image

Ross Thomas, Protokoll für eine Entführung

image

Ross Thomas, geboren 1926 in Oklahoma, verarbeitete seine vielfältigen beruflichen Erfahrungen in seinen Politthrillern, in denen er vor allem die Hintergründe des (amerikanischen) Politikbetriebs entlarvt und bloßstellt. Ihm wurde zweimal der Edgar Allan Poe Award und mehrmals der Deutsche Krimi Preis verliehen. Bis zu seinem Tod 1995 entstanden 25 Romane.

Ross Thomas veröffentlichte fünf Romane mit der Hauptfigur Philip St. Ives unter dem Pseudonym Oliver Bleeck. In dem Radio-Feature Der Faktor Mensch (SWR, 2002) von Roland Oßwald und Florian Sedlmeier heißt es, sein Verleger habe ihn um die Benutzung eines Pseudonyms gebeten, weil Thomas seiner Meinung nach zu schnell für den Markt schrieb und weil sich – ebenfalls nach Meinung des Verlegers – der Held, Philip St. Ives, aus dem ersten Roman Der Messingdeal gut in Serie verkaufen könnte. In dem Feature verweist Ross Thomas lachend auf das trübe (bleak) Wetter an dem Tag, als er nach einem Namen suchte. Nach anderen Quellen spielt er auf Bleak House des erfolgreichen »Serienautors« Charles Dickens an.

Ross Thomas

Protokoll für eine
Entführung

Ein Philip-St. Ives-Fall

Aus dem Amerikanischen von Wilm W. Elwenspoek
Bearbeitet von Jana Frey und Jochen Stremmel

image

Die Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag Berlin
Herausgegeben von Alexander Wewerka

Erste vollständige deutsche Ausgabe 2016

Die stark gekürzte deutsche Erstausgabe erschien 1971 unter dem Titel Kopfpreis eine Million im Ullstein Verlag, Frankfurt a. M./Berlin. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1971 unter dem Titel Protocol for a Kidnapping. © Mysterious Press.com/Open Road Integrated Media, Inc.

© für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2016

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin

info@alexander-verlag.com · www.alexander-verlag.com

Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-89581-437-2 (eBook)

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

1

In Washington schneite es, und ich hatte dreißig Minuten Verspätung, als das Taxi mich auf der 21st Street vor dem Eingang der siebengeschossigen Ungeheuerlichkeit aus Glas und – wie es schien – getrocknetem Schlamm absetzte, die das amerikanische Außenministerium vor den Elementen, wenn schon nicht vor dem Kongreß schützte.

Ich hatte Easterns Neun-Uhr-Shuttle von LaGuardia genommen, und trotz des Schnees war er nur eine Dreiviertelstunde zu spät gelandet, was nicht schlecht war, aber die Taxis waren verschwunden, und es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis ich eins bekam. Die Washingtoner Autofahrer waren wie immer erstaunt, daß es so weit im Süden schneite, wenn man jedoch darauf hinwies, daß Washington etwa genausoweit im Norden lag wie Denver, glaubte einem das niemand.

Ich zählte elf Unfälle auf dem Weg vom National Airport und erinnerte mich daran, daß das Thermometer kurz davor gestanden hatte, alle Hitzerekorde für August zu brechen, als ich das letzte Mal hier war. So wie ich es sehe, werden der Hauptstadt der Nation zwei Tage Frühling und drei Tage Herbst zugeteilt. Sonst ist es entweder Sommer oder Winter.

Ein schwarzer Wachmann an einem Schreibtisch unmittelbar hinter dem braunen Marmoreingang wollte wissen, wer ich war, wohin ich ging und wen ich sehen wollte. Wenn er mich gefragt hätte, warum, hätte ich kehrtgemacht und wäre nach New York zurückgefahren. Aber darauf verzichtete er, und eine Empfangsdame trug meinen Namen unter jemandem namens Emanuel Cory ein. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock und verlief mich nur zweimal, bevor ich Zimmer 3931 fand. An einigen Türen waren Grußkarten zum Valentinstag angeklebt, und ich fand diesen menschlichen Zug merkwürdig beruhigend. Bei Zimmer 3931 hing nichts an der Tür, nicht einmal ein Namensschild, also trat ich ein, ohne anzuklopfen. Die Tür schien es nicht zu verdienen.

Die aschblonde Frau saß hinter einem Sekretariatsschreibtisch, der abgesehen von einer Schreibunterlage, einem Telefon, einem Kalender und ihren gefalteten Händen leer war. Hinter ihr stand eine elektrische Schreibmaschine, aber sie war abgedeckt. Sie war um die Dreißig, trug eine große farbige Brille mit Metallrahmen, nicht viel Make-up, ein graues Tweedkleid und den geduldigen Ausdruck eines Menschen, der viel Zeit mit Warten verbracht hat.

»Philip St. Ives«, sagte sie. Es war eher eine Bemerkung als eine Frage.

»Ja.«

»Möchten Sie nicht bitte Platz nehmen.« Sie zeigte auf einen der beiden Stühle im Raum. Ich setzte mich und sah mich um, während sie das Telefon nahm und eine einzelne Ziffer wählte. Es gab die beiden Stühle, einen grünen Teppich und ein gerahmtes Bild der Flagge, die im Wind wehte. Ich fand es nicht so beruhigend wie die Valentinsgrüße.

»Mr. St. Ives ist da«, sagte sie ins Telefon, lauschte einen Augenblick, legte auf und wandte sich dann mir zu. »Durch diese Tür«, sagte sie mit einer knappen Handbewegung.

»Hätte ich nur gewußt, was dahinterliegt«, murmelte ich.

»Ja«, sagte sie, lächelte strahlend, faltete die Hände und legte sie vor sich auf die Schreibtischunterlage. Ich nahm an, daß sie mit ihrem Tagespensum durch war.

Das Büro, in das ich ging, hatte nur ein einzelnes Fenster mit Blick auf die C Street und den Schnee und sonst nicht viel. Der Mann hinter dem Schreibtisch trug den brütenden Gesichtsausdruck eines dieser kleinen gedrungenen Einzelgänger, die am Samstagabend allein am hinteren Ende der Bar stehen, ihren Whiskey mit Bier trinken und die ihnen widerfahrenen Ungerechtigkeiten zählen. Wenn das richtige Verhältnis zwischen Alkohol und Ungerechtigkeiten erreicht ist, folgt im allgemeinen eine schnelle Drehung, ein finsterer Blick und ein rechter Schwinger für jeden, der gerade da ist.

Er stand nicht auf, als ich eintrat. Er blieb einfach hinter seinem grünen Metallschreibtisch sitzen und machte ein Gesicht, als ob ihm das Feinkostgeschäft wieder Pastrami statt Corned Beef geschickt hätte. Im Zimmer gab es ein Telefon, zwei Stühle vor dem Schreibtisch, einen Teppich und ein weiteres Bild der Fahne, die sich in der Brise blähte. Ich hielt es gar nicht erst für nötig, nach Valentinsgrüßen zu schauen.

»Sie sind zu spät«, sagte er.

»Ich bin immer zu spät.«

»Setzen Sie sich. Hat Ihnen jemand von mir erzählt?«

Ich setzte mich und zog eine Zigarette heraus. Er runzelte die Stirn und sagte: »Ich rauche nicht«, griff aber in eine Schublade und nahm einen runden schwarzen Keramikaschenbecher heraus, auf dem in weißen Buchstaben »U.S. Department of State« stand.

»Ich trinke auch«, sagte ich.

Er nickte, etwas düster, wie ich fand. »Ich weiß, was Sie tun«, sagte er. »Ich weiß, wie Sie leben. Ich weiß sogar, wieviel Geld Sie im vergangenen Jahr verdient haben. Sie haben mehr verdient als ich, aber ich glaube langsam, alle andern tun das auch. Mein Name ist Coors und, nein, ich bin nicht mit den Bierleuten verwandt.«

»Welches Bier?«

»Coors Bier. Es wird draußen im Westen gebraut.«

»Niemand hat mir von Ihnen erzählt«, sagte ich, als ich endlich zu seiner ersten Frage kam.

»Hamilton Coors, falls Sie sich das notieren wollen.«

»Ich glaube, das kann ich behalten.«

»Richtig gut haben Sie ihn nicht gekannt, oder?« sagte Coors.

»Wen?«

»Den Botschafter. Killingsworth. Amfred Killingsworth.«

»Nicht gut.«

»Sie haben für ihn gearbeitet.«

»Das ist lange her.«

»Dreizehn Jahre«, sagte Coors. »Killingsworth hat Sie in Chicago eingestellt. Es war Ihr erster Job. Bei einer Zeitung jedenfalls.«

»Und ein Jahr später hat er mich gefeuert.«

»Warum?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Sagen wir, Unfähigkeit. Schlampige Arbeit. Keine Nase für Nachrichten. So was halt.«

»Ich hab gehört, Sie waren ziemlich gut.«

»Killingsworth war anderer Meinung.«

»Was hielten Sie von ihm?«

»Beruflich?«

»Wie immer Sie es nennen wollen.«

»Er war ein besserer Verkäufer als Redaktionsleiter. Er wollte niemand verärgern – auf jeden Fall niemand Wichtigen –, also tat er es nicht, und die Zeitung wurde etwas nichtssagend. Sogar langweilig. Er hat die Tochter des Alten geheiratet, und nach einiger Zeit konnte man ihn nur zum Teilhaber machen und dann zum Verleger, als der Alte starb. Ich nehme an, sie mußten ihn für geleistete Dienste und Geldspenden zum Botschafter machen, aber ich halte es nach wie vor für einen jämmerlichen Streich zu Lasten –«

Das Telefon klingelte, unterbrach mich und Coors nahm den Hörer ab. Als er hörte, wer dran war, erstarrte er in einer Art sitzender Habachtstellung und verdeckte die großen graublauen Augen zur Hälfte mit seinen Lidern. Es verlieh ihm einen geheimnistuerischen Ausdruck, von dem er vielleicht annahm, er könne mich am Lauschen hindern. Die Augen waren das einzig Große an ihm. Der Rest war spärlich und feingliedrig. Nicht einmal sein Gesicht hatte genug Fleisch für das Absacken der mittleren Jahre, und Coors mußte nahezu fünfzig sein. Sein Kinn bildete eine stumpfe knochige Spitze, als Mund diente ihm ein breiter, blutloser Schlitz, und seine Nase begann dicht über seinen Lippen, blähte sich dann auf- und auswärts, so daß man einen guten Einblick in seine Nasenlöcher bekam. Sein Haar hatte die Farbe von Zigarrenasche, einer billigen Zigarre, war schon etwas ausgedünnt und nach vorn gebürstet, so daß es ihm in struppigen Fransen in die hohe blasse Stirn hing. Sein Tweedanzug war gut, stellte ich fest, wenn auch nichts Aufsehenerregendes, aber für seine Krawatte hatte er wohl an die fünfzehn Dollar ausgegeben.

Coors sagte »Ja, Sir« ins Telefon, deshalb nahm ich an, daß er zumindest mit einem Staatssekretär sprach. Er sah nicht so aus, als ob er »Ja, Sir« zu etwas Niedrigerem als einem Unterstaatssekretär sagen würde.

»Er ist jetzt hier«, sagte Coors. »Ja, Sir … ich verstehe.« Dann folgte ein hörbares Klicken, und Coors legte auf. Er wandte sich wieder zu mir, enthüllte seine Augen, damit ich wieder hören konnte, und erklärte unnötigerweise: »Es ging um Sie.«

»Was ist mit mir?«

»Manche hatten ernsthafte Bedenken. Ich auch.«

»Ich habe sie immer noch«, sagte ich.

»Wir setzen vielleicht doch unsere eigenen Leute ein«, sagte Coors.

»Nein. Wenn Sie das könnten, würde ich nicht hier sitzen, und Sie wären in Ihrem richtigen Büro, dem mit Ihrem Namen an der Tür. Sechste Etage?«

»Fünfte«, sagte Coors und begann dann mit einer sorgfältigen Inspektion der Fingernägel seiner linken Hand. Sie sahen sauber abgekaut aus. »Sie sind also nicht besonders scharf auf die Sache?«

»Das wissen Sie doch.«

»Es ist eigentlich alles ganz einfach.«

»Nein, ist es nicht«, sagte ich. »Wenn es einfach wäre, wäre es keine Frage, ob Sie Ihre eigenen Leute einsetzen. Oder sogar die CIA. Amerikanische Botschafter zu kidnappen ist noch kein ganz so beliebter Zeitvertreib wie Flugzeuge nach Kuba zu entführen, aber es ist auf dem besten Wege dahin. Ich würde sogar wetten, daß im Safe jeder Botschaft eine gedruckte Anweisung liegt mit der Überschrift ›Was tun, wenn der Botschafter gekidnappt ist‹. Sie würden mich also nicht hinzuziehen, wenn es nur um die einfache Aufgabe gehen würde, den Angsthasen freizukaufen.«

»Den was?«

»Den Angsthasen«, sagte ich. »So wurde Killingsworth bei der Zeitung genannt, weil er es war. Ein Angsthase.«

Coors runzelte sorgfältig die Stirn, und es mochte gut das gleiche Stirnrunzeln sein, das er zeigte, wenn die Schnepfe von Frau des neuen afrikanischen Botschafters im Speisesaal des Außenministeriums nach der falschen Gabel griff. »Sie waren nicht gerade unsere erste Wahl, Mr. St. Ives. Sie waren nicht einmal unsere zweite, und wenn nicht der Zeitfaktor wäre, würden wir –«

»Warum tun Sie’s nicht?« unterbrach ich. »Warum holen Sie sich nicht einen intelligenten jungen Harvard- oder Yale-Mann aus einer dieser unheimlich diskreten Anwaltsfirmen mit Sitz in Washington–New York–Paris? Sie wissen, was ich meine. Die Sorte mit fünf oder sechs großen alten Namen hintereinandergereiht, die ihren Ursprung wahrscheinlich vor sechzig Jahren hatte, als sie für Sie und United Fruit unten in Südamerika eine dieser Bananenrevolutionen geleitet hat. Die berechnen nicht viel. Nicht mehr als das Zehn- bis Fünfzehnfache von mir, und über ihre Manieren hat sich noch niemand beschwert.«

Coors verhüllte seine Augen wieder. »Sie glauben, Sie wären ein äußerst cleverer Mensch, oder?« sagte er, und es gelang ihm, ›Mensch‹ wie ›Hurensohn‹ klingen zu lassen. Doch trotz seines reptilhaften Ausdrucks lag kein Gift in seinem Ton. Es lag nur eine erschöpfte Resignation darin, als ob es sein Los im Leben wäre, sich mit einer endlosen Reihe von Kerlen abzufinden, die von sich glaubten, sie wären äußerst clevere Hurensöhne.

»Ich habe nur eine Frage gestellt«, sagte ich.

»Ich weiß. Sie wollen wissen, warum wir Ihre wundervolle Person gewählt haben. Zunächst war es logisch, weil Sie über gewisse Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügen.«

»Ich verdiene damit meinen Unterhalt.«

»Zweitens können Sie ohne weiteres zur Verfügung stehen.«

»Es hat nur der Drohung mit einer Untersuchung durch einen Kongreßausschuß bedurft«, sagte ich. »Das hat mir gefallen. Sie mußten sich jemand suchen, der etwas verliert, wenn er nein sagt; wer sich also an mich und das Fiasko mit dem afrikanischen Schild erinnert hat, muß den ganzen Morgen vor sich hin geschmunzelt haben.«

»Die letzte, aber nicht geringste unserer Überlegungen war, daß Sie ein Außenstehender sind und als solcher einen kontrollierten, streng begrenzten Zugang zu anderen im Ministerium haben.«

»Worin besteht da der Vorteil?« sagte ich.

»Sicherheit«, sagte Coors.

»Sie trauen Ihren eigenen Leuten nicht?«

»Nicht in dieser Sache.«

»Was ist mit der CIA? Es gibt Tage, an denen sie nicht viel reden. Freitags, glaube ich.«

»Es ist unsere eigene schmutzige Wäsche«, sagte Coors und sah aus, als sei er recht zufrieden mit dem kryptischen Gehalt der abgedroschenen Phrase.

»Wie schmutzig?«

»Dreckig.«

»Warum sind Sie so sicher, daß ich nicht im Waschsalon an der nächsten Ecke ins Plaudern gerate?« sagte ich, um dem sterbenden Vergleich einen Funken Leben einzuhauchen.

»Wenn Sie das täten«, sagte Coors langsam, »könnten Sie sich in eine recht peinliche Lage bringen.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Sie werden nie über unsere schmutzige Wäsche sprechen, Mr. St. Ives.«

»Dann frag ich noch mal. Warum?«

Das Lächeln, das er mir zeigte, enthielt eine spürbare Kälte, die zu dem Schnee und Matsch draußen paßte. »Sie werden nicht darüber sprechen, weil Sie die Wäsche tragen werden, bevor Sie hiermit fertig sind.«

2

Das Ganze hatte am Vortag in einem dieser zugigen Säle begonnen, die man drüben an der West 39th Street stundenweise mieten konnte, und das Transparent, das über dem Podium hing, verkündete neben dem Porträt einer kuschelig wirkenden Ratte mit sanften blauen Augen in fetten gotischen Buchstaben: CHEAPAR.

Das Publikum bestand aus fast drei Dutzend Männern und Frauen, deren gemeinsamer Nenner ein warmer, trübseliger Ausdruck und ein wohlhabendes, sogar reiches Erscheinungsbild war. Ich schätzte, daß wenigstens drei von ihnen ihren fünfundsechzigsten Geburtstag noch zu feiern hatten.

Das Publikum wurde zahlenmäßig fast von den Vertretern der New Yorker Presse übertroffen, deren Ausdruck wie üblich nichts Warmes oder Trübseliges an sich hatte. Wir hatten drei lokale Fernsehteams anlocken können, vier Radioreporter und beglaubigte Vertreter der Times, der Daily News, der Post und der Village Voice. Das Wall Street Journal hatte sich nicht blicken lassen.

Myron Greene, der Anwalt, schlich in den Saal und suchte sich vorsichtig hinten einen Platz, gerade als unser vorläufiger Vorsitzender Henry Knight einen Zusammenbruch erlitt und schluchzend fortgeführt werden mußte, überwältigt von seiner eigenen anschaulichen Schilderung der Todesschreie, die sich den Kehlen kleiner Pelztiere entringen, die gerade am Gift genagt haben.

Mit dreiundvierzig war Henry Knight immer noch ein sehr gefragter jugendlicher Liebhaber on-and-off-Broadway, doch seine beste Vorstellung kann durchaus die gewesen sein, die er an diesem Montagnachmittag im Februar gab, als er zusammengesunken in einem Metallklappstuhl saß, sein gutaussehendes, altersloses Gesicht in einem Taschentuch vergraben, den Körper geschüttelt von unkontrollierbarem Schluchzen. Oder Gelächter. Er erhielt herzlichen, anerkennenden, sogar mitfühlenden Beifall vom gesamten Publikum außer Myron Greene, dem Anwalt, und einen Augenblick lang war ich besorgt, daß Knight sich erheben und mit einer Verneigung danken würde.

Dem Keuchen, das ich vorher am Telefon von Myron Greene gehört hatte, konnte ich entnehmen, daß er entweder wütend oder aufgeregt war. Wahrscheinlich beides. Sein Asthma plagte ihn nie, wenn er mit anderen Mandanten sprach. Aber er konnte es sich auch kaum erlauben, gegenüber sechs- bis siebenhundert Millionen Dollar schweren Konglomeraten wütend zu werden, und die einzige Aufregung, die sie jemals lieferten, kam nur ein- oder zweimal im Jahr, falls überhaupt, wenn das Justizministerium mit einem oder zwei Kartellverfahren drohte.

Ich nickte Greene flüchtig zu, der es ablehnte, das Nicken zu erwidern, und trat schnell ans Rednerpult, um das Publikum, dessen Augen jetzt feuchter waren als zuvor, davon zu unterrichten, daß unser vorläufiger Vorsitzender aufgrund seiner empfindsamen Natur außerstande sei, fortzufahren, und wir deshalb als nächstes den Gründer und Geschäftsführer von CHEAPAR, Park Tyler Wisdom III., hören würden, der vermutlich aus stärkerem Stoff bestehe. Das brachte eine weitere Applauswelle von den Zuhörern, ein gedämpftes Jubeln von der Presse und einen ungeduldigen, verärgerten Blick von Myron Greene.

Wisdom kann nicht älter als dreißig gewesen sein, Gesicht rund, Augen fröhlich, und im Besitz des strahlenden Selbstvertrauens, das einer mit zweiundzwanzig gemachten Erbschaft von Großmama in Höhe von sieben Millionen Dollar entstammt. Er hatte auf seinen üblichen aus Sweatshirt und Armeehose bestehenden Aufzug zugunsten eines Cutaway mit gestreifter Hose, zweireihiger grauer Weste und Kläppchenkragen verzichtet, der mit einer pflaumenfarbenen Krawatte geschmückt war. Alles in allem ähnelte er sehr dem etwas übergewichtigen zweiten Sekretär einer Balkangesandtschaft aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Ein schwach getönter Kneifer schmälerte die Wirkung kein bißchen.

Mit dem Kneifer wedelnd, hielt Wisdom eine mitreißende Fünf-Minuten-Rede, und es gelang ihm damit, Spendenzusagen über fast fünfzehnhundert Dollar zu bekommen. Manche schrieben auf der Stelle Schecks aus. Ich trat zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr, und er strahlte wieder und hob beide Arme.

»Mr. Philip St. Ives, unser PR-Referent, unterrichtet mich, daß CHEAPARs ehrenamtlicher Rechtsberater gerade eingetroffen ist.« Wisdom zeigte nach hinten in den Saal. »Können wir einen kurzen Applaus für Mr. Myron Greene bekommen?« Alte Hälse reckten sich, arthritische Hände klatschten und runzlige Gesichter lächelten und nickten grüßend Myron Greene zu, dem es halbwegs gelang, dem Publikum zuzuwinken und mir einen Blick reiner Gehässigkeit zuzuwerfen, während er einen völlig unglücklichen Eindruck machte.

Hauptsächlich war ich Myron Greenes Mandant, weil er mit sechsunddreißig noch immer davon träumte, ein protziger Strafverteidiger, ein Gentleman-Rennfahrer oder ein internationaler Krisenmanager oder fast alles andere zu werden als das, was er war: ein äußerst erfolgreicher Wirtschaftsanwalt mit Büros an der Madison Avenue, einem Haus in Darien, einem Shelby Cobra mit 475 PS, den er an den Wochenenden fahren durfte, wenn er seiner Frau und den Kindern versprach, nicht über hundert zu fahren.

Mit mir als Mandanten glaubte er fälschlicherweise, gelegentlich dem, was er für sein grundsätzlich spießiges Leben hielt, einen Spritzer Aufregung, Intrige oder Gott weiß was zu verpassen. Und wenn er im allgemeinen dafür auch mit Asthma, Verärgerung und sogar Wut bezahlen mußte, schien es ihm den Preis wert zu sein, und ich war zu zurückhaltend, um ihm zu sagen, daß er es nicht war.

Zuvor hatte Myron Greene angerufen und zwischen keuchenden Atemzügen mir zu erklären versucht, daß er mich sofort sehen müsse, innerhalb einer Stunde – wenn möglich früher. Ich hatte ihn mit der Frage unterbrochen: »Haben Sie je den Arzt konsultiert, den ich Ihnen empfohlen habe?«

»Welchen Arzt?«

»Den Spezialisten für psychosomatische Störungen.«

»Mein Asthma ist keine psychosomatische Störung, und mich ärgert Ihre –«

»Beruhigen Sie sich, Myron«, hatte ich gesagt. »Holen Sie erst mal tief Luft.«

»Verdammt noch mal«, hatte er gesagt. »Die Sache, wegen der ich Sie sehen muß, ist wichtig.«

»Meine Versammlung auch.«

Myron Greene war einige Sekunden lang ruhig gewesen. Nicht einmal ein Keuchen. Vielleicht hatte er stumm bis zehn gezählt – oder vielleicht bis zwanzig. »Also gut«, hatte er schließlich gesagt. »Wie lange dauert Ihr Zirkus?«

»Dreißig Minuten, schätze ich, vielleicht fünfundvierzig.«

»Also, ich muß gegen vier in die Stadt. Ich nehme an, ich kann da vorbeikommen. Wo war es noch?«

Ich hatte ihm die Adresse genannt, und er hatte gekeucht, als er sie aufschrieb. Ich nahm an, daß er sie aufschrieb. »Das ist das Kindischste – das Infantilste –«

»Nein, ist es nicht, Myron.«

»Wenn es nicht kindisch ist, wie nennen Sie es dann?«

»Eine edle Sache«, hatte ich gesagt und aufgelegt.

Wisdom erklärte, daß wir eine Kombination von Mitgliederversammlung und Pressekonferenz abhielten und daß er jetzt Fragen der Presse entgegennehmen würde. Falls er sie nicht beantworten könne, dann sei bestimmt Mr. St. Ives dazu in der Lage, oder vielleicht Mr. Knight, vorausgesetzt, der vorläufige Vorsitzende habe sich von seiner emotionalen Tortur erholt.

Der Mann vom Fernsehsender CBS erhob sich als erster. Wisdom erteilte ihm mit einem ausholenden Winken des Kneifers das Wort. »Mr. Wisdom«, sagte der Reporter, »könnten Sie für unsere Zuschauer noch einmal erklären, wofür CHEAPAR steht?«

»Mit Vergnügen«, sagte Wisdom. »CHEAPAR ist ein Akronym und bedeutet Comitee für Humane Exterminierung Aller Park-Avenue-Ratten.«

Die Daily News wollte nun wissen, was an den Park-Avenue-Ratten so besonders sei. Das war eine der Fragen, auf die Wisdom gewartet hatte.

»Sie müssen verstehen«, sagte er mit einer weiteren schwungvollen Bewegung des Kneifers, »daß Ratten erst kürzlich zur Park Avenue vorgedrungen sind. Einige Anwohner haben sich beschwert. Ich selbst gehöre zu ihnen – wie die meisten, wenn nicht alle der hier anwesenden Damen und Herren. Das ist verständlich.«

Er klemmte sich den Kneifer wieder auf die Nase und begann, mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft zu stoßen. »Ich möchte eindeutig klarstellen, daß CHEAPAR keine Organisation für sentimentale Seelen ist. Wir erkennen durchaus an, daß Ratten nicht durch eigenes Verschulden oft Träger schwerer Krankheiten sind.

»Aber«, sagte er, nahm den Kneifer wieder ab und hielt ihn zur Betonung hoch, »sobald wir unsere Beschwerden vorgebracht hatten, reagierte die Stadt auf eine Art, die man nur als erschreckende Eilfertigkeit bezeichnen kann. Die Park-Avenue-Ratten wurden für ein Massaker mit den barbarischsten Mitteln ausgesondert – wie Mr. Knight Ihnen zu berichten versuchte, bevor er vom Grauen seiner eigenen Schilderung übermannt wurde.«

Wisdom machte eine Pause, um Knight gütig anzuschauen, und Knight ließ das Publikum noch einen Blick auf sein Profil werfen, bevor er es wieder in seinem Taschentuch verbarg.

Der Reporter der Post wollte wissen, was Wisdom vorschlage. »Dekompression«, sagte er schnell. »Die Ratten sollten in Lebendfallen gefangen und dann in einer Kammer, der die Luft fast sofort entzogen wird, eingeschläfert werden. Diese Methode wird von vielen humanen Gesellschaften befürwortet. Sie ist schnell und schmerzlos – als nähme man ein gutes, tiefes Schläfchen.« Das brachte ihm einen weiteren kurzen Beifall des Publikums ein. Ich bemerkte, daß Myron Greene inzwischen den Kopf in den Händen vergraben hatte.

Der Reporter einer Presseagentur fragte, ob CHEAPAR beabsichtige, seine Aktionen auf die Park-Avenue-Ratten zu beschränken.

»Sicher«, sagte Wisdom mit einer gewissen Schärfe.

Als der Reporter den Grund dafür wissen wollte, sagte Wisdom: »Weil die Park-Avenue-Ratten – und ich erhebe diese Beschuldigung keineswegs leichtfertig – die einzigen sind, die von der Stadt New York diskriminiert werden.«

Nun, das war das Stichwort, und alle wußten sie es, und wie üblich zogen sie mit Wisdom mit, bei dem man sich darauf verlassen konnte, daß er ihnen sieben- oder achtmal im Jahr das Leben versüßte. Das Mädchen von der Village Voice kämpfte darum, keine Miene zu verziehen, als sie fragte: »Können Sie erklären, welche Form diese Diskriminierung der Park-Avenue-Ratten annimmt, im Gegensatz zu, sagen wir, den Ratten in Harlem oder Greenwich Village oder Bedford-Stuyvesant?«

»Das kann ich in der Tat«, sagte Wisdom. »Nehmen Sie die durchschnittliche Ratte in Harlem. Niemand belästigt sie, besonders nicht die Stadtverwaltung. Sie wird in Ruhe gelassen, solange sie in Harlem bleibt. Aber wenn sie versucht, ihr Los zu verbessern, wenn sie versucht, downtown zur Park Avenue umzuziehen, werden die bösartigen, diskriminierenden Kräfte der Rattenbekämpfung auf sie losgelassen. Sie wird erschlagen, vergiftet, und man spricht sogar davon, daß – ja, das tut man! Es gibt Leute, die Gas einsetzen würden!« Das löste einen scharfen Protestchor beim Publikum und ein weiteres gedämpftes Jubeln bei der Presse aus. Myron Greene war jetzt auf seinen Platz zurückgesunken und starrte zu der schmutzigen Decke hoch. Knight wimmerte ein paarmal.

Der Mann von der Times gab seinen heroischen Kampf um einen ernsten Gesichtsausdruck auf und fragte: »Glauben Sie, Mr. Wisdom, daß Druck durch Politik oder Wirtschaft für diese – äh – Diskriminierung verantwortlich sein könnte?«

»Möglich, Sir, möglich. Bisher liegen keine Beschwerden wegen Rattenquälerei aus einer anderen Gegend als der Park Avenue vor. Wir hoffen natürlich, daß es sich hier nicht um einen politischen Spielball handelt, aber nichtsdestoweniger haben wir Mr. St. Ives gebeten, zu ermitteln.«

»Wie steht es damit, Phil?« fragte der Mann von der Post.

Ich erhob mich und nickte – so hoffte ich – düster. »Unsere vorläufige Untersuchung«, sagte ich, »weist darauf hin, daß sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Druck bei der brutalen Diskriminierung der Park-Avenue-Ratten keine geringe Rolle gespielt haben. Wir bereiten ein Weißbuch darüber vor, und ich hoffe, Ihnen innerhalb weniger Tage Exemplare zur Verfügung stellen zu können.«

Aus dem Hintergrund kam ein unterdrücktes Stöhnen von Myron Greene, der den Kopf wieder in den Händen vergraben hatte.

Nach einigen weiteren Fragen sagte der Mann von der Times: »Vielen Dank, Mr. Wisdom«, und die Pressekonferenz war beendet. Das betagte Publikum, das insgesamt einen Nettowert von etwa einer halben Milliarde Dollar repräsentierte, erhob sich knirschend und drängte sich um Wisdom und Knight, um den einen zu beglückwünschen und den andern zu trösten.

Ich ging nach hinten, um herauszufinden, was Myron Greene für so wichtig hielt, daß er seine Fahrt ins Zentrum an einem gemieteten Saal unterbrochen hatte. Nachdem ich zehn Minuten zugehört hatte, gab ich zu, daß es wichtig sein könnte, sogar lebenswichtig, sagte ihm aber, daß ich nicht interessiert sei. Er brauchte weitere fünfzehn Minuten, um mir zu sagen, warum ich es war.

3

Es hatte eine Zeit gegeben, vor ungefähr fünf Jahren, wo ich in dem gemieteten Saal in der 39th Street zusammen mit dem Rest der Presse hätte sitzen können, um Wisdom und Knight Stichworte zu geben, mehr oder weniger als hilfsbereiter Anreißer für ihren Streich fungierend.

Aber damals war es auch mein Job gewesen, fünfmal in der Woche für eine inzwischen nicht mehr bestehende und wenig betrauerte Zeitung eine Kolumne über die Spaßvögel und Scherzkekse zu schreiben, die New York überschwemmen. Ich hatte einen fröhlichen, vielleicht respektlosen Stil entwickelt, das Quellenmaterial war unerschöpflich, die Arbeitszeit flexibel, und ich hatte eine ansehnliche Leserschaft und unerklärlicherweise das Vertrauen einer Schar von Dieben, Cops, Zuhältern, Glücksspielern, Betrügern, Propheten, allerlei Erlösern, Pennern, Mafiosi mittleren Rangs und Leuten gewonnen, die sich den größten Teil ihrer Zeit um Telefonzellen herumzutreiben und darauf zu warten schienen, daß jemand anrief.

Ein kleiner Dieb, der sich stolz als regelmäßiger Leser beschrieb, hatte einem Mandanten von Myron Greene eine stattliche Menge Schmuck gestohlen und dann den Anwalt informiert, daß er gerne bereit sei, ihn gegen einen symbolischen Betrag zurückzugeben, vorausgesetzt, daß ich dabei als Mittelsmann fungierte. Ich hatte die Sache übernommen, weil sie Stoff für ein paar ordentliche Kolumnen lieferte, die kurz vor Heiligabend erschienen, als die Zeitung dichtmachte, ein bei Verlegern beliebtes Datum für diesen Zweck, vielleicht wegen der damit verbundenen Ergriffenheit, wahrscheinlicher aber, weil sich nur wenige Leute wirklich einen Deut darum scheren, ob sie an Weihnachten eine Zeitung lesen.

Gerade als drei Monate später mein letztes Abfindungsgeld zur Neige ging, trat Myron Greene wieder an mich heran; diesmal sollte ich als Mittelsmann in einem Fall fungieren, bei dem der Sohn des Mandanten eines Anwaltskollegen entführt worden war, der sich daran erinnerte, wie ich die Sache mit dem Schmuck erledigt hatte. Also tauschte ich für 10.000 Dollar, die Greene zu meinem Missfallen unbedingt ›Gefahrengeld‹ nennen wollte, einen mit 100.000 Dollar vollgestopften Ranzen gegen den vermißten Erben ein, der, wie ich fand – nachdem wir uns kennengelernt hatten –, besser vermißt geblieben wäre.

Beim dritten Mal wurde ich Myron Greenes Mandant. Er handelte von nun an gegen eine Beteiligung von zehn Prozent meine Honorare für mich aus. Widerwillig stimmte er auch zu, einige persönliche Aufgaben für mich zu übernehmen, wie meine Scheidung abzuwickeln (sein erster und letzter Fall dieser Art), meine Unterhaltszahlungen zu entrichten, meine Rechnungen zu begleichen und dafür zu sorgen, daß meine vierteljährlichen Steuererklärungen rechtzeitig eingereicht wurden. Da es unmöglich das Geld sein konnte, das ihn interessierte, kam ich zu der Überzeugung, daß er eine heimliche Bewunderung für die Diebe, Schurken und Scharlatane hegte, mit denen ich mich herumtrieb, und es war ein Vorwurf, dem zu widersprechen er sich nie die Mühe machte.

Ich entdeckte, daß es ein Gewerbe war, bei dem weder Reklame noch knallharte Werbekampagnen nötig waren. Mundpropaganda reichte völlig. Diebe, die geschnappt wurden, empfahlen mich Mithäftlingen, die kurz vor ihrer Entlassung standen. Versicherungsunternehmen empfahlen mich ihren Kunden und Konkurrenten, Anwälte empfahlen mich anderen Anwälten, und manchmal verurteilte mich sogar die Polizei widerwillig mit schwachem Lob. »Na ja, er ist so ehrlich, wie man es erwarten kann.« So in der Art.

Auch wenn ich nicht wirklich erfolgreich war, überlebte ich wenigstens, reiste manchmal im Winter in den Süden und im Frühjahr oder Herbst nach Europa, zufrieden mit den drei, vier oder sogar fünf Aufträgen, die mir im Lauf eines Jahres in die Hände fielen, und immer teilnahmsvoll, wenn jeder von ihnen einen weiteren Asthmaanfall bei Myron Greene auslöste.

Die restliche Zeit las ich, ging vormittags ins Kino, spielte Poker mit Tischlimit, lief den Frauen nach und fing sogar ein paar ein, fütterte streunende Hunde und Katzen und die Tauben im Central Park, besuchte die Museen und ein paar freundliche Bars, zeigte mich bei allen Paraden, beteiligte mich an ein paar ehrenwerten Demonstrationen und an einigen nicht so ehrenwerten, brachte Dieben, mit denen ich Geschäfte gemacht hatte, Zeitschriften und Zigaretten ins Gefängnis, gab nach einer katastrophalen Sitzung die Gruppentherapie auf und saß manchmal einfach in meiner »Luxus«-Einzimmerwohnung im achten Stock des Adelphi an der East 46th Street herum und starrte die Wand an.

Erst als das junge Ding von den Daily News anrief – rund vier Jahre nachdem meine eigene Zeitung dichtgemacht hatte –, und um ein Interview bat, wurde mir klar, daß ich wohl oder übel einer von denen geworden war, über die ich früher geschrieben hatte: ein gesellschaftlicher Abweichler, ein professioneller Außenseiter und sogar, um Gottes willen, ein Original.

Ich war erst kurz vorher aus Washington zurückgekommen, wo ich fast einen Auftrag verpatzt hatte, bei dem es um den Diebstahl eines unbezahlbaren Messingschildes, ein paar verfeindete afrikanische Staaten und die internationale Ölclique gegangen war. Ein paar Menschen waren getötet, einer war mit dem Schild in Rotterdam festgenommen worden, und ein weiterer schmollte immer noch, weil er glaubte, er wäre um Öl im Wert von einigen Milliarden Dollar gebracht worden.

Das junge Ding von den Daily News wollte alles über die Berufung zum Mittelsmann wissen, bemerkte, daß ich ein faszinierendes Leben führen mußte, aß sechs Brownies (die Jugend heutzutage ist ständig ausgehungert), und zog dann ab, um die Lügen aufzuschreiben, die ich ihr aufgetischt hatte.

Ich rief Myron Greene an. »Nie wieder«, sagte ich.

»Nie wieder was?«

»Nie wieder internationaler Kram. Nie wieder afrikanische Obristen mit großem warmem Lächeln und gierigen kleinen Lügen. Nie wieder Typen vom Außenministerium. Nie wieder Leichen, importiert oder einheimisch. Nie wieder –«

»Ich fand, wir haben die Sache ganz gut geregelt, alles in allem«, sagte er.

»Sie finden, das haben wir?« sagte ich und betonte das wir, nur um zu bemerken, daß es völlig an ihm abprallte.

»Ja, das finde ich in der Tat. Ich habe schon eine Einigung mit dem Museum getroffen, damit Ihr Honorar in voller Höhe bezahlt wird.«

»Das muß ihnen gefallen haben«, sagte ich.

»Nicht wirklich; nicht nachdem ich sie darauf hingewiesen habe, daß ein Prozeß sich als sehr unangenehm für alle Beteiligten erweisen könnte.«

»Lassen Sie es uns von nun an einfacher halten, Myron. Sie wissen schon. Die entwendete Kette, die vermißten Inhaberschuldverschreibungen, die gestohlenen Wertpapiere, sogar der gekidnappte Rechnungsprüfer. Die entsprechen mehr meinen Talenten, wo auch immer sie liegen mögen. Ein internationaler Schwindel nicht.«

»Wir hatten nie einen gekidnappten Rechnungsprüfer«, sagte er mit all der ernsthaften Wörtlichkeit seines Berufs.

»Wenn wir einen haben, lassen Sie uns sichergehen, daß es ein Junge von hier ist. Oder sogar ein du Pont aus Delaware. Aber kein Welthandel mehr. Die sind gar nicht scharf drauf, die Regeln zu befolgen.«

»Na schön, wenn Sie drauf bestehen«, sagte er etwas steif, wie ich fand, als ob er sich eine Notiz machte, mir am Nachmittag eine weiße Feder zu schicken. »Aber ich finde, Sie sollten zugeben, daß die ganze Angelegenheit faszinierend war.«

»Faszinierend«, sagte ich, legte auf und versuchte mich an den genauen Tag zu erinnern, an dem mir ein unheilbarer Romantiker als Anwalt, Geschäftsverwalter und Haupteinnahmequelle aufgedrängt wurde. Ich wollte ihn im Kalender als Tag zum Nichterinnern anstreichen.

Wir standen also im hinteren Teil des zugigen Mietsaals, in dem zehntausend Versammlungen abgehalten, zehntausend Ausschüsse gebildet und vielleicht fünfzigtausend Resolutionen beschlossen worden waren, alle für oder gegen etwas, das nun niemanden mehr interessierte, und ich hörte Myron Greene zu, der erklärte, warum ich am nächsten Tag in einem Büro im zweiten Stock des Außenministeriums in Washington sein müßte.

Als er fertig war, sagte ich: »Ich habe Ihnen doch gesagt, Myron, kein internationaler Kram mehr.«

»Aber Sie kennen ihn«, sagte er. »Und die wissen, daß Sie ihn kennen.«

»Das ist lange her. Ich mochte ihn schon damals nicht, und dieses Gefühl wurde voll und ganz erwidert.«

»Er hat Sie eingestellt«, sagte Greene. »Er hat Ihnen Ihre allererste Stelle gegeben.«

»Und er hat mich gefeuert. Von meiner allerersten Stelle.«

Myron Greene schwieg einen Augenblick, während er sorgfältig die sechs mit Leder überzogenen Knöpfe seines Norfolk-Jacketts aus Heather-Tweed auf- und wieder zumachte, das, wie ich hoffte, nicht das Vertrauen dessen erschüttern würde, den er downtown treffen wollte. Als er fertig damit war, mit seinem Jackett zu spielen, strich er sich das blonde Haar nach hinten hin glatt. Dessen Länge mochte in der Madison Avenue kein Aufsehen erregen, würde ihm aber einen mißbilligenden Blick des Berufungsrichters eintragen, falls Greene sich je in einen Gerichtssaal wagen sollte, was er während der fünf Jahre, die ich ihn kannte, nur zweimal getan hatte. Von mir abgesehen, gehörten Myron Greenes Mandanten nicht zu der Sorte, die vor Gericht gezerrt wurden.

»Nun, ich fürchte, daß Sie die Verabredung in jedem Fall einhalten müssen«, sagte er und warf einen sturen Blick über meine Schulter. Ich drehte mich um, um zu sehen, was so faszinierend war, aber es waren nur Wisdom und Henry Knight, die sich gegenseitig ankicherten und das Transparent von CHEAPAR abnahmen. Das Publikum und die Presse waren weg.

»Warum?« sagte ich.

»Weil sie es Ihnen persönlich erklären wollen.«

»Sagen Sie ihnen, sie sollen mich anrufen.«

»Ich habe ihnen gesagt, daß Sie um elf Uhr da sind. Morgen.«

»Und jetzt können Sie ihnen sagen, daß ich das nicht sein werde.«

»Tut mir leid, aber es heißt jetzt Entweder-oder.«

»Entweder-oder was?«

»Entweder, Sie sind morgen um elf in Washington, oder um zwölf kommt ein Marschall der Bundesbehörden mit einer gerichtlichen Vorladung hierher.« Sein sturer Blick fiel auf mich, und jetzt war es Wirtschaftsanwalt Greene, der den Firmenvorstand unterrichtete, daß nichts anderes übrigbliebe, als Bankrott anzumelden, und ja, es war eine verfluchte Schande wegen der vielen Witwen- und Waisen-Aktionäre.

»Vorladung wohin?« sagte ich.

Myron Greene lächelte schwach. »Vor den Unterausschuß des Kongreßabgeordneten Royker.«

»Royker ist ein Trottel.«

»Sogar ein Trottel kann in ein Wespennest stechen«, sagte Greene weise.

»Welches Wespennest?«