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Transit 48 (Winter 2015 / Frühling 2016)

Rückkehr der illiberalen Demokratie?

Editorial

 

Jan-Werner Müller

Illiberale Demokratie?

 

Gábor Halmai

Der Niedergang der liberalen Demokratie mitten in Europa

 

Balázs Trencsényi

Geschichtspolitik und Regimebildung in Ungarn

 

István Rév

Freiheitsplatz, Budapest

 

Klaus Bachmann

Auf dem Weg in ein hybrides System

Die Ursachen der Machtübernhame der Partei Recht und Gerechtigkeit in Polen 2015

 

Soli Özel

Der Meister des Spiels

 

Vladimir Gel’man

Politik der Angst

Neue Formen politischer Repression in Russland

 

Maria Tomak

Schauprozesse als Teil der hybriden Kriegsführung Russlands

 

Maria Popova

Die Entwicklung der ukrainischen Justiz seit dem Maidan

 

Paul Ricœur

Die Stellung des Fremden

 

Oleg Sentsov

Schule

 

Über die Autorinnen und Autoren

 

Sabine Bitter / Helmut Weber

Grenzformalismen - Spielfeld, Österreich Dezember 2015. Photoessay

Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main.

Herausgeberin: Shalini Randeria

Gründungsherausgeber: Krzysztof Michalski †

Redaktion: Paweł Marczewski

Kurator des Bildteils: Walter Seidl

Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Hamburg), János M. Kovács (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien)

Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Fritz Stern † (New York)

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30

Website von Transit: Europäische Revue und Tr@nsit_online: www.iwm.at/transit

 

Transit erscheint zweimal im Jahr. Jedes Heft kostet 14 Euro (D). Transit kann im Abonnement zu 12 Euro (D) pro Heft (in D und A portofrei) über den Verlag bezogen werden.

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

 

ISSN 0938-2062

 

Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet. Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.

 

Nachweise: Der Artikel von Vladimir Gel’man erschien zuerst in russischer Sprache in der Zeitschrift Kontrapunkt, Nr. 1 (2015). Dem Beitrag von Paul Ricœur liegt ein 1996 verfasster Text zugrunde, der unter dem Titel »La condition d‘étranger« in dem Heft La pensée Ricœur (März-April 2006) der Zeitschrift Esprit wieder abgedruckt wurde; zur Vorgeschichte s. die entsprechende Anm. in der deutschen Fassung; © Comité éditorial du Fonds Ricœur. Die Erinnerungen von Oleg Sentsov wurden dem Band Rasskazy (Geschichten), Kiew: Laurus 2015, entnommen.

 

© 2016 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit/IWM

 

E-Book-Ausgaben 2016

ISBN 978-3-8015-0579-0 (epub)

ISBN 978-3-8015-0580-6 (mobi)

ISBN 978-3-8015-0581-3 (pdf)

 

EDITORIAL

 

»Die Diagnose vom Aufstieg der ›illiberalen Demokratie‹ war Symptom einer allgemeinen philosophischen und politischen Katerstimmung nach 1989: In den berauschenden Tagen, als der Staatssozialismus implodierte und die Welt geradezu demokratietrunken wirkte, hatte es den Anschein, als würden sich Mehrheitsprinzip, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte stets harmonisch zusammenfügen. Schon bald jedoch brachten Wahlen Mehrheiten hervor, die alle ihnen zur Verfügung stehende Macht nutzten, um Minderheiten zu unterdrücken und Grundrechte zu verletzen. Daraus ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit, den Liberalismus zu stärken, um die Gefahren für die Demokratie in Ländern einzudämmen, wo die politischen Kandidaten eine ›Winner-takes-all-Mentalität‹ an den Tag legen«, schreibt Jan-Werner Müller im einleitenden Essay der vorliegenden Ausgabe von Transit. Das Konzept der illiberalen Demokratie war der Versuch, die politischen Reaktionen auf die, wie manche meinen, uneingelösten Verheißungen von 1989 systematisch zu erfassen. Heute erleben wir ein Comeback des Begriffes als Bezeichnung für Regierungen, die von sich behaupten, den Willen der Bevölkerung losgelöst von den Fesseln des Rechtsstaats zu vollziehen. Er fungiert als nützliches Schlagwort zur Beschreibung der politischen Realität in Ländern, deren Regierungen auf Wirtschafts- und Flüchtlingskrisen mit Populismus, Nationalismus und Xenophobie antworten und die Grundpositionen des Liberalismus in Frage stellen.

Die Entsprechung ist scheinbar so passgenau, dass viele Kommentatoren dazu neigen, die »illiberale Demokratie« als eine zeitlose politische Kategorie wie »konstitutionelle Monarchie« oder »Tyrannei« zu verstehen. »Illiberale Demokratie« erscheint hier als eine Zwischenform von Herrschaft: nicht ganz demokratisch, weil die Rechte des Einzelnen und von Minderheiten nicht mehr vollumfänglich garantiert sind, aber auch nicht autokratisch, weil nach wie vor relativ freie Wahlen abgehalten werden. Diese ahistorische Sichtweise sieht freilich darüber hinweg, dass neue illiberale Regime wie diejenigen, die vor sechs Jahren in Ungarn und 2015 in Polen an die Macht gekommen sind, daran arbeiten, die Möglichkeiten für einen offenen und fairen politischen Wettbewerb einzuschränken, indem sie die öffentlich-rechtlichen Medien unter ihre Kontrolle bringen und die Verfassung ändern. Im Hinblick darauf erklärt Jan-Werner Müller am Anfang seines Beitrags mit Nachdruck: »Wer von ›illiberaler Demokratie‹ spricht, belässt Regierungen wie denen von Kaczyński und Orbán die Möglichkeit zu behaupten, ihre Länder seien nach wie vor Demokratien, nur eben keine liberalen. Beobachter von außen sollten sich unmissverständlich darüber im Klaren sein, dass hier die Demokratie als solche Schaden nimmt.«

Ist »illiberale Demokratie« lediglich ein Euphemismus, der autokratischen Regimen die Chance offenhält, sich nach außen weiterhin einen demokratischen Anschein zu geben? Gábor Halmais Essay zeigt, dass der Begriff durchaus sein kritisches Potential bewahren kann, wenn wir es vermeiden, Demokratie und liberale Werte voneinander zu trennen. Es mag zutreffen, dass der Liberalismus und die moderne Demokratie zur selben Zeit entstanden sind, aber sie stehen nicht zwangsläufig für dieselben Werte, wie Fareed Zakaria in seinem vielzitierten Essay »The Rise of Illiberal Democracy« von 1997 behauptete: In der Anfangsphase des neuzeitlichen Aufbruchs zur Demokratie bestand ein Spannungsverhältnis zwischen Volkssouveränität und den Freiheitsrechten des Einzelnen. Hingegen gehörten 1989 bestimmte freiheitliche Grundsätze längst zum Grundbestand der Demokratie. Wie Halmai darlegt: »Das Charakteris-tische des Systemwandels, das Ungarn mit anderen postsozialistischen Ländern gemeinsam hatte, bestand darin, dass es einen unabhängigen Nationalstaat, eine Zivilgesellschaft, eine private Wirtschaftsordnung und demokratische Strukturen in einem Zuge institutionalisieren musste.« Es war genau diese Kombination aus demokratischen Institutionen und liberalen Werten, der ein Viktor Orbán den Kampf ansagte: »Vor den Wahlen im Jahre 2010 waren die meisten Wähler unzufrieden, nicht nur mit der Regierung, sondern auch mit dem Übergangsprozess selbst, und das mehr als in jedem anderen mittelosteuropäischen Land. Fidesz verstärkte dieses Gefühl noch, indem er behauptete, dass es 1989/90 keine wirkliche Wende gegeben habe und die frühere Nomenklatura ihre verlorene politische Macht schlicht in wirtschaftlichen Einfluss konvertiert habe«. Dieser Argumentation zufolge sind liberale Werte nicht mehr unverzichtbarer Bestandteil der Demokratie, sondern nur noch ein Alibi für die Selbstbereicherung der Eliten. Die Tatsache, dass für das liberale Credo das Privateigentum ebenso wichtig ist wie die individuellen Freiheitsrechte, bleibt in der populistischen Propaganda wohlweislich ausgeblendet.

Wenn illiberale Demokratien ihre autokratischen Praktiken verbergen und sich nach außen hin als Demokratien darstellen, müssen sie die Illusion des politischen Wettbewerbs erzeugen. Das ist der Grund dafür, dass gefestigte illiberale Demokratien wie die ungarische unter Orbán politisierte und dramatisierte Versionen ihrer nationalen Geschichte aus der Versenkung holen. »In einem illiberalen politischen System ohne funktionierende parlamentarische Opposition, ohne Chance auf eine rationale Diskussion über politische Alternativen, kann sich eine populistische politische Rhetorik mit den Federn eines heroischen Ringens um die geschichtliche Identität des eigenen Volkes schmücken. Ein ›Herauskommen‹ ist nicht möglich: An die Stelle pragmatischer Handlungsalternativen treten die diskursiven Stilmittel der Dramatisierung und die theatralische Fokussierung auf die kollektive Identität, auf nationale Wesenheiten«, stellt István Rév fest. Auch Balázs Trencsényi warnt davor, die Vorliebe illiberaler Demokratien für die Vergangenheit nicht außer Acht zu lassen. »Der ›Orbánismus‹ ist von etlichen seiner Jünger und Kritiker als Aufruf zur ›Herrschaft über die Gegenwart‹ charakterisiert worden, doch wird diese Gegenwart stets nach vorn und zurück projiziert, ganz abgesehen davon, dass auch die Art und Weise, wie kollektive Erfahrungen interpretiert werden, d.h. welche Vergangenheiten ›verfügbar‹ sind, einen Einfluss darauf hat, wie die Gegenwart ›beherrscht‹ werden kann.«

Die Selbstdarstellung rechtspopulistischer Regime als Verteidiger der »wahren« nationalen Geschichte konnte man auch nach dem Wahlsieg der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) beobachten. Wie Klaus Bachmann bemerkt, sehen viele Anhänger der neuen Regierung »den Wahlerfolg von PiS als Ergebnis eines gesellschaftlichen Aufstandes gegen die (angeblich) faulen Kompromisse des Runden Tisches, als eine Art gesellschaftliches Misstrauensvotum gegen eine moralisch verkommene Ordnung, zu der nun nicht nur die Volksrepublik und das Establishment der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei von damals, sondern auch die Führungsriegen der Bürgerplattform und der Polnischen Bauernpartei und die angeblichen Nutznießer von deren Herrschaft gezählt werden.« Diese Erklärung – wie auch eine Reihe von anderen gängigen Versuchen, sich einen Reim auf den Erfolg von PiS zu machen  – hält Bachmann allerdings für unzureichend. Vielmehr liege dem »revolutionäre(n) Eifer, mit dem die neue Regierung (…) dabei ist, die Verfassungsordnung zu stürzen« ein Faktor zugrunde, der bisher zu wenig Beachtung gefunden habe: »das Drängen der (…) marginalisierten national-katholischen, traditionalistischen Eliten nach Respekt, Zugang zu staatlichen Ressourcen und Macht.« Auf diese Weise sei in Polen ein hybrides politisches System zwischen Diktatur bzw. Autoritarismus und liberaler Demokratie im Entstehen, in dem sich allerdings schon die ersten Risse abzeichnen.

Nicht alle illiberalen Regime der Gegenwart legen gleich großen Wert darauf, sich nach außen hin als Demokratien darzustellen und wenigstens den Anschein eines politischen Wettbewerbs aufrechtzuerhalten. Einige von ihnen zögern nicht, die Rede- und Meinungsfreiheit einzuschränken oder politische Opposition mit Gewalt zu unterdrücken. Wie Soli Özel in seinem Artikel über die heutige Lage in der Türkei ausführt: »Erdoğan ist bemüht, seine Position zu festigen und ein illiberal-autoritäres System zu schaffen, in dem der AKP die Führungsrolle zukommt. Unnachgiebig beharrt er auf der Etablierung eines Präsidialregimes möglichst ohne Kontrollmechanismen, das er ein Präsidialsystem alla turca nennt. Was ein solches System beinhaltet, wurde in den vergangenen Monaten spürbar, als die Zahl der Menschen, die wegen Verunglimpfung des Präsidenten angeklagt wurden, signifikant anstieg und Erdoğan es für angebracht hielt, Gerichtsentscheidungen zu widersprechen oder diese zu verurteilen, selbst solche des Verfassungsgerichts.« Maria Tomak berichtet über Schauprozesse gegen Bürger der Ukraine als Teil der hybriden Kriegsführung Russlands und gelangt zu der Einschätzung: »Gleichzeitig erlauben eben diese Fälle einen tiefen Blick in das Russland Putins – in seine Exekutivorgane und ihre Denkmuster von der Führungsebene bis in die untersten Ränge, in das Weltbild der Geheimdienste und ihre Methoden, in die Pläne der Kreml-Funktionäre samt der Frage, wie weit zu gehen sie bereit sind. Es scheint, dass noch die düstersten Prognosen über Russ-land sich als zu optimistisch erweisen.« Zu den politischen Gefangenen, die von der Krim nach Russland verschleppt wurden, zählt der bekannte Filmregisseur Oleg Sentsov, der im August 2015 zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. In seinem Beitrag zum vorliegenden Heft erinnert er sich an seine Schulzeit, aus der er eine wichtige Erfahrung mitgenommen hat: »In der Schule war ich dennoch nicht umsonst, sie hat mich trotz allem etwas gelehrt – nicht die Berechnung von Dreiecken, die ist für die Katz –, ich habe in der Schule gelernt, niemals aufzugeben und mir treu zu bleiben.« Vladimir Gel’man lässt keinen Zweifel daran, dass Gewalt als Mittel der Politik ins Arsenal bestimmter illiberaler Regime zurückgekehrt ist: »Die Mechanismen, mit denen der Kreml seine Widersacher bekämpfte, veränderten sich. In den 2000er Jahren hatten die Machthaber auf Kooptation und Isolation politischer und gesellschaftlicher Akteure gesetzt, die sich nicht mit der Regierungspolitik einverstanden zeigten. Jetzt wurden diese Methoden von einer ›Politik der Angst‹ abgelöst – demonstrative Einschüchterung derjenigen, die gegen das Regime auftraten, systematische öffentliche Diskreditierung von Kreml-Gegnern und selektive Verfolgung oppositioneller Aktivisten und ihrer Verbündeten.« Illiberale Demokratien mögen das von Jan-Werner Müller konstatierte Demokratiedefizit aufweisen, aber das bedeutet nicht, dass sie alle im gleichen Maße undemokratisch sind. Es ist und bleibt ein gravierender Unterschied zwischen denen, die die Möglichkeit des politischen Wettbewerbs durch Verfassungsänderungen zu beseitigen versuchen, und denen, die notorisch zum Mittel der gewaltsamen Repression greifen.

Das vorliegende Heft konzentriert sich auf die zunehmende Regression der Demokratie und den Aufstieg autokratischer Formen der Politik in Europa. Über der berechtigten Frage, ob wir Zeugen eines epidemischen Demokratieversagens sind, sollten aber die Anstrengungen nicht übersehen werden, die in einigen Ländern in die andere Richtung unternommen werden. So analysiert Maria Popova die Versuche, das Justizsystem der Ukraine nach dem Maidan 2014 zu reformieren. Obwohl ihre Bilanz nach zwei Jahren alles andere als positiv ausfällt, ist doch allein die Tatsache bemerkenswert, dass die ukrainische Zivilgesellschaft einen starken und beharrlichen Druck ausübt, um diese demokratische Schlüsselinstitution aus dem Griff von Politik und Privatinteressen zu befreien.

Der Flüchtlingsstrom aus fernen Kriegsregionen nach Europa und die xenophobischen Reaktionen, die er überall in Europa hervorgerufen hat, erfordern ein neues Nachdenken über den Reiz, den illiberale Politik offensichtlich ausübt. Es wäre ein Fehler, der beruhigenden Illusion aufzusitzen, solche Reaktionen träten nur in jungen Demokratien auf. Die Versuchung, einer Mehrheit die Regierungsmacht und die Entscheidung zu überlassen, wer zur Gemeinschaft gehört und wer nicht, ist immer und überall gegeben und bleibt zu oft unhinterfragt. Um sie zu problematisieren, müssen wir nach Überzeugung Paul Ricœurs über juristische Formulierungen hinausgehen, denn was bei einer »rein juristischen Analyse der Stellung des Fremden (…) ungesagt bleibt, ist die Natur des Verständnisses, das wir von uns selbst als Mitgliedern einer solchen nationalen Gemeinschaft haben. Indem wir uns über dieses Verständnis befragen, werden wir dazu gebracht, dem unmarkierten Begriff des Fremden zum ersten Mal einen Inhalt zu geben. Wir können in unserem Verständnis des ›bei uns‹ nicht vorankommen, ohne uns irgendeine Vorstellung von dem zu machen, was es für den Fremden bedeuten mag, ›bei sich‹ zu sein, ›daheim‹ zu sein.« Wenn wir uns weigern, uns mit diesen Fragen auseinan-derzusetzen, bleiben wir der Vorstellung des Staates als Territorium verhaftet, eines durch Zäune geschützten, aber jeder ethischen Bedeutung entkleideten Staates. In einer solchen Welt wird Autorität durch Gewalt ersetzt, Bürgersinn durch Gehorsam und das Gemeinwesen durch Demarkationslinien.

In dem Bemühen, ein politisches Gemeinwesen abzubilden, das aufgehört hat, sich die von Ricœur aufgeworfenen, existenziell wichtigen Fragen zu stellen, haben die Künstler Sabine Bitter und Helmut Weber eine Serie von Photos vom österreichisch-slowenischen Grenzübergang bei Spielfeld zusammengestellt. Wie die Künstler selbst dazu sagen: »Die Bilder sind entleert von solidarischen Akten der Hilfeleistung, während an den schwarzen Auslassungen und Fehlstellen bereits wieder vehement Gespenster nationalstaatlicher Konstruktionen und untergründige Affekte und Ressentiments von längst überkommen geglaubten Rassismen an die Oberfläche drängen.« Sieht so vielleicht die Wirklichkeit illiberaler Regime aus?

Wien, im Juni 2016

Jan-Werner Müller

ILLIBERALE DEMOKRATIE?

 

 

 

 

Externe Beobachter, nicht zuletzt die EU-Kommission, schlagen Alarm ob einer autoritären Wende in Polen. Seit ihrem Wahlsieg im Oktober 2015 hat Jarosław Kaczyńskis Partei »Recht und Gerechtigkeit« (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) in erstaunlichem Tempo das Verfassungsgericht entmachtet; sie ist zudem gegen andere unabhängige Institutionen wie das Beamtentum vorgegangen, und sie hat ganz unverblümt versucht, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter staatliche Kontrolle zu bringen. Die polnische Regierung, die einen klaren demokratischen Auftrag für sich beansprucht, steht offenbar kurz davor, das zu verwirklichen, was Kritiker als »illiberale Demokratie« bezeichnen, ähnlich dem, was Viktor Orbán und seine Partei, der Fidesz, so scheint es, in den letzten sechs Jahren in Ungarn geschafft haben. Doch diese Bezeichnung ist höchst irreführend und untergräbt in Wirklichkeit alle Versuche, Parteien wie die PiS oder den Fidesz im Zaum zu halten. Wer von »illiberaler Demokratie« spricht, belässt Regierungen wie denen von Kaczyński und Orbán die Möglichkeit zu behaupten, ihre Länder seien nach wie vor Demokratien, nur eben keine liberalen. Beobachter von außen sollten sich unmissverständlich darüber im Klaren sein, dass hier die Demokratie als solche Schaden nimmt.

Populär wurde der Begriff »illiberale Demokratie« in westlichen Politikkreisen Mitte der 1990er Jahre. Er sollte Regime beschreiben, die zwar Wahlen abhalten, in denen sich die Wahlsieger aber nicht an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit halten. In einem einflussreichen Artikel behauptete der amerikanische Journalist Fareed Zakaria, dass Regierungen mit genuinem Rückhalt in der Bevölkerung regelmäßig gegen die Prinzipien dessen verstießen, was er als »Verfassungsliberalismus« bezeichnet und wozu er politische Rechte, bürgerliche Freiheiten und Eigentumsrechte zählt. Die Diagnose vom Aufstieg der »illiberalen Demokratie« war Symptom einer allgemeinen philosophischen und politischen Katerstimmung nach 1989: In den berauschenden Tagen, als der Staatssozialismus implodierte und die Welt geradezu demokratietrunken wirkte, hatte es den Anschein, als würden sich Mehrheitsprinzip, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte stets harmonisch zusammenfügen. Schon bald jedoch brachten Wahlen Mehrheiten hervor, die alle ihnen zur Verfügung stehende Macht nutzten, um Minderheiten zu unterdrücken und Grundrechte zu verletzen. Daraus ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit, den Liberalismus zu stärken, um die Gefahren für die Demokratie in Ländern einzudämmen, in denen die politischen Kandidaten eine »Winner-takes-all-Mentalität« an den Tag legen.

Diese begriffliche Trennung zwischen Liberalismus und Demokratie war nicht wirklich neu. Sowohl linke als auch rechte Kritiker der »bürgerlichen Demokratie« bedienten sich ihrer schon lange. Ganz allgemein kann man sagen: Marxisten behaupteten, im Kapitalismus offeriere der Liberalismus lediglich »formale Freiheiten« und eine Art vorgetäuschter politischer Emanzipation, während er letztlich doch nur das schütze, was man oft als »Privatautonomie« der Bürger bezeichnete (das heißt, er sicherte ihren Status als Marktteilnehmer und übertrug dem Staat die Aufgabe, Verträge durchzusetzen). Auf der Rechten vertrat Carl Schmitt in den 1920er Jahren die Ansicht, der Liberalismus habe sich als Form politischen Denkens überholt: Im 19. Jahrhundert habe er dafür gesorgt, dass Eliten im Parlament vernünftig über Politik diskutierten, doch im Zeitalter der Massendemokratie seien Parlamente nichts weiter als Fassade für Mauscheleien zwischen den Vertretern von Partikularinteressen. Im Gegensatz dazu werde der echte Volkswille durch einen Führer wie Mussolini repräsentiert. Akklamation seitens eines homogenen Volkes wurde zum Erkennungsmerkmal wahrer Demokratie, die Schmitt als »Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden« definierte1. Nicht-gewählte Institutionen wie Verfassungsgerichte waren aus dieser Sicht als Hüter des Liberalismus zu verstehen – und als grundsätzlich undemokratisch.

Schmitt nahm zudem eine verhängnisvolle begriffliche Trennung vor zwischen der »Substanz« des Volkes auf der einen Seite und den empirischen Ergebnissen von Wahlen oder Meinungsumfragen auf der anderen. Es lohnt sich, Schmitt an dieser Stelle ausführlich zu zitieren, denn sein Denken erklärt viele aktuelle Wendungen hin zum Autoritarismus unter dem Deckmantel einer demokratisch klingenden Sprache:

Die einstimmige Meinung von 100 Millionen Privatmenschen ist weder Wille des Volkes, noch öffentliche Meinung. Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen. Vor einer, nicht nur im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und cäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Kraft und Substanz sein können.2

In jüngerer Zeit haben Kritiker einer angeblichen Hegemonie des Liberalismus nach 1989 – deren prominenteste Stimme vielleicht die von Chantal Mouffe ist – behauptet, das »rationalistische« liberale Denken leugne die Legitimität von Konflikt und Dissens, die der Demokratie immanent seien. Gleichzeitig hätten sozialdemokratische Parteien es aufgegeben, eine echte Alternative zum Neoliberalismus anzubieten; ihre Konvergenz auf einen »dritten Weg« habe bei den Wählern das Gefühl verstärkt, es gebe nur noch »Wahlen ohne Wahlmöglichkeit« (oder, wie Mouffe es in einem Interview formulierte, lediglich die Wahl zwischen Coke und Pepsi). Glaubt man ihr, so haben diese Konvergenz der politischen Parteien und der Druck, zu einem Konsens zu gelangen – der sich angeblich in den Demokratietheorien von John Rawls und Jürgen Habermas findet –, starke antiliberale Gegenbewegungen hervorgebracht, insbesondere in Gestalt eines rechten Populismus.

Jenseits dieser Debatten im Bereich der politischen Theorie steht »Liberalismus« zumindest in Europa inzwischen für einen zügellosen Kapitalismus und für die Vorstellung, es gehe vor allem darum, die Freiheit persönlicher Lebensstile zu maximieren. Nach der Finanzkrise nutzte eine neue Welle selbsterklärter Antiliberaler die Mehrdeutigkeiten im Zusammenhang mit dem »L-Wort«, um für eine andere Form von Demokratie zu plädieren: Der ehemalige türkische Ministerpräsident und seit 2014 Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan präsentiert sich als »konservativer Demokrat«, der sich auf traditionelle islamische Moral beruft; der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán verkündete 2014 in einer von vielen zu Recht als skandalös empfundenen Rede, einen »illiberalen Staat« schaffen zu wollen. Und jüngst, während der Flüchtlingskrise, verkündete er, die Zeit des »liberalen Gequatsches« – Orbáns eigener Ausdruck – in Europa sei vorbei und der Kontinent werde auf seine, Orbáns, »christliche und nationale« Vorstellung von Politik einschwenken. Illiberalismus soll hier offenkundig für zweierlei stehen: für Widerstand gegen einen hemmungslosen Kapitalismus, wo immer nur die Starken gewinnen, und gegen eine Ausweitung von Rechten für Minderheiten wie etwa Homosexuelle. Es geht – angeblich – um Einschränkungen von Markt und durch Moral.

Nun ist »illiberale Demokratie« nicht zwangsläufig ein Widerspruch in sich. Im 19. und 20. Jahrhundert hätten sich viele europäische Christdemokraten als »illiberal« bezeichnet; womöglich wären sie sogar beleidigt gewesen, wenn man ihren strammen Antiliberalismus in Frage gestellt hätte. Das heißt freilich nicht, dass sie nicht begriffen hätten, wie wichtig Minderheitenrechte für eine funktionierende Demokratie sind (schließlich könnten Minderheiten bei der nächsten Wahl die Mehrheit stellen), oder dass sie nicht-gewählte Institutionen wie Gerichte für undemokratisch gehalten hätten. Der Grund war schlicht, dass sie »Liberalismus« mit Individualismus, Materialismus und, sehr oft, Atheismus in Verbindung brachten – man denke nur an den Franzosen Jacques Maritain, einen führenden katholischen Philosophen des 20. Jahrhunderts und einen der Mitverfasser der UN-Menschenrechtserklärung: Er behauptete, die Demokratie lasse sich aus spezifisch katholischen Gründen gutheißen, während der Liberalismus abzulehnen sei. Für Denker wie ihn bedeutete »antiliberal« zu sein keinen mangelnden Respekt vor grundlegenden politischen Rechten, sondern signalisierte Kritik am Kapitalismus – auch wenn Christdemokraten die Legitimität von Privateigentum als solchem nicht in Frage stellten – sowie die Betonung eines traditionellen, patriarchalen Familienbilds.

Es kann, wie im Falle von Maritain, durchaus nicht-liberale philosophische Begründungen der Demokratie geben. Und es kann traditionelle Gesellschaften geben, in denen das Recht auf Abtreibung und das Recht auf Eheschließung stark eingeschränkt sind. Gleich, wie man dazu steht, wäre es seltsam, würde man solche Einschränkungen direkt als einen Mangel an Demokratie interpretieren: Wenn überhaupt, dann könnte man von relativ intoleranten – in diesem Sinne: illiberalen – Gesellschaften sprechen, aber das ist etwas anderes als eine illiberale Demokratie. Wir müssen unterscheiden zwischen illiberalen Gesellschaften und Szenarien, in denen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Pluralismus der Medien und der Minderheitenschutz bedroht sind. Bei diesen politischen Rechten geht es nicht einfach nur um Liberalismus (oder Rechtsstaatlichkeit). Sie sind vielmehr für die Demokratie als solche konstitutiv. Selbst wenn beispielsweise die herrschende Partei am Wahltag keine Wahlfälschungen vornimmt, kann eine Abstimmung doch undemokratisch sein, wenn die Opposition ihre Anliegen nicht angemessen vortragen kann und Journalisten daran gehindert werden, über die Fehler der Regierung zu berichten. Selbst für die minimalistischste Definition von Demokratie – im Wesentlichen meint das Demokratie als Mechanismus, der einen friedlichen Machtwechsel garantiert – ist es unabdingbar, dass sich die Bürger angemessen über Politik informieren können; andernfalls können Regierungen nicht wirklich zur Verantwortung gezogen werden. Es ist deshalb kein Zufall, dass viele der neuen Demokratien nach 1989 Verfassungsgerichte installierten, um grundlegende politische Rechte zu schützen und den Pluralismus in Politik und Gesellschaft zu sichern. Solche Gerichte, so die Argumentation, würden letztlich dazu beitragen, dass die Demokratie als solche gut funktioniert (und nicht nur »der Liberalismus«).

Wenn Kritiker weiter auf dem Begriff der »illiberalen« Demokratie beharren, werden Figuren wie Orbán schlicht und einfach in die Hände klatschen und sagen: »Vielen herzlichen Dank!« Denn die vermeintliche Kritik bestätigt den ungarischen Premier als das, was er ja gerade sein will: ein Gegner des Liberalismus. Gleichzeitig behalten er und Kaczyński das Etikett der »Demokratie«, das, bei allen Enttäuschungen des letzten Vierteljahrhunderts, noch immer das wichtigste Ticket zur Anerkennung auf der Weltbühne darstellt. Und aus der Sicht solcher autoritären Staatslenker ist nur zu begrüßen, dass der Ausdruck »illiberale Demokratie« eine normative Arbeitsteilung bestätigt, bei der die Nation für die Demokratie sorgt und die EU für den Liberalismus. Umso leichter kann man dann behaupten, die EU sei ein Agent von zügellosem Kapitalismus und libertärer Moral (die homophoben EU-Gegner in Russland haben dafür den Begriff »Gayropa« geprägt). Und nationale Demokratien lassen sich dann so darstellen, als würden sie sich im Namen von Vielfalt und Minderheitenrechten einem hegemonialen Liberalismus widersetzen, nach dem Motto: »Wir Ungarn, Polen usw. sind eine Minderheit in der EU, die an traditionelle Moralvorstellungen glaubt und sich nicht dem gleichmacherischen liberalen Universalismus unterwirft, wie ihn die westlichen liberalen Eliten propagieren.« Man denke nur an den polnischen Außenminister Witold Waszczykowski, der sich am 3. Januar 2016 in einem Interview mit der Bild-Zeitung gegen die Tendenz »zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die (…) gegen jede Form der Religion kämpfen«, verwahrte. Hier, so hat es den Anschein, verteidigt sich eine verfolgte Minderheit.

Was ergibt sich daraus? Wir sollten aufhören, im Falle von Ländern wie Ungarn oder Polen gedankenlos von »illiberaler Demokratie« zu sprechen. Europas neue Autoritäre fügen der Demokratie als solcher Schaden zu, und die Tatsache, dass sie Wahlsiege errungen haben, verschafft ihren Projekten nicht automatisch demokratische Legitimität (insbesondere weil sie in den Wahlkämpfen, die sie an die Macht brachten, die dann ins Werk gesetzten weitreichenden Verfassungsänderungen mit keinem Wort erwähnt hatten). Zwar haben sie die Wahlen zunächst offen und ehrlich gewonnen, doch einmal an der Macht, begannen sie damit, im Namen des angeblich »wahren Volkes« (das ihren politischen Widersachern gegenübergestellt wird, die automatisch als Landesverräter gebrandmarkt werden) an der institutionellen Maschinerie der Demokratie herumzumanipulieren. »Das Volk«, so die Annahme, ist ein homogenes Ganzes und kann authentisch nur von der PiS bzw. dem Fidesz vertreten werden. In Schmitt’scher Begrifflichkeit gesprochen: Die symbolische Substanz siegt über die bloße Zahl (an Wählerstimmen), die sich mittels des »statistischen Apparats« ermitteln lässt; der angeblich authentische nationale Wille triumphiert über Verfahren und delegitimiert jegliche Opposition. Ein PiS-Abgeordneter hat das vor Kurzem so formuliert: »Das Wohl der Nation steht über dem Gesetz.« Orbán verteidigte seine neue Verfassung mit folgenden Worten:

Das Volk hat dem ungarischen Parlament (…) guten Rat gegeben, eine gute Anweisung erteilt [die Verfassung so auszuarbeiten], die es auch befolgt hat. In diesem Sinne richtet sich Kritik an der ungarischen Verfassung (…) nicht an die Regierung, sondern an das ungarische Volk. (…) Anders als sie uns glauben machen wollen, hat die Europäische Union kein Problem mit der Regierung (…); die Wahrheit ist: Sie greifen Ungarn selbst an.3

Es spielt keine Rolle, dass die Verfassung nie durch ein Referendum ratifiziert wurde und weiter umstritten ist. Entscheidend ist, dass sie angeblich das »ungarische Volk« repräsentiert, das seinerseits nur wirklich vom Fidesz repräsentiert werden kann, der einzigen Partei, die für die 2012 in Kraft getretene Verfassung gestimmt hat. Der Rechtswissenschaftler Dieter Grimm hat solche in hohem Maße parteiischen Grundgesetze als »exklusive Verfassungen« bezeichnet – Verfassungen, die nur von einer politischen Seite verabschiedet werden und die ausschließlich dieser Seite nützen. Sie verzerren offensichtlich den demokratischen Prozess.

Wenn eine populistische Partei über eine ausreichende Mehrheit verfügt, ist sie in der Lage, eine neue Verfassung mit der Begründung zu verabschieden, man müsse den Staat auf die »wahren Ungarn« oder die »wahren Polen« ausrichten, die den postkommunistischen oder liberalen Eliten entgegengestellt werden, welchen vorgeworfen wird, das eigene Volk auszuplündern. Natürlich ist es dabei hilfreich, dass diese Eliten oftmals gleichzeitig für wirtschaftlichen Liberalismus, für eine pluralistische und tolerante »offene Gesellschaft« sowie für den Schutz grundlegender Rechte stehen (darunter auch jener, die konstitutiv für die Demokratie sind). Orbán kann dann die offene Gesellschaft kritisieren, indem er sagt: »Es gibt keine Heimat mehr, nur noch einen Investitionsstandort.« Und in Polen kann man die Wirtschaftsinteressen Deutschlands, die angeblich teuflische »Genderideologie« sowie die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Verfassung verteidigen, alle in einen Topf werfen und attackieren. Kurz: Antikapitalismus, kultureller Nationalismus und autoritäre Politik werden unauflösbar miteinander verwoben.

Angesichts dessen ist ein allzu weit gefasster Demokratiebegriff für das Verständnis der politischen Realität, mit der wir es hier zu tun haben, genauso wenig hilfreich, wie eine allzu weit gefasste Vorstellung von Autoritarismus problematisch sein und unbeabsichtigte politische Folgen haben kann. So wie die Regierungen in Ungarn und Polen sich darüber freuen können, dass sie in den Augen westlicher Kritiker, die das Wort von der »illiberalen Demokratie« im Munde führen, noch immer Demokratien sind, so werden hochgradig repressive Regime glücklich darüber sein, dass sie sich in derselben Kategorie wie Ungarn und Polen wiederfinden, wenn umstandslos alles in einen Topf namens »Autoritarismus« geworfen wird. In den beiden letztgenannten Ländern ist es weiterhin möglich, auf der Straße zu demonstrieren, kritische Blogs zu veröffentlichen oder neue politische Parteien zu gründen. Das Spiel ist manipuliert, aber für die populistischen Regierungsparteien gibt es – noch – das Risiko, eine Wahl zu verlieren. Deshalb wäre eine Bezeichnung wie »defekte Demokratie« zutreffender. Die Demokratie ist hier ernsthaft beschädigt und muss repariert werden, aber es wäre irreführend, von einer Diktatur zu sprechen.

Auch die EU sollte sich darüber im Klaren sein, was sie tut, wenn sie sich mit vermeintlich »illiberalen Demokratien« wie Ungarn und Polen befasst. Die meisten ihrer diesbezüglichen Aktivitäten erfolgten bislang im Namen eines »Schutzes der Rechtsstaatlichkeit«. Der neue Ansatz der EU-Kommission, der 2014 vorgestellt wurde, trägt die Bezeichnung »Rechtsstaatsmechanismus«; er möchte zunächst einen Dialog über Rechtsstaatlichkeit mit einem Mitgliedsstaat in Gang setzen, der im Verdacht steht, gegen die in Artikel 2 des EU-Vertrags festgeschriebenen Werte zu verstoßen.4 Nun gehört die Rechtsstaatlichkeit zu diesen Werten (wobei man besser von »Prinzipien« sprechen sollte, aber eine solche philosophische Diskussion würde an dieser Stelle zu weit führen), und in vielen ihrer Veröffentlichungen hat die EU-Kommission darauf hingewiesen, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eng miteinander verknüpft sind – das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Doch die Betonung der »Rechtsstaatlichkeit« im öffentlichen Diskurs hat vermutlich das Gefühl noch verstärkt, dass sich die EU nur um den Liberalismus kümmert, während für die Demokratie der Nationalstaat zuständig ist. Die EU-Akteure sollten daher unterstreichen, dass es ihnen um die Demokratie ebenso geht wie um den Schutz der Rechtsstaatlichkeit.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt. Kritiker der Entwicklungen in Ungarn und Polen sollten bedenken, dass »Liberalismus« in der Region nicht nur als knallharter marktwirtschaftlicher Wettbewerb erfahren wurde, sondern auch als Vehikel für mächtige westeuropäische Interessen. Ungarn erlebte tiefe sozialstaatliche Einschnitte; dies ermöglichte es Orbán, sich erfolgreich als starker Führer präsentieren, der bereit ist, Unternehmen zu verstaatlichen und mithilfe des Staates die einfachen Menschen vor multinationalen Konzernen zu schützen (auch wenn die Realität ganz anders aussieht: Der Sozialstaat wird weiter beschnitten; gleichzeitig wuchert die Korruption). Bevor er sich der Ideologie des »illiberalen Staates« verschrieb, sprach der Fidesz-Chef gar von einer »plebejischen Demokratie«. Das ist Propaganda, aber sie verfängt, weil die Menschen die Zeit nach 1989 als eine Konvergenz von politischem, ökonomischem und moralischem Liberalismus erlebten. Wenn etwas, das die Bezeichnung Liberalismus trägt, den Eindruck erweckt, als hätten nur die Sieger etwas davon, dann müssen Liberale neu nachdenken. Der ehemalige ungarische Dissident G. M. Tamás hat das schon 2009 so formuliert: »Wir, die Crème ganz oben drauf, feierten den Triumph von Freiheit, Offenheit, Pluralität, Phantasie, Vergnügen und all diesen Dingen. Das war frivol, und ich schäme mich zutiefst dafür.«5

In diesem Sinne müssen sich diejenigen, die die Demokratie gegen die neuen Autoritären verteidigen, ehrlich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass auch mit den real existierenden Demokratien in Westeuropa und Nordamerika nicht alles zum Besten steht. Sicherlich handelt es sich nicht um bloße »Fassadendemokratien«, wie der Soziologe Wolfgang Streeck jüngst behauptet hat. Sie sind nicht von jeweils einer einzigen Partei »gekapert« worden, die das gesamte politische System zu ihren Gunsten umzumodeln versucht, wie das in Ungarn der Fall ist. Doch leiden sie zunehmend unter dem Defekt, dass schwächere gesellschaftliche Gruppen nicht am politischen Prozess teilhaben und ihre Interessen nicht wirksam repräsentiert sehen. Auch hier wäre es zu kurz gegriffen, wollte man dieses Problem einfach mit der bewussten Beschneidung von für die Demokratie konstitutiven Rechten und mit dem Ausschluss von oppositionellen Kräften erklären, wie oben analysiert. Es kann, anders als in der Situation, nach der Fidesz und PiS offenkundig streben, noch immer zu wirklichen Machtwechseln kommen. Die Gegensätze zwischen den Konkurrenten um die Macht belaufen sich auf mehr als nur den Unterschied zwischen Coke und Pepsi, doch Kritiker wie Mouffe verweisen zu Recht auf einen Punkt, der nach einer Antwort verlangt. David Ost hat das mit Blick auf den PiS-Wahlsieg 2015 in aller Deutlichkeit formuliert: »Das Problem (…) ist nicht, dass die Menschen sich nicht für die Demokratie einsetzen. Ja, es stimmt, jede Menge Menschen engagieren sich heute nicht für die Demokratie, aber sie tun das deshalb nicht, weil sie das Gefühl haben, dass die Demokratie, neoliberal verpackt, sich nicht für sie einsetzt.«6 Eine Verteidigung der Demokratie muss dieser Herausforderung heute ebenso gerecht werden wie der Aufgabe, die hohlen Versprechen der »plebejischen Demokratie« und des »illiberalen Staates« zu entlarven.

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

 

 


1 Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 234.

2 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (2. Aufl. 1926), Berlin 1991, S. 22f.

3 Zitiert in Agnes Batory, »Populists in government? Hungary’s ›system of national cooperation‹«, in: Democratization 23, 2016, S. 283-303; deutsche Übersetzung zitiert nach Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016, S. 79.

4 »Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips«, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52014DC0158&from=EN.

5 Interview mit G. M. Tamás, »Hungary – ›Where we went wrong‹«, in: International Socialism Journal, Nr. 123, 24. Juni 2009, http://isj.org.uk/interview-hungary-where-we-went-wrong/.

6 David Ost, »Regime Change in Poland, Carried Out From Within«, in: The Nation, 8. Januar 2016.

Gábor Halmai

DER NIEDERGANG DER LIBERALEN DEMOKRATIE MITTEN IN EUROPA

 

 

 

 

Einleitung

In diesem Beitrag möchte ich die Grundzüge des kürzlich erfolgten Übergangs Ungarns von einem liberalen zu einem illiberalen demokratischen System sowie die wahrscheinlichen Gründe dafür beschreiben und sowohl die spezifischen als auch die allgemeineren Merkmale dieses Wandels erklären. Was die entscheidenden Punkte im Hinblick auf die aktuellen Geschehnisse in Ungarn betrifft, so ist die eine das Versagen der Elite (zu der ich mich ebenfalls zähle), die die liberale Demokratie in Ungarn errichtet hat.1 Die andere Frage lautet, warum den rechtsstaatlichen Werten in den ersten 20 Jahren des Systemwechsels keine größere Achtung verschafft werden konnte. Dies hätte den raschen Abbau der Demokratie verhindert oder ihn zumindest schwieriger gemacht.

Gleichzeitig stellt die Situation in Ungarn, vor allem im Zuge der Flüchtlingskrise, einen Test dar, der zeigt, ob und bis zu welchem Grad die zivilisierte Welt – und dabei besonders die europäischen Institutionen –  in der Lage sein wird, globale Werte in solchen Ländern durchzusetzen, die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft und ebenso wertebasierter Gemeinschaften wie etwa der Europäische Union und der Europarat sind. Die Ergebnisse dieses Tests können wohl kaum als Erfolg gewertet werden. Die spärlichen Zugeständnisse der ungarischen Regierung kamen nicht durch die Entschlossenheit der europäischen Institutionen oder die Beharrlichkeit ihrer Mechanismen zur Durchsetzung von Werten zustande, sondern resultierten aus den Imperativen der ökonomischen Lage des Landes: Ungarn lehnt die Werte der Europäischen Union ab, braucht aber ihr Geld. Die Unfähigkeit Europas zu einer angemessenen Verteidigung seiner gemeinsamen Werte öffnete Kräften Tür und Tor, die im Sommer 2012 den rumänischen Rechtsstaat zu ersticken drohten, nachdem ebensolches in Ungarn bereits geschehen war und seit Herbst 2015 in Polen im Gange ist. Sollte die Europäische Union angesichts der Wirtschafts- und der Flüchtlingskrise, in der Ungarn sich auf die Seite anderer mittelosteuropäischer Staaten geschlagen hat, nicht in der Lage sein, diese Länder zu zwingen die europäischen Werte zu respektieren, werden die Aussichten für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie noch schlechter sein, als sie bereits jetzt erscheinen.

Die »rechtsstaatliche Revolution« von 1989 und die »konstitutionelle Konterrevolution« nach 2010

Das Charakteristische des Systemwandels, das Ungarn mit anderen postsozialistischen Ländern gemeinsam hatte, bestand darin, dass es einen unabhängigen Nationalstaat, eine Zivilgesellschaft, eine private Wirtschaftsordnung und demokratische Strukturen in einem Zuge institutionalisieren musste.2