K. A. Winter

Ausgelebt

Mølgaards erster Fall

 

Mondschein Corona – Verlag

Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

1. Auflage

Erstauflage Oktober 2016

© 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona

Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Autorin: K. A. Winter

Lektorat/Korrektorat: Michael Weiner

Grafikdesigner: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano

Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

 

ISBN: 978-3-96068-071-0

 

© Die Rechte des Textes liegen beim

Autor und Verlag

 

Mondschein Corona Verlag

Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.mondschein-corona.de

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

 

 

Prolog

 

Der Rhodesian Ridgeback war in wenigen Sekunden außer Sichtweite. Morten hörte ihn durch das Unterholz hetzen. Blätter raschelten und Zweige knackten dort, wo der Hund seine Pfoten aufsetzte. Morten stapfte hinterher und vergrub die Hände tief in den Taschen seines alten, schon stark abgewetzten Mantels. Er fröstelte. Die Luft war merklich abgekühlt in den letzten Tagen, der Winter war nicht mehr weit. Der Wald lag einsam und still. Das erste Licht der Morgendämmerung erhellte notdürftig den morastigen Weg, der vor ihm lag. Morten hörte seinen Hund kurz anschlagen. Das Vogelgezwitscher verstummte für einen Moment. Er pfiff, aber Jasper reagierte nicht. Morten legte einen Schritt zu. Er hörte seinen Hund knurren und keuchen.

Mist, verdammter, fluchte er in Gedanken, der Köter hat bestimmt irgendwas zwischen den Zähnen. Hoffentlich nicht irgendein halbverwestes Tier.

Er hatte erst in der letzten Woche einen zerfledderten Vogel aus dem Keller seines Hauses entfernen müssen. Nicht unbedingt eine seiner Lieblingsaufgaben.

Als Morten die Biegung erreichte, hielt er inne und kniff die Augen zusammen. Weniger als zwanzig Meter vor ihm stand eine riesige Eiche. Morten kannte den Baum. Er war schon hundert Mal an ihm vorbei gegangen. Aber an diesem Morgen hing etwas an einem Ast, der sich quer über den Weg streckte. Eine Leiche.

Morten rührte sich nicht. Er starrte auf die Tote, die in einem seidenen, für die Jahreszeit eigentlich viel zu dünnen Kleid, sanft in der frischen Morgenbrise baumelte. Ihre Arme hingen schlaff herunter, das blau verfärbte Gesicht war aufgedunsen und der Kopf zur Seite abgeknickt. Quer über ihren Bauch klaffte eine Wunde, aus der Gedärme quollen.

Die Welt schien einen Moment still zu stehen, während Morten versuchte zu begreifen, was er sah. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er verlor jegliches Zeitgefühl. Erst das Winseln seines Hundes brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Jasper lief unruhig im Kreis, während er die Erhängte wie ein Beutetier fixierte. Der Hund setzte zum Sprung an. Die Leiche hing zu hoch, als dass Jasper sie hätte erreichen können. Der Hund sprang wieder und wieder empor und schnappte nach den Füßen. So sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Morten näherte sich zögernd und verwünschte seinen Hund. Wieder schnellte Jasper hoch. Diesmal bekam er etwas zu fassen. Er zog und zerrte. Die Leiche begann hin und her zu schwingen, grotesk zuckend, wie eine überdimensionale Marionette.

Morten rang nach Luft. Der Hund hatte eine der Darmschlingen zu fassen bekommen.

„Jasper, aus!“, brüllte Morten. Er fuchtelte mit den Armen.

Der Hund hielt kurz inne und sah sein Herrchen an. Dann lief er zu Morten, seine Beute fest zwischen den Zähnen. Es sah aus, als würde er die Leiche mit sich ziehen. Morten fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Jasper blieb wenige Meter vor ihm stehen. Die Leiche hing nun schräg zwischen dem Baum und seinem Hund.

„Aus, Jasper, aus!“ Mortens Stimme überschlug sich, doch es war zu spät.

Der Darm riss und sein Inhalt klatschte direkt unter der Leiche auf den nassen Waldboden. Jasper, plötzlich befreit, sprang an seinem Herrchen hoch, das Darmende noch immer fest zwischen seinen Zähnen.

Morten wich zurück. Er stolperte über eine Wurzel und fiel in den Schlamm. Jasper setzte nach und kam über ihm zum Stehen. Der Darminhalt tropfte aus seinem Maul auf Mortens Mantel. Morten würgte. Mit zitternden Händen griff er nach Jaspers Kiefern und zwang sie auseinander. Der Darm fiel neben ihm in eine Pfütze. Morten hielt seinen Hund fest am Halsband und kroch zwei Meter weg. Den Hund zog er mit sich über den aufgeweichten Boden. Jasper winselte und Morten übergab sich. Schwer atmend gelang es ihm einen Augenblick später, sein Handy aus der Manteltasche zu fischen. Er wählte die Nummer der Polizei. Jasper knurrte leise und beobachtete die Leiche, die nun wieder sachte, fast friedlich, hin und her pendelte.

Morten empfand tiefe Abscheu für seinen Hund.

Dass er ihn an diesem Morgen von der Leine gelassen hatte, würde er sein Leben lang bereuen.

 

Kapitel I

 

Das Klingeln des Telefons riss mich aus dem Tiefschlaf. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen und starrte auf das Display. Es war viel zu früh, mein Wecker würde erst in einer halben Stunde klingeln, aber was noch schlimmer war, war der Name des Anrufers.

Rasmus Olsen, mein neuer Kollege. Ein eingebildeter Fatzke aus Kopenhagen. Rasmus Besserwisser hatte ich ihn insgeheim getauft. Jeder zweite Satz von ihm begann mit: also in Kopenhagen haben wir das immer so gemacht ...

Willkommen im dunklen Nordjütland, dachte ich, Dänemarks tiefster Provinz. Ich setzte mich im Bett auf.

„Was ist?“, bellte ich ins Telefon.

„Guten Morgen, Rikke, hier ist Rasmus. Du musst sofort nach Tornby rauskommen. Wir haben hier eine Leiche.“

„Mein Dienst beginnt erst um acht“, knurrte ich.

„Rikke, hier ist ein Mord passiert!“

„Woher weißt du das? Hast du schon mit dem Arzt gesprochen?“

„Das brauche ich nicht.“

Ich verdrehte die Augen. Na klar, der Herr Großstadtheini.

„Und wieso nicht?“, schnauzte ich ins Telefon.

„Weil die Leiche an einem Baum hängt. Aufgeknüpft. Und zwar so hoch, dass ein Selbstmord ausgeschlossen ist. Und ich brauche keinen Scheißarzt, um zu sehen, dass hier ein Mord passiert ist. Wir beide sind als Team eingeteilt, also beweg dich hierher.“

Mein Blutdruck stieg innerhalb weniger Sekunden in eine schwindelerregende Höhe. Ich zwang mich ruhig zu sprechen.

„Was ist mit Gunnar und Kim? Können die nicht den Fall übernehmen?“

„Gunnar hat ab morgen Urlaub und Kim hat noch drei offene Fälle. Was ist los mit dir?“

„Ich habe drei Kinder hier, um die ich mich kümmern muss, verdammt nochmal. Mein Dienst beginnt erst in ein paar Stunden. Glaubst du, ich habe ein Kindermädchen, das die Kinder in die Schule bringt? Mach du doch erst mal alleine den Tatort. Ich bin dann um acht auf dem Revier.“

„Du bist die Kommissarin. Ich bin nur der Neue und im Übrigen ist das hier mein erster Mordfall. Ich will das nicht versauen. Aber wenn du darauf bestehst, rufe ich Sigvardsen an und sage ihm, dass du keinen Bock hast.“

Ich stöhnte innerlich. Bloß nicht den Chef. Ich hatte sowieso schon zu viele Fehltage wegen meinem Jüngsten. Mist, verdammter, ich musste einlenken.

„Entspann dich, Olsen. Ich mach mich auf den Weg. Wo genau ist das denn?“

Ich hörte Rasmus aufatmen.

„Fahr direkt nach Tornby. Von der Hauptstraße geht links der Weg zum Wald ab. Fahr bis zum Parkplatz am Horsebækken, dann siehst du uns schon.“

„Okay, bin gleich da.“ Ich legte auf und massierte mir kurz die Schläfen. Was Rasmus nicht wusste, war, dass das auch mein erster Mordfall war. Hier starben die Menschen an einem Herzinfarkt oder einfach an Langeweile. Höchstens noch ein Autounfall oder Brand. Aber Mord? Herrgott nochmal.

Ich schwang meine Beine über die Bettkante und streckte mich kurz. Dann griff ich nach meiner Hose, die auf dem Boden vor meinem Bett lag und schlüpfte hinein. Manchmal macht sich Unordnung eben auch bezahlt, dachte ich. Der Rest meiner Sachen von gestern lag zusammengeknüllt auf dem Korbstuhl in der Ecke. Es würde reichen müssen. Ich zwang mich aufzustehen und durchquerte das Schlafzimmer. Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge zurück, aber dadurch wurde es auch nicht wesentlich heller. Der Himmel war mit dunklen Regenwolken überzogen und würde wahrscheinlich auch den Rest des Tages nicht mehr als trübes Dämmerlicht hergeben. Meine Laune sank auf den absoluten Nullpunkt. Ich strich das T-Shirt glatt und huschte ins Bad. Dort kämmte ich mir schnell die Haare und stibitzte ein leuchtend oranges Haargummi aus der Kosmetiktasche meiner Tochter Mie, um mir einen Pferdeschwanz zu binden. Prüfend betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Meine dunklen Haare machten mich in den Wintermonaten noch bleicher als ich ohnehin schon war und die Knitterfältchen unter meinen Augen ließen mich auch nicht frischer aussehen. Was soll`s. Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus.

Dann schlich ich in Mies Zimmer. Es war im Gegensatz zum Rest des Hauses immer ordentlich aufgeräumt. Weiße Orchideen zierten die Fensterbretter. Es roch dezent nach Vanille und Orangen. Mies Zimmer war eine Oase der Ruhe und Ordnung in dem alten Bauernhaus, das ich mit meinen Kindern bewohnte. Ich wünschte mir manchmal, dass Mie auch in dem Rest des Hauses für Ordnung sorgen würde, aber das würde wohl ein unerreichbarer Traum bleiben.

Meine Tochter lag eingerollt unter der Bettdecke. Ihre braunen Haare verteilten sich wie ein riesiger Fächer auf dem Kopfkissen. Ich rüttelte Mie sanft an der Schulter.

„Mie-Maus, aufstehen“, flüsterte ich.

„Mama, ich habe mir selbst den Wecker gestellt.“ Meine Tochter zog die Decke bis zur Nase hoch.

„Ich weiß, Schatz. Aber ich muss sofort zu einem Tatort. Es ist wirklich dringend. Kannst du nicht William in die Schule bringen und dafür sorgen, dass Jeppe aufsteht?“

„Jeppe kann doch selber aufstehen. Er ist sechzehn.“

„Naja, da liegt die Betonung wohl eher auf sechs. Du weißt doch, dass er nicht alleine aus dem Bett kommt.“ Ich küsste Mie auf die Stirn. „Du bist ein Schatz. Und vergiss nicht, das Pausenbrot für William zu machen.“

„Mama!“ Meine Tochter setzte sich empört im Bett auf, doch ich eilte aus dem Zimmer. Für Diskussionen war jetzt keine Zeit.

In der Diele griff ich nach meiner Jacke und schlüpfte in meine Stiefel. Dann nahm ich Schal und Handschuhe aus der obersten Kommodenschublade. Hoffentlich musste ich nicht den ganzen Vormittag im Wald verbringen. Ohne Frühstück oder zumindest einen Kaffee wurde ich schnell ungenießbar. Ich hörte das Tapsen von nackten Füßen auf dem Küchenboden. Gott sei Dank, Mie war aufgestanden.

„Hier, Mama.“

Ich drehte mich um. Meine Tochter stand in der Tür und hielt mir ein Glas Orangensaft hin.

„Ach, danke, Maus. Lieb von dir.“ Ich stürzte den Saft hinunter und stellte das Glas auf die Kommode. Hinter Mie tauchte mein Jüngster auf. William. Er schleifte einen verschlissenen Teddybären an dem noch verbliebenen Ohr hinter sich her. Er blieb neben seiner Schwester stehen und kuschelte sich an ihr Bein.

„Wohin gehst du, Mama? Kann ich mitkommen?“

„Heute nicht, Schatz. Du musst doch in die Schule. Die erste Klasse ist die wichtigste, das weißt du, nicht wahr? Da kannst du nicht einfach fehlen.“ Ich hockte mich vor meinen Sohn und tippte ihm sanft auf die Nasenspitze. „Ich geh nur arbeiten. Heute ausnahmsweise mal ein bisschen früher. Mie bringt dich in die Schule.“

„Okay.“ William drehte sich um und tapste in die Küche. „Kann ich Schokopops haben?“

„Na klar.“ Mie zwinkerte mir zu und folgte ihrem kleinen Bruder.

Ich schlüpfte schnell aus dem Haus und zog die Tür leise hinter mir zu.

 

Kapitel II

 

Ich bog auf die Straße zum Wald ein. Der Asphalt ging bald in einen schmalen Schotterweg über. Wenige hundert Meter weiter tauchte das Parkplatzschild im Dämmerlicht auf. Horsebækken stand darunter. Ich ließ meinen Volvo ausrollen.

Der größte Teil des Parkplatzes war abgeriegelt. Zwei Polizeiautos standen dort mit eingeschalteten Scheinwerfern. Jonas, einer meiner Kollegen, stieg aus dem Dienstwagen und trat an mein Auto. Er nickte, als er mich erkannte. Dann hob er das Absperrband und winkte mich durch. Ich parkte neben den anderen Autos und stieg aus dem Volvo. Jonas´ schlaksige Gestalt überragte mich um mindestens eine Kopflänge. Er reichte mir eine Taschenlampe, aber ich winkte ab.

„Morgen, Jonas. Dich haben sie ja auch früh aus dem Bett geklingelt.“

„Nö, kein Problem, Rikke. Ich war noch von der Nachtschicht da. Mein Dienst endet erst um neun.“ Er wies mit ausgestrecktem Arm den Weg hinunter. „Fünfzig Meter geradeaus und dann links runter. Siehst du dann schon. Ist alles beleuchtet. Wir haben ein paar Scheinwerfer aufgestellt für die Spurensicherung.“

„Danke, Jonas. Gibt`s hier irgendwo Kaffee?“

Jonas grinste. „Na klar, der Chef hat einen Automaten am Tatort aufgestellt. Heute mal gratis.“

Ich schnaubte belustigt und Jonas zwinkerte mir zu. Er war mit Anfang zwanzig der Jüngste auf unserem Revier. Er könnte aber auch glatt für siebzehn durchgehen. Ich hatte ihn noch nie schlecht gelaunt erlebt und das war wirklich einmalig in unserem Job. Ich hoffte, dass er sich das über die Jahre würde bewahren können. Ich wünschte es ihm jedenfalls, aber die traurige Wahrheit war, dass die meisten Polizisten spätestens im Rentenalter völlig ausgebrannt waren.

Die Absperrbänder markierten den Weg. Ich stapfte über den aufgeweichten Waldboden und versuchte den Schlammlöchern so gut wie möglich auszuweichen. Nach knapp zwei Minuten hatte ich den taghell erleuchteten Tatort erreicht. Ich blieb stehen und schnappte nach Luft.

Der Anblick der Toten erschütterte mich. Die Leiche baumelte immer noch hoch am Baum, an dem Ast, der den Weg überragte. Die Füße mindestens zwei Meter über der Erde. Das blau angelaufene Gesicht war grotesk hell erleuchtet. Die geschwollene Zunge ragte schwarz zwischen den Lippen hervor. An den Händen hatten sich Leichenflecke gebildet. Die klaffende Bauchwunde machte den Mord grausamer als er ohnehin schon war. Ich fröstelte und schlug den Kragen meiner Jacke hoch.

Die Kollegen von der Spurensicherung fotografierten eifrig. Einige Beamte suchten den Boden ab, unter ihnen Rasmus Olsen. Ich grüßte verhalten. Rasmus blickte auf und eilte zu mir herüber. Leichtfüßig sprang er über einen Baumstumpf und landete dann aber mit einem Fuß in einer Pfütze. Er schlingerte kurz, fing sich dann aber wieder.

Schade.