Drei Schwerter für Salassar

Der Weg der Drachen-Priesterin

Band 5

von

Rolf Michael

 

Fantasy

 

Mondschein Corona – Verlag

Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

1. Auflage

Neuauflage Oktober 2016

© 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona

Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Rolf Michael

Lektorat/Korrektorat: Mia Koch

Grafikdesigner: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano

Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

 

ISBN: 978-3-96068-047-5

 

© Die Rechte des Textes liegen beim

Autor und Verlag

 

Mondschein Corona Verlag

Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.mondschein-corona.de

 

Inhaltsverzeichnis

Was die Maske verhüllt ...

Markttag in Salassar

Betrogene Betrüger

Der Weg aus der Zitadelle

Sharas Geheimnis

Die Insel der drei Tempel

Wokats tückische Pläne

Die Göttin des Unverstandes

Der Weg durch den Wunderwald

Das Antlitz des Drachenlords

 

Was die Maske verhüllt ...

 

Nachtwolken zogen wie eine dahinrasende Herde schwarzer Rosse über Coriella. Der silberne Schein des Mondes ließ die letzten Tropfen des vorangegangenen Regens wie runde, hell glitzernde Edelsteine erscheinen. Um die Zinnen und Türme des hochragenden Gemäuers wirkte das Licht wie ein silberweißer Schleier, den die Feen des Wunderwaldes gewoben hatten.

Die mächtige Burg hoch oben im Norden jener Welt, die von den Menschen Chrysalitas, oder auch die »Adamanten-Welt«, genannt wurde, glich einem funkelnden Juwel inmitten einer trostlosen Landschaft aus scharf gezacktem, hoch in den Himmel hinein ragendem Felsgestein.

Feierliche Stille, die nicht einmal der Laut eines Nachtvogels zerriss, lag über der hochaufgetürmten Feste, die in grauer Vorzeit von den Riesen für das Geschlecht der Drachen errichtet worden war. Hier konnten die gewaltigen Herren der Lüfte rasten und hier wurden sie beherbergt, wenn sie nach ihren langen Flügen über Chrysalitas auf der Suche nach der Erkenntnis rasteten.

Coriella, die Hochgetürmte, war ihr Heim. Die Drachenburg am Ende der Welt.

Doch die großen Drachen, die heute anwesend waren, hatten sich in der großen Halle auf mächtigen Polstern zusammengerollt, um in sich zu lauschen. Und die Menschen, die auf Coriella lebten und ihr Leben dem Dienst an den Drachen geweiht hatten, waren bereits zu Bett gegangen.

Die Natur selbst schien sich bereits zur Ruhe gelegt zu haben.

Und dennoch lebte die Stille durch das leise Säuseln des Nachtwindes. Und der Wind trug eine eigenartige, schwermütige Melodie mit sich, welche die ganze Burg erfüllte.

Leise und doch im Klang des vollen Akkordes wurde eine kräftige, doch tief in das Innere der Seele dringende Stimme, von einer Harfe begleitet.

Das Zentrum der Melodie war der oberste Söller von Coriella. Hier stand der Sänger in der allen irdischen Vorstellungen Hohn sprechenden Gestalt eines Fabelwesens. Das Mondlicht ließ seine Gestalt noch fantastischer erscheinen, als sie durch die seltsame Kleidung bereits wirkte.

Denn die hochragende Gestalt, die dort auf dem Söller ihr Lied in die Nacht hinein sang, war mir ihrem ganzen Körper in einer bizarr geformten Rüstung verborgen. Das dunkle Gold des Metalls zerfloss fast mit den Schatten der Nacht. Und nur, wenn die Hände über die Saiten der Harfe strichen, war zu erkennen, dass es sich nicht um ein Standbild eines Gottes handelte.

Rasako, der hohe Drachenlord und Herr von Coriella, sang eine Ballade zum Ruhme des Drachengeschlechts.

Seine Rüstung war wie der stilisierte Panzer eines Drachen geschmiedet. Angedeutete Schuppen ließen den Drachenlord wie die Mischung aus Tier und Gott erscheinen. Der Helm war mit zackigen, schuppenartigen Verzierungen geschmückt. Stets war das Visier geschlossen und nur das Augenpaar glitzerte durch die kleinen Sehschlitze hindurch. Allein der Panzer, der direkt die Brust schütze, war einfacher geschmiedet.

Der mächtige, wallende Umhang über seinen Schultern bestand innen aus kostbarsten Pelzen, während der äußere Stoff mit kleinen Metallplättchen belegt war, die ebenfalls Drachenschuppen symbolisierten.

Obwohl auch die Hände von der Panzerung geschützt waren, strichen sie mit unglaublicher Leichtigkeit über die Saiten einer schön geschnitzten Harfe, der unzählige in das Holz eingearbeitete Edelsteine den Schimmer eines Regenbogens gaben.

Das Schwert, das neben Rasako lehnte, war fast so groß wie er selbst. Der Griff war so gearbeitet, dass man es mit einer Hand führen oder mit beiden Händen schwingen vermochte. Unterhalb des Griffes wies die Klinge zackige Verzierungen auf, die mit der Rüstung des Drachenlords eine fremdartige Einheit bildeten.

Kylonis, der Wetterschlag, wurde dieses geheimnisvolle Schwert genannt. Nur der Drachenlord selbst war imstande, dieses gigantische Machtschwert im Kampfe zu schwingen.

Lange sang Rasako sein Lied. Das Hochlied der Drachen.

Von Dhasor, dem Welten-Vater und Thuolla, der Herrin der Tiefe, erklang sein Sang. Denn sie gaben nicht nur den Göttern auf der kristallenen Höhe des Jhinnischtan oder in der tiefen Höhlenwelt des Jhardischtan das Leben und ihre Bestimmung, sondern sie schufen auch jene Welt, die sie regieren sollten - Chrysalitas, die Adamanten-Welt.

Und die Götter schufen Dhaytor, den ersten Drachen.

Dhaytor, den Drachenvater.

Doch an dem Tag, an dem sie gemeinsam den ersten Drachen schufen, endete die Einheit der Götter. Zwischen dem Schloss auf dem Kristallberg und dem unterirdischen Reich herrschte fortan Feindschaft ...

Die Stimme des Sängers ließ bleiernen Schlaf über die Gemüter der Menschen fallen. Nur die Drachen, die jetzt auf Coriella anwesend waren, wiegten ihre Schädel und gaben sich ganz dem Zauber der Melodie hin.

Erst als die Ballade trauriger wurde und vom Tode Dhaytors, des Drachenvaters, in den Höhlen des Jhardischtan erzählte, begannen die Schädel der Drachen nach unten zu sinken. Das grünlich schillernde Sekret, das aus den lidlosen Augen der Drachen perlte, glich den Tränen eines Menschen. Und mit dem Gedanken an den mächtigen Ahnherrn ihres Geschlechts, der seine letzte Reise zur Toteninsel Saronai angetreten hatte, senkte sich der Schlaf über sie. Ihre Augen verdrehten sich nach innen, und ihr Bewusstsein erlosch.

Langsam verhallte nach Rasakos letzten Worten die Stimme seiner Harfe.

»Nun schlafen sie!«, sagte der Drachenlord mit leiser Stimme. »Ihr Bewusstsein ruht, bis Solmani, Herr über Licht und Dunkelheit, die Schatten der Nacht dem neuen Tage weichen lässt. Nur ich finde keinen Schlaf.

Denn die Drachen wissen nichts von den Dingen, die mir offenbar sind.

Mögen sie ruhen. Denn mein Geist und meine Augen wachen über Dhaytors Kinder und ihre Heimstatt. Ich wache, solange es mir noch vergönnt ist.

Denn die Zeit naht heran, wo sich die »Schicksalshafte« zeigen muss. Ich weiß es - und sie weiß es auch. Sie kennt den Tag und die Stunde, wann sie hier auf Coriella eintreffen muss, sehr genau.

Versäumt sie diese Zeit, dann wird die Prophezeiung erfüllt. Dann wird der Drachenlord dahingehen und niemals wieder entstehen. Und die Drachen werden dann führerlos sein. Besinnen werden sie sich auf ihre Kraft und ihre Stärke. Und auf den Zauber, den sie wirken können.

Gegen die Menschen werden sie ziehen und sie jagen, die Lande der Trolle und der Riesen verheeren, ihre Feuerstrahlen in die Höhlen der Zwerge fauchen und gegen die Elfen zu Felde ziehen - wenn es ihnen die Macht des Drachenlords nicht mehr verwehren kann. Daher darf es nicht geschehen, dass die »Schicksalshafte« an dem Tage fernbleibt, an dem sich meine Gestalt wandelt ...!«

»... seine Gestalt wandelt!«, flüsterte eine leise Stimme.

Hinter einem Mauervorsprung verborgen, kauerte die zierliche Gestalt eines jungen Mädchens. Trotz der langen, in dunklem Blau gehaltenen Kleidung war ihr zierlicher Körperbau zu erkennen. Dunkles Haar floss wie ein nachtfarbener Wasserfall bis hinab auf ihre Schultern. Ihr Gesicht glich im Mondlicht den Zügen einer Statue, die von einem Künstler in weißem Marmor geschaffen wurde. In ihren dunklen Augen spiegelten sich die Sterne wie Diamanten.

Desidera, eine der zahlreichen Dienerinnen auf Coriella, hatte dem Lied des Drachenlords gelauscht und war so fasziniert davon, dass sich kein Schlaf über ihre Augen legte.

»Seine Gestalt!«, sagte Desidera zu sich selbst. »Keiner der Menschen, die hier auf Coriella hausen, hat jemals sein Gesicht gesehen. Stets zeigt sich Rasako im Schutz seiner Rüstung.

Wie man sich erzählt, vermögen nur die Drachen den Anblick ihres Herrschers zu ertragen. Nur Drachen dürfen das Gesicht sehen, wenn er das Helm-Gatter öffnet. Und nur der kleine Samyacundas, der jetzt Drachenvater ist, vermag ihn längere Zeit zu betrachten. Auch die Drachen, sagt man, können sein Gesicht nur eine kurze Weile ansehen.

Noch niemals hat Rasako es einem Menschen gestattet, von seinem eigentlichen Körper mehr als die Augen durch die Öffnungen im Helm zu sehen. Auch ich habe nur seine Augen gesehen, die wie zwei Sonnen aus dem Helm heraus strahlten.

Und die Sonnen dieser Augen haben sich tief in meine Seele gebrannt. Sie lassen mich nicht mehr los. Immer, wenn ich daran denke, entbrennt das Verlangen erneut.

Ich will es erschauen - das Antlitz des Drachenlords ...!«

 

***

 

Desidera, die Dienerin auf der Drachenburg, huschte auf Zehenspitzen durch die Gänge. Das leise Patschen ihrer bloßen Füße auf dem Steinfußboden war kaum zu vernehmen.

Wächter gab es in dieser Zeit nicht auf Coriella. Niemand war so verwegen, hier einzudringen, weil kein Mensch die Drachen wirklich kannte. In der Adamanten-Welt waren die absonderlichsten Gerüchte über sie im Umlauf. Man erzählte sich, dass Drachen niemals Schlaf fänden und dass sie ständig die Schätze bewachten, die sie hier auf ihrer Burg jenseits des Wunderwaldes von Delyssiolina gehortet hatten.

Desidera war bereits auf Coriella geboren und wusste es besser. Auch ein Drache benötigte Schlaf, und wenn es ums Essen ging, dann waren Drachen ausgesprochene Feinschmecker. Auch in anderen Dingen unterschieden sie sich nicht allzu sehr von den Menschen.

Sie hatten allerdings einen anderen Sinn für Schönheit und einen viel komplizierteren Ehrbegriff als ein Emir von Mohairedsch oder ein Than von Cabachas. Ihrer Stärke zwar voll bewusst, vermieden sie doch die tätliche Auseinandersetzung mit allen Lebewesen.

Desidera wusste, dass die Drachen im Allgemeinen pflanzliche Nahrung bevorzugten. Drachen, die Menschenopfer forderten oder im Sturzflug heran schossen, um einen Bauern hinter dem Pflug wegzufangen, um ihn zu verspeisen, waren ein Märchen, die sich die Menschen in den großen Städten erzählten.

Tonnenweise wurde auf Coriella ein süßer Brei aus verschiedenen Getreidesorten mit Milch und Honig angerührt und gekocht. Ein Brei, den das Drachengeschlecht jeder anderen Speise vorzog.

Für die Arbeiten in der Küche und die anderen Dienste, für die ein Drache aufgrund seiner Körperform nicht geeignet ist, lebten Menschen im Inneren der Drachenburg. Die meisten von ihnen waren wie Desidera hier geboren und konnten sich ein Leben außerhalb dieser Mauern gar nicht vorstellen. Hier waren sie sicher und hatten von dem, was man zum Leben benötigt, den Überfluss. Wagte es ein Mensch, in Coriella einzudringen, durfte er die Burg nicht mehr verlassen. Bis zum Ende seiner Tage stand er im Dienste der Drachen - oder er musste sterben. Noch niemandem war es gelungen, aus der Drachenburg zu entfliehen.

Für Desidera war dieses Gesetz in seiner Notwendigkeit vollkommen klar erkennbar. Sie kannte die Kammern, Zimmer und Säle, in denen Gold und Juwelen im Überfluss aufgehäuft waren. Seit unzähligen Jahren horteten die Drachen hier edle Metalle und kostbare Steine, die ihre scharfen Augen auf ihren Flügen über die ganze Adamanten-Welt entdeckten. Für einen der geringsten Steine würde ein Mensch von außerhalb Coriellas seine Seele den Dämonen des Jhardischtan verkaufen.

Daher hatte schon ein Hoher Drachenlord lange vor Rasako das Gesetz erlassen, dass kein Mensch, der einmal diese Herrlichkeit geschaut hatte, sich je wieder von Coriella entfernen durfte. Zu leicht hätte sich ein Haufen Abenteurer gefunden, der es wagte, in die Burg einzudringen, um dort zu plündern.

Rasako wusste um den Charakter der Menschen und er kannte die Drachen. Die Menschen würden für den Besitz der Edelsteine und des Goldes kein Leben schonen. Er, der Drachenlord, musste dann den Drachen und den Menschen in der Burg befehlen, die Eindringlinge anzugreifen, um die Burg zu schützen.

Wenn aber die Drachen erst einmal im Kampf waren und den süßlichen Geruch des Blutes in den Nüstern verspürten, würden sie sich nicht einfach zurückhalten lassen. Schnell konnte es geschehen, dass sie außer Kontrolle gerieten und eine der Städte angriffen, in denen Menschen lebten.

Den mächtigen Leibern der Drachen, ihren gehörnten Schuppenpanzern und ihrem lohenden Feueratem hatten die Menschen von Chrysalitas nichts entgegenzusetzen.

Durch sein hartes, aber gerechtes Gesetz eines Drachenlords der Vorzeit hatte Rasako diese Katastrophe bis jetzt vermieden.

Desidera bewunderte dieses Wesen in der dunkelgoldenen Rüstung, das wie eine Verschmelzung zwischen Mensch und Drache aussah. Seit den Tagen ihrer Kindheit hatte das Mädchen diese kraftvolle Erscheinung bewundert.

Als kleines Kind war Rasako in ihren Träumen stets als Retter erschienen, der sie aus der Gewalt von Unholden befreite. Bestien, die sie zwar nie gesehen, deren Aussehen ihr die Mutter aber in dunkelsten Farben gemalt hatte.

Aus der Bewunderung für den Drachenlord wurde, je älter Desidera wurde, Schwärmerei. Die jungen Burschen, die ebenfalls auf Coriella geboren waren und dort Dienst taten und sich für sie interessierten, ließen sie vollständig kalt. Sie waren einfach und gewöhnlich - und damit für Desidera langweilig.

Immer mehr zog sie die geheimnisvolle Mystik des Drachenlords in ihren Bann. Obwohl sie mit zunehmendem Alter immer öfters zu Rasakos Diensten eingeteilt wurde, hatte sie ihn niemals anders als in vollständig geschlossener Rüstung gesehen. Zog er sich einmal in seine Schlafgemächer zurück, dann wurden die Türen nach einem komplizierten System verschlossen.

Oft schon hatte Desidera versucht, hinter ihm durch die Tür zu huschen, um sein Geheimnis zu lüften. Doch niemals war es ihr gelungen. Sie spürte nur stets, dass Rasakos Blick am nächsten Tag besonders intensiv auf ihr ruhte, wenn sie hinter ihm an der Türe lauschte und das leise Klirren hörte, das entstand, wenn er die Rüstung ablegte.

Aus der Schwärmerei Desideras wurde echte Liebe. Sie fühlte sich zu dieser Gestalt hingezogen, die stets einsam war. Immer unnahbar auf dem mächtigen Thron, hinter dem sich die kunstvolle Steinfigur eines Drachen aufbäumte, der mit gespreizten Flügeln eine hoheitsvolle Pose einnahm.

Immer mehr wurde es für sie zu einer fixen Idee, das wahre Gesicht des Drachenlords zu erschauen.

Die Menschen auf Coriella hatten die absonderlichsten Vorstellungen davon. Die meisten glaubten, dass der Drachenlord eine Verbindung zwischen einem Menschen und einem Drachen sei. Genaues wusste jedoch niemand. Und die Drachen waren zu stolz, um überhaupt mit den Menschen zu reden, die auf Coriella Dienst taten.

Nur Samy, der kleinste der Drachen, hatte für Desideras Kummer Verständnis. Doch als er vernahm, was sie schauen wollte, zog ein Schatten über sein sonst so lustiges Drachengesicht, das entfernt an ein Seepferdchen erinnerte. In seiner Stimme lag plötzlich die Arroganz eines großen Drachen.

»Törichte Närrin!«, stieß Samy hervor. »Denkt ihr Menschen denn, dass euch alle Geheimnisse offenbart werden dürfen? Respektiert die Dinge, über die Dhasor seinen Schleier gewoben hat!«

»Aber Samy!«, stieß Desidera hervor. »Er ist doch so einsam. Ich will ihm doch nur helfen, sein schweres Los zu tragen und seine Aufgabe zu meistern!«

»Rasako ist stark. Sein Geschick lässt es nicht zu, dass sich Menschen ihm nähern können, wie es unter Menschen üblich ist. Diene ihm mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen, wenn du ihn so magst, wie ich ihn gern habe!« Samys Stimme war wieder sanft geworden.

»Aber ich ... ich liebe ihn doch!«, stieß Desidera hervor.

»Dann verbanne deine Liebe in dein Herz und verschließe es mit den stählernen Reifen des Willens!«, sagte der kleine Drache sehr ernst. »Die Drachen kennen Rasakos Angesicht und ich selbst habe es lange geschaut, als er mir die Worte nannte, die unser Volk zwingen.

Kein Mensch, Desidera, erträgt seinen Anblick. Er ist kein Drache, wie viele Menschen hier auf Coriella erzählen ... aber auch kein richtiger Mensch. Er ist einfach ... es gibt in keiner mir bekannten Sprache ein Wort dafür.

Versuche, Rasako zu vergessen. Wenn du jemanden lieb haben willst, dann hab doch ganz einfach mich lieb - und bring mir eine Schüssel von dem süßen Brei, dessen Wohlgeruch eben aus der Küche in meine Nüstern zieht!«

»Er ist kein Mensch und kein Drache!«, wiederholte Desidera flüsternd. »Und in der heutigen Nacht will ich erschauen, was er wirklich ist - auch wenn mich sein Zorn trifft. Ich will sein Angesicht sehen - und wenn ich diesen Augenblick mit allem bezahlen muss, was ich besitze!«

Ihre kleinen Finger klammerten sich um einen länglichen, seltsam geformten Gegenstand, den sie vor einigen Tagen in der Schmiede herstellen ließ. Der Schmied wusste nicht, was er nach dem Abdruck im Wachs tatsächlich aus Metall formte. Er ahnte nicht, dass es Desidera gelungen war, mit dem Wachs einen Abdruck des Schlosses zu schaffen, das Rasakos Schlafgemächer für fremde Eindringlinge sperrte.

Jetzt hielt das Mädchen eine ziemlich genaue Kopie des Schlüssels in ihrer Hand, und sie hatte am Tage schon festgestellt, dass dieser Schlüssel passte und sich die Tür zum privaten Refugium des Drachenlords problemlos damit öffnen ließ.

»Ich werde es schauen!«, flüsterte Desidera zu sich selbst, um sich Mut zu machen. »Heute Nacht sehe ich das wahre Gesicht des Drachenlords ...!«

***

 

Desidera war am Ziel. Hinter dieser mächtigen, mit Eisenplatten beschlagenen Tür aus schwerem, schwarzem Holz hatte der Drachenlord die Gemächer, in die er sich zum Schlaf zurückzog.

Die Dienerin von Coriella hörte, wie er gerade den Schlüssel drehte und die Tür für Unbefugte versperrte. Dann vernahm ihr scharfes Ohr das leise Klirren der Rüstung, als Rasako quer durch den Raum zu seiner Lagerstatt ging. Diesen Augenblick musste sie ausnutzen.

Geräuschlos steckte sie den Schlüssel in die Öffnung. Behutsam drehte sie ihn so, dass sich das Schloss ohne einen Laut öffnete.

Auf Zehenspitzen schob sich Desidera wie ein Schatten ins Zimmer. Der Drachenlord bemerkte sie nicht. Am leisen Klirren des Metalls spürte das Mädchen, wie Rasako das Visier des Helmes anhob.

»Ich werde es sehen!«, pochte es wie rasend in Desideras Innerem. »Ich werde Rasakos wahres Gesicht erblicken!« Drei rasche Schritte und sie stand direkt hinter der hochgewachsenen Gestalt in der dunkelgoldenen Rüstung.

In diesem Moment geschah es!

Abrupt wandte der Drachenlord sich um. Seine rechte Hand riss das Visier empor, das sein Gesicht verdeckte.

»Büße, Frevler ... !«, fauchte seine Stimme aus dem Helm heraus. Dann erkannte er Desidera und brach abrupt ab. Er wollte versuchen, das Visier des Helmes herunterzureißen.

Aber es war zu spät. Das Unheil hatte schon seinen Lauf genommen.

Aus dem geöffneten Helm sah das Mädchen einen Glanz wie bei einer überirdischen Erscheinung. Die Helligkeit blendete sie, ohne in den Augen zu schmerzen. Ein Licht, heller als tausend Sonnen, und doch so mild, dass man wünschte, eins zu werden mit diesem Licht.

In überwältigender Majestät erkannte Desidera das Antlitz des Drachenlords.

War es das Gesicht eines Menschen? Das Antlitz eines Elfen? Oder waren es die Züge eines Gottes, die Desidera im Licht erschaute?

Alles mochte zutreffen und nichts der gelebten Realität entsprechen. Denn der Anblick, der sich hier der Dienerin von Coriella darbot, war mit nichts vergleichbar, was auch die kühnsten Fantasien dem Menschen vorgaukeln können und was das Auge aufnehmen kann. Das, was aus dem geöffneten Visier des Helmes hervordrang, ging über das, was ein normaler Sterblicher erkennen und ertragen kann, hinaus.

Ist auch das Auge geblendet – sieht es doch die Seele. Und wie Freude die Zeichen des Leides, die Tränen, hervorbringen kann, so vermag auch die Seele im Übermaß der Gefühle sich den Weg in die Freiheit zu bahnen, um dorthin zu gelangen, wo sie sich mit dem, was sie sehnlichst erstrebt, vereinigen kann.

Was Desidera schaute, ging über ihre körperlichen wie die seelischen Kräfte ihres einfachen Gemüts.

Menschen ertragen viel und können vieles mit ansehen. Einige durchrasen die Schlachtfelder und sehen Schrecknisse, die einem Menschen, der sein ganzes Leben unter dem sanften Schleier des Friedens gelebt hat, den Verstand rauben. Jene rauen Gesellen des Mamertus geben den Tod, um ihn irgendwann selbst zu nehmen und der Anblick Erschlagener und Verstümmelter schreckt sie nicht im Geringsten. Menschen mit friedlichem Gemüt dagegen werden beim gleichen Anblick irrsinnig und leben fortan im Wahnsinn. Und dem Wahn folgt der Tod.

Doch was Desidera in der kurzen Zeitspanne, die ihr noch zum Leben blieb, erblickte, das war mehr, als jeder sterbliche Mensch ertragen kann.

Nur die Drachen haben die Fähigkeit, für einen kurzen Augenblick das zu ertragen, was die wahre Natur des Drachenlords ausmacht. Würden sie ihn auf Dauer in seiner Herrlichkeit erblicken, gerieten sie in einen Wahnsinnstaumel und würden daran zugrunde gehen wie Menschen, die in den Teufelskreis der verfluchten Rauschsäfte geraten und sich der Begierde, immer mehr davon zu bekommen, nicht mehr entziehen können.

Was bei einem Drachen über Monde währt, das durchraste Desidera innerhalb weniger Herzschläge. Es gelang ihr nicht mehr, ihren Blick vom Antlitz des Drachenlords zu lösen.

»Desidera!«, vernahm sie wie aus weiter Ferne Rasakos verzweifelten Aufschrei. »Desidera! Ich wollte es nicht. Warum, Desidera ... warum ...?«

Das Mädchen brauchte lange, um den Sinn der Worte zu begreifen. Sie war so im Banne dieses lichthellen Antlitzes, dass sie schon fast von dieser Welt entrückt war.

»Ich ... ich ... liebe ... dich ... !«, presste sie ganz langsam hervor. Sie spürte, wie die gepanzerten Hände Rasakos ihren sinkenden Körper auffingen.

Desidera spürte ihre Kräfte schwinden. Doch in ihren Gefühlen begann sie zu schweben ... zu schweben in das Licht ... in jenes Leuchten, das Rasako war.

Das Leben war nichts. Nur diese wahre Schönheit war erstrebenswert.

Vereinigen ... eins werden mit dieser Aura, die ihr entgegenstrahlte. Sich verbinden mit dem Licht.

»Deine Liebe - sie bedeutet Tod!«, erklang im letzten Winkel ihres Menschseins Rasakos verzweifelte Stimme auf.

»Es gibt keinen Tod. Nur die Liebe gibt es. Und das Licht. Doch Liebe und Licht sind eins. Ewig sind sie. Und für ewig sind wir in ihnen vereint!« Mit dem letzten Hauch ihrer Stimme floh das Leben aus Desideras Brust. Sie starb dahin wie eine Blume, die nur an einem einzigen Tag die volle Schönheit ihrer Blüten zeigt, um danach zu vergehen.

Erschüttert ließ Rasako das Mädchen zu Boden gleiten. Im Tod sah Desidera noch schöner aus als im Leben. Um ihre leicht geöffneten Lippen spielte ein Lächeln.

Angewidert hob Rasako den Helm vom Kopf und warf ihn in eine Ecke des Raumes. Das ganze Gemach schien von dem Glanz, der jetzt von ihm ausging, heller als der Tag erleuchtet zu werden.

Rasako hob den Kopf und öffnete den Mund. Er wollte schreien vor Kummer, wollte seine Trauer hinaus brüllen. Doch nur ein einziger Seufzer entrang sich seiner gepanzerten Brust.

Und eine Träne fiel aus seinem Auge und perlte auf Desideras zartgliedrigem Körper wie ein Bernstein.

»Du hast Rasako geliebt!«, sagte der Drachenlord dann langsam mit einer Stimme, deren Klang unter dem Helm niemals so klar zutage trat. »Geliebt hast du ihn, wie nur ein Mensch zu lieben vermag.

Auch ich wünschte, so lieben zu können - trage ich doch einen Teil dieses Geschlechts in mir. Glücklich, wer Liebe fühlen kann. Reine, unverfälschte Liebe, wie sie in der Tiefe der menschlichen Seele wohnt.

Arme Desidera. Deine Liebe, so engelsrein sie war, hat dich getötet.

Denn der Weg, den du gegangen bist, ist nicht der Meinige. Ich bin berufen, das Drachenvolk vor Schaden zu bewahren und auf sie eindringende Feinde abzuwehren. Ich muss diese Aufgabe, die mir gestellt wurde, erfüllen, ohne Gefühle zeigen zu dürfen.

Ich darf nicht lieben. Es ist mir verwehrt, jemals die Schönheit und die Macht der Liebe zu erfahren.

Denn Liebe und Zuneigung, Dankbarkeit und Freundschaft sind Gefühle, die Schwäche bedeuten, wenn man herrschen muss. Darum ist deine Liebe vergebens gewesen, kleine Desidera. Doch woher solltest du wissen, dass ich deine Liebe niemals erwidern konnte, weil mein Geist und mein Körper nicht dafür geschaffen wurden?

Ich bin Rasako, der Gebieter der Drachen. Ich trage mein Geschick!«

Dann lauschte der Herr von Coriella in die Nacht.

Kein Geräusch war auf der Burg zu vernehmen. Rasako beugte sich nieder und hob den leblosen Körper des Mädchens auf. Von seinen unerklärlichen Kräften Gebrauch machend öffneten sich vor ihm die Türen. Mit langsamen, gemessenen Schritten trug Rasako den entseelten Körper des Mädchens in den Ratssaal der Drachen, den Menschen im Allgemeinen nicht betreten dürfen.

Hier, auf dem hohen Thron mit der Drachenskulptur im Hintergrund, thront Rasako in seiner hohen Majestät, wenn er mit den Drachen Rat hält.

Mit einem kurzen Griff öffnete Rasako die Schließe seines Umhangs und schüttelte ihn von der Schulter, als er in der Mitte des Ratssaales angelangt war. Der kostbare Stoff und der Pelz raschelten in der Mitte des Ratssaales zu Boden. Behutsam legte der Drachenlord Desideras sterbliche Hülle auf den mattglänzenden Stoff des Umhangs.

Die Gedankenkraft seines Willens ließ von der Höhe seines Thrones eine Harfe herbei schweben. Einige kurze Griffe, dann klirrte die Rüstung des Drachenlords vollständig zu Boden.

Ein Anblick, den selbst ein Drache kaum erschaut hatte.

Der Glanz der Gestalt Rasakos ließ den Ratssaal der Drachen erstrahlen, als sei Shemelia, die Drachenblume, erblüht.

Die Lichtgestalt, die der Herr von Coriella jetzt war, erhob die Harfe und ließ die Finger über die Saiten gleiten. Ein warmer, voller Akkord schwang durch die Luft und das Echo des Saales gab der Melodie einen solchen Klang, als sei alle Harmonie des Kosmos hier vereinigt.

Langsam begann Desideras Gestalt emporzuschweben. Je höher sie aufstieg, um so mehr wurde der Körper des Mädchens zu einer verschwimmenden Gestalt, die sich immer mehr in Lichtreflexen auflöste.

Begleitet von den Akkorden, welche die Harfe des Drachenlords sang, verschwand Desidera aus dieser Welt. Die Liebe, die sie gesucht hatte, fand sie im Tode.

Langsam verging sie im Leuchten, das der Körper des Drachenlords ausstrahlte, und wurde eins mit dem Wesen, das in ihrem irdischen Leben ihre einzige und unerfüllte Liebe gewesen war.

Erst der Tod brachte die Erfüllung dieser Liebe.

Denn der Tod löst alle Rätsel.

»Steige auf zu Dhasors Sternen!«, klagte die Stimme Rasakos zur gewaltigen, hochgewölbten Kuppel des Ratssaales hinauf ...

 

Markttag in Salassar

 

Die ganze Stadt war auf den Beinen. Überall geschäftiges Treiben auf allen Straßen und Plätzen der Stadt am Ufer der Chrysalischen See, die zwar offiziell zum Reiche des Hohen Sarans Haran Esh Chandor gehörte, sich jedoch mehr als eine souveräne Kaufmannsrepublik verstand.

Salassar wurde vom Rat der Zehn regiert, einem Gremium der zehn erfolgreichsten Kaufleute der Stadt. Pholymates, der Reiche, war schon seit einigen Jahren der Oberherr von Salassar und damit auch der Erste Mann des Rates.

An jedem dritten Tage war offizieller Markt in der Stadt. Sonst durfte nur auf den Basaren der Kaufleute gehandelt werden. Doch am Markttag konnte jeder verkaufen, was er für sich selbst als unnütz ansah und kaufen, was er für brauchbar hielt.

In jeder Straße und in der kleinsten Gasse waren Stände aufgebaut, wo schreiende Händler oder laut keifende Weiber ihre Waren feilboten. Unten am Hafen wurde hauptsächlich mit Fischen und Meeresfrüchten gehandelt, während in der Nähe der Stadtmauern auf der Gegenseite die Bauern Getreide, Obst und andere Feldfrüchte anboten. Dazwischen erstreckte sich die breite Palette eines Warenangebotes, das an Vielfalt der Kuriositäten in ganz Chrysaltas ohne Beispiel war.

Hier gab es grundsätzlich alles zu kaufen, von den feinsten und teuersten Gewürzen über kostbare Stoffe bis zu reichverzierten Waffen. Aber auch Werkzeuge aller Art und Dinge des täglichen Bedarfs fanden sich an fast jedem Platz oder in jeder Straße.

Dazwischen tummelte sich das Völkchen, das mit Wahrsagerei und kleinen Taschenspielereien sein Geld verdiente. Schlangenbeschwörer bliesen ihre klagende Melodie auf der Flöte, um die gefürchteten Giftschlangen zum Tanze zu wiegen. Feuerschlucker erregten die Menschen. Und marktschreierisch wurde auf einen starken Mann hingewiesen, der es mit jedem aufnahm, der es wagte, einen Silber-Stater auf seinen eigenen Sieg zu setzen. Wer allerdings die massige Statur dieses Kämpfers betrachtete, überlegte es sich zweimal, eine solche Herausforderung anzunehmen. Und fast an jeder Ecke standen Märchenerzähler, die allbekannte Geschichten immer neu ausschmückten, so dass diese den Zuhörern jedes Mal neu vorkamen.

Unterhalb der Zitadelle des Oberherrn, gleich hinter dem Viehmarkt, wurden die Sklaven feilgeboten.

Sklaverei war in Salassar etwas ganz Alltägliches. Wer es sich leisten konnte, hatte so viele im Haus, dass sie alle erdenklichen Arbeiten verrichteten, ihren Herrschaften sogar noch nach einem erfolgreichen »Geschäft« das Gesäß säuberten.

Doch die Menschen, die auf diesem Markt verkauft wurden, diese Menschen hatten verschiedene Schicksale, die sie auf den Block oder die Gerüste gebracht hatten, von denen aus die Verkäufer ihre lebendige Ware anpreisen konnten.

Viele von ihnen wurden von ihren Gläubigern auf den Block gestellt, wenn sie ihre aufgelaufenen Schulden nicht bezahlen konnten. Vorher hatten sie an den Markttagen all ihren Besitz verkauft, um das schlimme Schicksal hinauszuzögern und mit dem Verkaufserlös die hartherzigen Gläubiger zu beschwichtigen. Doch wenn alles verkauft und nichts mehr übrig war, dann übernahm der Gläubiger den Schuldner auch anstelle der Restzahlung. Und nicht nur den eigentlichen Schuldner.

Vom Augenblick der Zahlungsunfähigkeit ging der Unglückliche in den Besitz seines Gläubigers über. Und wurde dadurch sein Besitz, den er selbstverständlich wieder veräußern konnte. Ein Familienvater, der sich selbst anbot, um das Geld für das Leben seiner Familie zu bekommen, musste damit rechnen, dass er kurzerhand als Ruderer auf eine Galeere weiterverkauft wurde.

Doch das war eigentlich die Ausnahme.

Meistens war es den reichen Kaufleuten von Salassar recht, wenn diese Menschen ihren erlernten und praktizierten Beruf auch als Sklaven weiter ausübten. Allerdings mussten sie den Gewinn ihrer Arbeit an den Sklavenherrn abtreten, der ihnen jedoch klugerweise genug zum Leben ließ.

Wer so vom freien Mann zum Leibeigenen geworden war, lebte weiter mit seiner Familie in seinem ehemaligen Haus und bekam so viel zugestanden, dass es für Essen und die Dinge des täglichen Bedarfs genügte. Alles, was darüber war, musste jedoch an den »Herrn« abgegeben werden.

Auf diese Art hatte mancher Kaufmann eine ganze Anzahl gutgehender Handwerksbetriebe unter seiner Kontrolle, die nach außen hin von einem freien Mann geleitet wurden. Nur die Tätowierung des »Herrenzeichens« auf dem Handrücken zeigte an, dass er unfrei war.

Nach zehn Jahren erlosch die Sklaverei in Salassar durch ein Gesetz, das noch aus den Jahren der Gründung stammte. Doch dann hatten sich die meisten Sklaven so daran gewöhnt, dass sie freiwillig gegen eine geringe Bezahlung im Dienste des jeweiligen Herren blieben.

Denn während sie als freie Menschen sehen mussten, wie sie durchs Leben kamen, hatte der Herr eines Sklaven seine Fürsorgepflichten. Er musste ihn ernähren und kleiden. Bei den ärmsten Klassen von Salassar, vor allem bei Familien mit vielen Kindern, war nicht immer sichergestellt, dass genug Brot im Haus war, wenn die Handarbeiten keine Käufer fanden.

Und so kam es auch oft vor, dass sich ein kleiner Handwerker, der seine Familie mit einer vielköpfigen Kinderschar nicht mehr ernähren konnte, freiwillig bei einem vermögenden Kaufmann in die Sklaverei begab.

Allerdings ging diese Familie das Risiko ein, dass sie, nachdem sie die Tätowierung erhalten hatten, von ihrem Herrn verkauft wurden, obwohl sie sich freiwillig in die Sklavenabhängigkeit begeben hatten.

Nasello, der Tuchwirker, hatte ein solches Schicksal.

Obwohl er mit seiner Frau Tag und Nacht am Webstuhl saß und das Weberschiffchen fliegen ließ, gelang es ihm nicht, genug Brot und Kleidung für die Familie zu beschaffen. Obwohl die beiden ältesten seiner sechs Kinder mithalfen, wurden sie mit jedem Tag ärmer.

Irgendwann fasste Nasello den Entschluss, sich und seine ganze Familie dem Juwelenhändler Bökhma zum Eigentum anzubieten. Lieber satt für einen reichen Mann in Unfreiheit arbeiten, dachte er, als in Freiheit zu hungern.

Bökhma, den man in Salassar den »Gierigen« nannte, kontrollierte den ganzen Juwelenhandel bis hinunter nach Mhanjohara im Süden und nach Bareas am Nordufer der Chrysalischen See. Nasello hoffte, dass Bökhma für einen fleißigen Tuchwirker Verwendung hätte.

Er bemerkte zu spät, dass er sich getäuscht hatte. Kaum hatten er, seine Frau und die Kinder die Sklaventätowierung auf der Hand, als sie von Bökhmas Dienern ergriffen wurden. Drei Tage waren sie in einem muffigen Kellerraum im Hause des Juwelenhändlers eingesperrt. Dann führte man sie gefesselt zu einem der Blöcke, von denen Menschenware feilgeboten wurde.

Nur Nasello und sein Weib Madina fanden auf dem Block Platz, Madina trug noch das Jüngste von zwei Jahren auf dem Arm.

Die anderen fünf Kinder waren vor dem Block an Eisenpfählen festgebunden, die man mit einigen kräftigen Hammerschlägen in den Boden getrieben hatte. Den Tuchwirker und sein Weib hatte man mit den Füßen an einen Eisenring gefesselt, der in den Block eingelassen war.

Nasello hatte seine Frau in den Arm genommen, als versuche er, sie festzuhalten. In den Augen der vor dem Block gefesselten Kinder glitzerte nackte Angst vor dem Kommenden. Immer wieder sahen sie zu Bökhma hinüber, der seine fette Gestalt mit einem kostbaren Purpurgewand bedeckte, das an allen möglichen Stellen mit Goldfäden verziert und mit edlen Steinen geschmückt war.

Bökhma hatte sich in einer Sänfte herantragen lassen. Die Träger kauerten etwas abseits, um auszuruhen. Die Anwesenheit des Herrn war bei einem Verkauf von Sklaven unumgänglich. Einer von Bökhmas Dienern pries Nasello und seine Familie in marktschreierischem Ton an.

»... ein ehrlicher Tuchwirker, der zu arbeiten versteht!«, rief der dürre Mann in der kurzen, weißen Tunika, der mit weißen Handschuhen verdeckte, dass er selbst die Sklaventätowierung auf dem Handrücken trug. »Seine Kinder werden bald alle mitarbeiten können und seine älteste Tochter ... nun, ich denke, wenn sie euer Eigentum ist, werdet ihr noch andere Verwendung für sie haben als den Webstuhl!«

»Der Mann soll seine Muskeln zeigen!«, befahl ein vierschrötiger Seemann. »Wenn er zum Rudern taugt, dann nennt den Preis. Wenn nicht ... nun, am Hafen sucht man immer Fischfutter, wenn er sich nicht verkauft ...«

»Die älteste Tochter interessiert mich tatsächlich!«, näselte ein parfümierter Stutzer und schob sich nach vorne. Das Mädchen drehte sich unter der Hand, die ihren gertenschlanken Körper prüfend wie eine Ware betastete. Jeder der Umstehenden wusste, was geschehen würde, wenn die Kleine in die Hände dieses Mannes fiel. So wie er kleideten sich die Besitzer der Bordelle am Hafen.

»Wenn die Frau kochen kann, findet sie mein Interesse!« Eine dicke Matrone schob sich vor und ließ sich von Madina die schwieligen Hände vorzeigen. »Zu arbeiten versteht sie ja!«, knurrte die Kundin nach dieser Prüfung.

»Drei von den Kindern könnte ich gebrauchen!«, rief ein kräftig gebauter Mann mit hartem Gesicht und gnadenlosen Augen. »Sie haben gerade die Größe, um in den Stollen meines Bergwerkes die kleinen Loren zu ziehen!«

»Aber die schwere Arbeit!«, brach es aus Nasello hervor. »Sie werden sie nicht ertragen!«

»Nicht lange, das ist gewiss!«, sagte der Mann und strich prüfend über den Körper des etwa zehnjährigen Jungen, der diesem Griff verzweifelt auszuweichen versuchte.

»Sie werden schnell groß und passen dann nicht mehr in die Stollen!«, setzte Madina hinzu. Es schnitt der Mutter in die Seele, als sie das grässliche Schicksal ihrer Kinder vorausahnte.

»Das denke ich nicht!«, sagte der Bergwerksbesitzer. »Bei dieser Arbeit haben sie keine Zeit, zu wachsen. Nach einem halben Jahr in den Stollen ...!« Er sagte nichts mehr. Doch das war auch gar nicht nötig.

Mit einem Weinkrampf brach Madina zusammen. Nasello fing sie gerade noch auf. Das jüngste Kind begann zu wimmern. Es begriff noch nichts von der Tragödie, die sich für die Familie anbahnte.

»Die ganze Familie wird für drei Aurei zusammen verkauft!«, rief der Diener, nachdem er von Bökhma einige Anweisungen zugeflüstert bekam. »Drei Aurei für einen tüchtigen Weber mit seiner Familie. Nun, wie ist es? Bietet jemand die drei Goldstücke?«

Über die Menge, die den Verkaufsblock umlagerte, breitete sich Schweigen. Drei Goldstücke waren der Preis für drei vorzügliche Rennpferde. Und Pferde stellten in Salassar einen beträchtlich höheren Wert dar als eine einfache Handwerkerfamilie.

»Drei Aurei. Drei Goldstücke!«, rief Nasello verzweifelt. »In Dhasors Namen, ich flehe, dass uns jemand zusammen kauft. Wir werden arbeiten und das Geld wird gut angelegt sein. Drei Aurei. Sie werden sich durch unsere Arbeitskraft schnell vervielfachen!«

»Ich zahle einen Aureus für das Mädchen!«, keckerte der Bordellbesitzer und trat vor. Wie besitzend legte er seine glatt manikürte Hand auf den Körper des Mädchens und spürte den Schauer, den seine Berührung auf ihrer nackten Haut erzeugte. Sicher war die Kleine noch unberührt. Und da gab es gewisse Kunden, die für ein solches Mädchen einen Aureus für die erste Nacht zahlten. Wenn Bökhma einwilligte, machte er ein vortreffliches Geschäft.

»Da niemand für die ganze Familie bietet, werde ich mit meinem gnädigen Herrn, dem allgütigen Bökhma, die Preise für die einzelnen Sklaven festsetzen!«, rief der Diener laut.

Das Wehgeschrei des Tuchwirkers und seiner Frau hallte über den Platz, während die jüngeren Kinder herzergreifend zu weinen begannen. Sie erhoben die Hände und bettelten, dass jemand ein anderes Gebot machte, als sie sahen, wie der Besitzer des Bergwerkes eine Goldmünze aus seiner Geldkatze fischte. Für Kinder würde niemand höher bieten.

Qualvoll verannen die Minuten, während der Diener mit seinem Herrn in der Sänfte über die neuen Preise redete.

Doch in den Augen der Anwesenden war Gleichgültigkeit zu lesen. Das Schicksal von Sklaven ließ die Menschen kalt. Nur in den Mienen mancher Frauen aus den einfacheren Ständen war so etwas wie Mitleid zu erkennen. Doch die hatten kaum selbst genug zum Leben und konnten nicht helfen.

Doch dann sahen die Kinder des Tuchwirkers in zwei Augen, die strahlten wie zwei blaue Diamanten. Ein Blick, der tief in die Seele drang. Obwohl ihnen ein grässliches Schicksal bevorstand, wurden sie ruhig und gelassen.

Das kleine Mädchen, dem diese Augen gehörten, musst ungefähr fünf Jahre alt sein. Es trug ein langes, einfach geschnittenes Gewand in dunklem Blau. Die bloßen Füße steckten in dünnen Riemen-Sandalen. Über die Schulter trug sie eine schlichte Umhängetasche, wie sie die meisten Wanderer mit sich führten.

Niemand der Menschen auf dem Sklavenmarkt von Salassar hatte die Anwesenheit des kleinen Mädchens bemerkt, obwohl es jedem hätte auffallen müssen. Denn ihr blasses Gesicht wurde von langem, goldgelbem Haar wie von einem Schleier umrahmt und glich mehr den Zügen einer Feengestalt aus dem Wunderwald als einem Menschenkind.

Die Kleine hatte sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit durch die Menge der großen Menschen hindurchgeschoben und stand nun unmittelbar vor den Kindern des Tuchwirkers.

»Habt keine Angst. Ich werde dafür sorgen, dass alles gut wird!«, schien ihr Blick auszudrücken. Sogar das Jüngste in den Armen der Mutter hatte aufgehört zu wimmern.

Langsam ging das Mädchen mit dem Goldhaar auf die Sänfte zu, aus der sich Bökhma der Gierige erstaunt hinauslehnte ...

 

***

 

Vom Dach eines der umliegenden Häuser sah Sina, die man in Salassar »die Katze« nannte, die Tragödie der Tuchwirker-Familie mit an, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Obwohl ein solches Schicksal in Salassar nicht selten war, wurde das zwanzigjährige Mädchen mit der grazilen Gestalt und dem dunklen Haar immer wieder davon aufgewühlt.

Hier konnte man also für etwas glitzerndes Metall Menschen kaufen, die nicht besser und nicht schlechter waren als man selbst. Nur dass sie entweder bereits in armen Verhältnissen geboren waren oder im Leben Pech gehabt hatten. Der unglückliche Tuchwirker war sicher ein Musterbeispiel der Ehrlichkeit.

Andere hätten versucht, mit ihrer Familie die Stadt zu verlassen oder auf andere Art zu Geld zu kommen. Er hätte mit seiner kräftigen Gestalt auch in einer der Diebesbanden von Salassar seinen Platz bekommen. Oder er hätte seine älteste Tochter das tun lassen können, was ihr nun bevorstand, und mit dem Geld den notwendigen Lebensunterhalt bestritten.