühelos zerreißen können, und der Kopf des Kindes wäre mit einem einzigen Zubeißen zwischen den mächtigen Hauern in seinem Schlund verschwunden.

Doch er griff nicht an. Er brüllte noch einmal, doch diesmal bereits merklich kraftloser.

Merhameh bewegte sich zunächst nicht, nur ihr lang herabwallendes Haar spielte im leichten Wind. Dann hob sie die Hand in einer sanften, aber unnachgiebigen Abwehrgeste.

Dass jemand keine Angst vor ihm hatte, machte das Monster plötzlich schwach und hilflos. Seine schwarzgraue Haut wurde blass und fahl, Haare und Horn weichten auf, der Körper verlor an Konsistenz, wurde milchig, schließlich durchsichtig und leicht wie verfliegender Rauch. Dann war er weg. Und einen Augenblick später verschwand auch sein Schatten.

Merhamehs Tochter drehte sich nun um zu denen, die sie gerufen hatten. „Da das Böse allein von der Angst lebt, ist es auch einfach zu besiegen“, sagte sie. „Indem man ihm ohne Angst entgegentritt und nicht weicht. Wenn man das weiß, ist es ganz leicht.“

Jacqueline Montemurri

Das Vermächtnis des Kara

„Es selâm ’alejkum! Darf ich mich ans Feuer setzen?“, fragte ich die Gesellschaft.

Der flackernde Schein beleuchtete sonnengegerbte, zerfurchte Gesichter. Die hellen Turbane leuchteten im Dunkel der Wüstennacht. Einer der Araber erhob sich. Er war recht klein und dürr. Sein nicht mehr weißer Burnus war sichtlich für einen viel größeren Mann gefertigt. Ein paar Fasern am Kinn und einige Spinnfäden rechts und links der Nase deuteten wohl einen Bart an, der die Lippen frei ließ, die sich nun zu einem freundlichen Lächeln verzogen. Mit der Hand beschrieb er eine einladende Geste.

Ich nickte dankend und setzte mich ans wärmende Feuer. War die Wüste bei Tage ein brennender Glutofen, so war es des Nachts sehr kalt unter dem leuchtenden Sternenband.

„We ’alejkum es selâm!“, antwortete nun der Araber. „Wer seid Ihr?“

„Mein Name ist Albin Wadenbach.“

Jemand bot mir einen Korb mit Datteln. Ich nahm einige in die Hand und reichte ihn weiter. Die Kamele der Reisenden lagerten nahe der Wasserstelle und ich konnte ihr Schnauben und Brummen hören.

„Was führt Euch durch dieses Land, Sihdi?“, fragte mich der Bärtige. Seine Augen funkelten wissbegierig im Licht des Lagerfeuers.

„Ich bin Reporter und schreibe einen Reisebericht über den Orient“, antwortete ich.

„Oh. So kommt Ihr aus dem Abendland?“

„Ja. Das ist wahr ... Und wohin führt Euer Weg?“

Der Mann steckte sich eine Dattel in den Mund und begann bedächtig zu kauen. Dann antwortete er: „Wir bringen Waren von Bagdad nach Stambul.“

Ich blickte ins Feuer. Die Auskunft kam mir seltsam vor, denn diese Oase hier lag gewiss nicht auf der beschriebenen Route. Doch hütete ich mich, einen Verdacht laut zu äußern. Ich kannte diese Leute nicht und war lieber vorsichtig.

„Habt Ihr, Sihdi Wadenbak, schon Berichtenswertes erlebt?“ Das Männchen stopfte sich wieder eine Dattel in den Mund. Seine Gefährten saßen still daneben und lauschten unserem Gespräch.

„Ich weiß nicht“, gestand ich leise, „ob es berichtenswert ist. Doch ich hatte vor wenigen Tagen eine seltsame Begegnung.“

„Oh, wenn es Euch gefällt, so erzählt uns davon. Wir lauschen gern seltsamen Geschichten. Dies verkürzt uns die Nacht.“

Nun stopfte ich mir meinerseits eine der süßen Datteln in den Mund, um Zeit zu gewinnen, und kaute lange auf ihr herum. Ich überlegte, wo ich beginnen sollte.

Die Wasser des Nils ließen das Schiff kaum merklich hin- und herschwanken. Die Segel waren gebläht. Die Frau stand an der Reling und blickte zurück nach Süden. Seit wir in Luxor abgelegt hatten, hatte sie sich kaum von der Stelle bewegt. Ich wusste, dass sie in Begleitung ihres Gatten und eines befreundeten Ehepaares war. Vielleicht war es unschicklich, sie anzusprechen, doch ihr betrübter Blick rührte mich zutiefst. Zumal ich wusste, dass ihre Gesellschaft Landsleute von mir waren.

„Darf ich mich vorstellen?“, begann ich zögerlich. „Albin Wadenbach.“

Sie blickte mich an, als hätte ich sie aus einem Traum gerissen. Ich hielt ihr die Hand entgegen. Sie blinzelte, als wäre sie gerade aufgewacht.

„Oh.“ Sie ergriff zaghaft meine Hand. „Angenehm. Klara Plöhn.“

„Gefällt es Ihnen hier nicht?“ Sicherlich war es recht anmaßend von mir, dies zu fragen. Doch ich wollte gern mehr über ihren Kummer erfahren.

„Es ist wunderschön hier. All die antiken Stätten. Sehr anregend.“

„Aber was betrübt Sie dann so?“

Sie blickte mich verwirrt an. Doch dann flog ein Lächeln über ihr Gesicht wie ein verschreckter Vogel. „Nun“, antwortete sie offen. „Er ist es, der mich betrübt.“

„Er?“

„Ja, unten in der Kajüte. Diese Reise war sein Lebenstraum, aus dem er böse zu erwachen scheint.“

„Hat er sich ein Fieber geholt?“

„Mag sein, dass man es so nennen könnte.“

Ich verstand ihre Worte nicht. „Was meinen Sie damit?“

„Ich befürchte, wir müssen ihn einer Irrenanstalt zuführen.“

„Wieso? Was ist mit ihm geschehen? Welches Fieber kann das bewirken?“

„Ich würde es Realität nennen“, antwortete sie. Ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz und sie wendete sich von mir ab, blickte hinaus in die Wüste.

„Realität?“, bohrte ich weiter.

„Ja. Er kann es nicht verwinden. Hatte er doch solch Reisen schon viele Jahre unternommen. Hatte Abenteuer erlebt und glaubte, das alles zu kennen. Doch nun ...“

„Doch nun?“

„Es ist nicht so, wie er erwartet hatte.“ Sie verstummte.

Als Reporter war ich es gewohnt, Menschen auszufragen.

Diesmal tat ich mich schwer damit. Sie war eine attraktive Frau von zarter Gestalt, und ihre Traurigkeit betrübte mich.

„Darf ich Ihren Gatten sprechen?“, kam es über meine Lippen.

„Es geht nicht um meinen Gatten.“ Ihr Ton war fast ein wenig entrüstet. „Es ist Karl, der Freund meines Mannes, der uns Sorge bereitet.“

„Oh, verzeihen Sie“, entgegnete ich.

„Schon gut. Sie können es gern versuchen. Doch ich glaube, er ist im Moment niemandem zugänglich.“

Sie stieß sich von der Reling ab, als hätte sie einen wichtigen Entschluss gefasst, und führte mich hinab in den Bauch des Schiffs. Zaghaft klopfte sie an einer Kajütentür. Von drinnen war ein unwirsches Gebrüll zu hören.

„Gehen Sie besser allein hinein. Doch seien Sie auf der Hut. Er ist derzeit nicht er selbst.“

Ich nickte und sie wendete sich ab. Ich blickte ihrer zarten Gestalt nach, bis sie wieder die Treppe hinaufgestiegen und aus meinem Sichtfeld entschwunden war.

All meinen Mut zusammennehmend öffnete ich nun die Tür. Drinnen erblickte ich einen Mann, an einem kleinen Tisch sitzend, der über und über mit Büchern bedeckt war. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und bot ein elendes Bild.

Als ich eintrat, blickte er auf. „Wer sind Sie?“, herrschte er mich an.

„Ich hörte, wir seien Landsmänner, und wollte Ihnen meine Aufwartung machen“, erklärte ich.

„Pshaw!“, kam es verächtlich aus seinem Mund.

Ich betrachtete ihn interessiert. Sein stellenweise ergrautes Haar war nach hinten gekämmt. Er trug einen Oberlippenbart, der im Augenblick ein wenig ungepflegt erschien, und unter der Unterlippe einen kleinen Kinnbart.

„Was wollen Sie?“, brüllte er mich an.

„Entschuldigen Sie mein Eindringen. Doch ich bin Reporter und schreibe einen Bericht über eine Orientreise. Da Sie weit gereist sind, dachte ich, Sie ...“

Weiter kam ich nicht.

Er war aufgesprungen und warf mit einem Baedeker nach mir. „Hier haben Sie Ihren Reisebericht!“ Ich konnte mich in letzter Sekunde unter dem anfliegenden Reiseführer ducken und er prallte gegen die Kajütentür.