Labyrinth
Anthologie

 

 

Mondschein Corona – Verlag

Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

 

1. Auflage

Erstausgabe September 2016

© 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona

Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Herausgeber: Mondschein Corona Verlag

Lektorat/Korrektorat: Anita Herzog

Covergestaltung: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano
Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

 

© Die Rechte des Textes liegen bei den Autoren und dem Verlag

 

Mondschein Corona Verlag

Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.mondschein-corona.de

 

Inhaltsverzeichnis

1. Der Seelenschinder von Christian Künne

2. Verzerrt von Marlies Hanelt

3. Mutters Schoß von Lothar Nietsch

 

 

1. Der Seelenschinder von Christian Künne

 

Eine Seele war der Vernichtung anheimgefallen, trotz der ganzen Kraft und dem ganzen Willen, die ihr eigen sind. Sie verging in Schmerz und Qual und war der Start hier am Orte der Maschine, der Maschine ohne Geist.

Pat erwachte aus einem Schlaf der tiefen Erinnerungslosigkeit. Er rang nach Atem, hatte den Eindruck eines schweren Gewichts auf seiner Brust, den Geschmack nach Metall auf seiner Zunge und kribbelnde Schmerzen im ganzen Körper. Als er die Augen öffnete, blickte er direkt in eine Lichtquelle und kniff sie sofort stöhnend wieder zu. Die kurze Bewegung hatte heftige Turbulenzen in seinem Kopf ausgelöst, kein klarer Gedanke mehr, außer dem krampfhaften Bemühen, sich nicht übergeben zu müssen.

Als die Übelkeit wieder zurückging, versuchte Pat erneut, die Augen aufzuschlagen. Den Kopf zur Seite gedreht, war sein erstes Bild das einer verschwommenen Lichterspirale, die in die Unendlichkeit führte. Er blinzelte, das Bild wurde schärfer, die strudelnden Lichter blieben jedoch.

Pat drehte auch den Rest seines Körpers auf die Seite und versuchte, sich aufzurichten. Der Schweiß brach ihm aus, aber er schaffte es in eine sitzende Position. Etwas in seiner Brusttasche drohte herauszufallen, und er griff nach einem Moment des Kraftsammelns danach. Es war ein kleines Buch, dessen Einband er gedankenverloren betrachtete. Dann brach eine Erkenntnis in Pat durch, eine Erinnerung, und ein Schrei sammelte sich in seiner Kehle.

„Hast du von dem Buch gehört?“ Maylin drückte Pat ein Glas in die Hand und lehnte sich nun ebenfalls gegen die Wand.

Die Diskomusik war hier in der Ecke seltsam gedämpft, die Tanzenden nahmen sie nicht wahr, aber sie die Tanzenden. Es war ihr Lieblingsplatz, ihr Beobachtungsposten.

„Was für’n Buch?“ Pat nahm einen Schluck seines Drinks. „Gibt viele Bücher.“

„Maaaaann ...“ Maylin schüttelte kurz den Kopf und zeigte dann sein typisches, verschmitztes Lächeln. „Hast du garantiert schon von gehört. Das Buch. Das ultimative Buch überhaupt.“

Pat hatte tatsächlich etwas von einem seltsamen Buch gehört, das in irgendwelchen Untergrundkreisen kursierte und die Erleuchtung, die wirkliche und letzte Wahrheit bringen sollte. Pat hielt von den Gerüchten wenig. „Glaubst du etwa daran?“

Maylin zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Kenne viele, die es gelesen haben wollen. Denen glaube ich auf keinen Fall.“

Pat lachte und verschüttete einen Teil seines Drinks. „Alles klar.“ Er wischte sich die nassen Finger an seiner Jeans ab. „Warum nicht?“

„Na, das ist doch ganz klar.“ Maylin leerte sein Glas mit einem Zug. „Weil die, die es gelesen haben, verschwunden sind.“

„Tatsächlich?“ Pat nippte wieder an seinem Glas. Sein Blick ging durch die Menge der Tanzenden. „Woher weißt du das?“

„Aus sicherer Quelle.“ Maylin schürzte die Lippen und gab ein kleines, humorloses Lachen von sich. Sein Blick ging durch den Club. „Ich schätze mal, dass die Erleuchtung hier auf keinen Fall zu finden ist.“

Die Maschine zerrüttete die Seele, um andere, dem Fleische noch verhaftete Seelen zu peinigen, bevor sie unwiederbringlich verging. Doch so schaffte sie, die Maschine, neuen Antrieb, neue Qual in neuen Seelen, die nun dem Körper entrissen wurden.

Die Übelkeit war plötzlich übermächtig und Pat beugte sich vor. Jedoch zogen sich aus dem geöffneten Mund nicht mehr als halb trockene Spuckefäden und der Metallgeschmack wurde verdrängt von der Schärfe der Galle. Mit zitternden Händen stopfte er das Buch zurück in die Brusttasche und blickte sich langsam um.

Die Lichter waren leuchtende Quadrate, die versetzt zwischen den Metallplatten rund um die Innenseite der Röhre, in der Pat sich befand, eingesetzt waren. Der Eindruck der Spirale entstand allerdings nicht nur dadurch, sondern zusätzlich durch seltsame optische Verzerrungen, die ein Blick an die jeweiligen Enden – wobei ein tatsächliches Ende nicht auszumachen war – hervorzurufen schien. Neben den Lichtquadraten machte Pat auch offenbar stumpf gewordene Stellen im Metall aus, die sich weiträumig verteilten.

Und noch etwas fiel ihm auf: An der Röhrenwand zur linken war ein zusammengefallenes Bündel. Pat hielt es für Kleidung oder Teile davon. Er fragte sich kurz, warum sie nicht zu Boden rutschten und einfach an der Wand – wenn man in einer kreisrunden Röhre von einer Wand sprechen konnte – hängen blieb. Dann wurde ihm die Absurdität seiner ganzen Situation, seines Hierseins, wieder bewusst, und er musste lachen.

Es gab keinen Widerhall. Pats Lachen erstarb, ehe es richtig angefangen hatte. Sämtliche Härchen hatten sich aufgerichtet, und er glaubte, erst jetzt wirklich aufgewacht zu sein, erst jetzt zu registrieren, dass er irgendwo war, wo er gar nicht sein konnte.

Er war auf den Füßen, ehe er sich dessen richtig bewusst wurde. Wieder stieg Übelkeit in ihm hoch, doch sie verging schnell und kehrte vorerst nicht zurück. Pat blickte in die Richtung der Röhre, in der auch das Bündel lag, in die enger werdende Lichterspirale und in ihr Zentrum, das zurückzustarren schien. Dann warf er seinen Blick in die andere Richtung, das gleiche Bild, das gleiche Gefühl. Aber kein Bündel. Er überlegte, ob er einfach dort bleiben sollte, wo er war. Leicht schüttelte er den Kopf und machte die ersten unsicheren Schritte in die Richtung, die er sich ausgesucht hatte.

Unbewusst orientierte er sich an dem Bündel, das Pat einige Schritte später tatsächlich als Kleidung zu identifizieren glaubte, aber nicht nur, und schritt auch in dessen Richtung, sodass er der Schräge leicht folgend eigentlich langsam auf der Wand gehen müsste. Als er das bemerkte, hielt Pat einen Moment inne. Er blickte zurück, aber er konnte nicht mehr mit Sicherheit sagen, wo er gestartet war. Die Stelle direkt unter seinen Füßen war unten, so empfand er es, sein Körper. Kurzerhand drehte er sich nach links und machte zwei, drei lange Schritte nach oben. Doch das Gefühl blieb, unten war unter seinen Füßen. Schnell beschloss er, diesen Umstand zu den vielen anderen ersten Eindrücken zu stecken und zu begraben. Später, wenn er hier raus war, konnte er besser darüber nachdenken. Oder auch nie.

Pat orientierte sich wieder zum Bündel und erreichte es kurz darauf. Und er sah, was in der Kleidung steckte: Die mumifizierten Überreste eines Menschen. Die Leiche trug noch erkennbar eine Jeans, einen ehemals roten oder rötlichen Pullover und einfache Turnschuhe, die nun erschreckend klobig an dem Skelett aussahen. In der rechten Hand hielt der Tote ein Büchlein umklammert.

Vorsichtig ging Pat neben der Leiche in die Hocke und betrachtete zunächst das mumifizierte Gesicht. Die starren Augen waren bräunlich angelaufen und blickten zur Decke, das Blau der Iris leuchtete noch stechend hervor. Nach den Zügen zu urteilen, tippte Pat auf einen Mann, der da vor ihm lag. Nach dem Tod war er einfach ausgetrocknet und mumifiziert. Monate, Jahre vielleicht, das wusste Pat nicht abzuschätzen. Und das machte ihm mehr Angst als alles andere bisher. Keine Verwesung, nicht einmal das kleinste Insekt, das seine Eier in den Leichnam abgelegt hatte.

Pat atmete tief durch. Ein schwacher Geruch, nicht unangenehm, ging von der Leiche aus, aber ansonsten war die Luft nicht nur abgestanden, sondern selbst wie tot, völlig neutral, vollkommen geruchlos. Nicht einmal das Metall, das ihn umschloss, duftete in irgendeiner Form. Panik stieg in ihm auf, er hielt sich die Hände vors Gesicht, roch an ihnen. Als er seinen eigenen Geruch wahrnahm, beruhigte ihn das wieder, und sein Blick ging zurück zu dem Toten und dem, was er in der Hand hielt.

Pat starrte auf den Einband. Der Titel, in silbernen Lettern auf dem eintönig dunklen Umschlag gedruckt, wurde vom Daumen der Mumie unterstrichen: Die Summe aller Geschichten. Es war das gleiche Buch, das er in seiner Brusttasche mit sich trug. Unbewusst streifte seine Hand die Tasche, in der es lag. Ein kalter Schauer jagte seinen Rücken hinunter. Und ihm wurde klar, was sein Hiersein bedeuten musste. Sein ganzer Leib begann zu zittern.

Maylin war seit einer guten Viertelstunde auf dem Klo verschwunden. Pat gab den Beobachtungsposten auf und schob sich langsam Richtung Bar, um sich Nachschub zu sichern. Doch an der Theke angekommen, überlegte er es sich anders, stellte bloß das leere Glas zurück und drehte dem Barkeeper den Rücken zu. Sein Blick wanderte über die Tanzenden, er fühlte den Bass in den Eingeweiden. Die grellen Lichtblitze taten ihm plötzlich in den Augen weh, und er kniff sie zusammen. Kopfschmerzen kündigten sich an, jeder Atemzug kostete ungeheure Kraft.

Pat stürmte durch die Menge, rempelte dabei unsanft den ein oder anderen an. Die ihm hinterhergeworfenen Beschimpfungen bekam er nicht mit. Dann war er an den Türstehern vorbei und draußen auf dem kleinen Vorplatz des Klubs. Endlich strömte wieder Luft in seine Lungen, und er nahm ein paar kräftige Züge.

Dann wurde ihm bewusst, wie er aussehen musste, halb zusammengesackt und um Luft ringend. Schnell richtete er sich auf, kurz wurde die Welt unscharf, fing sich aber sofort wieder. Er ging weiter zur Seite des Gebäudes und zog sich in die dortigen Schatten zurück. Die Hände ineinandergelegt atmete er wieder mehrmals durch. Es ging ihm wieder deutlich besser.

Er fragte sich, was ihm so zugesetzt haben konnte. Doch der Gedanke stockte, als Pat unweit von sich eine Person ausmachte – tiefer im Schatten, still. Ihre Blicke begegneten sich, das Weiß der Augen von Pats Gegenüber leuchtete in der Dunkelheit. „Du solltest das Buch lesen.“ Pats Gegenüber löste den Blick.

Eiskalt lief es Pat den Rücken runter. Plötzlich war die Enge des Klubs attraktiver denn je. Ohne eine Erwiderung lief Pat zurück zum Eingang.

Die Maschine kannte Diener, die ihr Antrieb brachten, neue Seelen zum Überlassen. Und einer der Diener erfand das Tor und den Schlüssel, vereint, gefahrlos für sie selbst. Der Schlüssel war Reiz für die suchende Seele, die oft starke Seele, die nur mehr Energie für die Maschine versprach.

Pat saß neben dem Toten, den er fast schon als Freund betrachtete in seiner unwirklichen Umgebung, und hielt seine Ausgabe des Büchleins gedankenversunken in Händen. Das kleine Buch, um das sich so viele Legenden rankten, das so viele angeblich gelesen haben wollten. Nur um den Ruch des Verbotenen um sich wehen zu spüren. Er hatte es wirklich gelesen, ein Blick hinter die Realität geworfen, wie einige vielleicht sagen würden.

Zumindest hatte er es so weit gelesen, wie er konnte. Er blätterte in den letzten Seiten des Buches. Sie waren leer. Fast hätte Pat erwartet, sie jetzt mit Buchstaben gefüllt zu sehen. Mit dem Daumen strich er über eine der leeren Seiten und fühlte das Papier. Nichts Auffälliges.

Er schlug die letzte beschriebene Seite auf und las zum unzähligen Mal den letzten Absatz: Zweihundertfünfundfünfzig Stunden vergehen, dann vollzieht sich der Übertritt in den letzten Abschnitt der Wissensreise – der letzte Summand – und der Seelenschinder zeigt sich. Der Name verharmlost, gilt er doch als unüberwindlich. Kein Gesetz gibt es dort, keines, gelte es auch unter allen anderen Umständen. Denn was passiert, wenn jemand alle Geschichten kennt? Die Antwort folgt im letzten Kapitel ‚Das Mosaik schließt sich – Wissen gleich Macht. Allwissen gleich Allmacht?’

Doch es gab kein letztes Kapitel. Zumindest nicht im Buch, und Pat hatte geglaubt, dass es irgendein Fehler beim Druck war, der die letzten Seiten leer bleiben ließ. Ein Gedanke vor etwas mehr als 255 Stunden. Nun glaubte er, dass das Buch in einer anderen Form weitergeführt wurde.

Pat ließ seinen Blick langsam durch die riesige Röhre gleiten, in der er sich befand. Der Seelenschinder. Er glaubte es sofort. Kein Gesetz. Offenbar nicht einmal das der Natur.