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[AUSFLUG, TOUR, WANDERUNG, frz.:]

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ZWEIFELN.
LOSFAHREN.
ANKOMMEN.
EIN ULTRACYCLING TAGEBUCH.

Impressum:

David Misch – Randonnée

egoth Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

ISBN: 978-3-902480-61-3

Lektorat: Lisa Krenmayr

Gesamtherstellung: egoth Verlag GmbH

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ZWEIFELN.
LOSFAHREN.
ANKOMMEN.
EIN ULTRACYCLING TAGEBUCH.

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Für Jana. Dein Lachen überstrahlt alles.

INHALT

VORWORT: CHRISTOPH STRASSER

PROLOG

SELBSTREFLEXIONEN EINES SPORTLERS

VOR DEM ULTRACYCLING

DIE IDEE KEIMT

DIE BEWÄHRUNGSPROBE

DER ANFANG VOM ENDE?

DIE RÜCKKEHR NACH DEM ERSTEN DEBAKEL

EINSICHTEN VON DER ANDEREN SEITE

LERNEFFEKTE

DER ERSTE MEILENSTEIN – RACE AROUND AUSTRIA

DEM GROSSEN ZIEL EIN STÜCKCHEN NÄHER

2012 – EIN (NOTWENDIGER?) RÜCKSCHRITT

DER PUNKT, AN DEM DER TRAUM FAST PLATZTE – RACE AROUND AUSTRIA 2012

RESET – DAS RAAM IST WIEDER DA

ZAHLEN – DATEN – FAKTEN ZUM LÄNGSTEN RENNEN DER WELT

VORBEREITUNG

EINSTELLUNGSSACHE

DIE WOCHE DAVOR

DAS RENNEN

MIT DABEI BEI EINEM RAAM-SIEGER

WIE KOMMT MAN DAVON WIEDER LOS?

RESÜMEE

EPILOG

VORWORT CHRISTOPH STRASSER

Als mich David vor einigen Wochen fragte, ob ich ein Vorwort für sein Buch schreiben möchte, fühlte ich mich natürlich sehr geehrt und sagte zu. Dennoch hatte ich aber auch Sorge, ob ich für einen guten Freund und Weggefährten über viele tausende Trainingskilometer wohl die passenden Worte finden würde.

Schilderungen über das Race Across America und seine Herausforderungen an Mensch und Material, die Strapazen und mentalen Einbrüche durch den Schlafentzug und die körperlichen Hochs und Tiefs liefere ich hier aber nicht, das wird David auf den nächsten Seiten ausführlich tun – ich möchte lieber ein bisschen von ihm erzählen. Ein paar Anekdoten aus unserer gemeinsamen Trainingszeit charakterisieren David und seine Einstellung hoffentlich am besten:

„Morgen 9h radetzky bruckn?“ Davids SMS fallen eher in die Kategorie kurz und bündig, aber genau diese SMS kamen dafür sehr regelmäßig. In den beiden Jahren vor dem RAAM 2013 waren wir oft gemeinsam trainieren, und davon haben wir beide profitiert. Ich hätte ganz sicher die eine oder andere Trainingsfahrt wegen Müdigkeit oder Unlust aufgeschoben oder zu Gunsten eines Ruhetages ausgelassen, doch sobald diese SMS kam, wollte ich mich auch nicht vor einer Ausfahrt drücken und nahm einen weiteren Tag im Sattel in Kauf. Meist war ich als Langschläfer erfolglos bemüht pünktlich zu sein, kam etwas zu spät und ohne ordentliches Frühstück, dafür mit einem angebissenen Kornspitz im Mund, zur Radetzky-Brücke angerollt. Wir pushten uns gegenseitig, trotzten dem Wetter und schafften oft mehr Intervalle, als wenn jeder für sich gefahren wäre. Daneben wurde uns nie langweilig, der Gesprächsstoff ging uns auch nach Stunden nie aus. Diese Trainingsfahrten dank David doch absolviert zu haben stimmte mich im Nachhinein froh und ausgeglichen, da die müden Beine unterwegs doch wieder frischer wurden und die Ausfahrt nicht nur kurzweilig, sondern auch effektiv war.

Im Gegensatz zu seiner Rolle als motivierender Trainingspartner hat er sich als ernstzunehmender Mechaniker jedoch keine Vorbildrolle erarbeiten können. In der Woche vor dem Race Across Italy 2013, das für uns beide der letzte Wettkampf und die Generalprobe vor dem RAAM darstellte, waren wir zum Kennenlernen der Strecke und zum Trainieren einige Tage vor Rennstart gemeinsam in Italien. Nach einer langen Ausfahrt arbeitete David noch am seinem Rad und bastelte am Setup. Irgendwie wurde nach der Montage des Getränkehalters klar, dass man keine Flasche in den Halter stecken konnte. Die Fehlersuche ergab, dass er verkehrt, also kopfüber, montiert wurde, was uns beide stundenlang amüsierte – sich selbst nicht zu ernst zu nehmen war immer eine seiner Stärken! Dass David beim Radfahren aber talentierter als beim Schrauben ist, bewies er eindrucksvoll: Als einziger „self-supported“- Fahrer im Feld, der ohne jegliche Betreuung unterwegs war, holte sich David den zweiten Platz, nur ich konnte mich mit voller Betreuung vor ihm behaupten.

Davids Ehrgeiz und sein unermüdlicher Antrieb waren für mich immer eine Motivation, ein echtes Vorbild stellte er aber bei seiner Selbstorganisation und seiner Zeiteinteilung für mich dar: Während der RAAM-Vorbereitung trainierte er oft erst im Dunkeln am Rad, weil er tagsüber auf der Montanuniversität Leoben arbeitete und seine Doktorarbeit schrieb. Auch im „home-office“ ließ er keine Stunde aus und zog sein Pensum strikt durch, wie geplant. Manch anderer hätte aufgrund dieses doch sehr straffen und fordernden Zeitplans das Ziel RAAM wohl nur halbherzig verfolgen können oder hätte gar nicht daran gedacht, sich diesen Traum zu ermöglichen.

Trotz seiner Zielstrebigkeit hat David aber nie vergessen, über sich selbst zu lachen und sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Das zeigte sich vor dem Race Around Austria 2013, wo wir nach dem RAAM als Vierer-Team ohne großen Druck an den Start gingen. Der Abend davor fiel eher unter die Kategorie „ungewollte“ Party, wir beide waren etwas zu lange unterwegs, hatten eine kurze Nacht und konnten das Rennen dann trotzdem mit leichten Startschwierigkeiten in Rekordzeit gewinnen. Auch Spaß darf sein, David weiß aber auch immer wenn es ernst wird und der Fokus wieder in den Vordergrund rücken muss.

Zusätzlich zu seiner Disziplin und seiner Begeisterung für den Radsport hatte David auch einen starken Willen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dieser Plan sah vor, das RAAM einmal zu finishen bevor er nach seinem Doktoratsstudium die Priorität auf Job und Familie richten würde. Dieser Plan forderte jedoch auch viel von ihm und seinem Umfeld. Für die meisten Athleten ist Ultracycling ein professionell ausgeführtes und erfüllendes Hobby, das aber auch einen hohen Preis hat – und damit meine ich nicht nur die finanzielle Komponente. Training und Organisation beanspruchen neben der Arbeit sehr viel Zeit, die dann für Familie und Freunde fehlt. Irgendwann kommt es bei vielen, die den Sport länger ausüben, zu einer Belastung des gemeinsamen (Zeit- und Geld-) Budgets mit Partnerin oder Familie. Für David war immer klar, dass er aber eine Familie gründen will und seine Leidenschaft diesem Wunsch nicht im Weg stehen würde.

David tat also alles ihm Mögliche dafür, seinen Plan, einmal das RAAM zu fahren, umzusetzen. Und es gelang. Er stellte sich den Herausforderungen des RAAM und konnte es erfolgreich und vor allem gesund finishen.

Natürlich ist es aus sportlicher Sicht schade, dass David nur einmal beim RAAM am Start war, denn starke Konkurrenz belebt die ganze Sportart. Seine Stärke hat er mit einer phantastischen Leistung und dem „Rookie of the year“ – Award eindrücklich bewiesen. Als kleines Detail muss man erwähnen, dass die Siegerzeiten beim RAAM von Jahr zu Jahr sehr stark schwanken. Mit seiner Finish-Zeit 2013 hätte er beim RAAM 2016 sogar die schnellste Zeit und damit den Sieg erreicht!

David hat immer wieder gezeigt, dass im Ultracycling-Sport die gegenseitige Unterstützung mehr zählt als sturer Egoismus und war öfters bei anderen Fahrer als Betreuer in unterschiedlichsten Ultracycling-Events dabei. Durch diesen „Rollentausch“ unterstützte er andere und lernte auch für sich selbst sehr viel dazu. Den Höhepunkt als Betreuer erlebte er aber zwei Jahre später: David war wichtiger Bestandteil im Betreuerteam von RAAM-2015-Sieger Severin Zotter und verhalf damit seinem Freund zum größten Erfolg in dessen Karriere.

Ich wünsche David und seiner Familie – mittlerweile darf man Claudia und ihm zu ihrer Tochter Jana gratulieren – alles Gute und Ihnen viel Freude beim Lesen, lassen Sie sich von der Lektüre inspirieren!

PERSONENBESCHREIBUNG CHRISTOPH STRASSER

Christoph Strasser ist einer der erfolgreichsten Extremradsportler aller Zeiten. Nachdem seine erste Teilnahme am Race Across America (2009) noch in der Intensivstation eines Krankenhauses in Pratt, Kansas geendet hatte, feierte er 2011 mit seinem ersten RAAM-Sieg ein fulminantes Comeback. Nach einem zweiten Platz im Jahr 2012 konnte Strasser 2013 als erster Fahrer die Schallmauer von 8 Tagen für die Durchquerung der Vereinigten Staaten durchbrechen, nur um im Jahr darauf seinen eigenen Rekord erneut zu unterbieten. Strasser feierte aber auch abseits des Race Across America zahlreiche Erfolge, so konnte er in seiner bisherigen Karriere praktisch alle bedeutenden Langstreckenrennen gewinnen, außerdem stellte er mit über 896 Kilometern im Jahr 2015 einen neuen 24h-Weltrekord (Outdoor-Track) auf. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, um Rekorde zu brechen, bringt Strasser im Rahmen seiner Multimediavorträge dem interessierten Publikum die Faszination Ultraradsport näher.

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Vor dem Start des RAAM 2013 mit dem RAAM-Sieger Christoph Strasser und dem dreifachen Race Around Austria-Champion Edi Fuchs.

PROLOG

Obwohl es eigentlich nicht notwendig ist, fühle ich mich dem Leser doch irgendwie verpflichtet, den Sinn dieses Buches zu erklären. Ich habe weder große Rennen in meinem Sport gewonnen, noch habe ich ihn besonders lange ausgeübt. Nur drei Jahre sind von meinem ersten Start bei einem Extremausdauerbewerb auf dem Rad bis zu meinem sogenannten Karriereende – ein übertriebener Begriff in meinem Fall – vergangen. Ich habe wohl einige Herausforderungen gemeistert, die für den durchschnittlichen (oder auch ambitionierten) Freizeitsportler bemerkenswert oder gar unvorstellbar sind, jedoch kann man meine Leistungen in unserer Höher-Schneller-Weiter-Gesellschaft wohl beileibe nicht als einzigartig betrachten. Mir fällt da als erster mein Freund und ehemaliger Trainingspartner Christoph Strasser ein, der den Weltrekord für die schnellste Durchquerung des nordamerikanischen Kontinents aus eigener Kraft hält. Ginge es um die rein sportliche Leistung, wäre es wohl vermessen, sich mit jemandem wie ihm zu vergleichen und man müsste infrage stellen, ob es Sinn macht, seine eigenen Erfahrungen der Öffentlichkeit mitzuteilen. Ein Beispiel für eine solche eigene Erfahrung wäre meine Teilnahme am Race Across America (RAAM) 2013. Obwohl ich als Sechster und „Rookie of the Year“ durchaus zufrieden mit meiner Leistung sein konnte, hatte ich doch sage und schreibe 40 Stunden länger von der West- an die Ostküste der USA gebraucht als Christoph. Tatsächlich war das auch der Grund, wieso ich lange daran gezweifelt habe, dass sich irgendjemand für meine Geschichte interessiert. Man könnte dem natürlich entgegensetzen, dass es viele Bücher von selbsternannten Motivationsexperten gibt, die Rennen wie das RAAM noch zwei Tage langsamer als ich (oder auch gar nicht) gefinisht haben und sich trotzdem zu Größen im Extremsport hochstilisieren. Ich selbst habe viele Bücher solcher Sportler zuhause und muss sagen, dass ich sie – damals als Außenstehender – mit Begeisterung verschlungen habe. Erst später, als ich einige der Protagonisten selbst kennengelernt hatte und in die Szene involviert war, konnte ich mir ein etwas realistischeres Bild machen. So mancher Glorienschein konnte der Realität nicht standhalten – wie so oft im Leben. Erst mit sehr viel Abstand zum aktiven Wettkampfsport habe ich begonnen die Sache ein bisschen anders zu sehen. Noch immer will ich den sportlichen Aspekt nicht relativieren. Man würde wohl auch nicht behaupten, dass ein Buch vom unbeachteten Wasserträger bei der Tour de France sich ähnlich gut verkaufen könnte wie das eines strahlenden Tour-Siegers. Aber was, wenn der Wasserträger trotzdem eine interessante, vielleicht die interessantere Geschichte zu erzählen hätte? Auf mich umgemünzt kann ich sagen, dass ich mittlerweile so weit bin, meine sportlichen Abenteuer als das zu sehen, was sie vermutlich für die meisten Außenstehenden sind: bemerkenswert und vielleicht sogar inspirierend. Das soll jetzt keineswegs eingebildet klingen, vielmehr möchte ich meine Leser dazu ermutigen, wieder mehr Wertschätzung zu empfinden und am besten gleich bei sich selbst anzufangen. Auch ich musste das in den letzten Jahren erst lernen – aber dazu mehr an einer anderen Stelle im Text. Mir geht es nicht darum, die Geschichte eines außergewöhnlichen Menschen zu erzählen, der etwas Unvorstellbares schafft – diese Art Bücher gibt es wie Sand am Meer. Vielmehr möchte ich erzählen, wie ein völlig gewöhnlicher, alles andere als selbstsicherer Mensch (ich) so etwas realisiert. Tatsache ist, dass ich stolz sein kann auf eine Entwicklung vom übergewichtigen, zweifelnden Teenager zu einem Finisher der zwei längsten und härtesten Ausdauerwettbewerbe, die man weltweit auf dem Rad bestreiten kann. Das habe ich neben Studium und später Job geschafft, was oft ein gutes Zeitmanagement erforderte. Ich habe eine 24-Stunden-Bestleistung von über 800 Kilometern zu Buche stehen – auf einer für den Verkehr offenen Strecke und ohne Hilfe durch Windschatten, wohlgemerkt. Ich habe 1 000 Kilometer mit mehr als 12 000 Höhenmetern bei Dauerregen in 40 Stunden abgespult – ohne Hilfe von außen. Ich bin 500 Kilometer quer durch Marokko gefahren – in 17 Stunden, im Jänner, nur zum Training. Und ich bin endlich so weit, meine persönliche Geschichte als berichtenswert anzusehen, was wohl die größte Leistung in meinem bisherigen Leben darstellt.

Ich habe mich in diesem Buch auf eine Reise begeben. Viele Gedanken habe ich schon in meiner aktiven Zeit aufgeschrieben und zum Teil werden diese Texte hier zur Verwendung kommen. Ich möchte meine Erfahrungen nicht als allgemeingültige Wahrheiten präsentieren, jedoch versuchen sie so ehrlich wie möglich wiederzugeben, wofür sich der Tagebuchstil meiner Meinung nach am besten eignet. Den Rest des Buches schrieb ich mit zwei Jahren Abstand zum aktiven Rennsport, als nunmehr Hobbysportler, nachdem meine erste Tochter zur Welt gekommen und in mein Leben eine gewisse Routine eingekehrt ist. Viele würden sagen, ich sei endlich erwachsen geworden – wahrscheinlich stimmt das – jedenfalls hat sich so manche Ansicht verändert. Schlussendlich hoffe ich, dass sich auch der eine oder andere Leser in meinen Schilderungen wiedererkennt und vielleicht sogar den Mut daraus schöpft, seinen Träumen treu zu bleiben, auch wenn das manchmal schwierig anmutet.

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1. SELBSTREFLEXIONEN EINES SPORTLERS

Schon während meiner aktiven Zeit (in diesem Fall etwa vor fünf Jahren) habe ich mir häufig Gedanken über Sinn und Unsinn meines Tuns gemacht. Der nachfolgende Text spiegelt dies wider und mit etwas Abstand gelesen ist es für mich selbst interessant, was ich mir damals so gedacht habe. Daher möchte ich ihn an dieser Stelle wiedergeben, bevor ich mit meinen Erzählungen fortfahre.

Ein egoistischer Selbstdarsteller? Keine anderen Probleme im Leben, keine sinnvollere Beschäftigung gefunden? So oder so ähnlich kann die typische Reaktion auf das Hobby zusammengefasst werden, welches mich fasziniert und jeden Tag beschäftigt – Langstrecken-Radrennen.

Für mich ist die Frage „Muss es immer höher, schneller, weiter und extremer sein?“ nicht eindeutig zu beantworten. Nein, wenn der Grund dafür die Anerkennung von Facebook-Freunden ist, oder weil man einfach ein bisschen wichtiger als die anderen sein will. Ich habe es längst aufgegeben, irgendjemanden vom Sinn meines Sports zu überzeugen, das ist auch gar nicht nötig. Aber es geht eben nicht um das Beeindrucken von Fremden, sondern um die eigene Erfahrung. Etwas zu schaffen, was man sich niemals zugetraut hätte – oder eben auch nicht. Den endlos langen Weg zum Ziel nicht als Strafe, sondern als Privileg zu empfinden. Wenn man in der Nacht bei Regen auf dem Rad sitzt, trotzdem noch das Gute und Schöne an der Situation zu sehen. Natürlich ist es eine Illusion, das immer umzusetzen, jeder Mensch ist am Ende eben auch nur menschlich und Dinge negativ zu sehen, ist schon fast eine gesellschaftliche Pflicht in der heutigen Zeit. Aber das Gefühl, sich aus einer Krise selbst zu befreien, ist gerade deshalb so schön, weil es die Krise gegeben hat; die Größe des Ziels definiert sich erst durch die Schwierigkeiten beim Erreichen. Nach 2 000 Kilometern und vier Tagen nonstop auf dem Rad hat man keine Möglichkeit mehr sich zu verstellen, die Fassade aufrechtzuerhalten. Man wird nicht mutig, sondern wehleidig. Man ist nicht der Held, sondern merkt erst, wie schwach man eigentlich ist, wie launisch, wie zornig. Wie man die Menschen, die einen begleiten, schlecht behandelt, obwohl sie alles für ein Ziel geben, das nicht ihr eigenes ist. Aber gerade daraus kann man eben auch mehr lernen als aus der aufgesetzten, schön aufbereiteten Geschichte, die von Sportlern oft erzählt wird. „Mir war schon immer klar, dass ich mein Ziel erreichen werde“ kann man nachträglich leicht behaupten. Wie vielen der Gescheiterten war das wohl auch schon immer klar?

Letztendlich ist es für jeden akzeptabel zehn Stunden am Tag dafür zu arbeiten, dass ein Unternehmen Gewinn macht, aber sechs Stunden am Tag für ein Ziel, das kein Geld und keinen wertvollen Eintrag im Lebenslauf bringt, auf dem Rad zu sitzen? Natürlich kann nur ein Spinner auf eine solche Idee kommen. Dazu fällt mir ein, dass mehr als die Hälfte der Österreicher sich nach kritischer Selbsteinschätzung weder als glücklich noch als unglücklich definieren würde. Jetzt kann man sich die Frage stellen, ob dieser Zustand besser ist als unglücklich zu sein und zumindest zu wissen wieso. Wenn ich nach Tagen ohne Schlaf und alltäglichen Komfort das erste Mal im Kaffeehaus sitze oder im eigenen Bett liege, weiß ich jedenfalls, zu welcher Gruppe ich gehöre. Das Hoch gibt es eben nicht ohne das Tief.

Es ist der 7. Februar 2012, draußen schneit es. Trotzdem denke ich wieder einmal an mein Ziel. Das Ziel, welches ich seit zwei Jahren verfolge und frühestens in eineinhalb Jahren erreichen werde, wenn alles planmäßig läuft, die Finanzierung steht und ich acht andere Menschen dafür begeistern kann, mich zu begleiten.

Ich habe den Drang, meine Erlebnisse auf dem Weg zum RAAM weiterzugeben. Ich selbst habe schon mindestens hundert Bücher von aller Art Sportlern (Kletterern, Bergsteigern etc.) und Abenteurern gelesen und mich davon inspirieren lassen. Es gibt für mich nichts Schöneres, als sich an einem Winterabend in den Himalaya oder die Sahara zu träumen und interessante Menschen bei ihren außergewöhnlichen Reisen zu begleiten. Ich bin kein kritischer Leser, aber was ich sehr wohl beurteile, ist die Ehrlichkeit, die in einer Erzählung steckt. Und echte Leidenschaft kann ich nur dort spüren, wo auch über das Scheitern, über eigene Fehler und Unzulänglichkeiten berichtet wird. Das ist auch mein eigener Anspruch an die Geschichte, die ich erzählen will. In erster Linie würde ich einfach gerne erklären, wieso ein sogenannter Grenzgänger tut, was er tut. Dass man eben nicht immer voll auf sein Ziel fokussiert ist, man genauso an gefassten Entschlüssen zweifelt und zu wirklich großen Herausforderungen eben auch das Scheitern gehört. Ich will durchaus versuchen meine Leidenschaft selbstkritisch zu hinterfragen, es fällt auch wirklich nicht schwer, die negativen Aspekte von Leistungssport jeder Art zu erkennen. Es ist eben keine Sache, die nur einen selbst angeht. Den größten Teil bekommt das Umfeld zu spüren, die Partner, Familien und auch die Freunde, alle werden früher oder später dazu gezwungen Farbe zu bekennen. Vielleicht reizt mich am Niederschreiben meiner Erlebnisse gerade das am meisten: einmal in die Rolle des Beobachters zu schlüpfen und Abstand zum eigenen Tun zu gewinnen. So genau weiß ich aber bis jetzt noch nicht, worauf ich eigentlich hinaus will, außer dass ich gerne erklären will, wieso jemandem scheinbar so absurde Ziele wie einmal quer durch Amerika zu fahren, oder auch einmal ums eigene Land, so wichtig werden können, dass sie das ganze Leben bestimmen. Wenn der ein oder andere etwas davon mitnehmen kann, umso besser. Ich möchte aber weder jemanden zum Sport bekehren, noch ein „Schema F“-Buch zum Thema Motivation schreiben, denn davon gibt es wahrlich schon genügend. Ich habe auch nicht vor, einen uneigennützigen Zweck in eine eigennützige Sache hineinzuinterpretieren. Ich will niemandem große Lebensweisheiten auf dem Silbertablett servieren, die muss sich wohl oder übel jeder selbst zusammenreimen. Eines ist aber klar, und darin sehe ich die Parallele zwischen Sport und Privatleben: Herausforderungen, sowohl selbst gewählte als auch aufgezwungene, gehören zum Leben zwangsläufig dazu. Wie man damit umgeht, bestimmt letztendlich auch, wer man ist. Verstecken kann sich davor niemand. Man kann schöne Augenblicke in einer Beziehung genauso wenig konservieren wie die Kondition beim Radfahren. Jeder Tag bringt Veränderung, wir können nicht immer beeinflussen, ob positive oder negative. Wenn ich am Start eines Rennens über tausend Kilometer stehe und diese Distanz nonstop zurücklegen will, gibt es auch beim zehnten Mal keine Garantien, keine Routine. Erfahrung ist eine schöne Sache, aber massiv überbewertet. Die Illusion, ständig alles unter Kontrolle zu haben, war das erste, was ich während meiner Rennen abgelegt habe. Gerade darum reizt mich mein Sport allerdings so sehr. Es ist mehr als Radfahren, mehr als die sportliche Leistung, die bei anderen – kürzeren – Wettbewerben im Vordergrund steht. Ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen, muss die Konsequenzen dann aber auch selbst tragen. In einer Zeit, in der alles mit Regeln und Richtlinien zugepflastert ist, gibt es nur noch wenige Möglichkeiten, sich selbst außerhalb seiner eigenen Komfortzone kennenzulernen, ohne die alltäglichen Belanglosigkeiten von Smartphone bis Social Network, die uns in Wirklichkeit nur vom realen Leben abhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mensch, oder zumindest ich selbst, nicht nur für den Alltag wie er heute als normal gilt, gemacht ist. Sicherheiten sind schön und gut, aber um mich im Leben weiterzuentwickeln, möchte ich auch einmal die Verantwortung für mein Tun übernehmen dürfen – möglichst ohne Einschränkungen. Die meisten Unfälle beim Klettern passieren nicht etwa auf halsbrecherischen Touren, nein, auf den vermeintlich völlig abgesicherten Klettersteigen. Jetzt kann man sich die Frage stellen, wer da bei der Sicherung versagt und einen unbedarften Sportler in Gefahr gebracht hat. Ich stelle mir aber eher die Frage, ob wirklich jedem alles erschlossen werden muss, ob man sich den Berg nicht erst einmal durch Training und Ausbildung verdienen sollte. Wenn ich mich bei meinen Rennen dazu entscheide, eine Abfahrt bei Regen im übermüdeten Zustand in Angriff zu nehmen, dann gehe ich auch ein Risiko ein. Entscheidend ist aber, dass ich für die Einschätzung dieses Risikos selbst verantwortlich bin, verantwortlich sein darf. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Der schöne Schein, das nach außen Repräsentieren, all das ist wert- und bedeutungslos in diesen Momenten, ebenso der Kontostand und die Probleme mit den Arbeitskollegen. Nachdem man einmal in so einer Ausnahmesituation war, ist man auch schon gefangen und strebt danach, dasselbe Gefühl wieder zu erleben. Dabei ist das Ziel dann plötzlich gar nicht mehr so entscheidend, sondern die Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin. Selbstbewusstsein gewinnt man eben nicht in der Komfortzone, sondern nur dann, wenn Entscheidungen auch die Konsequenz haben können etwas zu verlieren, auch wenn uns gerade in der heutigen Wohlstandsgesellschaft oft etwas anderes vorgegaukelt wird. Eigene Ziele, eigene Entscheidungen, Eigenverantwortung – nur so kann ich mir selbst beweisen, dass ich nicht so schwach bin, wie ich glaube.

Schon damals habe ich mich mit dem Gedanken herumgeschlagen, ein Buch über meinen Weg zum Race Across America zu schreiben. Dazu ist es dann aber aufgrund der oben genannten Zweifel nie gekommen. Anhand meiner damals schriftlich festgehaltenen Überlegungen kann ich die Leidenschaft förmlich spüren, die mich zu jener Zeit angetrieben hat. Nichtsdestotrotz haben sich mir bis zu meiner RAAM-Teilnahme im Jahr 2013 noch einige sprichwörtliche Berge in den Weg gestellt und die Saison 2012 hätte mich beinahe um meinen Traum gebracht. Bevor ich darauf eingehe, scheint es mir aber passend, kurz über meine Jugend und meinen Weg zum Sport zu berichten. Dieser war beileibe keine Gerade, so viel sei schon an dieser Stelle verraten.

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2. VOR DEM ULTRACYCLING

In den meisten Erzählungen von Sportlern ist ein Kapitel über das Aufwachsen obligatorisch. Meistens geht es darum, die Leistungen vor einem gewissen sozialen Hintergrund noch besonderer erscheinen zu lassen. So nach dem Motto: „Obwohl ich in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen bin …“, oder: „Trotz meiner konservativen Eltern, die mich nie gefördert haben …“. Manchmal soll aber auch beleuchtet werden, dass ein verborgenes Talent schon in jüngsten Jahren zu erahnen war, der erste Jugendtrainer schon erkannte, was für einen besonderen Schützling er da unter seinen Fittichen hatte. Ich kann nicht mit so einer plakativen Jugenderzählung dienen, vermutlich habe ich auch deshalb nicht die Tour de France gewonnen, sondern bin nur ein paar abenteuerliche Langstreckenrennen ganz erfolgreich mitgefahren.

Ich bin in einer für meine Begriffe optimalen Familie aufgewachsen – also offensichtlich kein Kindheitstrauma, das mich in späteren Jahren angetrieben hat. Ich war als Kind übergewichtig, obwohl ich sportlich immer recht aktiv war. Ich wurde von meinen Eltern gefördert, jedoch nie gedrängt eine Sportart intensiver auszuüben, als ich selbst das wollte. Irgendwann fing ich dann aus eigenem Antrieb an Tennis zu spielen und ich würde sagen, ich war nicht untalentiert (wenn auch weit davon entfernt Spitze zu sein). Nach einer Weile kam ich dann dazu, in der Jugendmeisterschaft mitzuspielen, später auch in der allgemeinen Klasse bei den Erwachsenen. Da offenbarte sich mein großes Handicap, was sportliche Wettkämpfe angeht: Ich war ständig damit beschäftigt nachzudenken, wieso ich gegen einen bestimmten Gegner sowieso nicht gewinnen könnte. Das ging so weit, dass ich in der Meisterschaft gefühlt nicht einmal zehn Prozent meiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit abrufen konnte. Mit Ausnahme von absoluten Ausnahmesportlern, die sich unter Anspannung noch steigern können, bringt jeder Mensch unter Druck vermutlich nicht seine beste Leistung. Daher ist es auch so wichtig, gerade in Sportarten wie Tennis, gewisse Routinen einzuüben, die dann auch unter erhöhter Nervosität funktionieren. So muss man nicht sein virtuosestes Tennis spielen, es reicht ein gewisses Schema ablaufen zu lassen, am Ende entscheidet die Statistik für den im Durchschnitt konstanteren und somit besseren Spieler, da die sogenannten „lucky shots“ selten eine Partie entscheiden werden. Das Problem war nur, dass diese Routinen, für die ich wohl nicht unbedingt auf Topniveau hätte unterwegs sein müssen, bei mir so gar nicht funktionierten, wenn es in einem Match knapp wurde. Und das ärgerte mich natürlich so richtig. Während ich mich zum Beispiel beim Lernen in der Schule immer darauf verlassen konnte, dass mir in einer Prüfungssituation mehr einfiel als ich eigentlich vom Üben zuhause zu wissen glaubte, stand ich beim Tennis wie der erste Mensch auf dem Platz und verlor reihenweise Partien gegen Gegner, die (zumindest in der Theorie) um eine Klasse schlechter spielten als ich. So kam mir der sportliche Eifer abhanden und ich hängte das Tennis irgendwann zwischen meinem 16. und 18. Geburtstag (ein schleichender Prozess sozusagen) an den Nagel. Damit sollte es mit dem Sport generell bis auf Weiteres vorbei sein. Bis zur Matura mit 19 habe ich mich kaum mehr schnell bewegt, zu wichtig war in diesem Alter auch der regelmäßige Gang in die Disco, meine Heimatstadt Wien bot da schier unerschöpfliche Möglichkeiten, den obligatorischen Vollrausch inklusive. Ich konnte in diesem Alter so gar nichts mehr mit der Verpflichtung zu regelmäßigem Training anfangen. Erst nach meinem Wehrdienst, der noch weniger Bewegung und noch mehr Alkohol mit sich brachte, fand ich wieder zurück zu meinem früheren Bewegungsdrang. Ich kann mich noch ganz gut an den Versuch erinnern, während meines zweiten Studienjahres zum Zwecke der Gehirnauslüftung mit zwei Studienkollegen in Leoben eine vier Kilometer lange Runde entlang der Mur zu drehen. Nach einer knappen halben Stunde (traurigerweise ist das nicht übertrieben) kam ich schweißgebadet zurück in meine Studenten-WG und musste mich erst einmal eine Stunde auf die Couch legen, bevor ich einigermaßen wiederhergestellt war. Gleichzeitig merkte ich aber trotz der Anstrengung auch, wie die Glückshormone mich durchfluteten – ein Gefühl, das die meisten Sportler wohl kennen. Nebenbei gesagt bin ich mir nicht sicher, ob Nichtsportlern bewusst ist, was für ein rauschartiger Zustand sich nach einem ausgiebigen Training einstellen kann. Jedenfalls keimten insgeheim zwei Gedanken auf: Erstens: Ich war verdammt schlecht in Form für einen Zweiundzwanzigjährigen und das nagte an meinem Ego. Und zweitens: Ich wollte dieses positive Gefühl, nach einem Training mit völlig geleertem Kopf und angenehm entspannt wieder an die Arbeit zu gehen, öfters haben. Ich kann an dieser Stelle nur allen Eltern raten, ihren Kindern niemals als erzieherische Maßnahme den Sport zu verbieten (traurig genug, dass so etwas überhaupt vorkommt). Ich war selten aufnahmefähiger als nach einer ausgiebigen Laufrunde. Um wieder zurück zu meinen sportlichen Fortschritten zu kommen – wie die meisten Hobbysportler, die auf den Geschmack gekommen sind, steigerte ich nach und nach die Dosis, da ich merkte wie die Kilos (davon hatten sich während Bundesheer und erstem Studienjahr genügend angesammelt) purzelten, außerdem benötigte ich weniger Schlaf, um mich gleich fit zu fühlen und war beim Lernen wesentlich konzentrierter. Und wenn man schon ein ehrgeiziger Mensch ist, liegt es nahe, sich auch gleich Herausforderungen zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich jedoch in keiner Weise Wettkampfambitionen, vielmehr testete ich im Training, ob ich in der Lage war 20, 30, 40 und mehr Kilometer zu laufen. 2007 lief ich dann doch den Wien Marathon mit, aber ohne jegliche Ambitionen, nur die Stimmung in meiner Heimatstadt während dieses Events wollte ich einmal live erleben. Der erste Ausdauerwettkampf, der mir wirklich am Herzen lag, war der Ironman 2008 in Klagenfurt. Irgendwie ging vom Langstreckentriathlon eine ganz besondere Faszination aus. Das war für mich so eine Mischung aus Hang-Loose Hawaii Flair und Navy Seals Bootcamp. Die Kombination aus 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern Radfahren und 42 Kilometern Laufen war für einen absoluten Hobbysportler wie mich eine unvorstellbare Herausforderung. Nun, so unvorstellbar dann doch nicht – in einer unvernünftigen Minute meldete ich mich für 2008 in Klagenfurt an. Dafür musste ich mir dann aber erst ein Rennrad besorgen und mich damit beschäftigen, wie das eigentlich so funktioniert mit diesen komischen Klickpedalen und dem runden Tritt. Wenn ich es mir recht überlege, finde ich es witzig, dass ich knapp sechs Jahre später am Start des gemeinhin als brutalstes Radrennen (oder gar Ausdauerwettkampf) der Welt bezeichneten Race Across America stehen würde. Mit meiner Leistung von 2008 wäre ich beim RAAM auf jeden Fall ins Straucheln geraten. Sechs Stunden brauchte ich, um die 180 Kilometer auf dem Rad beim Ironman zurückzulegen. Eine Gesamtzeit von knapp über elf Stunden ist zwar durchaus respektabel für einen Hobbysportler, der erst seit einem halben Jahr ein Rennrad besitzt, lässt aber nicht unbedingt enormes Potential erkennen. Wieder zum Vergleich: drei Jahre nach meinem Antreten in Klagenfurt legte ich die ersten 600 Kilometer eines 24 Stunden Einzelzeitfahrens in Dänemark auf vergleichbarer Strecke in unter 17 Stunden zurück, das würde einer Ironman Radzeit von circa fünf Stunden entsprechen (wo außerdem selten wirklich ohne Windschatten gefahren wird). Zwar noch immer nicht unter den Schnellsten, jedoch meiner Meinung nach ganz anständig vor dem Hintergrund, dass die gesamte, während dieser Ausfahrt in Dänemark zurückgelegte Distanz mit über 800 Kilometern doch geringfügig länger war. Wie auch immer, meine Triathlonkarriere nahm keinen besonders rühmlichen Verlauf, da ich von Laufverletzungen geplagt wurde und mich auch beim Schwimmen praktisch nicht verbesserte. Ich war außerdem einfach nicht dadurch zu motivieren, dass ich jedes Wochenende dieselbe Art von Wettkampf über eine Distanz bestritt, von der ich wusste, dass das Schaffen an sich kein Problem sein würde. Was mich viel mehr reizte, war die Herausforderung, mich längeren und schwierigeren Strecken zu stellen. Wobei ich anfangs noch immer eher auf Laufen eingeschossen war. Gerne hätte ich Läufe über sechzig oder mehr Kilometer absolviert, was aber meine lädierten Sprunggelenke und Knie nicht mitmachen wollten. Irgendwie kam ich dann im Winter beim Surfen im Internet auf die Homepage von einem gewissen Christoph Strasser, einem Steirer, der mir zu diesem Zeitpunkt (Anfang 2009) noch völlig unbekannt war. Ich sah, dass er wohl schon einige Erfolge im Langstreckenradsport zu verzeichnen hatte, sein großes Ziel RAAM stand in dieser Saison an und er war topmotiviert und in körperlicher Bestform. Ich erinnerte mich sofort daran, wie ich das erste Mal von den RAAM Teilnahmen des legendären Wolfgang Fasching gehört hatte. Schon zu Faschings Zeiten gab es zwei Möglichkeiten, wie man dieser Sportart gegenüberstehen konnte: entweder man war der festen Überzeugung, dass nur ein kompletter Spinner mit masochistischen Ansätzen sich diese Tortur antun könnte, oder man bewunderte die Fähigkeit, sich über die Grenzen des Vorstellbaren hinaus antreiben zu können. In meiner Familie war definitiv zweiteres der Fall, obwohl keiner von uns ein „militanter“ Sportler war, wurde doch bewundernd darüber diskutiert, als Fasching in einem verkorksten Rennen vom Ende des Feldes noch auf Platz zwei vorfahren konnte, wobei ihn schlussendlich nicht einmal ein Schlüsselbeinbruch stoppen konnte. Tatsächlich kann ich mich sogar noch an den Radiobericht erinnern, den ich als Jugendlicher auf der Fahrt zum Heurigen im Auto meiner Eltern gehört habe. Ich kann mich auch noch an die Gänsehaut erinnern, als erzählt wurde, dass diese Sportler angeblich sogar auf dem Rad schliefen, nur um in möglichst kurzer Zeit den Kontinent zu durchqueren. Jedenfalls war ich auf den Geschmack gekommen und graste die Homepages von etlichen Langstreckenfahrern und -bewerben ab. Das RAAM war völlig utopisch, aber vielleicht könnte man ja einmal so ein 1 000 Kilometer-Rennen

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3. DIE IDEE KEIMT

27. DEZEMBER 2009

Ich bin unterwegs, laufe durch Schnee und Kälte. Das Jahresende nähert sich und ich kann mich nicht entscheiden, was ich tun soll, ob ich mir das wirklich zumuten soll, oder ob ich es einfach bleiben lasse, eigentlich spricht ja kein vernünftiger Grund dafür. Ich denke zurück an den Ironman im Juli 2008, drei Wochen vor meiner Hochzeit. Wie das Gefühl war, über die Ziellinie zu laufen beim härtesten Ausdauerwettkampf, den ich mir vorstellen konnte. Und dann die Zufriedenheit in den Wochen nachdem man sein Ziel erreicht hat, wenn man locker auf dem Rad sitzt, nicht zu Trainingszwecken, und beim Zurückdenken noch immer eine Gänsehaut bekommt. Dann die Hochzeitsreise nach Kalifornien, die Zeit vergeht und früher oder später verblasst das absolute Glücksgefühl, die Unruhe kommt wieder. Das haben wohl alle Ziele im Leben gemeinsam – wenn sie erreicht sind, verlieren sie an Bedeutung. Also wieder trainieren, für den nächsten Triathlon. Wenn jedoch von drei Sportarten nur eine Spaß macht, kann die Motivation auf Dauer zum Problem werden. Es ist etwas anderes, sich auf ein großes Ziel – den legendären Ironman – vorzubereiten, dann nimmt man die Stunden im 25-Meter-Becken oder die Lauftrainings ohne erkennbaren Erfolg in Kauf. Schließlich ist der Ironman ja kein Lauf- und auch kein Schwimmwettkampf, es ist der Ironman.

In der Hinsicht war ich schon immer sprunghaft – ich will mir etwas beweisen, arbeite daran, schaffe es im Idealfall und damit kann es dann weitergehen in Richtung nächste Herausforderung. Den zehnten, zwanzigsten oder fünfzigsten Langdistanz-Triathlon zu machen erscheint mir, zumal gute Platzierungen alleine für mich zwar schön, jedoch nie eine Quelle tiefgreifener Motivation wären, einfach den Aufwand nicht wert. Natürlich gibt es immer dann, wenn man etwas Altes aufgibt, um in eine andere Richtung zu gehen, auch das schlechte Gewissen. Das hört sich jetzt vielleicht verrückt an, aber auch wenn jede einstündige Trainingseinheit im Hallenbad eine mentale Herausforderung war, fühlt man sich an einem bestimmten Punkt irgendwie verpflichtet – alleine schon, weil man ja in seinem Umfeld eine gewisse Identität aufgebaut hat – weiterzumachen. Also noch ein paar Triathlons, gar nicht mehr so langsam, aber auch nicht annähernd mit dem Glücksgefühl im Ziel, das die Anstrengungen rechtfertigen würde. Dann die Beinhautentzündung – laufen wird buchstäblich zur Qual – und schon ist es Dezember, genauer gesagt der 27., drei Tage nach Weihnachten, acht Uhr früh. Die Zeit um Neujahr ist ja immer ideal, um sich Neues vorzunehmen – auch im