Mysteriöse

Orte

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Anthologie

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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Erste Auflage 2016

© Coverbilder: Unsplash: Igor R, Bigstockphoto: denbelitsky, Svetlana Rib, IndianSummer

Covergestaltung: Bookdresses

© Bilder: Fotolia: Thomas Otto (Titelbild), VRD (Hoogs und das Auge), JaWa (Tee mit Kluntjes), Thomas Oser (Kalte Vergangenheit), Bastos (Der verlorene Traum), crimson (Die Meerjungfrau), emjottberlin (Beelitz – Rückkehr des Todes), f9photos (Ipuana), George Dolgikh (Heim der Katzen), Tomasz Zajda (Nach uns das Nichts), Zack Frank (Die Mutprobe), PL.TH (Der unheimliche Zug)

Fr. Huster (Das Dachzimmer im Kopf), Wikipedia Comhar (Moore Hall), J. A. Jorges (Grand Hotel)

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-10-5

 

Mysteriöse Orte. Verlassen liegen sie da. Niemand hat sie seit Jahren betreten. Viele dieser alten Gebäude, Freizeitparks oder Bohrinseln sind bereits verfallen oder verrostet.

Warum kümmert sich niemand mehr darum? Warum werden mache dieser Orte sogar gemieden? Was ist dort geschehen?

Die Wahrheit, die Geschichten, die sich hinter diesen verlassenen Orten verbergen, haben wir in dieser Anthologie für Sie zusammengetragen und so geordnet, dass sich der Gruselfaktor von Geschichte zu Geschichte steigert.

 

Seid also gewarnt, denn schlaflose Nächte sind vorprogrammiert.

 

 

Dennoch wünschen wir allen Lesern einige unterhaltsame Stunden.

 

 

Ihr Team vom Verlag der Schatten

 

 

Inhalt

Detlef Schirrow: Hoogs und das Auge

Barbara Kloska: Tee mit Kluntjes

Daniel Huster: Das Dachzimmer im Kopf

Oliver Borchers: Kalte Vergangenheit

Inga Kess: Moore Hall

Monika Grasl: Der verlorene Traum

Ruben Brüstle: Die Meerjungfrau

Oliver Henzler: Beelitz – Rückkehr des Todes

P. C. Thomas: Ipuana

Julia Annina Jorges: Grand Hotel

Johannes Harstick: Heim der Katzen

Tobias Habenicht: Nach uns das Nichts

Monique Kelbing: Die Mutprobe

Ilona Grüning: Der unheimliche Zug (Gedicht)

 

 

 

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Detlef Schirrow: Hoogs und das Auge

 

Hoogs hatte schon seltsame Todesfälle gelöst, aber der Fall mit dem Auge war etwas Besonderes, weil damit auch der mysteriöse Tod eines Menschen im siebzehnten Jahrhundert aufgeklärt werden konnte.

Shayan Hoogs besaß einen außergewöhnlichen Blick für Details. Er bemerkte noch Feinheiten, die gewöhnliche Menschen übersahen. Zugleich verfolgte er mit unermüdlichem Interesse alles Neue in der naturwissenschaftlichen Forschung. Mit seiner überdurchschnittlichen Fantasie deckte er Zusammenhänge auf, wo andere vor unlösbaren Rätseln standen. Die Polizei konnte sich glücklich schätzen, einen Berater wie Hoogs zu haben, denn so war sie in der Lage, Fälle aufzuklären, die sonst für lange Zeit als ungelöst in den Archiven verschwunden wären.

 

An einem sonnigen Tag im August kam ich von der Bibliothek nach Hause in die Margaretenstraße und sah schon von Weitem Hoogs aus der Haustür treten. Es war Mittagszeit, deshalb nahm ich an, er würde zu Omas Küche, seinem Stammrestaurant im Barnstorfer Weg, gehen. Er war ein Gesundheitsfanatiker und legte großen Wert auf gutes Essen.

Hoogs schritt jedoch auf einen Polizeiwagen zu, der gerade auf der Straße vor dem Haus hielt. Dann sah er sich nach allen Seiten um, als suchte er etwas, entdeckte mich, winkte mir zu und rief: »Kommen Sie, Walken, Hauptkommissar Laurencz erwartet uns!«

So großen Wert Hoogs auch auf pünktliches und gesundes Essen legte, die Fälle, bei denen man seine Hilfe benötigte, hatten immer Vorrang.

»Was gibt es so Dringendes?«, fragte ich, als wir zusammen im Fond des Wagens saßen, der mit Blaulicht in Richtung Westen die Stadt Rodborg verließ.

»Eine Leiche wurde gefunden«, sagte Hoogs und holte sein Smartphone hervor. »Zwischen Neubukow und Wismar gibt es ein Waldstück. Dort befinden sich die Reste einer Siedlung aus dem siebzehnten Jahrhundert. Das ist der Fundort und da fahren wir jetzt hin.« Er hielt mir das Smartphone entgegen. »Laurencz hat mir Fotos von der Leiche geschickt, weil diese abtransportiert werden musste. Sehen Sie, Walken!«

Ich sah mir das Bild flüchtig an. »Viel Blut. Was ist so besonders an dem Fall, dass Laurencz Sie gerufen hat?«

»Das Blut trat aus der Nase, den Augen, den Ohren und dem Mund aus. An den Händen ist auch Blut zu erkennen. Überhaupt ist die Haut des Toten auffällig gerötet und geschwollen, als hätte er sich verbrüht oder eine Entzündung. Das ist doch ungewöhnlich, oder?«

»Und?«

»Gut«, sagte Hoogs. »Sie haben recht, Walken. Das allein ist es nicht. Auf dem Waldboden liegt ein flaches, schweres Gerät mit einem Inventar-Aufkleber des Instituts für Tieftemperaturphysik.«

»Also Wissenschafts-Technik-Kram, wie Hauptkommissar Laurencz sich ausdrückt.«

 

Nach einer Dreiviertelstunde bog der Wagen von der B105 in einen Waldweg ein und hielt an. Vor einem Absperrband zwischen den Bäumen stand ein Wachposten, der Neugierige fernhielt und den Teams der Polizei den Weg wies.

Hoogs sah sich erneut um, als suchte er jemand, dann ging er auf den Uniformierten zu. »Mein Name ist Shayan Hoogs, und das ist mein Kollege Doktor Janek Walken. Hauptkommissar Laurencz erwartet uns.«

Vermutlich hatte Hoogs angenommen, dass wir von Diana Brenner, der Assistentin des Hauptkommissars, abgeholt würden. Er und Brenner waren sich in den letzten Monaten nähergekommen, sodass ich schon befürchtete, Hoogs arbeite nun lieber mit ihr im Team als mit mir.

Wir trugen uns in eine Liste ein. Der Polizist zeigte uns, in welche Richtung wir gehen müssten.

Nach ein paar hundert Metern erreichten wir eine Lichtung und sahen bereits mehrere Polizeibeamte bei der Arbeit.

»Vorsicht!«, rief uns Laurencz entgegen. »Bleiben Sie in der vorgezeichneten Gasse!« Nach der Begrüßung sagte er: »Es ist noch nicht klar, welche der vielen Spuren mit dem Todesfall zusammenhängen. Es sieht nämlich so aus, als wären die Siedlungsreste hier ein Wallfahrtsort für Hobby-Historiker.«

Wenige Meter hinter Laurencz zeigten Markierungen die Position, an der die Leiche gefunden wurde. In der unmittelbaren Umgebung waren Reifenspuren und tiefe, viereckige Abdrücke zu sehen.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Hoogs.

»Wir haben einen anonymen Anruf erhalten, dass hier ein Unfall passiert und jemand dabei umgekommen wäre.«

»Ein Unfall?« Hoogs sah sich ungläubig um.

»Der Anruf kam von einem öffentlichen Telefon in Rodborg. So viel ließ sich feststellen.«

»Konnte schon eine Todesursache festgestellt werden?«, fragte Hoogs.

»Ich habe Ihnen die Bilder geschickt. Das sieht mir nicht nach einem Unfall aus. Es wurde aber auch keine äußere Gewalteinwirkung festgestellt. Wir werden die Obduktion abwarten müssen.«

Hoogs kniff die Augen zusammen und sah sich den Ort des Geschehens genauer an. Er drehte sich einmal langsam um die eigene Achse und suchte den Waldrand ab. Dann blickte er nach oben in die Baumkronen, blieb reglos stehen und lauschte. Ich tat es ihm gleich. Das leise Rauschen des Laubes im Wind wurde übertönt durch das Singen der Vögel. Ich fühlte mich wie in einem Konzertsaal, dessen hohe Wände aus dicht zusammenstehenden Bäumen am Rand der Lichtung den Gesang der Vögel verstärkten.

Als Hoogs seinen Blick auf das Gerät richtete, das aus dem Institut für Tieftemperaturphysik stammte, sagte er: »Sehen Sie das, Walken? Ungewöhnlich viele tote Insekten und abgestorbene Pflanzen, aber nur im unmittelbaren Umfeld des Gerätes, sonst nirgends.« Er ging in die Hocke und strich mit der Hand durch das Gras um den Apparat herum. Dann holte er eine Lupe und eine Pinzette aus seiner Jackentasche, hob ein Insekt auf und betrachtete es.

»Die Spurensicherung hat hier bereits den Boden abgesucht und nichts gefunden, was uns weiterhelfen könnte«, sagte Laurencz.

»Die Insekten wurden vielleicht durch das Gerät angezogen«, vermutete ich.

Hoogs richtete sich wieder auf und sah sich um. Ein paar Grundmauern und Reste von Rauchabzügen ragten vereinzelt aus dem Waldgrund. Das waren offenbar die Überbleibsel der früheren Siedlung. Beamte der Spurensicherung suchten den Boden der weiteren Umgebung ab.

Das Gerät aus dem Institut lag nur ein bis zwei Meter vom Fundort der Leiche entfernt. Links und rechts davon, im Abstand von drei bis vier Metern, waren tiefe Abdrücke zu erkennen, als ob dort schweres Gerät gestanden hätte. Auf dem Weg waren Spuren von verschiedenen Fahrzeugen zu sehen.

»Ein PKW und ein Kleintransporter«, sagte Laurencz, der Hoogs’ Blick verfolgt hatte. »Bei dem PKW könnte es sich um den schwarzen VW Golf handeln, der dort am Rand der Lichtung steht.«

Aus der anderen Richtung kam Diana Brenner. »Weiter hinten finden sich keine auffälligen Spuren mehr«, sagte sie. »Vermutlich sind sie bis hierher gekommen und nach der Tat über die B105 wieder verschwunden.«

»Ist die Identität des Toten bekannt?«, fragte Hoogs. Seine Miene hatte ein gewisses Strahlen angenommen.

Ist es auf die Anwesenheit von Brenner zurückzuführen oder hat er schon eine Idee zu dem Fall?, überlegte ich.

»Vin Madthes«, sagte Laurencz. »Er hatte Geld und Ausweis bei sich. Einen Raubmord können wir also ausschließen.«

»Der VW Golf ist ebenfalls auf Vin Madthes zugelassen«, ergänzte Brenner.

»Also, was meinen Sie, Hoogs?«, fragte Laurencz.

»Sehr seltsam, wir sollten wohl erst einmal …«

»Richtig. Ich habe Sie schon bei Professor Burmeister angekündigt«, unterbrach ihn Laurencz. »Frau Brenner und ich werden uns in der Wohnung des Verstorbenen umsehen. Wenn es doch ein Unfall war, sollten wir wenigstens etwas über den Hergang herausfinden. Sie sind also jetzt gefordert, Hoogs!«

 

Professor Burmeister war der stellvertretende Leiter des Instituts für Tieftemperaturphysik und schon mehrfach Ansprechpartner während verschiedener Ermittlungen gewesen. Er hatte nur ein paar Minuten Zeit für uns, weil er auf dem Weg zu seiner Lehrveranstaltung war. Vin Madthes kannte er nicht, aber an den Apparat auf dem Waldboden, dessen Bild ihm Hoogs auf seinem Smartphone zeigte, konnte er sich nach kurzem Überlegen erinnern. »Das könnte noch von früher übrig geblieben sein«, sagte er. »Im Mai starb Doktor Vogel, Sie erinnern sich vielleicht.«

»Er war Forschungsgruppenleiter am Institut«, warf Hoogs ein.

»Genau. In seiner Forschungsgruppe wurden insgeheim nicht autorisierte Experimente durchgeführt, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Vor zwei oder drei Wochen kam Frank Cyrus, ein Assistent aus einem anderen Forschungsbereich, mit dem Gerät und fragte, ob er sich das ausleihen könnte. Es gehörte zu keiner unserer Forschungsgruppen, deshalb lag die Vermutung nahe, dass es noch von den nicht genehmigten Experimenten stammte.«

»Frank Cyrus?«

»Eigentlich heißt er Franklin Cyrus. Fragen Sie bitte im Sekretariat nach. Ich muss jetzt los.«

 

Cyrus war nicht im Institut und auch nicht telefonisch erreichbar, deswegen gingen wir zu seiner Wohnung in der Kronen-Tor-Vorstadt. Auf das Klingeln und das Klopfen an der Wohnungstür reagierte er nicht.

Hoogs entdeckte einen verschmierten Blutfleck am Türrahmen und einen Fußabdruck, der daher rührte, dass jemand mit nassen Schuhen die Wohnung verlassen hatte.

Mit einem Dietrich machte er sich an der Tür zu schaffen.

»Hoogs, was machen Sie da? Sie brechen in eine fremde Wohnung ein!«

»Ich prüfe nur, ob die Tür verschlossen ist.« Hoogs trat in den Flur, nachdem er die Tür geöffnet hatte. »Sehen Sie, Walken, die Tür stand offen, und die Spuren deuten auf einen Notfall hin. Kommen Sie!«

Die nassen Abdrücke waren in der ganzen Wohnung zu finden, außerdem gab es Blutspritzer an der Wand des Zimmers zum Bad. Dort entdeckten wir Cyrus tot in der Wanne, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt war.

 

»Das soll wohl einen Unfall vortäuschen«, sagte Hoogs, nachdem er Hauptkommissar Laurencz verständigt hatte.

Bis zum Eintreffen der Polizei sahen wir uns in der Wohnung um. Es war eine bescheidene Einraumwohnung mit amerikanischer Küche – die Küchenzeile war nur durch einen Tresen vom Wohnraum getrennt. Das Bett war zerwühlt, in den Schränken herrschte Unordnung. Anscheinend war die Wohnung bereits durchsucht worden.

Der Computer fehlte. Ein freier Kabelanschluss und ein verwaister Drucker verrieten die Vakanz.

Nachdem Laurencz und Brenner eingetroffen waren, sahen sie sich um und veranlassten die üblichen kriminaltechnischen Maßnahmen.

Hoogs berichtete vom Gespräch mit Professor Burmeister und sagte dann: »Damit haben wir zwei Tote und eine Verbindung zwischen ihnen über das Gerät aus dem Institut für Tieftemperaturphysik.«

»Was aber nicht bedeutet, dass es auch einen Zusammenhang zwischen den Todesfällen geben muss«, gab Brenner zu bedenken.

»Es muss mindestens eine weitere Person geben, die eine Rolle spielt«, vermutete Laurencz, »denn wir können nicht davon ausgehen, dass beides Unfälle waren. Selbstmord scheidet ohnehin in beiden Fällen aus.«

»Was haben Sie über Vin Madthes herausgefunden?«, fragte Hoogs.

»Er hat als Techniker beim Energiekonzern AIM gearbeitet und wohnte mit seiner Freundin in einer kleinen Wohnung im Nordwesten der Stadt«, sagte Brenner.

»Seine Freundin erzählte, Madthes wollte mit seinem Freund Cyrus auf Geisterjagd gehen.« Laurencz’ Lächeln besagte, dass den Informationen, die sie von Madthes’ Freundin bekommen hatten, nicht allzu viel Gewicht beigemessen werden sollte.

»Ghostbusters«, entfuhr es mir.

Alle sahen mich mit fragenden Gesichtern an.

Ich hob beide Hände. »Ich dachte nur an den Film …«

»Wir sind in einer Mordermittlung, Doktor Walken!«, wies mich Brenner zurecht.

»Entschuldigung.«

»Seine Freundin sagte auch, dass die beiden Unterstützung von jemand erhielten, den sie aber nicht kannte«, setzte Laurencz fort. »Einen Namen konnte sie daher nicht nennen. Sie erinnerte sich nur daran, dass Madthes ihr erzählte, er dürfe eigentlich nicht mit diesem Mann sprechen, weil AIM dessen Firma boykottiert.«

»Sie übergab uns außerdem einen Brief, oder besser gesagt den Rest eines Briefes«, sagte Brenner. »Der soll angeblich aus dem siebzehnten Jahrhundert stammen. Darin wird über einen Geist in Woldhagen geschrieben, also der Siedlung, in deren Ruinen wir heute Morgen die Leiche von Vin Madthes gefunden haben.« Sie übergab Hoogs ein Blatt Papier, das auf beiden Seiten mit kleiner Handschrift gefüllt war. Das untere Drittel der Seite fehlte. Es war abgerissen worden.

»Den könnte er auch selbst geschrieben haben, um seiner Freundin zu beeindrucken«, vermutete ich.

Nachdem Hoogs das Fragment überflogen hatte, meinte er: »Das ist ein bisschen viel Aufwand, um jemand zu beeindrucken. Das Papier scheint wirklich alt zu sein. Man sollte es, wie auch die Tinte, untersuchen. Sie können den Brief überprüfen, Walken.« Er gab mir den Bogen.

»Der Brief wurde im Nachlass von Madthes’ Großmutter gefunden, behauptete seine Freundin. Das wäre eine weitere Verbindung zwischen den beiden«, sagte Laurencz.

»Trotzdem sieht es so aus, als hätten wir es mit zwei verschiedenen Mordfällen an zwei verschiedenen Orten zu tun, denn keiner von beiden scheint durch einen Unfall ums Leben gekommen zu sein, so weit sind wir uns doch einig«, sagte Brenner.

»Warum sind Sie so sicher?«, fragte Hoogs.

»Naheliegend wäre wohl, dass Madthes im Wald durch Gift und Cyrus in seiner Wohnung durch physische Gewalt starb.« Brenner zuckte mit den Schultern und hob die Hände mit den Handflächen nach oben, als wäre dies das Offensichtlichste der Welt.

»Nun konstruieren Sie bitte keinen Ritualmord im Wald«, sagte Laurencz.

»Vielleicht ist auch organisierte Kriminalität im Spiel«, warf ich ein. »Was wäre, wenn eine Organisation beide ermordet hat? Vielleicht sind Madthes und Cyrus mit ihren technischen Spielereien auf etwas gestoßen, das ihr Todesurteil bedeutete?«

»Hätten wir dann nicht beide Leichen zusammen finden müssen?«, fragte Hoogs. »Auch der anonyme Anruf spricht gegen diese Hypothese. Außerdem haben wir bisher keine Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass eine kriminelle Organisation dahinterstehen könnte.« Er sah mich an und setzte dann hinzu: »Aber ausschließen können wir diese Möglichkeit natürlich nicht, dazu wissen wir noch zu wenig. Möglich ist alles, Walken.«

»Ich schätze, wir müssen abwarten, was die Spurensicherung noch finden wird«, sagte Laurencz. »In der Zwischenzeit werden wir uns mit dem sozialen Umfeld der Toten beschäftigen – Freunde, Arbeitskollegen, Eltern und so weiter. Eine Liste der Telefonate, die die beiden in den letzten zwei Wochen geführt haben, könnte helfen.«

»Ich werde mir den Arbeitsplatz von Cyrus im Institut für Tieftemperaturphysik genauer ansehen. Und dann werde ich das Gerät, das im Wald gefunden wurde, unter die Lupe nehmen«, sagte Hoogs. Schließlich wandte er sich zu mir. »Und Sie, Doktor, haben bestimmt Kontakte an der Universität, um etwas über die Hintergründe des Briefes in Erfahrung zu bringen, der möglicherweise der Auslöser für die Aktivitäten von Madthes und Cyrus war und der Schlüssel für ihren Tod sein könnte.«

 

Ich kannte tatsächlich mehrere Wissenschaftler am Institut für Geschichte der Universität. In diesem Fall wandte ich mich an Frau Doktor Elen Gerhaus. Sie konnte mir Informationen von einem Verein für Regionalgeschichte und aus diversen Archiven beschaffen. Letztlich kam heraus, dass der Brief echt sein könnte, zumindest was den Inhalt betraf. Es ging um einen Schatz und um eine Geistererscheinung in Woldhagen. Ersteres war umstritten, Letzteres aus heutiger Sicht reine Fantasie.

Während des Dreißigjährigen Krieges war die Stadt Wismar von verschiedenen Truppen belagert und besetzt worden. Um sich vor dem völligen Ruin durch Plünderungen abzusichern, hatten einige Kaufleute der Stadt einen Schatz zusammengetragen und außerhalb der Stadtmauern versteckt. Als Ort ihres wertvollen Geheimnisses wählten sie Woldhagen. Die Aktion wurde aber an Söldnertruppen verraten, die in diese kleine Siedlung einfielen. Während des Überfalls trat eine Geistererscheinung auf, genauer gesagt ein Kugelgeist, der einen der Söldner, der sich dem Geist näherte, verbluten ließ. Erst der Schuss aus einer Muskete trieb den Geist in die Flucht. Daraufhin brach Panik aus. Die Söldner zündeten die Häuser an, und die überlebenden Bewohner der Siedlung flüchteten. Sie kehrten nie wieder auf ihre Höfe zurück. Seitdem war dieser Ort verlassen, und die Natur eroberte das Terrain zurück. Das Gerücht von einem Schatz hielt sich jedoch noch lange und wurde mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Es hieß, dass der Kugelgeist den Schatz beschützen würde, bis ihn einer der Kaufleute wieder abholte. Weil aber die Kaufleute schon lange verstorben waren, würde der Kugelgeist für alle Zeit über Woldhagen wachen.

Die Überlieferung ergab also mit dem Hinweis auf einen Schatz in der nicht mehr existierenden Siedlung Woldhagen ein Motiv für die Aktivitäten von Madthes und Cyrus in dem Waldgebiet.

Das könnte für Hoogs möglicherweise von Bedeutung sein, dachte ich. Außerdem war ich neugierig, wie weit er mit seiner Analyse gekommen war. Deshalb ging ich noch am Abend zu ihm.

 

Ich fand ihn in seiner Wohnung am Computer.

»Cyrus hatte eine Sicherung seiner Daten von seinem privaten Rechner auf seinen Computer im Institut übertragen«, berichtete er. »Ich habe mir die Dateien kopiert.«

»Haben Sie schon eine Vorstellung davon, Hoogs, was sich in der verlassenen Siedlung abgespielt hat? Warum wurde Madthes allein gelassen, wenn es ein Unfall war, wie der anonyme Anrufer behauptete?«

»Cyrus führte so etwas wie ein elektronisches Tagebuch, aber das gibt uns keine Antwort auf diese Frage. Und die technischen Daten sind nicht eindeutig, ich müsste … Walken, mein Freund, Ihr Blick verrät mir, dass Sie etwas entdeckt haben. Hat es mit dem Brief zu tun, den Sie prüfen wollten?«

Ich erzählte ihm, was ich über die Siedlung Woldhagen herausgefunden hatte und warum sie von ihren Bewohnern nicht wiederaufgebaut worden war.

Hoogs sah mich eine Weile an und überlegte. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Walken, Sie haben die Lösung des Falles gefunden!«

Seine Bemerkung versetzte mich in Erstaunen. Die Geschichte um Woldhagen fand ich zwar interessant, sie bot mit dem Schatz auch einen Anhaltspunkt, der für die Aufklärung des aktuellen Falls förderlich sein könnte. Aber inwiefern darin die Lösung für die beiden Todesfälle des heutigen Tages zu finden war, konnte ich nicht entdecken. »Das ist eine Geschichte, die auf den Dreißigjährigen Krieg zurückgeht, Hoogs. Sie kann wohl kaum die Lösung für unsere Ermittlungen sein.«

»Der Kugelgeist, Walken! Der Kugelgeist, das ist es!«

Das hatte ich nicht erwartet. Für mich war Hoogs der logisch denkende Mensch schlechthin. Dass er Geister für die Lösung von Fällen akzeptierte, wollte mir nicht in den Sinn. »Das ist nicht Ihr Ernst, Hoogs?«

Jetzt lachte er, dass sein ganzer Körper bebte. »Nicht so, wie Sie denken, Doktor«, sagte er dann und stand auf. »Kommen Sie, Walken! Wir müssen zum Mühlendamm. Unterwegs erkläre ich Ihnen, warum.«

Das war ein deutliches Zeichen, dass Hoogs bereits eine genaue Vorstellung davon hatte, was mit Cyrus und Madthes geschehen war.

 

Hoogs war ein passionierter Fußgänger, der es vorzog, alle Wege innerhalb der Stadt ohne Fahrzeug zurückzulegen. Da er einen Kopf größer war als ich, hatte ich Mühe, mit seinem Schritt mitzuhalten.

»Cyrus und Madthes haben zusammengearbeitet«, begann Hoogs. »Die Aufzeichnungen von Cyrus bestätigen, was wir von Madthes’ Freundin bereits wussten. Deshalb können wir davon ausgehen, dass es kein Zufall war, dass beide am selben Tag getötet wurden.«

»Aber nicht durch einen Geist.«

»Nein. Cyrus schrieb in seinen tagebuchartigen Notizen von einem Leland Wolff, der ihnen geholfen hat. Ich habe ein bisschen recherchiert und herausgefunden, dass Wolff Geschäftsführer einer Technologiefirma ist, die neuartige Energiespeicher herstellt. Das Geschäft geht schlecht, die Firma steht vor der Insolvenz, weil große Energiekonzerne seine Firma boykottieren.«

»Das macht ihn nicht zum Verbrecher«, sagte ich.

»Das liefert aber ein Motiv, wenn viel Geld im Spiel ist.«

»Wovon reden Sie, Hoogs?«

»Warten Sie ab, mein Freund, immer eins nach dem anderen. Ich habe mit Professor Burmeister gesprochen. Leland Wolff war früher Mitarbeiter im Institut für Tieftemperaturphysik. Vielleicht kannte ihn Cyrus noch aus dieser Zeit. Außerdem gab es Gerüchte, dass Wolff einige Technologien aus dem Institut mitgenommen und auf seinen Namen patentieren lassen hat, als er das Institut verließ und seine eigene Firma gründete. Und wenn Burmeister höflich von Gerüchten spricht, können wir davon ausgehen, dass daran einiges wahr ist. Wolff ist also nicht zögerlich, wenn er einen Vorteil für sich sieht.«

»Gut, aber das bringt ihn noch nicht mit dem Tod von Cyrus oder gar Madthes in Verbindung.«

»Eben deshalb schauen wir uns jetzt auf dem Gelände des Unternehmens am Mühlendamm etwas um.«

»Was hoffen Sie zu finden, Hoogs?«

»Eine der letzten Eintragungen von Cyrus besagte, dass sie zu wenig Energie vor Ort hatten. Sie brauchten mehr Energiequellen.«

»Hoogs, wenn Sie glauben, dass Wolff heute Morgen mit Madthes im Wald war und mit dessen Tod zu tun hat, dann sollten Sie das dem Hauptkommissar mitteilen.«

Wir standen vor dem Zaun, der das Firmengelände umgab. Das Tor war abgeschlossen.

»Lassen Sie uns zur Rückseite gehen, Walken. Wir sehen uns nur um, ob Beweise vorhanden sind.«

Auf der anderen Seite angelangt setzte Hoogs sofort über den Zaun und begann sich alles anzusehen, was außerhalb des Firmengebäudes stand. Ich hatte schon mehr Mühe, das Hindernis zu überwinden, und mir war auch nicht wohl bei der Sache.

»Sehen Sie hier!«, rief Hoogs. Er hielt eine Plane hoch, die hinter einem Kleintransporter über verschiedene Bauteile ausgebreitet worden war. »Elektromagnete!«, sagte er. Dann holte er eine Taschenlampe hervor und ging in die Knie, um die Teile genauer zu betrachten. »Auch hier gibt es Inventaraufkleber vom Institut für Tieftemperaturphysik. Und die beiden Fußteile haben dieselbe Form wie die Abdrücke, die wir heute Morgen gesehen haben.« Hoogs zeigte mit ausgestrecktem Arm auf zwei Teile. »Ich schätze, daran kleben auch noch Bodenreste aus dem Wald, womit eine eindeutige Zuordnung möglich wäre.«

Danach sah er sich den Kleintransporter an, inspizierte dessen Reifen und sagte: »Wir haben gesehen, was wir gesucht haben, Walken. Ich denke, ich weiß, wie alles abgelaufen ist. Lassen Sie uns aber zunächst mit Herrn Wolff reden.«

 

Als wir wieder auf der Straße standen, telefonierte Hoogs mit Hauptkommissar Laurencz.

»Wir gehen zum alten Hafen«, sagte er dann und setzte sich in Bewegung. »Wolff wohnt in der nördlichen Altstadt mit Sicht auf das Wasser. Diana Brenner wird dort auf uns warten und die Befragung von Wolff leiten.«

Das Leuchten in Hoogs’ Augen war nicht zu übersehen. Er ging schnell und schweigend.

Als wir am Ufer des Flusses ankamen, blieb Hoogs abrupt stehen. »Sehen Sie sich das an, Walken. Es gibt nicht viele Städte, die ein altes Hafengelände mitten in der Innenstadt frei gestalten können wie Rodborg. Andere Städte machen etwas daraus, nur Rodborg nicht. In dieser hässlichen Stadt wurde aus dem wunderbaren Areal lediglich ein überdimensionierter Parkplatz.« Hoogs schüttelte den Kopf.

Ich konnte ihm kaum widersprechen, wenn er sich von Zeit zu Zeit über die hässliche Stadt ausließ, kannte ihn aber schon lange genug, um zu wissen, dass dahinter oft sein Unmut über andere Verhältnisse, die ihn belasteten, steckte. »Wie geht es Mandy?«, fragte ich deshalb.

Seine Tochter war der Grund, weshalb er in Rodborg wohnte. Sobald sie erwachsen und selbstständig wäre, würde er die Stadt verlassen, das hatte er mehrmals betont.

Hoogs lächelte gedankenverloren, dann sagte er: »Ihr geht es gut. Sie ist wirklich klug und schon so selbstständig – anders als ihre Mutter. Ich werde sie in Zukunft einmal in der Woche sehen. Wir werden Mathematik-Aufgaben für die Schule üben.« Dann sah er mich fragend an. »Was ist mit Ihnen, Walken. Ihre Scheidung liegt zehn Jahre zurück. Das ist genügend Zeit, um sich davon zu erholen. Sie sollten wieder eine neue Bindung eingehen!«

»Ich wurde bereits zweimal geschieden, Hoogs. Und die schlechten Erfahrungen lassen mich zweifeln, ob eine feste Beziehung …«

»Walken, manchmal grübeln Sie einfach zu viel. Leben Sie! Sie haben nur ein Leben, und das müssen Sie jetzt leben oder es ist verloren!«

Dieser Ratschlag von Hoogs überraschte mich, weil seiner eigenen Scheidung vor vier Jahren ein Scheidungskrieg vorausging, der sich über zwei Jahre hingezogen und ihm schwer zugesetzt hatte.

 

Wir waren in der nördlichen Altstadt angelangt. Brenner wartete bereits vor einem Hauseingang.

»Passen Sie auf, Walken«, sagte Hoogs, als wir uns dem Haus näherten. »Sie brauchen bei der Befragung von Wolff nicht dabei zu sein. Das wird ohnehin nur eintönig und kurz. Er wird einfach alles abstreiten. Ich möchte, dass Sie zum Südstadtkrankenhaus gehen und ein Krankenzimmer für diese Nacht besorgen, von mir aus auch ein Provisorium, eine behelfsmäßig eingerichtete Besenkammer oder irgendetwas, das wie ein Krankenzimmer hergerichtet werden kann. Sobald Sie das erledigt haben, geben Sie mir Bescheid.«

 

Brenner empfing uns mit finsterer Miene. »Hoogs, was haben Sie Hauptkommissar Laurencz erzählt, dass ich zu diesem späten Termin herkommen musste? Sie haben doch gegen Wolff nichts in der Hand.«

»Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Abend, und ich werde Ihnen gleich alles erklären«, sagte Hoogs. »Walken …«

Ich verabschiedete mich.

Per Telefon kündigte ich mich bei der Verwaltungsleiterin des Krankenhauses an. Ich versuchte sie zu überreden, mir eine kleine Gefälligkeit zu erweisen. Der Hinweis, dass es sich um polizeiliche Ermittlungen handelte, ließ sie zuhören. Die Information, dass Hoogs daran beteiligt wäre, erweichte ihre Strenge, und ein kleiner Abstellraum in der zweiten Etage des Krankenhauses wurde zu einem Pseudo-Krankenzimmer umfunktioniert.

Als Hoogs zwei Stunden später eintraf, gelang es ihm, die Nachtaufsicht davon zu überzeugen, das Krankenzimmer direkt neben dem Eingang der Station für ein paar Stunden zu bekommen. Dem Patienten versprach er eine reichliche Entschädigung für die unbequemen Nachtstunden in der Kammer.

Danach richtete er sofort das Bett her, zog sein Hemd aus und forderte mich auf, ihn zu verbinden. »Der Kopfverband muss so angelegt werden, dass mein Gesicht nicht zu erkennen ist, Walken. Dann verbinden Sie mir den rechten Arm, damit die Infusion echt aussieht.«

Während ich mich mit dem Verband herumplagte, forderte ich ihn auf, mir ein paar Erklärungen zu geben. »Sie waren so begeistert von der Geschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg und über den Kugelgeist, Hoogs. Glauben Sie ernsthaft, dass eine Geistererscheinung im Wald Madthes umgebracht hat?«

»Sehen Sie, mein lieber Freund, die technischen Aufzeichnungen von Cyrus waren in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Aber mit Ihrem Bericht wird sonnenklar, was sich im Wald ereignet hat. Wir haben es mit einem Wurmloch zu tun!«

»Wie bitte?«

»Ich werde es Ihnen erklären, Walken. Unsere Welt besteht aus vier Dimensionen, jedenfalls vier Dimensionen, die wir wahrnehmen können: drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension. Da Raum und Zeit zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, wie Einstein bereits feststellte, sprechen wir auch von der Raumzeit.« Hoogs sah mich fragend an.

»Okay, das ist nicht neu und auch nicht schwer zu verstehen. Fahren Sie fort!«, sagte ich.

»Wurmlöcher stellen Abkürzungen zwischen zwei Punkten der Raumzeit dar, sie verbinden zwei weit entfernte Orte im Raum oder in der Zeit. Die Abkürzung entsteht durch eine starke Krümmung der Dimensionen, sie werden sozusagen verbogen. In unserem Fall wurde mit elektromagnetischen Feldern und der Gravitationsplatte aus dem Institut für Tieftemperaturphysik die Zeitdimension verbogen. Dadurch entstand eine Verbindung zwischen zwei Zeitpunkten, einem im siebzehnten Jahrhundert und einem im einundzwanzigsten Jahrhundert, jeweils in der Siedlung beziehungsweise der ehemaligen Siedlung Woldhagen

»Welche Rolle spielt dabei der Kugelgeist?«

»Die Öffnungen eines Wurmlochs, der Ein- beziehungsweise der Ausgang, sind kugelförmig, Walken.« Hoogs dachte ein paar Sekunden nach. »Das heißt, Cyrus und Madthes konnten einen Blick in die Vergangenheit werfen, und der in dem Brief erwähnte Söldner konnte in die Zukunft sehen. Ist das nicht ein faszinierender Gedanke, Doktor?«

Wir hingen beide unseren Gedanken nach und versuchten, das eben angedeutete Bild auszumalen.

»Wissen Sie, was das bedeutet?«, fragte ich dann.

»Eine Revolution der Wissenschaften«, sagte Hoogs. »Stellen Sie sich vor, das Wurmloch würde verkleinert werden, sodass es kaum zu sehen wäre und niemand verschrecken könnte. Das Bild aus einer anderen Zeit könnte man mit einer Linse vergrößern. So erhielte man sozusagen ein Auge in die Vergangenheit. Es wäre möglich, die Geschichte live zu erleben. … Warum sehen Sie mich so grimmig an, Walken?«

»Als ich fragte, was das bedeutet, meinte ich die soziale Seite, Hoogs. Mit dieser Erfindung könnten sich die Menschen über die wirklichen Vorgänge in der Vergangenheit informieren. Keine Geschichtsverfälschung würde Bestand haben, keine Gewaltverherrlichung, keine Lügen über Kriege würden sich halten können. Das würde dem Kapital und seinen Lakaien zuwiderlaufen. Denn Krieg, Gewalt und Lügen gehören zu seinem Wesen, dem Wesen des Kapitals. Deshalb werden die Herrschenden in unserer Gesellschaft alles daran setzen, dass diese Entdeckung nicht bekannt und am besten für alle Zeit vernichtet wird – einschließlich aller, die davon wissen.«

»Das ist nicht von der Hand zu weisen, Walken.« Hoogs nickte nachdenklich.

»Und wo ist das Wurmloch jetzt?« So viele Fragen waren noch offen.

»Wurmlöcher sind sehr instabil, Walken. Irgendetwas muss vorgefallen sein, dass es in sich zusammenfiel.«

»Gut, also keine Geistererscheinung, sondern ein Wurmloch. Aber damit haben Sie noch keinen der Todesfälle erklärt, Hoogs.«

»Passen Sie auf, Walken, es fehlen zwar immer noch einige Details, die uns hoffentlich Leland Wolff mitteilen wird, um sein drohendes Urteil zu mildern, aber ich glaube, der Zusammenhang ist folgender: Franklin Cyrus und Vin Madthes waren Freunde aus Schulzeiten. Als Madthes den Brief aus dem siebzehnten Jahrhundert in die Hand bekam, zeigte er ihn Cyrus, und sie beschlossen, nach dem Schatz zu suchen.«

»In dem Brief stand aber nichts von einem Schatz. Außerdem erzählte Madthes’ Freundin, sie wollten Geister jagen.«

»Das hat Madthes ihr wohl gesagt, weil er die Schatzsuche geheim halten wollte. Deswegen hat er vermutlich auch den Teil des Briefes, in dem der Schatz erwähnt wird, abgerissen. Weiter. Cyrus baute eine Anlage, die helfen sollte, den genauen Ort des Schatzes herauszufinden, denn sie konnten nicht den ganzen Wald umgraben. Seine Anlage benötigte aber mehr Energie, als sie bereitstellen konnten, deshalb wandten sie sich an Leland Wolff. Sowohl Cyrus als auch Madthes hatten schon von ihm gehört. Wolff stellte ihnen Energiespeicher zur Verfügung. Heute Morgen waren alle drei draußen im Wald bei den Siedlungsresten von Woldhagen

In dem Moment erhielt Hoogs eine Textnachricht auf sein Handy. »Es geht los, Walken. Sie verstecken sich im Nebenraum und kommen erst hervor, wenn ich Sie rufe!«, sagte er.

Ich löschte das Deckenlicht und zog mich in die angrenzende Toilette zurück, wobei ich die Tür angelehnt ließ. Das schwache Licht hinter der Blende an der Wand des Krankenzimmers tauchte den Raum in Halbdunkel.

 

Die Zimmertür wurde leise geöffnet. Ich konnte zwar nicht sehen, was geschah, aber ich hörte, wie sich jemand an das Bett heranschlich.

Nach ein paar Sekunden Stille vernahm ich Hoogs’ Stimme. »Kaliumchlorid in die Infusionslösung, Herr Wolff? Was soll das werden?«

Ich öffnete die Tür und erblickte Wolff, wie er sich über Hoogs beugte, mit wutverzerrtem Gesicht die Hände um dessen Hals legte und ihm die Kehle zudrückte.

In dem Moment sah ich nur noch rot und stürzte mich auf den Angreifer. Die Zimmertür flog auf und auch Brenner half, Wolff von Hoogs wegzureißen.

Brenner legte dem Überführten dann Handschellen an.

Schließlich erschien Hauptkommissar Laurencz im Türrahmen. »Sie müssen auch mitkommen«, sagte er zu Hoogs. Und zu mir gewandt fragte er: »Sie kommen klar, Doktor?«

Ich nickte. Ich fühlte mich elend und zitterte wie Espenlaub. Es wäre mir in dem Moment nicht möglich gewesen, so wie Hoogs, einfach aufzustehen und wegzugehen. Ohnehin hatte ich versprochen, mitzuhelfen, die Krankenstation nach dieser Nacht-und-Nebel-Aktion, wie Laurencz sie später nannte, wieder in Ordnung zu bringen.

»Wir sehen uns morgen früh«, sagte Hoogs und nickte mir zu, als er das Zimmer verließ. Eigentlich meinte er heute früh, denn Mitternacht war bereits vorüber.

 

Erst um drei Uhr kam ich nach Hause. Ich wusste, dass ich nicht zur Ruhe kommen würde, die Aufregung war noch zu groß. Und so wie ich Hoogs kannte, würde auch er nicht schlafen. Deshalb klingelte ich an seiner Tür und wir setzten uns auf einen Kaffee in seine Küche. Meine Ungeduld kannte jetzt kein Halten mehr. »Hoogs, Sie waren in Ihren Ausführungen bis zu dem Punkt gekommen, dass Cyrus, Madthes und Wolff gestern Morgen zusammen im Wald waren bei den Ruinen von Woldhagen. Hat sich das bestätigt? Und wie ging es weiter?«

»Es lief so ab: Madthes und Cyrus waren früher schon einmal dort. Damals bildete sich ein kugelförmiger Nebel, der aber nach wenigen Sekunden verflog, weil die Energiereserven ihrer Anlage erschöpft waren. Als sie diesmal zusätzlich die Energiespeicher von Wolff anschlossen, die dieser mitgebracht hatte, wuchs eine durchsichtige Kugel aus dem Nichts, an deren Rand alles verzerrt wurde – der Eingang eines Wurmlochs. Wolff sprach von einem Hologramm. Auf der anderen Seite des Wurmlochs – also das, was sie in der Kugel sehen konnten – waren Söldner aus dem siebzehnten Jahrhundert, die verdutzt Cyrus, Madthes und Wolff ansahen. Madthes ging auf die Kugel zu. Er sah, wie ein Söldner seine Muskete hob und in seine Richtung schoss. Daraufhin verflog das Wurmloch wie eine Seifenblase, und Madthes sackte blutüberströmt zusammen. Er war auf der Stelle tot.«

»Dann wurde Madthes also erschossen?«

»Nein, die Kugel der Muskete zerstörte das Wurmloch. Es ist sehr instabil, das hatte ich Ihnen schon erklärt. Weiter. Cyrus war entsetzt und panisch. Er fühlte sich schuldig und wollte sofort die Polizei rufen. Wolff dagegen verstand besser als Cyrus, was sie da eigentlich entdeckt hatten. Zumindest glaubte er, das zu verstehen. Er machte Cyrus klar, dass er sein Projekt verlieren und vielleicht sogar als Mörder verurteilt werden könnte. Wolff überredete ihn deshalb, vom Ort des Geschehens zu verschwinden und später der Polizei einen anonymen Hinweis zu geben. Sie packten alles ein und fuhren weg, vergaßen aber in ihrer Panik das Bodengerät, das wir gefunden haben. Während der Fahrt schmiedete Wolff einen Plan. Er wollte seine wirtschaftliche Existenz und sein Unternehmen retten, indem er die Erfindung als seine eigene ausgab und verwertete. Deshalb ermordete er Cyrus in dessen Wohnung und täuschte einen Unfall vor. Dann nahm er den Computer und die gesamte Technik mit.«

»Niederträchtig. Aber in diesem System zählt eben Profit mehr als ein Menschenleben.«

Hoogs nickte und fuhr fort: »Als Brenner und ich gestern Abend Wolff befragten, hat er natürlich alles abgestritten, was ihm nicht direkt nachgewiesen werden konnte. Unsere Besichtigung seines Betriebsgeländes konnte ich nicht erwähnen, weil wir illegal dort waren. Aber ich ließ die Bemerkung fallen, dass Madthes überlebt hätte und im Südstadtkrankenhaus am nächsten Tag möglicherweise wieder zu Bewusstsein kommen würde. Wolff musste handeln. Und dabei haben wir ihn erwischt.«

»Und ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.«

»Ja, Walken, Sie sind ein Held. Aber ehrlich gesagt bestand weder für Sie noch für mich eine Lebensgefahr, auch wenn es etwas ungemütlich wurde. Wolff war offenbar völlig verzweifelt, weil alles, was er begonnen hatte, schiefgelaufen war.«

»Aber etwas fehlt noch in der Geschichte. Wenn Madthes nicht durch den Schuss des Musketiers starb, wie hat er dann sein Leben verloren?«

»Durch die Gezeitenkräfte, Walken, durch die Gezeitenkräfte. Dasselbe ist übrigens auch dem Musketier im siebzehnten Jahrhundert passiert, der zu dicht an das Wurmloch kam. In unmittelbarer Nähe eines Wurmlochs gibt es sehr starke Gezeitenkräfte. Diese können einen Körper förmlich zerreißen. Im konkreten Fall wurde durch die Gezeitenkräfte das Blut aus dem Körper gesaugt, das dann aus allen Körperöffnungen, die dem Wurmloch zugewandt waren, strömte. Darüber hinaus wurden auch die Körperzellen zerrissen, sodass irreparable Schäden entstanden. Erinnern Sie sich an die gerötete und geschwollene Haut des Toten? Das erklärt weiterhin die vielen toten Insekten und abgestorbenen Pflanzen, die sich in der Nähe des Wurmlochs befanden.«

»Ja«, sagte ich, »so ergibt alles ein Bild. Wann hatten Sie Brenner in Ihren Plan eingeweiht?«

»Als wir Wolffs Wohnung verließen, musste ich es tun. Sie war aufgebracht, wie Sie sich vorstellen können. Ich habe ihr alles erklärt, so wie Ihnen eben. Es war natürlich klar, dass es ihr Verdienst wäre, dass der Fall so schnell gelöst werden konnte.« Hoogs lächelte gedankenverloren.

»Und sie hat Laurencz den wissenschaftlich-technischen Kram verkauft?«, fragte ich.

»Nein, wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nicht über ein Wurmloch reden, sondern nur über einen technischen Unfall, bei dem Madthes starb. Bei Wolff konzentrierten wir uns ganz auf den Mord an Cyrus. Der wusste, dass wir ihn auch leicht ohne Geständnis überführen könnten, also entschloss er sich, zu kooperieren. Als Motiv wird seine Gier auf den Schatz angeführt, den er nicht teilen wollte. So kennen Sie jetzt die Auflösung des Falls und wie er im Bericht beschrieben werden wird. Und ich habe für heute Abend eine Verabredung.«

»Diana Brenner, richtig?«

»Sie sind ein wahrer Meisterdetektiv, Walken.« Hoogs grinste mich an.

»Diana Brenner ist eine gute Kriminalistin …« Ich wusste nicht, wie ich mich ausdrücken sollte.

»Walken, Sie grübeln zu viel! Unsere Freundschaft wird dadurch nicht beeinträchtigt, darauf können Sie sich verlassen.«

Hoogs hatte mich schnell durchschaut. Und auf ihn konnte man sich wirklich verlassen, das hatte er erst letztens im Fall mit den Aliens bewiesen.

Aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

 

Detlef Schirrow, Studium der Philosophie, Promotion auf dem Gebiet der Religionssoziologie. Berufliche Neuorientierung aufgrund sozialer Veränderungen. Heute IT-Sicherheitsbeauftragter. Schreibt in der Freizeit Kurzgeschichten.

 

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Barbara Kloska: Tee mit Kluntjes

 

»Na wunderbar. Jetzt erst warnen sie im Radio vor dem nahenden Unwetter, während über mir schon die dunklen Wolken drohen und der Wind mich fast von der Straße drängt.« Die Hoffnung, schnell aus dieser Gefahrenzone verschwinden zu können, verabschiedet sich zusammen mit der Technik meines Navis, die bedingungslos vor den Naturgewalten kapituliert. Kein GPS!

Im Grunde liebe ich diesen Landstrich hier an der Küste. Irgendetwas hat mich immer schon her gezogen. Das Meer, Wind und Wellen, der raue Charme der Küste haben mir stets ein besonderes, wohliges Gefühl des Angekommenseins gegeben. Für die meisten Menschen ist dies unerklärlich, denn es hat hier nie etwas gegeben, das für sie eine längere Anreise gerechtfertigt hätte – weder verwöhnt die Wärme der südlichen Sonne noch locken spektakuläre Besonderheiten, die man unbedingt gesehen haben muss. Selbst die Möglichkeiten, am Abend auszugehen, sind in diesen Breiten rar.

Daheim gibt es niemand, der meine Zuneigung zu dieser Gegend teilt. Aber auf mich hat sie die unwiderstehliche Anziehungskraft, der eine Biene erliegt, wenn sie vor einer süß duftenden Blüte schwebt, auch wenn ich zugegebenerweise in diesem Augenblick lieber irgendwo anders wäre – jetzt, wo die Sintflut über mich hereinbricht, sodass ich kaum bis jenseits der Motorhaube schauen kann. Rings um mich herum sind nur Wiesen, in einiger Entfernung ist die Nordsee und vor mir eine im Nichts verschwindende Landstraße. Der Wind rüttelt an meinem Auto, die Scheibenwischer geben ihr Bestes, verschaffen mir dennoch keine freie Sicht, und das Navi sucht weiter nach Empfang. Mir ist mulmig, während ich mit zunehmender Orientierungslosigkeit weiterfahre.

Was ist das?, frage ich mich, als in der Ferne ein seltsames Licht auftaucht. Über Feld- und Schotterwege holpere ich direkt darauf zu und stehe irgendwann vor einer alten, durch Wind und Wetter arg mitgenommenen Kate. Das Licht, das aus den Fenstern leuchtet, wirkt warm und einladend. Erleichtert, aus dem Unwetter zu kommen, steige ich aus und arbeite mich gegen Wind und Regen zum Haus vor. Kaum dass ich es erreicht habe, läuft mir das Wasser bereits aus den Ärmeln. Mit der rechten Faust trommle ich gegen die verwitterte Tür, mit der linken Hand drücke ich zeitgleich die Klinke herunter, als mich ein Windstoß packt, ins Haus fegt und einem Hünen direkt vor die Füße schleudert. In dem diffusen Licht fällt sein bedrohlicher Schatten bis zur nächsten Wand. Ich lande mit Gepolter so unsanft auf den Knien, dass das Wasser aus meiner Kleidung spritzt und sich zu einer Pfütze sammelt. Benommen schaue ich an dem Mann hoch, dessen wettergegerbtes Gesicht von einem Vollbart und grauen, dichten Haaren größtenteils verdeckt ist. Er scheint der Hausherr zu sein, aber offensichtlich schätzt dieser plötzlichen Besuch nicht sonderlich. Grimmig schaut er zu mir herab, schiebt mich schroff zur Seite und knallt die Tür zu.

»Wollen Sie mein Haus fluten?«, mault er, woraufhin ich aufspringe und spontan zur Tür zurückeile.

»Wo wollen Sie denn hin? Noch mal in die Regentonne?«

»Nein, nur besser wieder raus! Muss zur Autobahn …«

»Bei dem Wetter? Draußen tobt ein Sturm! Der bläst sie glatt in den Graben. Und dann? Sind gut neun Kilometer bis zum nächsten Dorf, und die Straßen sind hier bannig schlecht.«

Er kommt auf mich zu, greift meinen Arm und führt mich zum Tisch, wo er mich auf einen Stuhl drückt. Seine Kraft ist erstaunlich und macht mir Angst.

»Ziehen Sie sich aus. Die Sachen können Sie da über die Leine am Herd hängen.«

Mir stockt der Atem. So einer ist das also! Na, von wegen!

Als der Bärtige zu einem Schrank geht, in dem er herumkramt, springe ich auf, mache zwei Schritte Richtung Tür, da versperrt er mir auch schon den Weg.

»Was ist? Wollen Sie Ihre Autositze wässern? Ziehen Sie endlich Ihre Sachen aus.«

»Das werde ich nicht tun!«

»Oh doch! Glauben Sie nicht, dass ich Sie hier länger beherberge als nötig. Habe keine Lust, Sie zu pflegen mit Lungenentzündung und Fieber.«

Er reicht mir Handtücher, einen altbackenen, weiten Rock, eine lange Bluse und grobgestrickte Wollsocken.

»Müssten passen. Da in der Kammer können Sie sich umziehen.«

Mit einer Kerze leuchtet er einen kleinen Nebenraum aus, schiebt mich hinein und schließt die Tür.

Benommen schaue ich mich in der winzigen Stube um, in der nur ein altes Bett, ein Stuhl mit abgeblätterter Farbe und ein dunkler Tisch stehen.

Da draußen der Sturm, hier drinnen dieser Kerl … In mir ertönt ein regelrechtes Konzert von Alarmglocken und Signalhörnern.

»Und? Passt alles?«, fragt er, wobei seine Stimme seltsam verändert klingt. »Wenn nicht, habe ich auch noch einen Gürtel, damit es hält. Beeilen Sie sich mit dem Umziehen, hier in der Küche ist es wärmer. Wir können gleich essen, und heißer Tee wird Ihnen gut tun.«

Nanu? So freundlich? Woher der plötzliche Sinneswandel?

»Bin gleich da!« Während ich zitternd meine Garderobe wechsle, überlege ich, was ich von diesem Kerl halten soll. Keine Fragen, kein Misstrauen, nur selbstverständliche Hilfe, wo sie offensichtlich nötig ist. Ohne zu einem Ergebnis zu kommen, gehe ich in die Küche. Der Hausherr nimmt mir die nassen Kleidungsstücke ab und hängt sie auf. Zum ersten Mal sehe ich ihn lächeln.

Auf dem Tisch warten ein Teller mit vier Scheiben Brot und eine Schale Butter.

»Bedienen Sie sich. Tee? Mit Milch oder Kluntjes?«

»Mit was?«

»Kluntjes – braunem Kandiszucker.«

Obwohl Bart und Haare nicht viel von seinem Gesicht frei lassen, sehe ich ein eigenartiges Funkeln in seinen Augen.

Bedächtig löffelt er mir ein paar braune Krümel in die Tasse und gießt den Tee darauf. Es knistert geheimnisvoll.

Ohne mich aus den Augen zu lassen, nimmt er mir gegenüber Platz, schenkt seine Tasse voll und beginnt, sich eine Scheibe Brot mit Butter zu bestreichen. Die Kruste wellt sich, und das Messer erzeugt ein knirschendes Geräusch beim Schneiden.

Was ist das nur für ein eigentümlicher Kerl? Eben noch so ruppig, jetzt auf einmal so nett?

Seltsame Situation. Dieser fremde Mann, diese Selbstverständlichkeit, mich so aufzunehmen, dazu das Knistern des Holzes im Herd, die alte Petroleumlampe über dem Tisch, die den Raum in ein diffuses, aber besonderes, Licht taucht. Wo gibt es sowas heutzutage noch?

»Was ist? Keinen Hunger? Sie sind sicher besseres Essen gewohnt – mehr Auswahl, feineres Zeugs.«

»Nein, nein – völlig okay. Vielen Dank.« Höflichkeitshalber nehme ich eine Scheibe Brot, bestreiche sie mit Butter und habe große Mühe, sie zu schneiden.

»Geht es?«, erkundigt sich der Mann schmunzelnd.

»Ja, sicher. Irgendwie. Das Brot ist nur so hart.«

»Brot ist nicht hart. Kein Brot – das ist hart! Aber wenn Sie dieses einfache Essen nicht verschmähen, freue ich mich, das Letzte, was ich im Haus habe – Brot und Butter – mit Ihnen zu teilen.«

Dann fragt er mich nach meinem Namen, was ich so mache, was mich hier in diese Gegend treibt.

Unerklärlicherweise plaudere ich drauflos. Auf einmal ist mir, als ob ich angekommen sei. Irgendwo, wohin ich nie den Weg gesucht habe. Aber nun ist mir sogar fast, wie heimgekommen zu sein. Dieser Mann, der sich einfach nur Hendrik nennt, zeigt so viel ungeahnte Herzlichkeit und Wärme. Alles, was um mich geschieht, geht überraschend in einer unerklärlichen Selbstverständlichkeit auf.

Er erzählt mir von seinem Leben, von dem bewussten Weglassen aller Dinge, die ihn von der Natürlichkeit des Daseins trennen, und von seiner Suche nach Glück, das oft in den einfachen, kleinen Dingen steckt, die nicht materieller Natur sind. Die Art, wie überzeugt er davon spricht, was seinen ganzen Reichtum ausmacht, ist wie eine liebevolle Umarmung.