Franz Treller

Der Letzte vom "Admiral"

e-artnow, 2016
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-6968-9

Inhaltsverzeichnis

Über Bord gefallen

Fritze Fischer

Die Südseeinsel

Die Wilden

Der Überfall

In indischen Gewässern

Auf Tod und Leben

Der Waldmensch

Das einsame Grab

Der Sohn des Radscha

Ein indischer Fürstenhof

Der Gunung Rindjani

Wiedersehen

Point de Galle

Der Malaie

In Gefangenschaft

Der Letzte vom »Admiral«

Über Bord gefallen

Inhaltsverzeichnis

Der Wind blies scharf aus Südost und warf vor der breiten Elbmündung kurze, weißschäumende Wellen auf. Die Sonne war bereits untergegangen, und am Himmel jagten dunkle Wolken vorüber, die von Zeit zu Zeit einen Regenschauer niedersandten.

Von Norden, über den großen Vogelsand her, suchte eine kleine Segeljacht gegen den Wind aufzukreuzen, um die Elbmündung zu gewinnen.

Unter stark gekürzter Leinwand jagte sie auf einem Gang nach Süden durch die schaumgekrönten Wellen. Schon sandten der Leuchtturm von Neuwerk und fernher der von Kuxhaven ihr strahlendes Licht durch die Dämmerung. Drei junge Leute befanden sich an Bord des schlanken Bootes, in der eleganten Seemannstracht, wie sie die reichen jungen Hamburger auf ihren Fahrten anzulegen pflegten.

Am Steuer saß ein kräftiger, breitschultriger Jüngling, der es mit Geschick handhabte. Der Gefährte an seiner Seite zeigte schlanke Formen und fast mädchenhafte Züge unter der blauen Matrosenmütze. Der dritte kauerte an der Brasse, um sie beim Umlegen des Bootes zu bedienen; seine stechenden dunkeln Augen würden sicherlich jedermann aufgefallen sein.

»Ich fürchte, wir kommen bei diesem Lüftchen und solange noch die Ebbe abläuft nie in die Elbe, Henrik«, sagte der am Steuer zu dem neben ihm sitzenden jungen Mann.

»So laß uns wenden und auf Büsum halten«, entgegnete der Angeredete, »wir sind mit diesem Wind hinter uns in einer Stunde dort und können nach Hamburg telegraphieren, um die Unsrigen zu beruhigen, und dann die Eisenbahn zur Heimfahrt benutzen.«

»Unsinn!« schrie der dritte an der Brasse, zu dem die Worte trotz des Rauschens von Wind und Wellen gedrungen waren, mit einer wenig angenehmen Stimme, »wir kommen mit dem zweiten Gang sicher in die Elbe und erreichen die ›Alte Liebe‹ noch ehe es ganz Nacht wird. Laßt uns umlegen.«

»Noch nicht«, entgegnete der am Steuer, »ich will erst Neuwerk achter haben, ich kann dann besser auf dem langen Gang ausholen.«

Es ward nicht weiter gesprochen, und die Jacht lief dicht am Wind in schneller Fahrt an der Insel vorbei. Einen Augenblick erregte ein dort ankerndes Barkschiff die Aufmerksamkeit der jungen Leute, die sich wunderten, an solcher Stelle einen Kauffahrer liegen zu sehen, doch tauschten sie, vollauf mit ihrem Boot beschäftigt, keine Bemerkungen darüber aus.

Es wurde dunkler, und ein feiner Sprühregen beschränkte den Ausblick noch mehr, doch war der Lichtschein vom Leuchtturm zu Kuxhaven deutlich zu gewahren. Jetzt hielt der Jüngling, welcher das Steuer führte und wohl als Kapitän gelten konnte, den Augenblick für gekommen, um zu wenden.

Neuwerk lag hinter ihnen.

»Geh nach vorn, Henrik«, sagte er zu dem, welcher neben ihm saß, »und wirf den Klüver herum, daß wir rascher den Wind fangen, wir bekommen sonst Wasser.«

Henrik erhob sich, um den Befehl auszuführen.

Das Boot lief so hart am Wind, daß der Segelbaum innerhalb der Bordwände lag, so daß der junge Mann, welcher nach vorn ging, dies im Lee der hart angespannten Leinwand tun konnte. Kaum war er neben der schweren Spiere, welche in Schulterhöhe sich hinstreckte, als das Tau, vermittelst dessen sie scharf angeholt war, im Block losglitt und das schwere Holz unter dem harten Luftdruck, der auf der Leinwand lag, mit starker Kraft Henriks Haupt traf und ihn in die dunkeln schäumenden Wellen schleuderte. Ein Schrei des Entsetzens hallte über die wilden Wasser hin. Der Mann an der Brasse saß leichenblaß und bewegungslos da. Dennoch hatte der andere trotz des furchtbaren Ereignisses Besonnenheit genug, das Steuer herumzuwerfen, um in den Wind zu kommen.

»Hol steif!« schrie er gellend seinem Gefährten zu, der mechanisch dem Anruf folgte. Es vergingen Minuten der Todesangst, ehe das Boot wieder am Wind lag; es hatte viel Wasser eingenommen.

»Henrik! Henrik!« schrie der Steuermann in wildem Schmerz über die Wellen hinaus und ließ seine Augen umherschweifen, um etwas von dem Freund zu entdecken.

Vergebens. Das Boot jagte dahin zwischen schäumenden, sich überstürzenden Wogen – nichts – nichts war zu entdecken.

Am Morgen nach dem für die Bemannung der Segeljacht so furchtbaren Abend ging der Senator a. D. Christian Asmus in dem wohlgepflegten Garten auf und ab, der seine Villa, die anmutig am Ufer der Elbe in Blankenese sich erhob, umgab. Der hochgewachsene Herr, ein stattlicher Sechziger mit einem schönen, vornehmen Gesicht, das starkes weißes Haar und ein kurz gehaltener Backenbart einrahmten, ging langsam, seine Havanna rauchend, zwischen den Blumenanlagen hin und her, oftmals sich zu einem seiner Lieblinge niederbeugend.

Nicht ohne einiges Befremden sah er den jungen Holthaus, den Sohn des Nachbarn, den Gartenweg entlang auf sich zukommen. Die Stunde war für einen Besuch etwas früh gewählt. Als der junge, kräftige Mann, ziemlich langsam gehend, näherkam, bemerkte der Senator, wie bleich und verstört er aussah.

Besorgnis stieg in dem alten Herrn auf, daß jener der Überbringer schlechter Nachrichten sein könne, und ihm entgegengehend, fragte er rasch: »Nun, Karl Holthaus, was bringen Sie mir?«

»Leider nichts Gutes, Herr Senator«, sagte der Angeredete in einem Ton, der dem gramvollen Ausdruck seines Gesichts entsprach.

Der alte Herr sah ihn aufmerksam an und sagte: »Kommen Sie mit in den Salon.« Er schritt die Stufen hinauf über die breite Veranda auf das nahe Haus zu, schloß, als Holthaus ihm gefolgt war, die Flügeltüren des kleinen Saales und fragte dann mit etwas gedrückter Stimme: »Was hat's gegeben?«

»Ein Unglück, ein großes Unglück, Herr Senator«, und überwältigt von seinem Gefühl, brach der junge Mann in einen Tränenstrom aus.

Der Senator erschrak hierüber heftig, und da er wußte, daß der junge Holthaus ein Freund seines Neffen Henrik Horsa sei, fragte er mit bebender Stimme: »Betrifft es Henrik?«

Karl Holthaus nickte stumm, er konnte noch nicht reden. Schluchzen erstickte seine Stimme. Dem Senator lief es kalt den Rücken hinab und eine Ahnung großen Unheils stieg in ihm auf.

»Was ist dem Jungen zugestoßen?« fragte er rasch und sah so bleich aus wie der in tiefer Erregung vor ihm stehende junge Mann.

»Er ist – ach, Herr Senator, Henrik ist – verunglückt.«

»Wie? Verunglückt?«

»Er ist gestern abend bei Neuwerk über Bord gegangen.«

»Und? Und?«

»Es war wildes Wetter und – und zu retten war er nicht.«

Der Senator ließ die Zigarre, die schon lange nicht mehr brannte, fallen und setzte sich in einen Lehnstuhl; er fühlte, daß die Beine ihn nicht mehr tragen wollten. Mit aller Anstrengung sagte er: »Teilen Sie mir alles mit – wie ist das zugegangen, Holthaus?«

Dieser fing an von der Fahrt zu erzählen, dem schlimmen Wetter, der Schwierigkeit, die Elbmündung zu gewinnen, und berichtete dann stockend in schmerzvoller Erinnerung die schauerliche Katastrophe.

Stumm, atemlos lauschte der alte Herr, und sein Herz zog sich in jähem Schmerz zusammen, als er das Schlimmste erfuhr.

Er senkte das Haupt, unfähig zu sprechen.

»Wir haben getan, was wir konnten, Herr Senator, aber es war Nacht – hoher Wellengang, es war nicht möglich, ihm Hilfe zu bringen. Bei Gott, ich wollte, ich wär's gewesen, der zugrunde ging«, setzte er in einem Ton hinzu, der aus dem Herzen kam. Auch wußte Asmus, wie sehr der junge Holthaus Henrik liebte.

Erst nach einiger Zeit fragte der Senator: »Wer war noch in dem Boot?«

»Onno Steenberg.«

Onno Steenberg war der andere Neffe des alten Herrn, der Sohn seiner zweiten Schwester.

»Und der saß an der Brasse, als das Unglück geschah?«

»Ja.«

Der Senator stand auf und ging einigemal im Zimmer auf und ab, die dichten Augenbrauen finster zusammengezogen und starr vor sich hinsehend. Dann wandte er sich wieder an Holthaus: »Und warum ist Onno nicht gekommen, mir das Unheil zu verkünden?«

»Er ist furchtbar erregt und beschwor mich, die Botschaft zu übernehmen; übrigens wartet er draußen.«

Der Senator klingelte und rief dem eintretenden Diener zu, seinen Neffen Onno hereinzuführen.

Eine Minute später trat Onno Steenberg ins Zimmer.

Er war eine nicht gewöhnliche Erscheinung. Auf der schlanken, mit stutzerhafter Sorgfalt gekleideten Gestalt ruhte ein Kopf von schöner Form. Haar und Gesichtsfarbe, auch der Schnitt der Züge deuteten auf südliche Abkunft; seine Großmutter war eine Spanierin. Der junge Mann, dessen Züge etwas Verlebtes an sich hatten, war sehr bleich und hielt den Blick zu Boden gerichtet, als er schwankend, den Hut in der Hand, eintrat.

Die grauen Augen des Onkels ruhten mit strengem, ernstem Blick auf Onno.

»Warum kamst du nicht selbst, um mich von dem entsetzlichen Unglück zu unterrichten?«

»Ich hätte es nicht über die Lippen gebracht«, stammelte Onno – und schlug die behandschuhte Hand vor die Augen.

»Erzähle mir, wie es kam.«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete er mit schwacher Stimme, immer den Blick zu Boden gerichtet. »Die Brasse war festgemacht, sie hatte fast eine Stunde wie Eisen gehalten; ich weiß nicht, wie es kam, daß das Tau durch den Block glitt.«

»Aber ihr wolltet doch wenden? Hast du nicht zu früh losgemacht?«

»Ich habe die Brasse nicht berührt, ich erwartete den Befehl von Holthaus.«

Die dunkeln Augen des Sprechers bewegten sich unruhig hin und her. Der Blick des Greises wurde immer finsterer und drohender, als er auf das bleiche, zuckende Gesicht seines Neffen starrte.

Plötzlich wandte er sich rasch an Holthaus, dessen derbes, ehrliches Gesicht in seinem kummervollen Ausdruck einen lebhaften Gegensatz zu dem Steenbergs bildete, mit der Frage: »Aber kann sich Henrik nicht nach Neuwerk durch Schwimmen gerettet haben?«

Traurig entgegnete der: »Bei dieser See, nein, Herr Senator, auch traf ihn die Spier an den Kopf. Ach, wir haben gestern abend noch gekreuzt, ohne Rücksicht auf unser Leben, doch vergebens! Wir haben, an Land gekommen, alle Küstenstationen angerufen, nach Neuwerk telegraphiert, heute morgen war ich selbst mit mehreren Lotsen draußen. Wenn Gott kein Wunder getan hat, lebt Henrik nicht mehr.«

Nach einer Weile fragte der Senator Holthaus wieder: »Weiß meine Schwester schon davon?«

»Nein, wir sind zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten, Frau Horsa die Schreckenskunde zu bringen.«

Asmus reichte ihm die Hand und sagte: »Wir müssen's tragen, Holthaus, so gut es geht; ich danke Ihnen.«

Holthaus verbeugte sich und ging. Der Senator blieb mit seinem Neffen allein.

Er trat dicht vor ihn.

»Sieh mir einmal in die Augen.«

Onno erhob die Augenlider, senkte sie aber sofort wieder, als er dem finstern, drohenden Blick des alten Herrn begegnete.

»Tue ich dir unrecht, mag mich Gott strafen, aber du trägst das Zeichen Kains an der Stirn.«

»Onkel!« schrie Onno schrill auf, »das mag dir Gott in deiner letzten Stunde vergeben.«

»Ich kenne dich und dein Treiben besser, als du glaubst«, fuhr der Senator unerbittlich fort und setzte in scharfem Ton hinzu: »Eines merke dir noch. Du wärest mit Henrik gemeinsam mein Erbe geworden – denn du bist das Kind meiner seligen Schwester; nach diesem Unglücksfall aber geht mein Vermögen nach meinem Tod an wohltätige Anstalten über. Adieu!«

Ein Blick des furchtbarsten Hasses streifte den alten Herrn, als Onno sich zum Gehen wandte, den jener indessen nicht bemerkte.

Als Onno fort war, sagte der Greis: »Verzeih mir, Vater im Himmel, wenn ich ihm unrecht tat. Oh, mein Henrik, mein Liebling! Meine arme Schwester!«

Er rief nach seinem Diener, befahl den Wagen und ließ sich ankleiden. Nach einer halben Stunde hielt er vor einer kleinen Gartenpforte am Ende Blankeneses.

Als er ausstieg, eilte eine ältere, dunkel gekleidete Dame auf ihn zu, deren bleiches, von Seelenangst zeugendes Gesicht sehr schön gewesen sein mußte.

»Oh, Krischan – wo ist Henrik?«

Tiefbewegt legte der alte Mann den Arm der Schwester in den seinen, sagte: »Komm, Stinning, komm«, und führte sie dem Hause zu. Willenlos folgte sie ihm ins Wohnzimmer. Er leitete sie zu einem Sessel: »Set di man dal.«

Sie ließ sich niedersinken.

Die beiden alten Leute sprachen immer platt, wenn sie unter sich waren. Sie war noch bleicher geworden und ihre Augen hingen voll Angst an seinen trauervollen Zügen.

»Wat is mit Henrik?«

Zitternd kamen die Laute über ihre Lippen.

Wie sollte er nun das Furchtbare verkünden? Henrik war ihr Einziger, ihr alles. Endlich legte er den Arm um ihre Schulter und schluchzte laut. Sie sah ihn mit einem Gesicht, auf welchem der Schreck versteinert schien, an, dann schrie sie auf, aller Schmerz einer Mutterseele klang in dem Ton wieder: »Krischan – he is all starwen?«

Der Senator nickte stumm.

»He is all bihn leiwen God, Stinning.«

Sie starrte ihn an, mit einem Blick wie eine Irrsinnige, dann fiel sie vom Stuhl schwer zu Boden. Der Senator rief nach der Magd. Die Alte, welche länger als ein Menschenalter im Hause diente, erschrak nicht wenig, als sie den alten Herrn in Tränen und ihre Herrin in diesem Zustand erblickte. Sie hoben Frau Horsa auf, legten sie aufs Sofa, und Dürten kühlte ihr die Schläfe mit Kölnischem Wasser.

Endlich kam sie wieder zu sich und erfuhr nun, was und wie es sich zugetragen.

Bange Wochen bitteren Schmerzes vergingen. Nur ein fester, demütiger Glaube an die Weisheit, Macht und Güte Gottes half der Mutter das tiefe Leid ertragen. Dürten aber hatte die feste Überzeugung, daß Henrik noch unter den Lebenden weile; ein Traum hatte ihr das gesagt und Dürtens Glaube an die prophetischen Bedeutungen ihrer nächtlichen Gesichte war unerschütterlich.

»Unse Jongherr kümmt all wedder, Madam – dat is so seker as dat Amen in de Kerk«, wiederholte sie oft, und warum sollte ein liebendes Mutterherz sich nicht auch an diese schwächste Hoffnung klammern?

*

Onno Steenberg, der, älter als Henrik Horsa, im großen Handelshause Oswald Söhne bereits eine angesehene Stellung einnahm, hatte sich im Laufe der folgenden Wochen im Auftrag seines Chefs nach Ostasien begeben, wo eine verwickelte Geschäftslage das Eingreifen eines erfahrenen und energischen Mannes bedingte. Das Haus Oswald Söhne stand in lebhaftem Handelsverkehr mit Indien und China. Er hatte sich um diese Stellung beworben, da ihm nach Henriks jähem Ende und der Haltung des Senators Hamburg verleidet war, und sie wurde ihm von seinem Direktor um so lieber anvertraut, als er durchaus die notwendigen Eigenschaften zu glücklicher Lösung der schwierigen Aufgabe besaß. Onnos Vorhaben war Senator Asmus angenehm gewesen, so grimmig er auch wurde, als sich nach der Abreise seines Neffen herausstellte, daß dieser, trotz eines guten Einkommens, infolge seines leichtfertigen Lebenswandels tief in Schulden geraten war und deren Deckung der Großmut seines Onkels überlassen hatte. Der Ehre der Familie wegen mußte der alte Herr die Schulden bezahlen. Er tat dies in der Hoffnung, daß ihm Onno nie wieder vor Augen kommen werde. Sein Schmerz um den Verlust Henriks war ungemindert.

*

Als die Brasse losließ und die Spiere den unglücklichen Henrik über Bord schleuderte, lähmte die Zurückbleibenden bleiches Entsetzen, die nächsten Augenblicke galten dann dem Kampf ums Leben, und so hatten sie ein starkes Ruderboot in Lee, welches, von sechs langen Riemen getrieben, nach Neuwerk zuhielt, nicht gesehen, obgleich es dicht an ihnen vorbeigetrieben war.

Im Stern dieses Bootes saß ein noch junger, wettergebräunter Seemann und steuerte es mit vollendeter Sicherheit. Der gellende Schrei von der Jacht her drang vom Wind getragen bis zu ihm. Er wandte den Kopf, erblickte auch schattenhaft das Fahrzeug mit seinem im Wind flatternden Segel und gleich darauf, während das Heck seines Bootes niederging, ein bleiches Menschenantlitz neben sich, das eben aus der Welle auftauchte. Instinktiv fast, aber blitzschnell fuhr seine Hand nieder und faßte langes Haar, es mit der Kraft einer starken Seemannsfaust festhaltend. Eine Sekunde später und der im Meer Treibende wäre weit abgespült worden und versunken. Der Seemann hielt das Haupt über Wasser. Da er das Steuer nicht loslassen durfte und auch mit der einen Hand den bewegungslosen Körper nicht in das Boot ziehen konnte, rief er die ihm zunächst sitzenden Matrosen, die wohl gesehen hatten, was sich am Steuer zutrug, an: »Jan und Krischan, stopp! Hierher un helpt den Jongen in dat Boot trecken!«

Die Angerufenen hoben gleichzeitig die Riemen aus den Dollen, legten sie an Bord nieder, gingen nach hinten, und gleich darauf lag der triefende Körper des Bewußtlosen neben dem Mann im Stern des Bootes.

Da die bewegte See die ganze Aufmerksamkeit des Steuermanns wie die volle Kraft der Ruderer erforderte, ergriffen diese sofort wieder ihre Riemen, und unbeachtet lag der den Wellen entrissene Jüngling da.

Nach einer halben Stunde schwerer Arbeit näherte sich das Boot dem Barkschiff, welches eine Laterne gesetzt hatte. Im Lee des Schiffes, welches sich nur über einem Buganker schaukelte, auf verhältnismäßig ruhigem Wasser angelangt, ward ihnen von Bord ein Tau zugeworfen, sie holten an, und der Steuermann stieg an dem aushängenden Fallreepan Deck.

Dort stand der Kapitän im schwachen Schein der am Großmast befestigten Laterne.

»Lange geblieben, Stürmann«, sagte er, als jener auf ihn zutrat.

»War nich früher möglich, Kaptein.«

»Hewwen Se allens?«

»Ja, Kaptein, un noch en Stück Ballast dartau.«

»Wie is dat?«

Der Steuermann berichtete kurz, was ihm soeben begegnet war. Auch hoben die Matrosen schon den Körper des jungen Menschen über die Bordwand und ließen ihn sanft auf einem Stück Segeltuch im Schein der Laterne nieder. Während das Boot gehißt wurde, trat der Kapitän zu dem Bewußtlosen heran.

»Aber der ist ja tot, Steuermann.«

»Ich glaube nicht, Kapitän. Freilich habe ich mich auf der Fahrt nicht um ihn bekümmern können, aber er hatte kaum eine Minute im Wasser gelegen, als er an mich antrieb.«

Der Kapitän, der Steuermann und einige Matrosen sahen auf die jugendliche, schlanke Gestalt, die leblos vor ihnen lag. Das feine, wollene Hemd, der gestickte Gürtel, die eleganten Beinkleider deuteten an, daß der Träger dieser Kleidungsstücke einer wohlhabenden Familie angehören müsse. Um das bleiche Gesicht von weichen, edeln Formen hing das feuchte Haar nieder, die Augen waren geschlossen. Der Junge lag da, als ob er schliefe. Rasch hatte ihm der Steuermann das Hemd geöffnet und sein Ohr an die Brust des Bewußtlosen gelegt.

»Der Mann lebt, das Herz schlägt, Kapitän«, sagte er aufstehend, »ich denke, er hat den Giekbaum der Jacht an den Schädel bekommen.«

»Diese Landlubbers sollen auf ihren Fischteichen bleiben«, brummte der Kapitän, »aber wat helpt dat nau – der Junge ist sicher guter Leute Kind. Lassen Sie ihn in die Koje bringen, abreiben und gut zudecken, Steuermann, wollen sehen, was daraus wird.«

Während zwei Matrosen den Körper hinabtrugen, wurde der Anker gelichtet, Leinwand gesetzt, und bald schaukelte die Hamburger Bark »Roland« auf den kurzen Wellen der Nordsee, Henrik Horsa, der warm zugedeckt in einer Koje ruhte und durch sein Atmen bewies, daß noch Leben in ihm weilte, mit sich hinausführend in das weite Meer.

Kapitän Jansen war, als er an Kuxhaven vorbeiging, durch eine ihm übermittelte Depesche seiner Reeder bedeutet worden, daß er noch ein wichtiges Schriftstück zu erwarten habe. Da er im Strom nicht beilegen wollte, hatte er seinen Steuermann an Land geschickt und, dessen Rückkehr abwartend, bei Neuwerk einen Anker fallen lassen. Dies war die Veranlassung, daß das Boot zu jener Stunde dem Schiff nacheilte.

Während der Nacht sprang der Wind um und blies scharf aus West. Da mit dieser Brise der Kanal nicht zu passieren war, hielt der Kapitän nach Norden zu, um seinen Weg in den Ozean um Schottlands Küste zu suchen.

Der junge Mensch lag immer noch bewußtlos in seiner Koje. Eine genauere Untersuchung hatte ergeben, daß er einen heftigen Schlag gegen den Kopf bekommen hatte, dessen linke Seite stark mit Blut unterlaufen war. Die Betäubung war also allem Anschein nach die Folge einer Gehirnerschütterung. Herz und Puls schlugen normal. Der Kapitän hatte beabsichtigt, den jungen Hamburger einem ihm im Kanal begegnenden heimischen Schiff zu übergeben, um ihn zurückführen zu lassen, doch der ihm durch den Westwind aufgezwungene Nordkurs vereitelte jedes Zusammentreffen mit einem nach Deutschland bestimmten Schiff. Der »Roland« trat in den Ozean nordwärts der Orkneyinseln, ohne daß ihnen ein Fahrzeug begegnet wäre, und der auf so ungewöhnliche Weise an Bord gekommene Passagier lag immer noch, ohne zur Besinnung gekommen zu sein, auf seinem Lager.

Drei Monate waren fast vergangen seit dem Tag, der die Unglücksbotschaft in das Haus Frau Horsas brachte, als der Senator im schnellsten Galopp, welchen seine feisten Mecklenburger fähig waren, zum Erstaunen ganz Blankeneses die Straße herunterjagte und vor der wohlbekannten Gartentür hielt. Der alte Herr stieg so rasch aus, daß er fast gefallen wäre, und erschreckt eilte ihm seine Schwester entgegen. Der Senator schwenkte ein Telegramm in der Rechten und schrie nur so: »De Jong lewt, Stinning. De Jong lewt. He is all reddet, der leiwe God deit immer noch Wunners. De Jong lewt, Stinning.«

Und der Herr Senator faßte seine Schwester um die Taille und küßte sie auf die Wange und wollte sich dann mit ihr im Tanz schwenken.

Dürten ward durch den Lärm aus dem Haus gelockt und sah mit großer Verwunderung auf das seltsame Gebaren des Herrn Senators.

Frau Horsa war zwar sehr blaß geworden, doch nicht in Ohnmacht gefallen, aber eines Wortes war sie nicht mächtig, zu gewaltig stürmte das Unerwartete, das Ungehoffte, das unendliche Glück auf sie ein. Der Senator aber schrie wieder: »Dürten, hei lewt – de Henrik lewt!«

»Heww ick dat nich immer seggt?« versetzte Dürten nun mit dem ganzen Stolz einer Prophetin, deren Vorhersagungen eingetroffen sind, und die helle Freude strahlte aus dem derben, ehrlichen Gesicht.

»Heww ick dat nich immer seggt, Madam? Ick heww Henrik im Droom in'n swarten Sarg liggen sehn, un dat bedüt all immer langes Lewen.«

Rasch wurden der Mutter einige Erklärungen gegeben über die einem Wunder gleichende Rettung ihres Sohnes durch den »Roland«. Wer ein fühlendes Herz hat, kann sich die tiefe innere Freude der drei Menschen in dem kleinen Häuschen am Ende von Blankenese ausmalen. Und als gar Karl Holthaus dazukam und seinem unbändigen Jubel in lauten Rufen Luft machte, da lief die ganze Nachbarschaft zusammen. Der Senator mußte ihm endlich Ruhe gebieten, aber bald darauf wußte ganz Blankenese von dem Glück, welches im Hause von Henriks Mutter eingekehrt war.

Fritze Fischer

Inhaltsverzeichnis

Vor einem leichten Luftzug schaukelte der »Roland« auf den langen Grundwellen des Großen Ozeans südlich des Äquators in der Nähe der australischen Inselwelt.

Auf dem Vorderdeck standen der Erste Steuermann, Jan Findling, und neben ihm, in einfacher Matrosentracht, der, den er den Wellen der Nordsee entrissen hatte, Henrik Horsa. Beide schauten eifrig nach vorn aus.

Erst nach Wochen waren die Folgen einer starken Gehirnerschütterung so weit überwunden gewesen, daß der Jüngling Auskunft über sich, die Heimat und die Seinigen zu geben vermochte. Mit Überraschung vernahm der Kapitän, daß er in Henrik Horsa den Sohn eines vor Jahren verstorbenen Schiffskameraden, des Kapitäns Erich Horsa, vor sich hatte, dessen Witwe mit ihrem Kind in Blankenese lebte. Dies wandte natürlich dem Kranken des Kapitäns besondere Teilnahme zu. Als Henrik geistig und körperlich vollkommen hergestellt war, erkundigte Jansen sich bei ihm eingehend nach allen seinen Verhältnissen. Aus den Mitteilungen des Jünglings ging hervor, daß er nach dem Tod des früh entrissenen Vaters von einer zärtlichen Mutter in ihrem kleinen Witwenheim erzogen worden war. Dem von ihm, seitdem er denken konnte, leidenschaftlich gehegten Wunsch, den Beruf des Vaters ergreifen zu dürfen, stand der Wille der Mutter entgegen. Sie weinte noch immer um ihren im fernen Meer vor Jahren versunkenen Gatten und wollte den Einzigen nicht den treulosen Wellen anvertrauen. So bereitete sich Henrik, der das Realgymnasium absolviert hatte, gehorsam der Mutter, doch nicht mit rechter innerer Freude, auf den Beruf des Maschineningenieurs auf der Technischen Hochschule seiner Vaterstadt vor. Doch leidenschaftlich der See ergeben, liebte er es, in seiner Segeljacht die Elbe zu befahren und sich auch, gegen den Wunsch seiner Mutter, in die See hinauszuwagen. Sein Freund, Karl Holthaus, ein ruhiger und geübter Segler, nahm stets an diesen Fahrten teil, und nicht ganz nach seinem Wunsch mußte Henrik auch öfter seinen Vetter, Onno Steenberg, mitnehmen.

Nähere Auskunft über die Katastrophe, welche ihn in das Meer schleuderte, vermochte er nicht zu geben. Entweder hatten seine Gefährten ihn schon vorn geglaubt, oder das Tau war losgeglitten. Große Sorge hegte Henrik um seine Mutter, und er beschwor den Kapitän, alles aufzubieten, um ihr die Nachricht zugehen zu lassen, daß ihr Sohn noch am Leben sei. Da der Kapitän auf die brasilianische Küste abgehalten hatte, um von dort mit dem Passat nach der Kapstadt zu segeln, hatte sich erst an der Südspitze Afrikas Gelegenheit geboten, nach Hamburg Kunde von der Rettung Henriks zu geben.

Sobald Henrik hergestellt war, hatte er den Kapitän gebeten, ihn im Schiffsdienst zu verwenden, und dieser, seinen Wunsch erfüllend, hatte ihn der Wache des Obersteuermanns zugeteilt. Vom Kap aus wurde an die Reeder die Ankunft des »Roland« telegraphiert, und Henrik richtete eine Depesche an seinen Onkel Asmus, schrieb gleichzeitig seiner Mutter ausführlich und bat sie, ihm zu gestatten, auf dem »Roland« bleiben zu dürfen und erst mit diesem zurückzukehren. Der Kapitän hatte ihn anfangs mit dem nächsten Dampfer nach Hause schicken wollen, gab aber seinen Bitten, ihn an Bord zu behalten, endlich nach und schrieb gleichfalls ausführlich an die Mutter, ihr darlegend, daß wir überall in Gottes Hand seien, und daß Henrik sicher nicht auf so wunderbare Weise vor der Mündung der Elbe gerettet worden sei, um im Ozean ein frühes Grab zu finden; er bat selbst, den Jüngling zunächst unter seiner Obhut zu lassen.

Henrik schrieb auch von Kapstadt an seinen Freund Karl Holthaus, da er annahm, daß dieser und Onno sich gerettet hätten, was auch Findling für wahrscheinlich hielt. So blieb er, da er seiner Mutter den Trost geben konnte, daß er noch unter den Lebenden weile, freudigen Herzens an Bord.

Da sich Henrik bei seiner großen Vorliebe für das Seewesen von früher Jugend an mit dem Schiff und allen seinen Einrichtungen vertraut gemacht hatte, soweit das Modell eines Vollschiffes, welches er vom Vater her besaß, und seine Besuche an Bord der im Hafen liegenden Fahrzeuge es ermöglichten, kannte er fast jedes Tau und seinen Gebrauch. Seine Gewandtheit und Kühnheit ließen ihn bei seinem großen Eifer zu lernen bald mit aller Sicherheit im Takelwerk arbeiten, und selbst das Steuer war ihm schon früh anvertraut worden, obgleich das bei einem Segler ein sehr verantwortungsvolles Amt ist. Die Kenntnisse, welche er auf der Schule erworben, befähigten ihn nach kurzer Unterweisung durch den Ersten Steuermann, Berechnungen zu machen, wie sie der Schiffsoffizier anstellt, um Länge und Breite zu ermitteln. Vom Kapitän Herrn Findling zur Ausbildung anvertraut, fand er in diesem einen sorgsamen, obgleich strengen Lehrer. Und nicht nur Dankbarkeit fesselte Henrik an seinen Lebensretter, er gewann den ernsten, tüchtigen Seemann, der in noch jugendlichem Alter stand, er zählte erst sechsundzwanzig Jahre und war bereits Obersteuermann, aufrichtig lieb. Aber auch der Junge, der mit so großer Bereitwilligkeit jeden Dienst verrichtete, war vom Steuermann wie von den Matrosen gern gesehen. »Seemannsblut«, brummten die alten Blaujacken, wenn sie ihn mit Geschick einen gefährlichen Dienst in der Höhe verrichten sahen; sie kannten den Namen seines Vaters als den eines berühmten und kühnen Seefahrers.

So war Henrik Horsa, welcher neben dem Obersteuermann jetzt nach Ost, wohin der Bug des Schiffes stand, ausschaute, angeheuerter Leichtmatrose der Bark »Roland«. Die Tropensonne hatte ihn gebräunt, und er sah kräftiger aus als in der Heimat.

»Das ist Land da vorn, mein Junge«, sagte Findling, ein hochgewachsener schlanker Mann, dessen wohlgeformtes Gesicht mit seinem Ausdruck von Offenheit und Kühnheit sehr für ihn einnahm, indem er auf etwas, was einer Wolke ähnlich am Horizont lagerte, hindeutete, »nur kann ich dir nicht sagen, welche Insel wir vor uns haben«, setzte er mißmutig hinzu.

Er verschwieg, daß der Kapitän seit einigen Tagen die Karten und Instrumente unter Verschluß hielt und die Berechnungen allein machte. Jansen hatte seinen Offizieren erklärt, daß ihn die Pflichten gegen seine Reeder verhinderten, ihnen die Lage der Insel, auf welche sie zusteuerten, mitzuteilen, da diese nicht wünschten, daß eine gute Handelsquelle andern als ihm, ihrem Vertrauensmann, bekannt werde.

Die Steuerleute wußten zwar, daß das Schiff nordöstlich von Neuguinea stand, in der Nähe der diese große Insel umgebenden kleinern Inselwelt, aber seine genaue Lage kannte nur der Kapitän. Im Jahr 1870 war dieser Teil der Südseeinseln noch wenig erforscht, auch war keiner von den beiden Steuerleuten je in dieser Weltgegend gewesen, während Kapitän Jansen wiederholt Reisen hierher gemacht hatte. Es galt einen vorteilhaften Tauschhandel mit den Eingeborenen, um möglichst große Mengen der sehr wertvollen Kopra zu gewinnen. Der »Roland« hatte bereits die Admiralitätsinseln und Neuhannover angelaufen und an beiden Punkten nicht unerhebliche Quantitäten dieser Kopra erhandelt, doch wurden diese Inseln zu gleichem Zweck häufig von englischen Handelsschiffen besucht, so daß die Ausbeute dem Kapitän wenig lohnend schien. In Neuhannover hatte Jansen auch einen Eingeborenen, der erträglich Englisch sprach, als Dolmetscher für seinen demnächstigen Handelsverkehr gewonnen und war dann südlich gesteuert. Von der Zeit ab hatte er sich die Berechnung allein vorbehalten.

»Wenn meine geographischen Kenntnisse mich nicht täuschen, müssen wir auf die Salomonsinseln zusegeln«, äußerte Henrik.

Findling warf ihm einen Blick zu, in dem sich Überraschung widerspiegelte.

»Alle Wetter, Junge, du hast entweder eine gute Nase oder einen wunderbaren Lehrer in der Geographie gehabt.«

»Das letztere, Herr Obersteuermann; doch hatte mir der Kapitän früher erlaubt, seine Karten zu studieren, und da ich erfuhr, daß wir für diesen Teil der Welt bestimmt waren, habe ich mich eingehend mit den australischen Inselgruppen beschäftigt.«

»Es wird so sein, wie du vermutest, und wir steuern auf den verrufensten Teil dieser ganzen Inselwelt zu.«

»Warum verrufen, Herr Obersteuermann?« fragte Henrik.

»Die Salomonsinseln werden von ebenso verräterischen wie mordlustigen Kannibalen bewohnt, und das Geschäft, das wir zu unternehmen haben, muß sehr lohnend sein, wenn der Kapitän es wagt, diese Inseln anzulaufen.«

Nach einer Weile sagte er: »Sprich nicht darüber vor der Mannschaft, Henrik, es würde die Leute unruhig machen; der Alte ist übrigens ein vorsichtiger Mann, der sich nicht leicht in Gefahr begibt.«

»Selbstverständlich werde ich kein Wort darüber verlieren«, versprach Henrik, »der Kapitän hat ganz sicherlich gewichtige Gründe, seine Absichten vorläufig geheim zu halten.«

Findling ging hinab, um dem Kapitän Meldung abzustatten, daß in Südost Land in Sicht sei.

Jansen vernahm dies ohne Überraschung. Er sah seinen Ersten Steuermann einen Augenblick forschend an und fragte dann: »Wo glauben Sie, daß wir uns befinden?«

»Ich bin geneigt, anzunehmen, daß wir in der Nähe der Salomonsgruppe stehen, Kapitän.«

Der Kapitän ließ einen leisen Pfiff hören und lachte dann behaglich.

»Stimmt, Findling, haben die Salomonen vor uns, seid ein Seemann durch und durch. Ist Marholm«, dies war der Zweite Steuermann, »auch Eurer Meinung?«

»Ich habe mit ihm darüber nicht gesprochen.«

Der Kapitän ging einigemal in der Kajüte auf und ab und sagte dann gutmütig: »Sie sind verdrießlich, Findling, daß ich Ihnen ein Geheimnis aus Länge und Breite mache; es ist nicht Mißtrauen von mir, auf mein Wort, aber die Reeder haben durch einen Amerikaner von dem Platz, den wir besuchen, Kenntnis erlangt und es mir zur Pflicht gemacht, die Ortsbestimmungen als Geheimnis zu bewahren. Kann nicht anders, Findling.«

»Ich freue mich, zu hören, Kapitän, daß das Mißtrauen nur bei den Eigentümern des Schiffes zu Hause ist und nicht bei Ihnen, außerdem bin ich nicht neugierig.«

»Ich denke ein großes Geschäft mit den braunen Burschen zu machen und bald wieder von hier abzukommen.«

»Die Eingeborenen hier stehen in üblem Ruf.«

»Weiß, weiß, ein böses Gesindel. War schon voriges Jahr hier – ich bin vorsichtig, Findling. Lassen Sie uns an Deck gehen und einmal Ausschau halten.«

Beide gingen hinauf.

Da das Schiff des schwachen Windes wegen von oben bis unten mit Leinwand bedeckt war, mußten beide zum Vorderkastell gehen, um nach vorn Ausguck halten zu können. Der Kapitän hatte sein Glas mitgenommen und sah nach dem fernen Land, welches schon deutlich als solches zu erkennen war.

»Alles richtig, Findling. Lassen Sie zwei Strich mehr nach Süden halten, daß wir im Lee der Insel vorbeigehen. Wünschte, wir hätten eine Mütze voll Wind.«

Nach Seemannsart überflog er durch sein Glas noch den Horizont, ehe er wieder achter ging.

»Donnerschlag!« entfuhr es ihm plötzlich und eifrig hielt er das Glas auf eine Stelle gerichtet. Dann reichte er es Findling und sagte: »Sehen Sie einmal da über die Rüsthölzer weg.«

Der Obersteuermann nahm das Glas und hatte es kaum an die Augen gebracht, als auch ihm ein Ausruf der Überraschung entfuhr: »Das ist ein Wrack, Kapitän.«

»Ja, und im Sinken begriffen.«

Durch das Glas zeigte sich den Männern in etwa zwei Meilen Entfernung ein wenig über die Meeresfläche sich erhebender Schiffsrumpf, den zwei Maststumpfen überragten.

»Lassen Sie draufzuhalten, Findling.«

Findling gab dem Mann am Steuer den Befehl und ging wieder nach vorn. Der Kurs brauchte zu diesem Zweck nur wenig geändert zu werden und ein umlegen war nicht nötig, da sie den Wind fast von hinten hatten. Langsam kamen sie dem Wrack näher, welches sich auf der langen, regelmäßigen Dünung des Ozeans schwerfällig hob und senkte. Dann und wann wurden die Gläser dorthin gerichtet. Ein lebendiges Wesen wurde an Deck nicht wahrgenommen, dessen Lage über Wasser sich übrigens in der Zeit, welche sie zum Ansegeln brauchten, nicht im geringsten zu verändern schien. Als sie auf einige hundert Faden nahe gekommen waren, ließ der Kapitän das Großsegel backlegen, die Jolle aussetzen und forderte Findling auf, hinzurudern, um sich, wenn möglich, über den Namen des Schiffes Gewißheit zu verschaffen. Drei Matrosen, Henrik und Findling gingen in das rasch ausgeschwenkte und niedergelassene Boot, das unter kräftigen Schlägen schnell auf das Wrack zutrieb. Findling war ein zu erfahrener Seemann, um sich ohne weiteres in die Nähe eines Schiffsrumpfes zu wagen, der jeden Augenblick in die Tiefe gehen konnte. Er ließ daher sein Boot in einiger Entfernung langsam einen Kreis um das Wrack beschreiben und betrachtete aufmerksam das Deck und vor allem den Spiegel des Schiffes, der aber bereits zu tief im Wasser lag, um dessen Namen noch erkennen zu lassen. Da er die Überzeugung gewann, daß das Wrack durch eine bestimmte, augenblicklich nicht erkennbare Ursache mit seinem Deck noch über Wasser gehalten werde und sein Sinken zunächst nicht zu befürchten sei, ließ er an Bord rudern und stieg, das Bollwerk war weggerissen, an Deck des fremden Fahrzeuges. Die Wellen hatten ihr grausiges Zerstörungswerk vollbracht, zerrissene Wanten und Stage, welche mit einem Ende noch am Rumpf fest waren, lagen umher oder spielten im Wasser neben dem Schiff. Die Masten waren zur Hälfte gebrochen und nur ihre zersplitterten Enden ragten noch empor. Stengen und Rahen waren mit Segel- und Tauwerk weggespült, das Vollwerk nur an einigen Stellen noch erhalten. Alle Luken aber waren fest geschlossen. Ein Stück der eisernen Kombüse stand noch mittschiffs und in seinem Schutz lag der Rest eines gleichfalls eisernen wohlbefestigten Herdes. Findling ging, trübe gestimmt durch den Anblick einer Zerstörung, der den Untergang der Besatzung ankündigte, langsam darauf zu, sich überall umschauend, ob er nicht irgendwo den Namen des Fahrzeuges auf einem der Schiffsteile entdecken könnte. Als sein Blick in den schmalen Raum zwischen dem Rest der Kombüsenwand und dem Herd fiel, traf er auf einen regungslos daliegenden jungen Menschen, dessen Kopf auf der Balkeneinfassung der Schiffsküche ruhte. Er glaubte im ersten Augenblick, einen Leichnam vor sich zu sehen, trat aber doch näher, um sich zu überzeugen. Es war ein nur mangelhaft bekleideter schlanker Körper, auf den sein Auge fiel. Das Gesicht konnte er nicht erblicken, da es auf dem als Unterlage benutzten Arm ruhte. Er beugte sich nieder, um die Hand zu erfassen, und freudig zuckte er zusammen, als er sie berührte; sie war warm, der Strom des Lebens pulsierte noch.

»Henrik!« rief er. Sofort sprang dieser an Deck und stand neben ihm. Er erschrak nicht wenig, als er den Körper vor sich sah, doch rasch sagte Findling: »Er lebt noch, Junge, wunderbar genug«, und auch Henrik fühlte sein Herz freudig pochen.

Der Steuermann faßte den herabhängenden Arm und schüttelte ihn. Da hob sich das Gesicht, welches auf dem andern Arm ruhte, matt empor, und beide sahen in ein bleiches, verstörtes Antlitz, blaue Augen starrten sie wie die eines Schlaftrunkenen an und: »Nanu?« tönte es wie verwundert zu den beiden Männern empor.

»Gott sei Dank!« sagte Henrik, der noch nicht ganz überzeugt gewesen war, einen Lebenden vor sich zu haben, bei diesem Ausruf.

»Sind Sie der einzige hier an Bord?«

Der Gefragte sah sich um, als ob er seine Gedanken sammeln müsse und entgegnete dann im unverkennbaren Dialekt des Berliners: »Ick jloobe wohl – sie haben mir alleene uff die Entenpfütze jondeln lassen.«

Findling und Henrik lächelten über diese mit schwacher Stimme gegebene Antwort; auch in dieser entsetzlichen Lage verließ das Kind Spreeathens der Humor nicht.

»Kommen Sie, Ihre Not hat geendet.«

»So? Na, det is sehr anjenehm, denn een Pläsierverjnügen is et nich, det kann ick Ihnen sagen.«

Der starke Arm des Steuermanns half dem, wie es schien, gänzlich geschwächten und blaß und elend aussehenden Menschen auf die Beine; er mußte ihn halten, da er umzusinken drohte.

»Haben Sie nich een Tröppken Wasser – Herr – ick habe so 'n Durst –«

»Dann rasch an Bord – dieser Not kann abgeholfen werden. Befindet sich noch etwas hier, was Sie mitzunehmen wünschen?«

»Nee, Männeken, ick bin froh, wenn ick von die Jondel ab bin – det kluckst da drin«, er deutete auf Deck, »als wenn eener 'n Schlucken hat, un –«

Findling, aufmerksam gemacht, vernahm jetzt das Geräusch, auf welches der Berliner anspielte, und im Augenblick wurde ihm klar, daß nur die unter Deck zusammengepreßte Luft den Rumpf über Wasser hielt, daß diese Luft aber langsam entwich. Da er nicht länger, als nötig war, auf diesem dem Untergang geweihten Fahrzeug weilen wollte – jeder Augenblick, das Bersten einer Planke, konnte die Katastrophe herbeiführen – nahm er den jungen Menschen wie ein Kind auf den Arm, trug ihn zum Boot und die Matrosen setzten ihn nahe dem Steuer auf eine Bank. Findling und Henrik stiegen ein. »Los! Legt euch in die Riemen!« kommandierte der Obersteuermann, und von schnellen Schlägen getrieben, stand das Boot bald hundert Faden vom Wrack ab.

Eine dumpfe Explosion ließ sich von dorther vernehmen – das Deck war augenscheinlich gesprengt, die eingepreßte Luft entwich und der Rumpf versank in die Tiefe.

»Wir kamen und gingen zur rechten Zeit«, sagte aufatmend Findling.

In wenigen Minuten erreichten sie den »Roland«, der auf einer leichten Boleine abgehalten hatte und unweit stand. Der Berliner war ohnmächtig geworden und mußte an Deck gehoben werden, von wo aus der Kapitän das, was auf dem Wrack geschah, verfolgt hatte.

»Wasser!« rief Findling. Der Koch brachte schnell ein Gefäß voll und der Steuermann flößte dem Bewußtlosen einige Schluck ein. Der atmete tief auf und ein glückliches Lächeln erschien auf seinem bleichen Gesicht.

»Mehr!«

»Man nich tau veel«, sagte der Kapitän, der den magern, fast verschmachteten Burschen teilnahmsvoll betrachtete. Doch Findling goß ihm noch einige Löffel voll ein.

Der junge Mensch öffnete die Augen und sagte mit einem Seufzer inniger Befriedigung: »Schmeckt besser als die feinste Weiße. Jeben Sie mich noch eenen Schluck.«

»Nee, min Jong, teuf man. Du sollst noch genug Water hewwen, aber teuf man. Hast du denn Hunger, Kind?«

»Nee, bloß man jroßen Durst, den ick von meinem Onkel jeerbt habe, det eenzige, wat er mir hinterlassen hat.«

Wunderbar war die Wirkung der kleinen Menge Wasser, die man dem Schiffbrüchigen eingeflößt hatte. Neues Leben schien seine Glieder zu durchströmen, die Augen wurden lebendiger und der Ausdruck des Leidens verschwand nach und nach aus dem Gesicht.

Nach einiger Zeit gab man ihm wieder zu trinken und mehr als vorher.

»Unser Zimmerherr, der Doktor von de Philosophie, hat et immer jesagt, Wasser wär' det Beste – jetzt weeß ick, det er recht hatte!«

Der Kapitän und die Matrosen standen um den Geretteten und freuten sich des zurückkehrenden Lebens.

»Ein Seemann bist du wohl nicht, Junge?« fragte Jansen. Die zarten Hände, welche niemals rauhe Arbeit verrichtet zu haben schienen, rechtfertigten diese Frage.

»Nich de Bohne, ick bin Zuschneider.«

Herzlich lachte der Kapitän bei der nicht ohne Selbstgefühl gegebenen Antwort.

»Na, recht, mein Junge, es muß auch Schneider geben. Wie befindest du dich denn?«

»Een bißken dösig, sonst janz jut. Bitte noch um een Schluck.«

Wieder gab man ihm etwas Wasser.

»Kannst du mir sagen, wie dein Schiff hieß?« fragte der Kapitän, der begierig war, dies zu erfahren.

»Allemal. Et war der Rostocker Schoner ›Goliath‹, Kapitän Merks, von Sidney nach Hongkong, und von da sollte et weiterjehn. Denn kam der jroße Wind mit det Wellenjebrause, und die langen Mastenstangen knickten man so wie Haselruten. Die Herrn Seematrosen setzten sich, als et zu doll wurde und det Wasser schonst von unten rauf buddelte, in zwee Jondeln und dampften ab, und mir ließen se mitten mang det Wellenbad janz alleene.«

Der Bursche sagte dies mit einem Humor, der etwas bitter Schmerzliches an sich hatte; die Nachwirkung der ausgestandenen Todesangst und die Leichtlebigkeit der Berliner Natur kämpften hier miteinander.

»Was bist du denn für ein Landsmann?«

»Icke?« fragte er ganz erstaunt. »Een Berliner, klar. Fritze Fischer, Reezenjasse Numero siebenundzwanzig, vierte Stiege in't zweete Hinterhaus.«

»Es freut mich, Fritz Fischer, daß wir dich noch zeitig genug übergeholt haben. Nun geh hinunter, laß dir zu essen geben und schlafe dich aus. Später wollen wir mehr darüber reden.«

Mit großer Sorgfalt vom Koch bewirtet, kroch er dann nach vollendetem Mahle in die ihm angewiesene Koje und schlief mit den Worten: »Der liebe Jott verläßt keenen Berliner nich,« alsbald ein.

Die Entdeckung des Wracks und die Rettung des jungen Mannes wurden auf Deck noch lebhaft besprochen, während der »Roland« seinen Kurs wieder aufnahm, um die Insel, welche höher und höher aus dem Wasser stieg, links seines Weges liegen zu lassen. Der Wind, welcher aus West stand, frischte etwas auf, und das Schiff machte gute Fahrt. Der Kapitän, der das Auffinden des Wracks mit der ihm allein bekannten Länge und Breite und den von dem Schneider angegebenen Namen des Schiffes ins Logbuch eingetragen hatte, erschien wieder an Deck.

Kapitän Jansen hatte, wie bereits berichtet, in Neuhannover einen Eingeborenen an Bord genommen, einen hochgewachsenen, kräftigen Mann, der den ganzen Tag still an Deck saß und seine Pfeife rauchte. Der braune, stark tätowierte Geselle hatte das Interesse Henriks erregt, und da er auch einigermaßen mit dem Englischen vertraut war, hatte er sich wiederholt mit dem Insulaner zu unterhalten versucht, was bei der Wortkargheit Aturas – so nannte er sich – indessen sehr schwierig war.

Als der Kapitän durch das Glas eine neuauftauchende Insel betrachtet hatte, rief er Atura an, machte ihn auf das Land aufmerksam und unterhielt sich leise mit ihm. Die Antworten des Mannes schienen ihn zu befriedigen. Das Schiff blieb auf Südkurs und passierte nach einigen Stunden auch diese Insel, welche stattliche dicht bewaldete Berge zeigte. Und wiederum sprach der Matrose, der in den Vortopgeschickt war, Land an. Nach einigen Stunden war es deutlich, daß man hier eine Insel von beträchtlichem Umfang und hoch emporragenden Gebirgszügen vor sich hatte. Das Land lag über Backbord und erstreckte sich weithin von Nordwest nach Südost. Wenn man den Kurs beibehielt, mußte man in wenigen Stunden darauf laufen. Findling betrachtete die noch ferne Küste durch das Glas und rief dann dem Mann im Vortopzu, scharf nach weißem Wasser auszulugen.

Als Findling nach dem Achterdeck kam, wo Kapitän Jansen, eine Zigarre rauchend, auf und ab ging, fragte dieser, was er dem Mann zugerufen habe. Der Obersteuermann sagte es ihm.

»Nichts zu besorgen, Findling. Riffe finden sich zwar überall in diesen Gewässern, aber wir treffen, was die Küste da drüben angeht, bald auf eine Strömung, die uns von den Riffen abbringt. Lassen Sie die Buganker klarmachen, wir wollen zu Nacht an der Küste bleiben.«

»Zu Befehl, Kapitän«, und Findling ging, um die Anker klarmachen zu lassen, so daß sie auf den ersten Befehl niedergehen konnten.

Am Steuer stand während der Unterredung der beiden Befehlshaber ein alter wettergebräunter Seemann, der jedes Wort vernahm. Als er gewahrte, daß Findling die Anker gleich ausbringen ließ, flog ein Zug der Befriedigung über sein derbes Gesicht und er murmelte: »Er versteht's, der Junge.«

Dann handhabte er sein Rad ruhig und still wie bisher.

Der Koch meldete dem Kapitän, daß der gerettete Schneider ganz munter erwacht sei.

»Na, laß ihn achter kommen, ich will mir das Gewächs mal ordentlich betrachten.«

Gleich darauf tauchte Fritze Fischer aus dem Mannschaftslogis auf und ging nach hinten. Bekleidet war er, wie man ihn aufgefunden hatte, nur mit einem wollenen Hemd und einer leinenen Hose. Aber sein rascher Schritt verriet, daß er sich durch Nahrung und Schlaf wesentlich gekräftigt hatte. Bald stand er in bescheidener Haltung vor dem Kapitän. Der sonst ganz unverfrorene Berliner hatte auf seinen Seereisen gelernt, daß auf dem Hinterdeck und vor dem Kapitän die größte Ehrerbietung geboten sei. Jansen musterte den Jungen von oben bis unten. Fritz Fischer war mager und von schmächtiger Gestalt. Sein Gesicht, welches er in diesem Augenblick in ehrfurchtsvolle Falten gelegt hatte, nahm für ihn ein; es lag viel Gutmütiges und durch die etwas aufgestülpte Nase, den Ausdruck der wasserblauen Augen und der Mundwinkel, doch etwas Drolliges darin.

»Nun, wie fühlst du dich, Bursche?«

»Janz passabel, Herr Kapitän; ick habe sehr anständig gefuttert und een Schläfchen jemacht.«

»Kann ich mir denken«, sagte Jansen lächelnd. »Wie alt bist du?«

»Über achtzehn, Herr Kapitän.«

»Und Schneider deines Zeichens?«

»So is et«, er wollte hinzusetzen: »sagt Neumann«, schluckte es aber, als für die Person, vor der er stand, nicht geeignet, hinunter.

»Nun erzähle mir mal, wie du hierher in die Südsee kommst?«