Blue Scales

Blue Scales

Die Drachen von Talanis

Katharina V. Haderer

Inhalt

Impressum

Widmung

Prolog

1. Einladung

2. Vater in Schwarz-Weiss

3. Grossmama Song

4. Drachen-Tattoo

5. Kaffee im Stadtpark

6. Teezeremonie

7. Roter Kojote

8. Blut und Schuppen

9. Streuner in der Nachbarschaft

10. Die Hexade

11. Freigänger

12. Der Tag der Freiheit

13. In fremder Gewalt

14. Duell

15. Ein räudiger Hund

16. Zerschmetterin der Wölfe

17. Jagdfieber

18. Skinner

19. Der schwarze Albtraum

20. Der fremde Gast

21. Schatten-Netzwerk

22. Ein Drache von vielen

23. Strassenkunst

24. Sonntagabend im Stadtpark

25. Rudelbildung

26. Dinner mit Skinner

27. Berufung

28. Iudex Poschovaris

29. Katze am Fenster

30. Die Konsequenzen gehören mir

31. Vögel

32. Rettung naht

33. Manipulationsopfer

34. Vogelflug

35. Den Wölfen zum Fraß

36. Tollwut

37. Rechtlos

38. Alpha

39. Das Omega

40. Gemetzel

41. Blaulicht

Begriffslexikon

Über die Autorin

Bücher von Katharina V. Haderer

Widmung

Dieses Buch möchte ich im Besonderen zwei Frauen widmen, denen ich mich nahe fühle, obwohl wir uns bisher bloß über das Internet kennen: Anja von facebook.com/Bücherliebe und die Autorin Martina Riemer/May Raven. Unabhängig voneinander haben sie mich angeschrieben, ob ich mich nicht beim Drachenmond Verlag bewerben möchte. Meine Bücher, so meinten sie, würden dort super ins Programm passen. Ich fand das ebenfalls – hätte mich aber nie ohne Zuspruch getraut, den Verlag anzuschreiben.

Danke, dass ihr an mich geglaubt habt.


Mein Dank geht auch an Astrid, die Drachenmutter und das Herz des Drachenmond Verlags. Du hast mir eine Chance gegeben. Jetzt fliege ich mit euch unter dem Mond.

Prolog

Header

Hinter mir ertönt ein Rumpeln. Meine Schwester Lin, die auf einer der höheren Leitersprossen balanciert, durchsucht das Regal mit den unzähligen, handtellergroßen Schubladen, das die Wand hinter dem Kassentresen bedeckt. »Mum hat die Rosenwurzeln wieder ins hinterste Eck geräumt!«, beschwert sie sich.

»Kein Wunder«, erwidere ich und blättere lustlos in meinem Taschenbuch. »Rosenwurzeln besitzen weder medizinische noch magische Wirkung und sind zudem giftig. Es spricht gegen Mums Ehrenkodex, sie zu verkaufen, daher verscharrt sie sie hinter dem restlichen Kram.«

»Frau Vitra ist unsere Stammkundin und sie schwört auf das Zeug«, brummt Lin. »Ich möchte nicht jedes Mal stundenlang suchen müssen!«

Frau Vitra zufriedenzustellen hat es auf meiner Prioritätenliste noch nie sonderlich weit nach oben geschafft. Die ältere Dame mit dem orangerot gefärbten Haar, das den grauen Ansatz nie ganz verstecken kann, ist eine seltsame Gestalt wie viele andere, die unseren Laden besuchen. Ein Geschäft, in dessen Fenstern geprägte Bronzemünzen und fedrige Traumfänger baumeln, lockt allerlei schräge Vögel an.

Der Geschäftsname, der aus talanidischen Schriftzeichen besteht, flankiert die Oberseite der Eingangstür wie exotische Wimpern. Darunter ist ein unauffälliges Schild angebracht, das den Text in die Gemeinsprache übersetzt:


Songs Laden – alternative Heilmedizin


Wir leben auf dem neuen Kontinent Vesper. Die Landmasse wurde im Vergleich zu den anderen Kontinenten erst spät besiedelt. Heute tummeln sich auf Vesper Bewohner aus allen Teilen der bekannten Welt. Hier gibt es nur wenige Menschen, die altes Talanidisch lesen können – noch dazu in seinen zahlreichen Dialekten. Wer über das Meer hierher zieht, versucht noch eine Zeit lang, seine Kultur festzuhalten, doch früher oder später geht jede Tradition in etwas Neues über; in eine Art vesperische Kultur – oder Unkultur, wie Großmutter Pheng abfällig betont. Lin und ich sind der lebende Beweis dafür.

Lin heißt eigentlich Linda, doch Großmutter weigert sich, ihren modernen Namen anzuerkennen. Linda verdankt Großmama Pheng ihren talanidischen Spitznamen – Lin –, während ich, Christine, als Christie ganz im kulturellen Mischmasch von Vesper aufgehe.

Nicht, dass Großmutter Pheng mich jemals Christie nennen würde. Mein Name ist ihr in jeder Form ein Grauen, weswegen sie es tunlichst vermeidet, über mich sprechen zu müssen.

Lin, ihre Großmutter und mich verbindet eine lange Geschichte, die mich manchmal traurig und öfter auch wütend stimmt. Lin und ich sind nur Halbschwestern, ich bin also nicht mit Großmama Pheng blutsverwandt. Das lässt mich die alte Hexe auch zu jedem Zeitpunkt spüren. Vielleicht lese ich deswegen gerne Schundromane. Sie beschäftigen sich kaum mit verkalkten Großmüttern mit steinernen Herzen. Hier steht der vollkommene, agile Jungspund mit dem entflammten Liebesorgan im Zentrum.

»Ein perfekter Mann«, schnaube ich. »Als ob es so etwas in der Realität gäbe.«

Das Türglockenspiel läutet. Das Geräusch lässt meine Haut prickeln – die magischen Zeichen im Messing lösen angeblich einen Zauber aus, der jede Person prüft, die unseren Laden betritt. Sobald von einem Besucher Gefahr ausgeht, schlägt die Magie an. Keiner weiß, in welcher Form sich der Schutzzauber äußert. Es ist fraglich, ob das Glockenspiel überhaupt richtig funktioniert.

Da ich Frau Vitra erwarte, die ihr in der Wahrsagerei-Stube hart erarbeitetes Geld für ein paar lausige Rosenwurzeln ausgeben möchte, rühre ich mich nicht vom Platz. Seelenruhig beende ich die Buchseite und hebe den Blick erst, als jemand vor den Tresen tritt.

Vor mir steht ein schlanker Mann mit regennassen Schultern. Er sieht sich um und kratzt sich dabei fahrig am Übergang zwischen dem dunkelbraunen Haupthaar und dem Bartschatten, der seine Wangen und das Kinn überzieht. Sein Blick gleitet über die Teemischungen. Er trägt einen Rucksack und lederne Stiefel, die ihn wie ein Abenteurer wirken lassen.

Der Kerl sieht aus, als wäre er meinem Buch entsprungen. Offenbar interessiere ich ihn weit weniger, was mir klar wird, als Lin mit dem Behälter Rosenwurzeln aus dem Hinterzimmer zurückkehrt.

»Was ist mit dem Glockenspiel los?«, fragt sie. Erst jetzt bemerke ich, dass die Türglocke noch immer Töne produziert wie hauchdünnes Glas, das aneinander schlägt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt der Fremde mit den braunen Augen und spielt damit auf die Kiste an, mit der sich Lin abmüht.

Lin verzieht die Lippen zu einem humorlosen Lächeln. »Ich bin ein großes Mädchen«, erwidert sie und stemmt die Box auf die Theke. Dabei kommt ihr der Strauß aus getrockneten Vogelfüßen in den Weg, der von einem Deckenbalken hängt. Normalerweise ist es mir reichlich egal, dass wir … seltsam sind, doch jetzt, wo der Fremde einen Schritt in unsere heiligen Hallen gesetzt hat, ist es mir unangenehm. Ich möchte ihm gefallen. Die wenigen Quadratmeter unseres Ladens bilden ein Labyrinth aus gefälschtem talandischem Mobiliar, in dem Halbedelsteine, energetische Seifen, Talismane und Traumpüppchen, Kräuter, Pulver und Tinkturen zu finden sind.

Lin spaziert zur Eingangstür, reckt sich auf die Zehenspitzen und greift nach dem Glockenspiel. Dabei zieht sich ihr Oberteil in die Höhe und gibt die Sicht auf einen schmalen Streifen Haut frei, was unser Abenteurer durchaus bemerkt.

Das Glockenspiel verstummt. Linda dreht sich um und malt sich ein Lächeln auf wie Lippenstift. »Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Wir sind Halbschwestern, sie und ich. Wir besitzen beide dasselbe schwarzblaue Haar und die dunklen, mandelförmigen Augen. Ich war nie eifersüchtig, dass sie attraktiver ist als ich. Wie meine Mutter besitzt sie etwas Anziehendes, Verführerisches, dem sich beide nicht gänzlich bewusst sind. Sie ziehen Fremde – vor allem Männer – an, ohne dass sie viel dafür tun müssen. Jetzt kann ich mich eines stechenden Gefühls in der Magengegend nicht erwehren.

Wäre das Leben ein Roman, so wäre Lin die unsympathische Zicke und ich die chaotische, aber liebenswerte Außenseiterin, die auf der letzten Buchseite mit ihrer großen Liebe in den Sonnenuntergang reitet. Leider ist das Leben kein Roman und Lin keine Zicke. Sie ist meine Schwester, eine liebenswerte Person und wir stehen uns nah. Wie ich mich in Männer aus Büchern verliebe, verlieben sich reale Männer in Lin.

Auch dieser Mann.

Das ist der Tag, an dem ich meinen Traummann treffe und ihn wieder verliere (wobei man durchaus kritisch anmerken kann, dass ich ihn genau genommen nie besessen habe). Jeder, der glaubt, dass diese Geschichte darauf hinausläuft, dass wir durch geheimnisvolle Umstände zusammenfinden, irrt sich. Das werden wir nicht.

An diesem Punkt könnte meine Geschichte eigentlich enden, doch das tut sie nicht. Ich habe eine andere Geschichte zu erzählen – eine über Familie, im Speziellen meine. Es ist eine Geschichte über Liebe – wenn auch nicht amouröser Art –, über Enttäuschung, Hoffnung und Angst, die es mit sich bringt, wenn man diejenigen beschützen möchte, die einem nahestehen.

Das Glockenspiel über der Ladentür hätte mir verraten sollen, dass der Unbekannte Unheil mit sich bringt … nicht nur für Lin und mich, sondern für unsere gesamte Familie.

Kapitel 1

Einladung

Header

Der Neuankömmling sieht Linda verschmitzt und auch ein wenig verlegen an. »Ich bin gerade erst zugezogen«, erklärt er, »und möchte mir ein Bild von der Nachbarschaft machen.«

Lin beugt den Kopf zur Seite, ihr Blick streift den Mann mit augenscheinlichem Desinteresse. Währenddessen macht sie sich daran, die Kiste zu entrümpeln. Ich rümpfe die Nase. Mein Geruchssinn ist besser als der anderer Menschen, ein Erbe meiner Mutter. Die Box verströmt den muffigen Geruch von Pilzen, wobei ich nicht sagen kann, ob sie selbige enthält oder mittlerweile daraus besteht.

Ich ziehe die Nase kraus, als mir ein weiterer Geruch entgegenquillt. Gierig sauge ich die Luft ein. Der Duft rauscht durch meine Nase und kitzelt an den winzigen Härchen. Es fällt mir schwer, ihn zu identifizieren – er wird von anderen Gerüchen überdeckt wie eine Wand von zahlreichen Schichten alter Tapete. So sehr ich mich auch bemühe, den Ursprung herauszufinden, kann ich ihn unter dem Duft der Kiste, der sich mit Lins Deodorant vermischt, nicht identifizieren.

Ich bemerke, dass ich die Augen geschlossen halte und öffne sie behutsam. Der Fremde sieht mich entgeistert an, verlagert seine Aufmerksamkeit jedoch rasch wieder auf Lin. »Ich nehme an, Sie stammen aus der Gegend?«

»Nein«, erwidert meine Schwester, während sie Säckchen und Döschen auf dem Tresen schlichtet. »Wir arbeiten nur hier.«

»Woher kommen Sie?«

Lin hebt die Augenlider und ringt sich zu einem spöttischen Lächeln herab. »Wollen Sie wissen, wo ich wohne, oder spielen Sie auf meinen kulturellen Hintergrund an? Für beide Antworten kennen wir uns nicht ausreichend, fürchte ich.« Die gute, alte Lin. Es gibt so ziemlich keine Anmache, die sie nicht erlebt hat. Sprüche zu kontern, darin hat sie Übung.

Der Fremde lehnt sich an den Tresen. »Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Ich suche lediglich Anschluss und hin und wieder ein gutes Gespräch.«

Auf Lins Wangen erscheinen Lachfalten. Das bedeutet, dass sie nun wirklich lächelt, nicht auf die künstliche Weise, mit der sie Männer abweist, die ihr zu den unpassendsten Zeiten – an der Kasse, im Warteraum des Zahnarztes oder beim Gefängnisbesuch unseres Vaters – Avancen machen. Der Fremde reagiert auf Lindas Lächeln wie eine Sonnenblume auf die Sonne und wendet sich ihr komplett zu.

Ich seufze und stütze gelangweilt mein Kinn ab. Der junge Mann nickt in Richtung Tür, an der der Name unserer Mutter unter dem Wort Geschäftsleitung geschrieben steht. »Sind Sie Ruth?«

»Das ist meine Mutter. Mein Name ist Linda«, erklärt sie wahrheitsgemäß. »Linda Song.«

Das Türglockenspiel klingelt erneut. Die Traumfänger und Schutzsymbole wanken, als die Tür aufgerissen wird. Begleitet von einem kalten Luftschwall, betritt Frau Vitra den Laden. Die Luft bringt nicht nur ein schrilles: »Guten Morgen, ihr Lieben!«, mit sich, sondern auch den Geruch von nasser Straße und den Ausdünstungen des benachbarten Restaurant-Küchenabzugs.

Da, erneut ein Hauch, der meine Nase streift und wie eine Ahnung darin hängen bleibt. Ich schließe die Augen. Es riecht nach kaltem Stein, feuchter Erde und regenbesprenkelten Blättern.

Moment mal. Ich spähe zwischen den Wimpern hervor. Das ist deswegen erstaunlich, da es im Umkreis von zehn Häuserblocks keinen einzigen Baum gibt. Das Arbeiterviertel besteht aus lieblos aneinandergereihten Schuhkarton-Wohnhäusern … und Songs Laden befindet sich in dem Karton der kleinsten Kinderschuhe, die im Handel erhältlich sind.

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen. Als ich die Luft in die Lungen sauge, um sie in Form von Tönen wieder auszuspucken, legt sich ein metallischer Geschmack auf meine Zunge, sodass ich husten muss.

»Linda …«, wiederholt der Abenteurer, als wäre ihr Name ein exklusives Bonbon, das über seine Zunge gleitet. »Würden Sie sich vielleicht in den nächsten Tagen von mir auf eine Tasse Kaffee einladen lassen und mir etwas über die Gegend erzählen?«

Ha, gleich passiert es! Lin nimmt niemals Einladungen an. Nicht mit ihrem Aussehen, nicht mit ihrem kulturellen Erbe, nicht mit unserer Familiengeschichte. Einen Augenblick lang werde ich noch seinen hoffnungsvollen Augenaufschlag genießen, und dann … bämm!

»Wieso eigentlich nicht?«, lächelt sie und nestelt an einem Döschen herum.

Vor Schock vergesse ich während des Öffnens die alte Kasse zu sichern. Die Lade springt aus der Verankerung, knallt mir in den Magen und das Geld fällt klimpernd zu Boden. Leise fluchend sammle ich die Münzen auf.

Als ich die Nase wieder über den Tresen strecke, bemerke ich, wie die Tür zufällt, begleitet vom geisterhaften Klingeln unseres Glockenspiels. Ich kann sehen, dass sich die breitschultrige Gestalt durch das milchige Glas entfernt. Lin lächelt, als sie einen Papierstreifen zwischen den Fingern faltet, offenbar seine Telefonnummer. Während der Fremde und sie mich in den letzten Minuten komplett ignoriert haben, fühlt sich Frau Vitra zum Gegenteil berufen. Sie verlangt lautstark nach ihren Rosenwurzeln und fünf Gramm Gäga-Brocken, die in Talanis unter dem Namen Lebensspender bekannt sind, da sie auf magische Art und Weise die Wundheilung fördern.


Es dauert eine geschlagene halbe Stunde, bis meine ältere Schwester merkt, dass ich sauer bin. Ein hartes Stück Arbeit, denn ich gebe mir wirklich Mühe, sie nicht anzusehen. Als sie endlich bemerkt, dass ich sie in meinem gekränkten Stolz ignoriere, werfe ich mir bereits den Rucksack mit meinen Fahrradpolo-Schlägern über die Schulter. Ich schnappe mir eine leere Kühltasche und stapfe erhobenen Hauptes Richtung Tür.

»Was ist los mit dir?«, fragt Lin.

»Gar nichts!«, schnauze ich und versuche, einen eiskalten Abgang hinzulegen. »Ist ja nicht so, als würde mein Befinden irgendjemanden interessieren!«

Ich weiß, es ist kindisch, auf Linda sauer zu sein, bloß weil sich mein potenzieller Traummann mehr für sie interessiert als für mich. Aber es ist auch nachvollziehbar, wie ich finde.

Ich entsperre mein Fahrrad – die Eisenkette, mit der ich es sichere, ist verhältnismäßig dick für den Zustand des zerkratzten Drahtesels, den ich mein Eigen nenne – und schwinge mich auf den abgewetzten Sattel. Ich zwänge mir den Gurt der Kühltasche über die Schulter, er stößt gegen die Polo-Schläger. Ein prüfender Blick in den Himmel verrät mir, dass sich die Wolken dicht und grau aneinander drängen. Die Wetterfee im Radio behauptete heute Morgen noch, Regengüsse wären weitgehend unwahrscheinlich, und ich hoffe, ich kann ihrem Urteil trauen.

Ich strample entgegen der Einbahnstraße und verlasse das Arbeiterviertel in nordwestlicher Richtung. Wir besitzen kein Auto und ein Taxi kann und will ich mir nicht leisten. Ich hätte meinen Cousin Zhang fragen können, ob er mich fährt. Der verwöhnte Schnösel hat zu seinem siebzehnten Geburtstag ein Auto geschenkt bekommen. Doch Zhang verlangt für jeden Gefallen über kurz oder lang eine Gegenleistung und darauf habe ich keine Lust. Ich trete in die Pedale und schlittere über die feuchte Straße, die profilierten Reifen geben ein schmatzendes Geräusch von sich. Autos überholen mich, wirbeln den Regen der letzten Nacht auf und überziehen mich mit einem feinen Sprühregen. Das Gesamtbild passt zu meiner Laune.

Dann bricht die Sonne hervor – es lebe die Wettertante aus dem Radio – und mit ihrem Erscheinen bessert sich auch meine Stimmung. Ein gewaltiger Doppeldeckerbus hupt mich an. Mit einem ausgestreckten Arm samt unauffällig aufragendem Mittelfinger zeige ich an, dass ich gerade abbiege. Die schmale Straße, auf der ich hinabsause, gibt den Blick frei auf ein farbloses Gebäude, das eine Mischung aus einem Militärbunker und einem alten Vierkanthof zu sein scheint. An den vergitterten Fensterlöchern ist die Strafvollzugsanstalt Poschovar zu erkennen, in der mein Ziehvater seit mehr als vierzehn Jahren seine Strafe absitzen muss.

Kapitel 2

Vater in Schwarz-Weiss

Header

»Hey, kleine Maus. Wie geht es dir?«

Bob, der Leiter des Zellentrakts, in dem mein Vater einsitzt, kennt mich, seitdem ich vier Jahre alt bin, weswegen er sich neben meinem Vater in der außergewöhnlichen Situation befindet, mich kleine Maus nennen zu dürfen. Bob sieht so aus, wie sein Name klingt. Er besitzt dicke Backen, die nie ganz rasiert sind, und trägt jederzeit ein einlullendes Lächeln auf den Lippen. Damit strahlt er eine Ruhe aus, als würde ihn nicht einmal ein Massenausbruch zur Eile motivieren. Ich schätze Bob, von Beginn an hat er sich gut mit meinem Vater verstanden. Manchmal spielen die beiden Karten. Als Leiter der Station C sieht er geflissentlich darüber hinweg, wenn ich kleine Geschenke mitbringe.

»Mir geht es gut. Danke, Bob«, erwidere ich. »Kann ich meine Polo-Schläger hier stehen lassen?«

»Gib sie Florence, sie wird darauf achten.«

Florence stellt die Besucherpässe aus. Sie folgt zahlreichen Mitarbeitern, die über die Jahre hinweg gekommen und wieder gegangen sind. Nur mein Vater musste bleiben … und Bob.

Die Gefängnisrezeptionistin nimmt mir meine Taschen ab und streckt mir mit violett lackierten, manikürten Fingernägeln die Besucherkarte entgegen. »Christine Song, bitte schön.« Ich bedanke mich und folge dem Beamten in das Besucherareal von Block C.

Mein Vater wartet bereits auf mich – Long Song, der Drache. Krame ich in meinen Erinnerungen, kann ich mich nicht daran erinnern, ihn jemals zornig erlebt zu haben – nicht einmal, als er vor Gericht sein vernichtendes Urteil erfuhr. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass er ein Drache ist.

Die Bezeichnung ›Drache‹ ist nicht bloß eine farbenfrohe Allegorie seines Charakters. Long Song ist tatsächlich ein Drache – nun, zumindest zur Hälfte. Sein Vater, Zuko Song, war ein Roter Drache. Die anderen Häftlinge verstehen nicht, was das bedeutet. Sie wissen nicht, dass die silbernen Ringe, die wie Handschellen dauerhaft an seinen Hand- und Fußgelenken angebracht sind, die Magie dämmen, die in ihm schlummert. Was sie sehen, sind die Schuppen, die seinen Oberkörper wie Tätowierungen überziehen. Ihnen ist nur bekannt, dass mein Vater illegale Geschäfte in der Drachenstadt Shousa betrieben hat. Die Stadt, in der eine Triade aus Drachenwandlern das Sagen hat.

Obwohl mein Vater höflich und besonnen ist, macht es den anderen Häftlingen Angst, nicht zu wissen, wozu er fähig sein könnte. Daher halten sie zu ihm Abstand – und auch zu uns.

Papa wartet an seinem üblichen Platz im Besucherzimmer und lächelt mir entgegen. Einige Tische sind besetzt, die Familien unterhalten sich leise. Wie immer hat Vater sich rasiert. Er besitzt die typischen dunklen Augen der Familie Song und sattes, rabenschwarzes Haar, das trotz seines Eintritts in die Vierziger kaum Grau beinhaltet. Ich mag die Lachfalten, die sich in den letzten Jahren um seine Augen gesammelt haben. Was ich nicht mag, sind die scharfen Linien, die seinen Mund flankieren – die ihn selbst dann ernst und ein wenig traurig wirken lassen, wenn er seine Mimik in Schach hält.

»Hey, Paps«, rufe ich bemüht leicht und beobachte, wie die ernsten Linien in seiner Freude aufgehen. Ich umarme ihn und küsse seine Wangen. Er hält mich einen Moment lang fest und saugt hörbar meinen Geruch ein. Früher habe ich geglaubt, ich hätte meinen überragenden Geruchssinn von ihm geerbt. Erst als ich alt genug war, habe ich begriffen, dass das nicht möglich ist. Long ist mein Vater – der meines Herzens. Nur nicht auf genetischer Basis. Genetisch gesehen ist ein anderer Mann mein Vater. Jemand, den ich nicht kenne. Niemand in unserer Familie spricht über ihn; es ist ein ungeschriebenes Gesetz, das nicht gebrochen werden darf.

Damals, als Lin noch klein war, durchlebten meine Eltern eine schwere Zeit. Großmutter Pheng versagte ihnen jegliche Unterstützung, weswegen sich Long in illegale Geschäfte verwickeln ließ. So wie ich die spärlichen Erklärungen meiner Mutter verstanden habe, war er zu dieser Zeit kaum zu Hause. Meine Mutter hatte eine Affäre. Eine Affäre, während der ich gezeugt wurde. Obwohl mein Ziehvater und meine Mutter ihre Differenzen überwunden haben, blieb mein leiblicher Vater ein Tabuthema.

»Ich bin dein Vater«, betonte Long immerzu, wenn ich danach fragte. »Niemand sonst.« Irgendwann habe ich aufgegeben.

Long stellte mich nie infrage. Seine Mutter, Großmutter Pheng, die Matriarchin unserer Familie, sah das anders: Für sie schien ich immer die fleischgewordene Verfehlung meiner Mutter zu sein.

Ich setze mich neben dem Vater meines Herzens nieder. »Was gibt es Neues?«, fragt er.

»Nicht viel«, erwidere ich.

»Wie läuft das Geschäft?«

»Gut«, sage ich, doch wir wissen beide, dass es sich um eine leere Floskel handelt. Ich erzähle ihm davon, dass mir Frau Vitra letzte Woche angeboten hat, aus meiner Hand zu lesen. Mutter ist sich nicht sicher, ob die alte Dame tatsächlich magische Kräfte besitzt.

»Heute kam ein Typ in unseren Laden, der Linda zum Kaffeetrinken eingeladen hat«, füge ich an.

Mein Vater hebt alarmiert den Kopf. »Was für ein Typ?«, fragt er.

Ich zucke mit den Achseln. »Keine Ahnung. Wir kennen ihn nicht.«

»Linda sollte nicht mit Kerlen ausgehen, die sie nicht kennt!«

Obwohl ich ihr vor Kurzem genau dasselbe vorgeworfen habe, zucke ich mit den Schultern. Meine Schwester ist vier Jahre älter als ich, also zweiundzwanzig, und sollte ausgehen können, mit wem sie möchte.

Allerdings wird uns Song-Frauen über manches in unserem Leben die Kontrolle genommen, einfach weil wir ein Teil dieser Familie sind. Zu unserem Schutz, heißt es. Wenn man es dir oft genug sagt, beginnst du selbst irgendwann daran zu glauben.

Ich reibe mir über die Nase. Um Long und mich abzulenken, nicke ich in Richtung eines vergitterten Fensterlochs, unter dem ein schlaksiger, rothaariger Bursche sitzt. »Ist der neu?«

Mein Vater folgt meinem Blick. »Sein Name ist Ottomar oder Ottokar, glaube ich.« Er beugt sich über den Tisch. »Hast du mir Tabak mitgebracht?«

Ich greife in meine Tasche und ziehe eine Packung Tabak zusammen mit Filter und Papers hervor. Bob steht an der Tür und sieht elegant vorbei. Long öffnet die Verpackung, die ein goldschimmernder, stilisierter Phoenix ziert. Die Marke haben bereits seine Eltern geraucht. Der Geruch des bläulichen Qualms hat ihn wohl nie mehr losgelassen, weswegen ich regelmäßig Tabak von Großmutter Pheng abholen muss. Sie bestellt ihn aus Talanis.

Er dreht sich eine Zigarette, klemmt sie sich zwischen die Lippen, lässt sich von mir Feuer geben und zieht. Entspannt lehnt er sich zurück. In meinen frühesten Erinnerungen sehe ich ihn in unserer winzigen Küche sitzen, umflutet vom Straßenlärm, der durch das geöffnete Fenster dringt, während er eine verknitterte Phönix Gold-Zigarette raucht.

Long wendet den Kopf und beobachtet den rothaarigen Ottokar. »Fast noch ein Kind, der Junge. Hat mit Asphodelienkraut gedealt. Sie haben ihn schneller eingebuchtet, als der Richter mit seinem Hammer auf den Tisch schlagen konnte.« Sein Blick wirkt distanziert, als befände er sich gedanklich an einem weit entfernten Ort. »Ich habe das Gefühl, sie werden immer jünger. Letzte Woche ist dieser Junge aus Block A entlassen worden. Er ist fünfundzwanzig, doch nach den sechs Monaten hier sah er zehn Jahre älter aus. Sie hatten ihn für ein Jahr eingebuchtet, weil er eine Tankstelle ausgeraubt hatte.« Long streckt sich und verschränkt die Hände hinter dem Kopf, der Zigarettenrauch windet sich wie eine gräuliche Schlange aus dem Papier. Er seufzt, zieht an der Zigarette und zuckt mit den Schultern. »Man erfährt an diesem Ort viel über Wertigkeiten.«

Ich ahne, was er meint.

Mein Vater war naiv gewesen, in die illegalen Geschäfte der Drachenstadt einzusteigen. Doch er war jung gewesen, jung und verzweifelt. Meine Mutter war mit Lin schwanger, kurz nachdem sie einander kennengelernt haben. Erst als er verurteilt wurde, ließ sich Großmutter Pheng dazu breitschlagen, uns den Laden zu überlassen. Hätte sie das früher getan, wäre vielleicht alles anders gekommen.

Ich schiebe vorsichtig meine Hand über den Tisch. Mein Ziehvater lässt die Arme sinken und berührt mit seinen Fingerspitzen meine. »Nur noch eine Woche, Paps. Was sage ich? Sechs Tage. Sechs Tage, dann ist es vorbei.«

Es dauert, bis er mich ansieht. Ich glaube einen Moment lang hinter diese schwarzen Augen blicken zu können und bekomme es ein wenig mit der Angst zu tun – denn ich erkenne, dass er Angst hat. Er. Mein Vater. Vierzehn Jahre lang habe ich ihn in diesem Gefängnis besucht und niemals hatte ich das Gefühl, dass er sich vor irgendetwas auf dieser Welt fürchtete.

Er kaut an seiner Unterlippe. Ich bemerke, dass er das in letzter Zeit öfter getan haben muss, denn die äußersten Hautschichten sind durchgebissen. Mein Vater, der Drache, der stoische Felsen, der in der Justizanstalt Poschovar auf nichts wartet außer auf seine Freiheit, bekommt es im Angesicht seiner Entlassung mit der Angst zu tun. »Paps …?«, frage ich zögerlich.

Er ergreift meine Finger, drückt sie. Sein Griff ist so warm und stark, wie ich ihn kenne. Er lächelt.

»Sechs Tage«, sagt er. »Du hast recht.« Seine Knöchel sind rau, was daran liegt, dass er in der Wäscherei arbeitet. Die Wasch- und Bleichmittel haben seine Hände zu denen eines viel älteren Mannes gemacht.

»Wir warten draußen auf dich. Du musst keine Angst haben. Wir alle werden vor den Toren stehen. Mama, Linda und ich.«

»Daran zweifle ich nicht, kleine Maus«, murmelt Vater. »Es ist nur … ich war seit langer Zeit nicht mehr draußen, verstehst du? Anfangs macht dir die Enge hier drinnen Angst. Nach fünfzehn Jahren ist sie zum einzig Bekannten meiner begrenzten Welt geworden. Die Vorstellung der Weite …« Er stößt die Luft aus und sich fort. »Genug davon – ich klinge wie ein seniler, alter Mann.«

Das Handy vibriert in meiner Gesäßtasche, ich ziehe es hervor.


Cordula


verrät der Bildschirm. Ich öffne die SMS.


15:32:12: Cordula: Vergiss die Steaks nicht.


»Paps, ich muss los. Ich habe Training.«

Vater legt den verglühenden Zigarettenstummel vorsichtig am Tischrand ab. Er beugt sich zu mir und küsst mich stumm auf die Wange. »Gib auf dich acht. Und sage deiner Schwester, sie soll nicht mit irgendwelchen dahergelaufenen Männern ausgehen.«

Bei den Geistern unserer Ahnen … Linda wird mich dafür umbringen.

Kapitel 3

Grossmama Song

Header

Ich besuche die Fleischerei, die von der Justizanstalt Poschovar betrieben wird und das Gefängnis versorgt. Das Steak des vorst-sandhischen Steppenrinds, das mir der Fleischer auf einseitig foliertes Papier legt, ist saftig und preiswerter, als man es sonst wo in unserer Stadt bekommen könnte. Trotzdem sehe ich selten andere Käufer.

Ich packe das Steak in meine Kühlbox und mache mich auf den Weg, strample auf dem Fahrrad die Straße zurück zur Kreuzung. Als ich oben ankomme, hat nicht nur die Ampel, sondern auch mein Kopf eine hochrote Farbe angenommen. Das Handy in meiner Gesäßtasche vibriert, ich ziehe es hervor und gehe ran, während auf der querenden Spur Lastwagen vorbeirauschen. »Hallo?«

»Hey, Cousinchen, es ist Zet!«

Ich erkenne die Stimme. Dennoch erwidere ich: »Ich kenne keinen Z.«

Ein Seufzen, das im Lärm der Autos untergeht. »Ich bin’s, Zhang.«

»Hallo, Zhang, was kann ich für dich tun?«

»Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Keine Zeit. Ich muss zum Training.«

»Dann liegt Großmama Phengs genau auf deinem Weg! Kannst du kurz vorbeikommen?«

»Du hast keine Ahnung, wo ich mich gerade befinde, ergo weißt du nicht, ob sich Großmama Phengs auf meinem Weg befindet. Ich habe wirklich keine Zeit.«

»Christie …!«, schnurrt mein Cousin ins Telefon. »Darf ich dich erinnern, wer dich das letzte Mal bei Unwetter zu Long gebracht hat?« Genau da ist sie, die Retourkutsche. Hinfahrt gratis, Rückfahrt doppelt bezahlt. Die Ampel schaltet zögerlich auf Gelb, dann Grün. Ich fühle mich äußerst multitaskingfähig, als ich einhändig in die Pedale trete und bei der Überquerung der Kreuzung keine Bruchlandung hinlege.

»Was willst du?«, schnaufe ich.

»Du musst für mich eine Auslieferung machen.«

»Was? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Christie, ich schwöre dir, es geht um Leben und Tod!«

Scheiße, dort vorne nähert sich ein Streifenwagen. Warum sind die hier ständig unterwegs? Ich lege eilig auf, stopfe das Handy durch den Kragen meines T-Shirts in den BH und fahre unauffällig weiter. Als ich den Streifenwagen passiere, pfeife ich diskret vor mich hin. Als wollen mich die Geister bestrafen, beginnt es zu regnen.

Bei ›Großmama Phengs‹ angekommen, bin ich bis auf die Haut durchnässt. ›Großmama Phengs‹ ist ein talanidisches Restaurant, betrieben von Lins und Zhangs gemeinsamer Großmutter. Eigentlich heißt es Das Große Song, doch kaum jemand nennt es so.

Zhang sitzt in der Loge rechts vom Eingang. Sie ist zum Kotzen kitschig eingerichtet und der Familie und Freunden vorbehalten. Dafür, dass es sich am Telefon um eine Sache um Leben und Tod gehandelt hat, wirkt er äußerst entspannt. Er lehnt in der Sitzecke, die Beine in den viel zu engen schwarzen Hosen auf dem Tisch abgelegt, und wippt mit seinen Schuhen. Auf seinem schwarzen T-Shirt sind weiße Kopfhörer abgebildet. Es sind dieselbe sündteure Marke Kopfhörer, aus denen Zhang basslastige Musik in die Ohren wummert. Er hält sich für unglaublich alternativ, läuft mit Jutetasche in die Schule und trägt seine schwarzen Stirnfransen ins Gesicht gekämmt und am Hinterkopf aufgestellt. Damit erinnert er mich immer an einen Igel, der kopfüber in eine Pfütze gestürzt ist. Ich trete näher und lasse die Kühltasche auf die Sitzbank fallen. »Leben und Tod, was?«

Er weist mit schwarz lackierten Fingernägeln auf sich selbst. »Liebste Cousine …« Im Gegensatz zu seiner Großmutter hat er sich nie daran gestört, dass wir genetisch nicht verwandt sind. Und so sehr er eine lästige Pestbeule sein kann, so sehr schätze ich ihn für die Leichtigkeit, mit der wir beide Umgang pflegen. »Für Nekromanten geht es immer um Leben und Tod.«

In meiner Familie fließen zwei spezielle Blutlinien zusammen – die eine Hälfte besitzt das Erbe des Drachen, weitergetragen durch den verstorbenen Großvater, die andere besitzt die Macht der Nekromantie, vererbt durch Großmutter Song.

Jap, richtig gehört. Nekromantie. Totenbeschwörung. Ausgerechnet Zhang hat diese Fähigkeit von Großmama Pheng geerbt. Als ob er sich nicht ohnedies schon für den Nabel dieses Universums hält.

Ich reiße die Augen auf, als ich etwas unter dem Ärmel seines T-Shirts hervorblitzen sehe. »Was … ist … das?«

»Das ist ein Tattoo«, präsentiert mir Zhang stolz seinen Oberarm, der wohl gern einen Bizeps und einen Trizeps geschenkt bekommen würde. Die Farbe ist noch frisch und wirkt aufgemalt. Es zeigt ein grässliches, grünes Gesicht mit vertrockneten Lippen, fehlenden Zähnen, blutigem Zahnfleisch und Augen wie schwarze Löcher. »Nekromantie – ein Zombie … du verstehst?«

»Das ist womöglich das Ekligste, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.«

Er zuckt mit den Augenbrauen, die er sich heimlich zupft, obwohl er es leugnet. »Das verstehst du nicht, Christie. Das ist eine Nekromanten-Sache – ein Insider, quasi.«

Das geifernde, grüne Gesicht verschwindet unter dem Ärmel. »Was sagt Pheng dazu?«

»Oma? Nicht viel.«

»Ich kann nicht fassen, dass deine Eltern dir das erlaubt haben.«

»Die hatten nicht viel zu erlauben …« Wieder diese typische Geste, bei der er mit Zeigefinger und kleinem Finger auf sich selbst weist, als wäre er das Zentrum dieser Welt. Irgendwie ist er das, zumindest für die Welt von Großmama Pheng und seinen Eltern. Es ist kein Wunder, dass er sich so aufführt – mein Vater nennt ihn nicht umsonst einen verzogenen Fratz. »Abgesehen davon hat Linda doch auch Tattoos«, fügt er trotzig an.

»Zhang«, erwidere ich gereizt. »Linda besitzt keine Tattoos. Das sind Drachenmale! Sie hat sie sich nicht ausgesucht. Und du kannst mir glauben, könnte sie ihre Schuppen loswerden – sie würde es tun.«

Er zuckt nur mit den Schultern.

Ich stoße ein lang gezogenes Seufzen aus. »Also gut, was willst du von mir?«

»Ich habe Auslieferdienst bis sechzehn Uhr, muss aber früher weg.«

Ich schaue auf die Uhr. Es ist halb vier. »Die Auslieferung hättest du machen können, während ich hierhergefahren bin. Mit deinem Auto.«

Zhang zieht die Füße vom Tisch, beugt sich vor und packt meine Hände. »Musste mich hübsch machen. Ich habe ein Date.«

Ich stöhne auf und lass meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. »… und ich dachte, es geht nicht schlimmer.«

»Bitte, Christie! Es ist nur eine Auslieferung – zwei Häuser! Komm, es ist wirklich nur …!« Sein Betteln höre ich nicht länger, es läuft wie ein langweiliger Kaufhaus-Singsang im Hintergrund ab. Schlecht gelaunt stapfe ich Richtung Küche und entdecke dabei Pheng.

Großmama Pheng Song ist nicht nur der Name des Restaurants, sie ist dieses Restaurant. Als sie mit Großvater Zuko nach Vesper kam, eröffneten sie zuerst unseren Laden. Sie musste rasch einsehen, dass ein Geschäft mit traditioneller talanidischer Medizin in Poschovar nicht der große Bringer war. Deswegen gründete sie alsbald Das Große Song, und was talanidischer Medizin nicht gelang, gelang talanidischem Essen – es zog die Massen an.

Pheng Song sitzt hinter der dunkelrot lackierten Bar und entdeckt mich mit ihren kalten Augen. Ihre Persönlichkeit erfüllt den gesamten Raum und gibt mir wie immer ein bisschen das Gefühl, ersticken zu müssen. Sie trägt die traditionelle talanidische Robe, die sie wie eine Matrone wirken lässt, obwohl sie nicht dick ist. Die zahlreichen Stoffschichten, die unter der Brust festgebunden werden, lassen jeden dick wirken.

Pheng sitzt in ihrem Kleid wie ein Phönix in seinem Nest, dabei zieht sie an ihrer Zigarettenspitze, die am Ende abgeknickt ist, sodass die Zigarette steil in die Höhe ragt. Das grau bestäubte Haar hat sie zu einem Knoten gebunden. Ich sehe in ihrem Gesicht Parallelen zu dem meines Vaters. Doch das, was ich bei ihm als gütig und warm empfinde, erlebe ich bei ihr als kalt, hart und abweisend.

Pheng lächelt nicht. Vater meint, auch in seiner Kindheit hätte sie niemals gelächelt. Sie muss die Freude in Talanis zurückgelassen haben.

Ich weiß, dass Pheng Song ein schwieriges Leben gehabt hat. Sie wurde früh verheiratet, an einen Mann, der über fünfzehn Jahre älter war als sie selbst und den sie kaum kannte. An einen Drachen, noch dazu.

Vater sagt, Beziehungen zwischen Drachen und Nicht-Drachen sind schwierig. Drachen fühlen sich automatisch zu anderen Drachen hingezogen. Es besteht eine chemische Verbindung, die vermutlich helfen soll, die Art nicht aussterben zu lassen. Ich weiß nicht, ob Pheng ihren Mann Zuko geliebt hat. Aber wie ich es verstanden habe, war es ihm nicht möglich, sie zu lieben. Zumindest nicht, wie sie es gern gehabt hätte.

Das erste und älteste Kind starb kurz nach der Überfahrt von Talanis nach Vesper an Sandelmückenfieber. Dann wurde mein Vater geboren – und Pheng schien zu spüren, dass dieses Kind mehr von dem lieblosen Vater geerbt hatte als von ihr. Das machte die Beziehung zu Long ebenso schwierig, wie sie es zu Zuko war, und bescherte meinem Vater eine kalte Kindheit.

Erst das dritte Kind, Onkel Thien, konnte ihr Ruhe bringen. Wie sie bei Long geahnt hatte, dass er den Drachen in sich trug, so wusste sie bei Thien, dass er ihr selbst ähnlicher war als der restlichen Familie.

Thien zeigte nie Anzeichen nekromantischer Fähigkeiten. Niemand ahnte, dass dieses magische Talent eine Generation überspringen würde. Dann kam Zhangs sechster Geburtstag mitsamt der toten Fliege, die er mit Kraft seiner Gedanken bewegte – selbst dann noch, als Onkel Thien sie bereits zum dritten Mal erschlagen hatte.

Linda, Zhang und ich fanden das damals zum Brüllen komisch. Nur die Erwachsenen lachten nicht.

Ich nicke Großmutter Song zu. »Pheng«, spreche ich sie dreist mit ihrem Vornamen an und weiß, dass es sie innerlich zur Weißglut treibt. Wie ein Vulkan, in dessen Innerem Magma brodelt. Ich spüre ihren Blick wie kaltes Eisen und flüchte in die Küche, um die Lieferungen entgegenzunehmen. Mir schlagen die Hitze und der Geruch von Sojasauce und Frittiertem entgegen und ich bin froh, Pheng entfliehen zu können. Eine der Kellnerinnen grüßt mich und tänzelt mit einem Tablett voller Reisschnaps an mir vorbei. Ich wechsle ein paar Worte mit den beiden Köchen, dann verabschiede ich mich durch den Hintereingang, zwei Lieferungen in den Händen.


Eine Tasche mit säuberlich verpacktem Essen am Lenker, schlenkert mein Fahrrad über den Petrikov-Gürtel, um die letzten beiden Bestellungen abzuliefern. Als ein Regenschauer auf mich niedergeht, hasse ich Zhang mit der Kraft all unserer Ahnen. Ich hoffe, seine Verabredung gibt ihm einen Korb.

Ich fahre entgegen der Einbahn der Poschovarer Heide, eine Straße, die früher einmal ein Teil des Stadtparks gewesen ist, der nur noch ein Fünftel seiner ursprünglichen Größe besitzt. Dort liefere ich das erste Essenspaket ab. Die Poschovarer Heide grenzt heute an drei verschiedene Territorien – sie liegt am Rand der Vorstadt und gehört zum Gebiet der Wegemanns, grenzt allerdings auch ans Stadtparkgelände, das die Devoyes beanspruchen. Vier Straßen weiter westlich beginnt das Arbeiterviertel, aus dem ich gerade komme. Es ist das Gebiet von Großmama Pheng.

Bei der Hausnummer 147 halte ich und kette mein Fahrrad an die Laterne. Das letzte Mal, als ich etwas hier in der Gegend ausgeliefert habe, hat man mir mein Bike geklaut. Nur das aufgeschnittene Fahrradschloss lag noch am Boden.

Der Zettel mit der Adresse weist mich an, an Tür Nummer 7 zu läuten. Es dauert eine Weile, bis der Lautsprecher knackt. »Hallo?«

»Großmama Phengs hier«, antworte ich.

»Tür 7.« Der Türöffner schnarrt, ich stopfe das Papier in die Hosentasche und betrete das Haus.

Das Tor fällt hinter mir ins Schloss, das Geräusch hallt durch das Treppenhaus. Es gibt keinen Aufzug, daher erklimme ich eine Stufe nach der anderen. Tür 1, 2, 3, weiter in den zweiten Stock – 4, 5, 6. Als ich im dritten Stock ankomme, steht Tür 7 ein Stück offen. Musik dringt auf den Gang. Ich trete näher und klopfe vorsichtig, die Tür schwingt dadurch nach innen. Ich sehe einen Schatten, der sich dem Eingang nähert.

Im nächsten Moment erschlägt mich der Geruch.

Es ist, als hätte man ein Tierheim voller räudiger Köter durch den Mahr-Fluss laufen lassen und nun verschanzen sie sich allesamt in dieser Wohnung. Der Geruch von nassem Hund ist allgegenwärtig. Er quillt aus dem Appartement, dringt in meine Nase und legt sich in all seiner regentriefenden Haarigkeit auf meine Zunge.

Ich schlage mir die Hand vor die Nase und lasse dabei fast das Essen fallen. Die Tür wird weiter aufgerissen, ein Mann starrt mich an, als ich nach dem Henkel grapsche.

Hastig ziehe ich die Hand vom Gesicht und versuche, ein Lächeln zustande zu bringen.

Der Mann ist Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, besitzt hellbraunes, kurz geschnittenes Haar, das sich im Ansatz wellt und in einen viel längeren Bart übergeht. Unruhig trete ich von einem Bein auf das andere und öffne schließlich den Mund. Ich atme ein (es schmeckt nach Hund, nach nassem, vollgesabbertem Hund) und stoße mit hoher Stimme aus: »Songs hier, ich bringe Ihnen das Essen.« Ich strecke ihm den Sack entgegen. »49,80, bitte.«

Der Mann macht keine Anstalten, die Tüte entgegenzunehmen. Er starrt mich an und wirkt ganz und gar unzufrieden. »Du bist nicht vom Songs«, sagt er. Seine Stimme ist tief und dunkel und raspelt durch meine Gehörgänge.

Diese Aussage überrascht mich, sodass ich einen Moment lang vergesse, die Luft anzuhalten. »W-wie bitte?«, entgegne ich verdattert. Das Paket in meiner Hand zittert, schließlich hat der Typ für ungefähr sieben Leute Essen bestellt.

»Du bist nicht vom Songs. Dort arbeitet ein Junge. Siebzehn, achtzehn Jahre alt. Er beliefert uns immer.«

Meine Augen verengen sich. »Sie reden von meinem Cousin, Zhang. Und falls Sie ihn jemals arbeiten gesehen haben, gratuliere ich Ihnen, denn das geschieht äußerst selten.« Ich zwinge meine Hand ein Stück in die Höhe, sodass der Sack vor seinem Gesicht baumelt. Der Geruch des Essens überdeckt für einen Moment den der Hunde. Seltsam, sollte dieses Rudel bei Regen spazieren gewesen sein, müssten die Tiere aufgestachelt durch die Wohnung laufen, doch es ist weder etwas zu sehen noch zu hören.

Der Typ greift nach seiner Bestellung und nimmt sie widerwillig entgegen. Man könnte meinen, er wäre enttäuscht, dass ich ihn beliefere. Vielleicht steht er heimlich auf meinen Grufti-Cousin? Die Wege der Geister sind unergründlich.

Mit der freien Hand fasst der Typ in seine Hosentasche und fischt einen zerknitterten Fünfziger hervor. »Passt schon«, sagt er und knallt mir die Tür vor der Nase zu.

Ich lecke mir über die Lippen und überlege, ob ich noch einmal anklopfen soll, um dem Typen zu sagen, dass er ein ungehobelter, stinkender Klotz ist, doch ich lasse es. Ich bin schon eine halbe Stunde zu spät fürs Training. Daher laufe ich das Treppenhaus hinunter, zur Tür raus und werfe mich aufs Fahrrad. Als ich losfahre, hör ich, wie aus einem der oberen Fenster ein wölfisches Heulen ertönt. Klingt nach einem gigantischen Biest. Jetzt bin ich froh, den Hundebesitzer nicht angepöbelt zu haben.