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The Creature

 

Von Justin C. Skylark

 

 

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

 

© the author

 

Cover Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

 

Bildrechte:

© Svetoslav Sokolov – fotolia.com

© Hektor 2 – fotolia.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-045-4

ISBN 978-3-96089-046-1 (epub)

Inhalt:

Jannik gefällt seine Arbeit in der Rechtsmedizin, die Wohnung teilt er sich mit seiner Katze und sein Kumpel Kevin ist für erotische Treffen am Abend stets zu haben. Diese Beschaulichkeit ist jäh vorbei, als eine Brandleiche aus dem Institut verschwindet, ein Mord geschieht und ein mysteriöser Mann in Janniks Leben tritt. 

Was hat der Fremde mit diesen Ereignissen zu tun und welches Geheimnis umgibt ihn? Nicht nur sein Alltag, auch Janniks Gefühle werden heftig durcheinandergewirbelt.

Kapitel 1

 

- Wer tot ist, kann nicht sterben, sich aber stärker und härter erheben -

 

Ich gähnte, ohne mir die Hand vor den Mund zu halten. Noch war niemand anwesend, der mein Benehmen kritisieren konnte. Mit schlurfenden Schritten näherte ich mich meinem Arbeitsplatz – dem Sektionssaal der Rechtsmedizin. Wie jeden Morgen drückte ich die Lichtschalter nach unten. Es ertönte ein „Pling-pling-pling“ und die Neonröhren sprangen mit Verzögerung an.

Der Geruch von Desinfektionsmittel lag in der Luft. Eine intensive Grundreinigung war in diesen Räumen täglich vonnöten. Obwohl wir nicht mit lebenden Menschen arbeiteten, wurden Hygiene und Sauberkeit großgeschrieben. Mehrmals am Tag desinfizierten wir eigenhändig die Arbeitsflächen, bei extrem blutigen Aktionen kamen zwischendurch die Reinigungskräfte.

Ich inspizierte jeden Winkel des Raumes und war zufrieden mit dem schimmernden Boden und den funkelnden Tischen. Routiniert bestückte ich die Metallschalen mit den sterilen Sektionsbestecken, die der Chefarzt und seine Kollegen benötigten. Ich war kein Arzt, nur der Obduktionsassistent, die rechte Hand.

Ich vernahm Stimmen. Kurz darauf öffnete sich die Schiebetür. Zwei Fahrer kamen herein. Sie trugen rote Shirts mit der Aufschrift „Gerichtsmedizin“. Ich kannte sie nicht beim Namen, nur von ihrem Erscheinungsbild.

„Wir bringen jemanden“, sagte einer von ihnen. Der andere sah sich gelangweilt um. Noch gab es hier nichts zu sehen. „Regal 6, Brandopfer, unklar ob Suizid oder Fremdverschulden.“

Der Sprechende legte mir ein Klemmbrett mit Formularen auf die Ablage in der rechten Ecke. Einen Schreibtisch gab es hier nicht. Daten wurden mit Kreide an die Tafel geschrieben. Informationen wurden in ein Gerät diktiert.

Ich hob nur die Hand. „Danke.“

 

Zehn Minuten später ging die Tür nochmals auf. Dr. Conal Byrne, Leitender Rechtsmediziner der Abteilung, betrat den Raum. Ich konnte mich glücklich schätzen, sein Mitarbeiter zu sein. Von ihm lernte ich. Mit ihm eine Sektion durchzuführen, war faszinierend. Besonders, wenn sich die Todesursache nicht ersichtlich zeigte und wir forschen mussten, manchmal tagelang.

Meistens kamen jedoch nur lapidare Fälle auf unseren Tisch, wie zum Beispiel die einundneunzigjährige Dame, die am Abend zuvor das oberste Fach in Regal 2 belegt hatte.

Mit den Verstorbenen erhielten wir Informationen über die Umstände des Ablebens und soweit vorhanden über die Krankengeschichte des Toten.

Die alte Dame hatte an einer Herzerkrankung gelitten. Sie hatte nach einem erneuten Infarkt in der Kardiologie gelegen. Dort war sie bei einem nächtlichen Toilettengang zusammengebrochen. Der Klinikarzt hatte einen erneuten Gefäßverschluss der Herzarterien vermutet. Man hätte den Fall zu den Akten legen können, doch die Familie der Verstorbenen hatte eine Privatsektion veranlasst, um die präzise Todesursache zu erfahren.

Wie vermutet, hatte eine verstopfte Koronararterie zu einem Myokardinfarkt geführt. Die Frau hatte einen Herzstillstand erlitten und war mausetot umgefallen. Eigentlich war das ein schöner Tod, aber nur ein schwacher Trost für die Hinterbliebenen.

 

Conal schob die Handschuhe von den Händen. An der Eckablage machte er die letzten Notizen. Ich beseitigte das Arbeitsbesteck. Der Brustkorb der alten Dame war zugenäht. Wir hatten eine Schweinerei hinterlassen. Auch an diesen Anblick konnte man sich gewöhnen.

Eine Autopsie glich einer riesigen Operation. Zwei Rechtsmediziner mussten anwesend sein. Da wir mehrere Obduktionstische hatten, war das kein Problem. Meistens gesellte sich der Assistent Dr. Klein zu uns. Er protokollierte die Messdaten der Organe, bestätigte unsere Untersuchungen, sprach ins Diktiergerät, was wir herausgefunden hatten und segnete später den Papierkram ab.

Anschließend wanderte die Frau auf den untersten Platz von Regal 2. Daran erkannte jeder, dass die Obduktion abgeschlossen war. Für uns stand die Mittagspause an.

Das benachbarte Team war mit der Arbeit noch nicht fertig. Auf ihrem Tisch lag der Mann aus Regal 1. Der war vergiftet worden. Jedenfalls sprach seine gerötete Hautfarbe dafür. In seinem Gesicht waren mehrere Äderchen geplatzt. Wahrscheinlich würde die Blutuntersuchung der Vermutung rechtgeben; der Leichnam wurde von Kopf bis Fuß untersucht.

Conal hatte den Fall der alten Dame abgeschlossen. Er griff sich das Klemmbrett, das seit heute Morgen auf der Ablage lag. Seine Wangen blähten sich geräuschlos auf, umso geräuschvoller ließ er die Luft entweichen. „Puh, ein Brandopfer. Hatten wir lange nicht.“

Er überflog den Text, legte das Klemmbrett zurück. „Wir sollten uns vorher stärken.“

 

Zum Mittag essen gingen wir in die Kantine des Zentralkrankenhauses, zu dem die Pathologie mit der integrierten Rechtsmedizin gehörte. Dr. Byrne und Dr. Klein trafen sich dort mit Kollegen. Ich wählte einen anderen Tisch. In das Team war ich integriert, aber bei den Fachgesprächen der Ärzte fühlte ich mich fehl am Platz.

„Mann, o Mann“, stöhnte Kevin, der mir in der Pause Gesellschaft leistete. Er schob sein Tablett genervt auf den Tisch. Darauf befanden sich Salat mit Hühnchen, ein Dessert und eine Tasse Kaffee. „Das American Dressing war alle. Musste French nehmen. Ich hasse French!“

Er sprach laut. Einige Leute sahen sich nach uns um. Das war peinlich. „Ist doch nicht so schlimm“, beruhigte ich ihn in einem leiseren Ton. „Ich finde, das French Dressing schmeckt hier gut.“ Kevin zog ein Gesicht. Er war blass. Ich fragte mich, warum er immer den Salat wählte. Mit seiner schlaksigen Figur sollte er mehr Steak essen.

„Wie war dein Tag bis jetzt?“

Er zuckte mit den Schultern und präsentierte seinen verbundenen Zeigefinger. „Wie immer. – Habe mich an einer Petrischale geschnitten.“ Er verdrehte die Augen. Ich sagte nichts. Es war typisch, dass ihm das passiert war. Es verging kaum eine Woche, in dem er keinen Arbeitsunfall zu melden hatte. „Das Team von Dr. Rittmann hat eine Menge Proben geschickt.“

„Ja.“ Ich stimmte zu. „Die haben einen Vergiftungsfall auf dem Tisch – zumindest sieht es danach aus.“

„Könnte eine Clupeiden-Vergiftung sein. Gewollt oder ungewollt.“

„Oder eine Parathion-Intoxikation. Die geschwollenen Schleimhäute sprechen dafür.“

„Auch möglich.“ Er aß seinen Salat. Wir schwiegen. Ich checkte mit dem Handy meine Mails, mein Facebook-Konto und die Nachrichten. Irgendwann war die Pause vorbei und mein Sandwich vertilgt. „Sehen wir uns nachher noch?“, fragte ich beiläufig.

„Heute geht …“ Er schmatzte beim Kauen. Das störte mich nicht. Ich musste ihn ja nicht heiraten.

 

Dr. Byrne und Dr. Klein hatten die Mittagspause vor mir beendet. Als ich unseren Seziersaal betrat, lehnte Byrne an der Eckablage. Dort stand uns ein Laptop zur Verfügung. Wortlos zog ich mir Kittel und Haube an, den Mundschutz klemmte ich mir erst einmal unten das Kinn, die Handschuhe zog ich zögernd an.

„Machen wir weiter mit der Sechs?“, fragte ich. Er nickte. Ich dehnte die Schutzhandschuhe am Ende, so dass der Latex jeden meiner Finger straff umspannte. Daniel, ein anderer Assistent unserer Abteilung, half mir, den Toten aus der obersten Ablage des Regals 6 zu ziehen. Im Gegensatz zu anderen Kühlräumen, standen uns keine Kühlkammern sondern ein offenes, dreistöckiges Lagerungssystem zur Verfügung, das nebeneinander in zehn Abschnitte unterteil war.

Neue Fälle kamen im Regal nach oben, abgearbeitete Leichen nach unten.

Bei größerem Andrang konnten wir auf einen Kühlraum im Keller ausweichen. Bei Katastrophen, die viele Opfer mit sich brachten, durften wir das Krematorium der Stadt nutzen.

Ich sah mir das Etikett von Regal 3 an. Es baumelte am Fuß eines jungen Mannes. Er war einer Messerstecherei zum Opfer gefallen. Noch hatte ihn kein Bestattungsunternehmen abgeholt.

„Was ist mit Regal vier?“, fragte ich.

Daniel schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Die Leiche kam von einer Station … Vermutlich eine normale Sektion bei unklarer Todesursache.“

„Aha.“ Ich betrachtete die Plätze des Regals fünf. Sie waren nicht beschildert und leer. „Warum haben die Fahrer Regal sechs benutzt, wenn fünf noch frei ist?“

Niemand gab mir eine Antwort. Mit Banalitäten mussten wir uns oft herumschlagen. Doch ging das Gerücht um, dass in Regalreihe sechs nur die schlimmsten Fälle kamen. Ein paarmal hatte sich das bestätigt. Ich dachte an die Frau mit dem abgetrennten Kopf, dem Selbstmörder, der sich vor die Bahn geworfen hatte und nur noch in Einzelteilen angeliefert wurde oder an die Wasserleichen. Die fanden ihren Platz auch in Reihe sechs.

Ich schob den Plastiksack zur Seite, riskierte einen Blick und hielt die Luft an.

„Meine Güte …“ Reflexartig atmete ich nur noch durch den Mund. Ein unerträglicher Gestank strömte in meine Nase. Verbranntes Menschenfleisch roch nicht wie ein Burger von McDonalds. Mit Hilfe eines Hubwagens bugsierten wir den Toten aus dem Regal auf die Bahre. Ich bedankte mich bei Daniel und schob die Leiche an unseren Arbeitsplatz. Der Verbrannte war groß.

Die ersten Messungen im Annahmeraum für Leichen hatten ergeben, dass er 1,86 Meter und fünfundsiebzig Kilo schwer war. Geschätztes Alter: fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Jahre.

Als er auf dem Seziertisch lag, konnte ich ihn vollständig betrachten. Sein Gesicht war von Ruß geschwärzt und mit schlimmen Brandwunden gezeichnet. Die typischen „Krähenfüße“ um die Augenpartie fehlten, was einen Hinwies darauf gab, dass er mit offenen Augen durch den Rauch gelaufen sein musste. Jetzt waren seine Lider geschlossen. Reste seiner dunklen, langen Haare hingen in Strähnen von seiner geröteten Kopfhaut. Seine Augenbrauen waren verbrannt. Seine Lippen waren blutig. Der Kragen seines Oberteils war zerfetzt. Die Brandverletzungen an seinem Halsansatz stufte ich zweiten Grades ein. An Händen und Füßen – er trug weder Socken noch Schuhe – machte ich Brandblasen aus.

Dr. Byrne stand neben mir. Gemeinsam blickten wir auf den leblosen Körper.

„Man fand ihn am Stadt-Ufer des Flusses, komplett durchnässt“, las er mir vor, während er auf die Unterlagen in seiner Hand spähte. In der Tat war die Kleidung des Toten noch feucht. Kleine Wasserspuren hatten sich auf dem Tisch gesammelt.

„Ich glaube nicht, dass er sich angezündet hat.“ Conal sah mich an, als kannte ich den Hintergrund seiner Aussage. Ich hatte eine Vermutung.

„Zündet man sich an, möchte man ein Exempel statuieren, man möchte brennen und ein Zeichen setzen …“

„Genau!“ Er war meiner Meinung. „Dieser Kerl hier wollte nicht brennen. Er hat versucht, sich zu löschen und ist ins Wasser gelaufen, anschließend ertrunken oder am Ufer elendig krepiert. Näheres werden uns die Lungen verraten.“ Mit einer Pinzette erfasste er den dunklen Stoff, der am Oberkörper klebte. „Die Kleidung hat sich durch die Hitze zersetzt. Seine Haut konnte nicht mehr atmen.“

„Hypovolämischer Schock?“

„Vermutlich.“

Conal wendete sich dem Laptop zu. Das tägliche Prozedere begann.

„Sie können anfangen.“ Er schob die Brille auf der Nase zurecht, setzte sich und durchblätterte die Aufzeichnungen.

Ich schnappte mir eine Kleiderschere und durchtrennte die Kleidung des Toten. Für die Obduktion musste er nackt sein. Mein Chef hatte recht. Der Leichnam war nicht vollständig verbrannt. Die zerstörten Hautareale endeten unterhalb der Brust. Seine Kleidung hatte ihn bedingt geschützt. Ich überschlug die Daten in meinem Kopf. Schätzungsweise waren dreißig Prozent des Körpers verbrannt. Bereits ab zehn Prozent stark verbrannter Haut konnte der Zustand ohne intensivmedizinische Maßnahmen für einen Menschen lebensbedrohlich werden.

Vorsichtig trennte ich den Stoff vom Leib. Eine mühselige Arbeit. Die krustige Haut blieb an den Stofffetzen kleben. Obwohl sein Körper Kontakt mit Wasser gehabt hatte, war er stark verrußt, was nicht ungewöhnlich war, denn Ruß konnte unter bestimmten Bedingungen wasserabweisende Eigenschaften entwickeln. Ich ging langsam vor, um keine Beweise zu zerstören.

„Also stilbewusst war unser Toter nicht“, gab ich bekannt. Mit unterdrücktem Ekel betrachtete ich die faserigen Kleidungsteile, die an das Kostüm einer Vogelscheuche erinnerten. Die Faschingszeit war vorbei. Auch konnte ich mir nicht vorstellen, dass der Verbrannte wie ein Rollenspieler in seiner mittelalterlichen Verkleidung durch die Gegend gerannt war. „Sollte man untersuchen.“

Ich legte die Klamotten in eine separate Ablage. Damit konnten sich die Leute der Forensik auseinandersetzen.

Nach einer halben Stunde hatte ich die Kleidung entfernt. Der Tote lag entblößt vor mir. Der untere Torso, Oberarme und Oberschenkel zeigten keine schweren Verletzungen, sondern leichte Rötungen. Die restlichen Verbrennungen schienen mit dem Leben nicht mehr vereinbar. Es war kein Wunder, dass er das Zeitliche gesegnet hatte.

Ich stieß einen Seufzer aus. Der Tote war gut gebaut. Muskelstränge zierten seine Oberarme und seine Schenkel. Er besaß ein schmales Becken, einen trainierten Bauch. Zwischen den Beinen war er gut bestückt. So gut, dass ich länger hinsah. Mich ergriff Neugier, Faszination, ein Hauch der Erregung und das kam selten vor. Die nackten Körper, die sich uns sonst präsentierten, waren alt und oft schlimm zugerichtet. Der Kerl auf dem Tisch war, bis auf seine verbrannte Haut, schön anzusehen.

Meine Gedanken waren morbide, das wusste ich. Doch da ich in der Rechtsmedizin arbeitete, musste ich zwangsläufig ein gutes Verhältnis zum Tod hegen, ansonsten hielt man in diesem Job nicht lange durch.

„Irgendwas Auffälliges?“ Dr. Klein gesellte sich zu uns. Er sah mich über seine Brille hinweg an. Hatte ich zu sehr gestarrt?

„Bin mir nicht sicher.“ Abermals ließ ich meinen Blick über den Toten gleiten. Er besaß keinen Schmuck. Die Taschen seiner Hose waren leer gewesen. Kein Portemonnaie, kein Handy, keine Papiere. Die Lederhose, die er getragen hatte, war mit einem Stoff-Gürtel um seine Taille befestigt gewesen. Eine silberne Gürtelschnalle war das einzige „Schmuckstück“ an ihm. Auf ihr war ein mir unbekanntes Symbol eingraviert. Mein Chef meinte, es sähe wie eine Rune aus, umringt von Zacken, die an Zähne erinnerten. Eine kurze Suche im Internet ergab, dass es sich bei dem Zeichen um ein altes, nordisches Buchstabensymbol handelte, das wie ein Strich mit Dach aussah.

An seinem Hals erkannte ich Narben, die unter dem Ruß hervorquollen. Mit einem feinen Pinsel verschaffte ich mir eine bessere Sicht. „Das sollten Sie sich ansehen.“

Conal stand auf, stellte sich neben mich. Zu dritt betrachteten wir die Halspartie unseres „Kunden“.

„Hm.“ Dr. Byrne grübelte laut. Das tat er nur, wenn er planlos war. „Die Hautdefekte sind verjährt und schlängeln sich um den gesamten Hals herum. Irgendetwas war um seine Kehle befestigt.“

„Ein Seil?“, fragte ich.

Conal schüttelte den Kopf. „Etwas Breiteres, Festeres. Wahrscheinlich eine starre Schlinge, eine Art Halsband.“ Mit Pinzette und Skalpell entnahm er ein Hautstückchen vom Hals und beförderte es in ein Untersuchungsröhrchen.

„Für ein kurzfristiges SM-Spiel sind die Narben zu gravierend.“ Dr. Klein machte Notizen. Ich schluckte betroffen. „Meinen Sie, er wurde festgehalten?“

„Festgekettet wohl eher, wie ein Tier …“

„Oh …“ Unsere Vermutung erklärte die Armseligkeit des Verstorbenen. Offensichtlich war er eine lange Zeit gefangen gehalten worden. Er besaß nichts, als die schäbigen Kleider am Leib. Zustände, die mich erneut ans Mittelalter erinnerten.

„Aber er konnte sich befreien“, mutmaßte ich. „Vielleicht ist er geflohen und zur Strafe hat man ihn angezündet.“

Conal rieb sich das Kinn. „Die Polizei hat uns nur wenige Details liefern können. Wir müssen die Todesursache definieren und einen möglichen Tatvorgang rekonstruieren.“ Er wollte die verklebten Lider des Toten öffnen, was nicht gelang. Als ich das bemerkte, griff ich zu Kochsalz und Tupfern. Ich löste die Rußpartikel von den Lidern, schob ein Lid vorsichtig nach oben. Der Tote besaß eine ungewöhnliche Augenfarbe. Sie war hellbraun, fast dunkelgelb.

„Es wird schwierig werden, seine Identität festzustellen. Er hat weder Papiere bei sich, noch werden die Fingerkuppen ein brauchbares Muster liefern“, fuhr mein Chef fort.

Das bedeutete, dass wir auf einen DNA-Abgleich mit der Datenbank hoffen mussten. Angehörige konnte die Polizei wegen fehlender Hinweise nicht ermitteln. Bevor wir anfingen, den Toten zu zerschneiden, nahm der Doc Blut- und weitere Gewebeproben. Danach musste ein Zahnstatus erstellt werden. Der beinhaltete Fotos und Abformungen des Gebisses.

„Wissen Sie, was ich komisch finde?“, fragte ich. Nebenbei rührte ich Gips zusammen. „Warum ist die berühmte Fechterstellung nicht vorhanden?“

Mit dem Kopf deutete ich auf den Verbrannten. Er lag entspannt auf dem Tisch. Normalerweise waren bei Brandleichen die Muskeln durch die Hitze geschrumpft. Daraus resultierte die typische Stellung, die Arme und Beine wie angewinkelt aussehen ließ.

Conal richtete den Zeigefinger auf mich. „Gut erkannt, Jannik, sehr gut.“

Das Lob ehrte mich, trotzdem fand Conal eine Erklärung.

„Die hohe Temperatureinwirkung war wohl nur von kurzer Dauer. Er ist nicht vollständig verbrannt und das kalte Wasser hat den Körper entspannt.“

Der Doc nahm eine Spreizzange zur Hand, mit der er die Lippen des Toten beiseiteschob. Wir sahen auf eine außergewöhnliche Zahnreihe, die weniger einem menschlichen Gebiss glich; eher dem eines Raubtiers. Dr. Klein machte Fotos.

Ich betrachtete die spitzen Eckzähne, die an Reißzähne erinnerten.

„Sind die echt?“

„Das werden wir gleich sehen.“ Conal setzte eine weitere Zange an. Er rüttelte an dem Gebiss. Nichts tat sich. Die Zähne saßen fest. Dr. Klein hörte nicht auf, Fotos zu schießen und unsere Erkenntnisse ins Diktiergerät zu sprechen.

„Ich habe darüber gelesen“, berichtete ich. „Es gibt Menschen, die lassen sich die Zähne extra beim Zahnarzt anspitzen, um wie Vampire auszusehen.“

Dr. Byrne sah mich an, als würde ich spinnen. Er enthielt sich eines Kommentars, betrachtete die Zähne und runzelte die Stirn. „Die Abnutzung des Gebisses sieht natürlich aus.“ Er schnipste mit einem Finger in meine Richtung. Ich reichte ihm die Gips-Masse samt Abformlöffel entgegen und er fertigte den Abdruck an. Zur Begutachtung musste der Abdruck in die forensische Odontologie. Ich war dabei, die zugehörige Verpackung zu beschriften, als Conals Äußerung mich erschreckte.

„Himmel!“, stieß er hervor. „Das ist ja widerlich!“

„Was?“ Sofort stand ich neben ihm. Mit einer Zange hielt er die Zunge des Toten. Sie war nicht vollständig. „Ihm fehlt die halbe Lingua.“

„Von Natur aus?“

„Nein, sie wurde durchtrennt.“

Er ließ das verstümmelte Sprechorgan los, legte die Zange beiseite. „Sowas ist mir noch nie unters Messer gekommen.“ Er hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln. Ich musste ihm beipflichten. Was auf unserem Seziertisch lag, war unglaublich, wenn nicht sogar schauerlich. Und bis ich das behaupten konnte, musste einiges passieren. Dr. Kleins Stimme wurde lauter, als er Details diktierte.

„Meine Güte, schon so spät!“ Conal sah aus dem Fenster. Es dämmerte. Nachdenklich fixierte er den Toten. Wir waren mit der Arbeit noch lange nicht fertig. „Wir machen Montag weiter“, beschloss er. „Der Fall ist aufwändiger, als ich dachte.“ Er schob die Bahre heran. Ich half ihm, den Toten vom Tisch zu ziehen. „Meine Frau hat heute Geburtstag“, erklärte er. „Und ich habe noch keine Blumen besorgt.“

Da wir mit der Obduktion des Verkohlten noch nicht fertig waren, landete er im mittleren Fach von Regal 6 und wir machten Feierabend.

 

Es war Freitagabend. Ich besorgte das Nötigste, um am Wochenende über die Runden zu kommen: Cola, Bier, Fertigpizza, zwei Packungen Nudeln und Kekse. Die S-Bahn war überfüllt, aber ruhig. Jeder Zweite sah in sein Smartphone oder hatte Stöpsel im Ohr.

Mein Arbeitsplatz war fünf Haltestellen von meiner Wohnung entfernt. Bei gutem Wetter nahm ich das Rad. Ich bewohnte eine Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss.

Zuhause angekommen, fütterte ich die Katze. Sie war ein Überbleibsel der Mieterin, die vor mir in der Wohnung gelebt hatte. Aus Mitleid hatte ich das lebende Inventar übernommen, ebenso wie einige Möbelstücke. „Miez, Miez!“, rief ich den dunklen Stubentiger. Als ich mit der Futterpackung raschelte, sprang er aus dem Schlafzimmer. Ich füllte den Napf, schmiss den Ofen an. Kevin hatte sich für 19 Uhr angemeldet. Vorsichtshalber legte ich zwei Pizzen auf das Backblech.

 

Er war pünktlich, klingelte. Ich hätte ihm einen Zweitschlüssel geben können, so oft kam er vorbei. Aber wie gesagt: heiraten wollten wir nicht.

Mit seinem Eintreffen brachte er eine Wolke Aftershave in die Bude. Er war ein Typ, dessen Hose eher in den Kniekehlen saß, als über seinem Hintern. Wie er mir mal berichtet hatte, testete er öfter die neuen Düfte bei Douglas, bevor er mich besuchte. Dachte er, mir würde das gefallen? Dezent öffnete ich das Fenster.

„Und?“

„Läuft!“ Er ließ sich auf das Sofa fallen, schaltete den Fernseher an und reckte den Hals.

„Pizza ist gleich fertig.“ Ich holte Bier und Cola aus der Küche. Einem geruhsamen Abend stand nichts mehr im Wege.

Wir sahen uns „Krieg der Welten“ im TV an, aßen Pizza und tranken Bier. Später tischte ich Knabbereien auf. Als der Film zu Ende war, legte Kevin eine Hand auf meinen Oberschenkel. Das war ein Zeichen, auf das ich mich einließ.

Er öffnete den Reißverschluss meiner Hose und ich seinen. Unsere Hände gingen auf Wanderschaft. Gegenseitig holten wir uns einen runter. Knutschen taten wir nicht. Wir waren Single, ungebunden. Diese Abende, die wir miteinander verbrachten, lenkten uns von der Einsamkeit ab. Kurz nacheinander erlebten wir unseren Höhenflug. Dicht aneinander gepresst stöhnten wir uns in die Ohren. Danach kehrten wir sofort zum Alltäglichen zurück. Der Spätfilm hatte angefangen. Kevin schloss seine Hose, wischte sich die Hand an einer Serviette ab, knüllte sie zusammen und beförderte sie anschließend auf den leeren Teller. Er räusperte sich und fasste in die Schale mit Erdnüssen.

Ich hatte mich eingesaut, zog dessen ungeachtet den Reißverschluss hoch mit dem Gedanken, am Samstag Wäsche zu waschen. Ich stand auf, räumte die Teller zusammen.

„Noch ein Bier?“

Kevin grinste. Seine Wangen leuchteten. „Kann nicht schaden.“

 

Am Wochenende stellte ich mir keinen Wecker. Ausschlafen war angesagt. Trotzdem wurde ich vorzeitig wach. Irgendjemand im Haus meinte, an einem freien Tag renovieren zu müssen. Abwechselnd hörte ich ein Hämmern, ein Kratzen und Schaben. Es dauerte Stunden bis Mittag war und die ersehnte Stille einsetzte.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich stand auf, machte Kaffee. Die Katze umkreiste meine Beine und bettelte nach Futter. Sie benahm sich unruhig. Wahrscheinlich hatten sie die ungewöhnlichen Geräusche verunsichert. Flüchtig sah ich mich um. Kevin war weg. Er blieb nur selten über Nacht und ich war froh darüber. Mein Singledasein ließ ich mir nicht nehmen. Ich gestaltete meine freie Zeit unspektakulär, räumte auf, machte die Wäsche, saß vor dem PC und hörte Musik. Gegen Abend setzten die Geräusche wieder ein. Ein paar Minuten stand ich im Wohnzimmer und hörte zu. Ich konnte nur schwer orten, von wo das Klopfen kam. Es war nicht sonderlich laut, aber monoton und lästig. Über mir wohnte ein älterer Herr. Besaß er die Kraft, um stundenlang die Wände zu bearbeiten? Neben ihm lebte eine alleinerziehende Frau mit Kind. Wenn sie zu Hause war, hörte ich Getrampel und oftmals Geschrei. Davon war nichts zu hören.

Die Wohnung neben mir stand leer. War sie neu vermietet worden? Das könnte die Renovierungsarbeiten erklären.

Ich stellte die Stereoanlage lauter und übertönte die nervenden Laute.

Abends verließ ich die Wohnung. Ich war mit Kevin verabredet. Wir zogen durch die Kneipen und landeten später in einer Diskothek.

 

„Das ist nicht zu fassen!“ Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich auf den Wecker. Es war nicht einmal 8 Uhr und das Klopfen weckte mich am Sonntagmorgen. Die Katze jagte durchs Zimmer, als wäre sie von Sinnen. Bei jedem Geräusch, zuckte sie zusammen.

Mein Schädel brummte. Das war nicht ungewöhnlich, beinahe normal, nach einer Samstagnacht mit Kevin. Am frühen Morgen hatte ich ihn nach Hause begleitet. Dort hatte es einen Quickie gegeben. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, ob er gut gewesen war. Alles drehte sich, als ich den Wecker nochmals betrachtete. Wie ich in mein Bett gekommen war, wusste ich nicht mehr. Das Klopfen hatte aufgehört, stattdessen erklangen andere Geräusche: Irgendjemand säbelte am Boden herum oder an der Decke?

Genervt stand ich auf. Im Bad ereilte mich ein Schreck. Ich sah grauenvoll aus – bleich wie die Wand und übermüdet. War es eigentlich nicht verboten an einem Sonntag Renovierungsarbeiten durchzuführen?

 

Ich hatte keine Lust auf einen Besuch. Kevin stand abends trotzdem vor der Tür – bepackt mit Menüs vom Chinesen, da konnte ich nicht nein sagen.

Wir ließen den Tag ruhig ausklingen; sahen TV und sprachen über die Arbeit. Das Aufklären von Todesfällen faszinierte uns gleichermaßen. Obgleich Kevin im Labor der forensischen Toxikologie und Serologie nachging, tat ich mit dem Aufschneiden der Körper etwas Ähnliches: dem Tod auf die Schliche kommen.

Gern sahen wir uns Serien wie „Medical Detectives“ an. Wir diskutierten angeregt über die Fälle, klärten, was wir anders gemacht hätten.

In regelmäßigen Abständen war das gedämpfte Hämmern zu hören, so dass wir die Lautstärke des Fernsehers hochstellten. Kevin fasste sich an den Kopf.

„Unmöglich, diese Ruhestörung.“

In der Werbepause tat ich das, was ich den ganzen Tag schon vorhatte. Ich klingelte an der Wohnungstür nebenan, wissend, dass die Räume dahinter eigentlich leer standen. Niemand öffnete. Ich klopfte an. „Ist jemand da? Hallo?“

Meine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Ich kehrte zu Kevin zurück, setzte mich auf das Sofa.

„Drüben ist niemand. Ich muss mal mit der Vermieterin reden.“

„Würde ich auf jeden Fall tun“, meinte Kevin. „Ein paar Geräusche sind okay, aber das …“

Plötzlich jagte die Katze durch das Zimmer. Sie kam aus dem Schlafzimmer geschossen, buckelte, fauchte und riss das Maul auf. Sie sprang auf die Arbeitsplatte der Küche und drehte den Kopf in Richtung des Schlafzimmers, als würde sie dort irgendetwas fixieren.

Ich reckte mich. Das Schlafzimmer war unbeleuchtet. Nichts Ungewöhnliches war zu erkennen.

„Was ist denn mit der los?“, fragte Kevin. Er langte in die Schale mit Chips, krümelte. Ich dachte ans Staubsaugen.

„Keine Ahnung. Die ist seit ein paar Tagen so komisch. Kann den Lärm wohl nicht ab.“

Wir beließen es dabei. Die Katze verkroch sich in die Höhle ihres Kratzbaums. Später fing zwischen Kevin und mir das Fummeln an, wobei es auch blieb. Ich war müde und schickte ihn zeitig nach Hause.

Kapitel 2

 

An einem Montagmorgen erwartete ich bei niemandem gute Laune. Normalerweise ging es da ruhig in unseren Räumen zu. Am Wochenende hatte man Zeit, um in sich zu gehen. In unserer Abteilung war der Tod immer gegenwärtig. Im Alltag vergaß man das. Ich hatte das Gefühl, dass die Mitarbeiter unserer Truppe am Anfang der Woche gefühlvoller mit den Toten umgingen. Es gab neue Fälle, neue Aufgaben. Gegen Ende war man erschöpft. Nicht selten wurde der letzte Arbeitstag hektisch und laut. Ebendiese Aufregung kam mir nun entgegen, als ich unsere Abteilung betrat und auf dem nassen Boden beinahe ausrutschte. Ich konnte mich gerade noch fangen, mit den Armen rudern und durch reflexartiges Auspendeln auf den Beinen halten.

Der Putzwagen stand in unserem Seziersaal. Das war ungewöhnlich. Üblicherweise waren die Böden getrocknet, wenn ich zum Dienst kam. Hatte die Reinigungskraft verschlafen? Hatte eine neue Kraft angefangen, die nicht wusste, wie man sich hier zu verhalten hatte? In mir stieg die Wut hoch. Abweichungen in der Routine stimmten mich unzufrieden.

Vorsichtig lief ich über den nassen Boden. Eine Oberschenkelhalsfraktur war das Letzte, was ich gebrauchen konnte.

Die Putzfrau stand vor dem Kühlraum. Auch dort glänzte der Boden nass.

„Was ist hier los?“, rief ich. Sie erschrak, wirbelte herum, dabei glitt der Feudel aus ihrer Hand. Ich kannte sie, Frau Gönül. Sie war eine zuverlässige Arbeitskraft. „Wieso sind die Flure feucht?“, hakte ich nach, ohne zu grüßen. „Haben Sie später angefangen als sonst?“

Sie sah mich an, als verstünde sie nichts. Nun, ich muss zugeben, eine richtige Unterhaltung hatte ich zuvor noch nie mit ihr geführt. Ich wusste nicht, wie gut sie der deutschen Sprache mächtig war.

„Alles Schmutz auf Boden“, erwiderte sie. Mit ihrer Hand machte sie eine ausschweifende Bewegung.

Ich stutzte. „Wurde am Freitag nicht mehr gewischt?“

„Freitag ich habe alles geputzt.“ Sie hob den Feudel auf. „Heute Morgen, alles mit Dreck.“ Sie deutete auf den Boden und in Richtung des Flures. Ich sah mich nur flüchtig um.

„Am Wochenende ist hier normalerweise kein Betrieb“, erinnerte ich.

„Alles voll mit Abdruck, hier …“ Sie zeigte um sich.

„Aha …“ Richtig folgen konnte ich ihr nicht. Sie starrte mich an, als hätte ich eine Erklärung. Die hatte ich nicht. Ich musste annehmen, dass am Wochenende jemand hier gewesen war. Dr. Klein kam ab und zu außerhalb der Arbeitszeiten, wenn er nach Feierabend keine Ruhe fand. Ob seine Schuhe schmutzig gewesen waren? War jemand von der Wach- und Schließgesellschaft hier gewesen? Hatte eine Kühltruhe ihren Geist aufgegeben? Das kam schon mal vor. Nicht selten riefen wir einen Hausmeister, den sogenannten Facility Manager.

„Sind Sie fertig?“, fragte ich ungeduldig. „Wir müssen gleich anfangen.“

„Noch nie da gewesen, so viel Schmutz.“ Sie schüttelte den Kopf, packte ihre Utensilien zusammen und verschwand.

Für mich war die Angelegenheit erledigt.

 

Der Raum füllte sich. Conal tippte am Laptop herum. Ich hatte unseren Tisch mit den Instrumenten bestückt, wartete auf sein Zeichen, dann machte ich mich auf den Weg, um das Brandopfer aus der Kühlung zu holen.

Im Kühlraum herrschte Betrieb. Tote wurden aus den Fächern gezogen. Auch kamen vereinzelt Mitarbeiter vorbei, um Asservate abzuholen. Bei bis zu minus zwanzig Grad konnten verschiedene Proben in den Kühltruhen gelagert werden.

Irgendwann war ich an der Reihe. Ich griff mir den Hubwagen und fixierte Regal sechs. Dort waren alle  Ablagen leer. Nur der weiße Plastiksack lag auf dem mittleren Metallgestell. Von dem Brandopfer keine Spur. Bevor ich Alarm schlug, sah ich mir die anderen Regale an. Zwei Neuzugänge machte ich aus. Alle vorhandenen Toten waren mit einem Zettel versehen. Der Verkohlte war nicht unter ihnen. Sein Zettel, der keinen Namen, sondern nur eine Aktennummer trug, lag lose in dem Leichensack.

 

„Wie – verschwunden?“ Conals Stimme nahm sofort einen angespannten Unterton an, als ich ihm berichtete, dass sich unser Brandopfer nicht mehr im Kühlraum befand.

Dr. Rittmann, der montags den Posten von Dr. Klein übernahm, unterbrach seine Arbeit. „Leer sagen Sie?“

Ich hob die Hände in die Höhe, wollte alle Schuld von mir weisen.

„Keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber Regal sechs ist nicht bestückt. Leichensack und Schild sind da, aber der Tote ist weg.“

„Gibt’s doch gar nicht!“, zischte Conal. Dr. Rittmann legte die Hand auf seine Schulter.

„Ich erkundige mich …“ Er wandte sich dem Telefon zu und führte Gespräche.

Nachdem seine Nachforschungen uns nicht weiter brachten – niemand wusste, wieso und warum ein Toter aus dem Kühlraum entfernt wurde – schalteten wir den Sicherheitsdienst ein. Nachts wurde unser Gebäude überwacht. Die Wach- und Schließgesellschaft sah regelmäßig vorbei, konnte aber für das Wochenende keine ungewöhnlichen Ereignisse vermelden.

Die zwei Neuzugänge waren erst am Morgen aus der Klinik-Pathologie angeliefert worden. An Routine war nicht zu denken. Während die anderen Teams ihrer Arbeit nachgingen, uns zwischendurch neugierig beäugten, denn unseren Aufruhr konnten wir nicht verbergen, mussten wir gezwungenermaßen auf die Polizei warten.

 

Zur Mittagszeit konnte ich das erste Mal durchatmen. Ich holte mir eine Portion Spaghetti Bolognese, obwohl ich keinen Appetit verspürte. Stattdessen brannte es mir auf der Zunge, Kevin von den Neuigkeiten zu berichten.

„Du glaubst nicht, was bei uns los war. Eine Leiche ist verschwunden …“

Kevin lachte, nahm mich nicht ernst. „Ha, ha, wie soll das passiert sein? Hat sie sich am Wochenende aus dem Staub gemacht?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Dr. Rittmann hat überall rumtelefoniert. Abgeholt wurde der Tote nicht. Wir waren ja noch nicht einmal mit der Obduktion fertig.“

Kevin kaute zu Ende. Wieder stand eine Schale Salat vor ihm auf dem Tisch. Sein Lachen verstummte. „Echt jetzt? – Leichenraub? Oder an was denkst du?“

Ich musste passen. Erklären konnte ich die Umstände nicht. „Irgendjemand muss die Leiche entwendet haben. Sie wird wohl kaum von allein …“ Mir stockte der Atem. Das Erlebnis mit Frau Gönül kam mir in den Sinn. Noch nie da gewesen, so viel Schmutz …

„Warte mal …“ Ich stand auf und eilte an den Tisch, an dem Conal saß. „Entschuldigen Sie, es ist wichtig.“

„Was gibt es, Jannik?“ Nicht nur er sah mich an, sondern auch seine Gesprächspartner.

„Wegen heute Morgen …“ Mehr musste ich nicht sagen. Die Lage war vertrackt und unangenehm. Aus unserem Kühlraum war ein Toter verschwunden. So etwas machte die Runde. Ich konnte mir vorstellen, dass alle am Tisch davon wussten. Am Abend würde es die gesamte Rechtsmedizin wissen, morgen das komplette Krankenhaus und übermorgen sämtliche Bürger der Stadt.

Conal kam auf die Beine, entschuldigte sich. Uns war bewusst, dass wir die Angelegenheit diskret behandeln mussten, denn natürlich sah man zuerst auf uns und unsere Arbeit. Wir waren es, die Verantwortung für alle Vorgänge trugen. Der Körper war aus unseren Räumen verschwunden und wir hatten keinen Schimmer wieso.

„Ja?“ Er sah mich fragend an. In seinen Augen erkannte ich die Ratlosigkeit. Er stand noch unter Schock. Ich mochte mir nicht vorstellen, welche Vorwürfe er sich machte und wie ihn sein Gehirn bei den Überlegungen malträtierte.

„Die Putzfrau hat heute Morgen ungewöhnliche Spuren im Kühlraum und im Flur bemerkt. Sie sprach von Schmutz, obwohl am Freitag gewischt wurde.“

„Was für Spuren?“, fragte er nach.

„Genau weiß ich es nicht“, erwiderte ich. Nun machte ich mir Vorwürfe. Ich hätte ihr Anliegen ernster nehmen sollen. Stattdessen hatte ich die Sache abgetan, als hätte sie sich etwas eingebildet.

„Mmh.“ Conal grübelte laut. „Mir ist nichts aufgefallen.“

„Das ist es ja!“, platzte es aus mir heraus. „Sie hat alles weggewischt! Alle Beweise sind fort.“

 

Wir eilten in unsere Abteilung. Die Polizei hatte ihre Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. Jeder wurde befragt. Nach meinen Erzählungen wurde auch die Putzfrau herangezogen, die zu Protokoll gab, dass sie am Morgen einen dreckigen Flur vorgefunden hatte. Sie berichtete von kleinen schwarzen Teilchen, merkwürdigen Schmutzpartikeln.

„Schwarze Teilchen, wie im Leichensack von Regal sechs?“, fragte einer der Polizisten.

Frau Gönül stimmte zu.

„Das ist nicht ungewöhnlich“, schaltete sich Conal dazwischen. „Der Tote hatte schreckliche Brandwunden. Kaputte Haut schält sich, wenn sie trocknet.“

„Das bedeutet, der Schmutz kam vom Verstorbenen?“, hakte der Polizist nach.

Conal zog die Schultern hoch. „Könnte ich mir vorstellen. Wie soll es sonst gewesen sein?“

Der Polizist schüttelte den Kopf. „Dann müsste jemand die Leiche nackt wie sie war, über den Flur befördert haben …“ Wir ließen seine Aussage kommentarlos stehen. Die Vorstellung war verrückt. „Wer hat Zugang zum Kühlraum?“

„Jeder, der hier arbeitet. Wir nutzen Schlüsselkarten.“

Der Polizist machte sich Notizen. Einer seiner Kollegen inspizierte die Tür. Sie besaß von außen einen Knauf und von innen einen Griff.

„Also hinein kommt man mit der Karte und hinaus …“

Wir sahen alle zur Tür. Kommissar Berndt, der die Leitung des Falls übernahm, kniff die Augen zusammen. „Wieso gibt es von innen diesen Griff?“

„Na ja, wenn die Tür zufällt und doch mal jemand …“ Conal zögerte mit seiner Antwort. „Also ich denke, niemand möchte hier drinnen eingesperrt sein. Es ist eine Sicherheitsvorkehrung.“

„Aha, verstehe …“ Der Kommissar überlegte. Schließlich stellte er die Frage, die ich erwartet hatte. „Und Sie sind sich sicher, dass die vermisste Person tot war?“

 

Früher als sonst machten wir Feierabend. Der sogenannte „Tatort“ wurde von der Spurensicherung belagert und die Ermittlungen der Polizei störten den Arbeitsalltag.

Mir war es recht. Das Wochenende saß mir in den Knochen und ich war innerlich aufgewühlt. Ich konnte mir partout nicht vorstellen, dass jemand aus unserem Team eine Leiche stahl. Und sobald ich eine andere Ursache für das Verschwinden der Leiche in Betracht zog, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

Zu Hause versuchte ich, mich abzulenken, was nicht einfach war, denn noch immer hörte ich in unregelmäßigen Abständen Geräusche, die ich niemandem zuordnen konnte.

Obwohl ich mir mittlerweile sicher war, dass die Laute nicht von oben kamen, sondern von nebenan; aus der Wohnung, die normalerweise leer stand.

Ich rief meine Vermieterin Frau Schneider an. Sie wohnte in der zweiten Etage, war alt und schwerhörig. „Ja?“, krächzte sie in die Leitung.

„Ja, hallo Frau Schneider. Hier ist Jannik Fuhrmann aus dem Erdgeschoss. Ich rufe wegen der freien Wohnung an.“

„Wer ist da?“

„Jannik Fuhrmann!“

„Ach, Jannik … Was gibt es denn?“

„Ich wollte fragen, ob Sie die freie Wohnung inzwischen vermietet haben?“

„Ja, es ist noch eine Wohnung frei.“

„Das weiß ich … also ist sie nicht neu vermietet? Ich höre ständig Geräusche. Es klingt, als ob jemand renoviert …“

„Nein, renoviert ist sie nicht. Da müsste man noch einiges tun.“

Ich atmete tief durch. „Es ist also niemand in der Wohnung?“

„Nein“, erwiderte sie. „Warum fragen Sie?“

„Ich höre Geräusche …“

Nun seufzte sie. „Das Haus ist hellhörig. Manchmal bin ich dankbar, dass ich nicht alles mitbekomme.“

Ich horchte. Das Schaben hatte nachgelassen. Waren es Mäuse, die sich durch die Wände nagten oder ein Marder, der in der freien Wohnung sein Unwesen trieb? „Okay, vielen Dank, ich melde mich, wenn es nicht besser wird.“

 

Am nächsten Morgen präsentierte uns der leitende Kommissar Herr Berndt, was die Ermittlungen ergeben hatten:

am Fußschild und am Metallgestell von Regalreihe sechs konnten keine eindeutigen Fingerabdrücke festgestellt werden. Das musste bedeuten, dass der ‚Leichenentführer‘ Handschuhe getragen hatte. Keine befriedigende Erklärung, denn, wie uns mitgeteilt wurde, gab es Rückstände von Rußpartikeln auf Schild, Metall und dem Türgriff. Die Leiche hatte demzufolge Kontakt zu den Gegenständen gehabt.

Der Kommissar sah gestresst aus, als er uns berichtete, was er vermutete. „Wenn Sie mich fragen, sieht es so aus, als ob der Tote den Raum auf den eigenen Füßen verlassen hat.“ Er zählte auf: „Die Putzfrau berichtet von Abdrücken auf dem Boden, es gibt keine Hinweise dafür, dass jemand Unbefugtes den Raum betreten hat, die Kontaminationen von Schild, Metall und Türklinke weisen darauf hin, dass die Person keine Handschuhe trug, aber keine Fingerabdrücke hinterlassen hat – was sich dadurch erklärt, dass der Vermisste verbrannte Fingerkuppen besaß.“ Der Polizist erwartete ein Kopfnicken, doch Dr. Byrne und ich waren wie erstarrt. „Ich weiß, es klingt unglaublich“, fuhr Kommissar Berndt fort, „aber wir müssen davon ausgehen, dass sich das Opfer aus eigener Kraft aus dem Leichensack geschält hat. Der Mann hat sich das Schild vom Fuß entfernt, ist aus dem Regal geklettert, hat die Tür geöffnet und dabei die Rußpartikel verteilt, auch auf dem Flur …“ Er holte Luft. „Die Überwachungskamera im Foyer hat aufgezeichnet, dass sich Freitagnacht eine Person durch die Gänge bewegt hat. Leider sind die Aufzeichnungen schlecht. Die Kameralinse ist verschmutzt. Der Hausmeister hat aber berichtet, dass es nachts im hinteren Bereich des Gebäudes zu einer elektronischen Störung der Notausgangstür gekommen ist. Ich vermute, dass der Vermisste die Tür mit Gewalt geöffnet hat, denn auch dort haben wir Rußpartikel gefunden.“

„Tsss!“ Dr. Byrne trat genervt auf der Stelle und stemmte die Arme in die Hüften. „Sie wissen, wie Ihre Vermutung klingt, oder? Das ist hanebüchener Unsinn, den Sie sich zusammenreimen.“

Der Kommissar nahm die Anschuldigung gelassen hin. „Ich bin mir bewusst, wie das klingt, aber auf der anderen Seite bin ich auf keine eindeutigen Indizien gestoßen, die uns beweisen, dass der Vermisste tatsächlich tot war.“

„Sie sind hier in der Rechtsmedizin!“, tönte Conal. „Selbstverständlich sind unsere Kunden tot!“

„Wer prüft das?“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Das Gespräch wurde unangenehm. Conal gab nicht sofort eine Antwort.

„Der Tod wird am Fundort festgestellt“, sagte er schließlich. „Es ist nicht unsere Aufgabe, den Exitus infrage zu stellen.“

„Aber möglich wäre das, oder?“ Herr Berndt ließ nicht locker. Meine Güte, hatte er recht? Ich schluckte hörbar. Hatten wir einen Fehler begangen? Unsicher blickte ich Conal an.

„Wir schreiben hier keine EKGs, falls Sie darauf hinauswollen.“

„Aha!“ Der Kommissar war mit der Aussage zufrieden.

„Der Körper hatte schwere Verletzungen und wurde aus dem Wasser gefischt …“ Conals Blick ging ins Leere. „Ich denke, die Kollegen am Fundort haben nicht versucht, zu reanimieren. Für sie war das Ableben eindeutig.“

„Okay!“ Herr Berndt lächelte. „Das hilft mir weiter. Ich werde mir die Kollegen vorknöpfen.“ Er bedankte sich für die Auskunft und verschwand.

„Ob das Ärger gibt?“, fragte ich geistesabwesend.

Conal schüttelte den Kopf. „Wir haben alles richtig gemacht.“ Er sah sich prüfend um. „Wo steckt eigentlich Dr. Klein?“

 

Wir aßen Döner. Ich fragte mich, warum wir meistens bei mir waren. Okay, mein Fernseher war größer und oftmals machte es mir nichts aus, zu kochen, doch hätte Kevin auch mal öfter die Initiative ergreifen können.

Ich sah ihn schweigend an, beschwerte mich nicht. Die wenigen Freunde, die ich hatte, wollte ich nicht durch schlechte Laune vergraulen. Es kam ab und an vor, dass sich neue Bekanntschaften von mir abwandten, spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem ich erzählte, was ich beruflich machte.

„Glaubst du an Gammelfleisch?“ Kevin holte mich aus meinen Überlegungen. Er sah gut aus in seinem Kapuzenpulli und den neuen Jeans. Heute roch er nur dezent nach Aftershave. Peinlich genau fixierte er ein Stück Kebab, das er zwischen den Fingern hielt.

„Weiß nicht – heutzutage ist überall was drin. Auch in deinem Salat.“

Kevin setzte an, um seine geliebte Rohkost zu verteidigen, doch er gab auf, bevor er ein Gegenargument parat hatte. Stattdessen wechselte er das Thema.

„Was ist denn nun mit der verschwundenen Leiche?“

Ich war froh, dass er fragte. Die Sache ging mir nicht aus dem Kopf. „Die Polizei vermutet, dass der Typ noch gelebt und sich selbstständig vom Acker gemacht hat.“

„Was? Ehrlich?“ Kevin wischte sich mit der Papierserviette über den Mund. Zum Glück mussten wir uns nicht küssen. Mir gefiel der Nachgeschmack des Döners nicht, der nach dem Essen zurückblieb. „Wenn der scheintot war, hat da irgendjemand gepfuscht.“

„Na ja.“ Ich zögerte, starrte auf das Essen. „Je mehr ich darüber nachdenke …“

„Ihr hattet den doch schon aufʼm Tisch!“ Kevin geriet richtig in Fahrt. „Da hättet ihr etwas merken müssen.“

„Natürlich.“ Ich drehte den Döner in meiner Hand und fixierte den Bereich, der am meisten Fleisch enthielt. Bei einem Gespräch über die Arbeit verging mir selten der Appetit. „Er war unterkühlt, zeigte beginnende Leichenstarre …“ Ich stoppte. Waren das genügend Hinweise? Ich wusste, dass durch Hitze sichere Todeszeichen verfälscht werden konnten.

„Hatte er Totenflecken?“, hakte Kevin nach.

„Das konnte man nicht genau sehen“, gestand ich. „Er war trotz seines Aufenthalts im Wasser voller Ruß. Die intakte Haut war gerötet.“

„Ihr hättet Totenflecken sehen müssen, überall dort, wo das Feuer nicht hingekommen ist.“

Ich wand mich, wollte nicht zugeben, dass wir vielleicht etwas übersehen hatten.

„Weiß ich …“

„Wie hoch war der Co-Hb Gehalt im Blut?“

Ich sah ihn schief an. „Das müsstest du besser wissen, du arbeitest im Labor.“

„Stimmt.“ Kevin lachte, grübelte. „Ich glaube, da gab es keine Auffälligkeiten. – Hatte er Ruß eingeatmet?“

„Soweit waren wir noch nicht … Dr. Byrne musste Freitag zeitig Feierabend machen.“

„Dann haben die Notärzte versagt!“ Kevin unterstrich seine Aussage mit einem kräftigen Nicken. „Totenstarre, Totenflecken, mit dem Leben nicht zu vereinende Verletzungen, das sind sichere Todeszeichen, die vorhanden sein müssen. – Hatte er Kopfverletzungen?“

Ich verneinte.

„Verwesungsgeruch?“