Klappentext

›Sie hatte gedacht,

eine Frau würde dabei sterben vor Scham.

Stattdessen starb die Scham.‹

Mittelengland, 1920. Constance Chatterley, Baronin in Wragby Hall, ist vom Zusammenleben mit ihrem Ehemann Clifford, der durch eine Kriegsverletzung impotent geworden war, frustriert. Da lernt sie Oliver Mellors, den neuen Wildhüter ihres Mannes kennen. Beinahe angewidert von dessen Respektlosigkeit und Derbheit, doch angezogen von seinem Selbstbewusstsein und seiner schamlosen Männlichkeit, gerät Constance in ein Chaos der Gefühle. Die Faszination überwiegt, und sie beginnt eine Affäre mit dem Mann, die immer leidenschaftlicher, intimer und zügelloser wird. Constance erlebt körperliche Intensität, sexuelle Praktiken und eine wollüstige Befriedigung, wie sie sie nie für möglich gehalten hätte. – Kompliziert wird die Geschichte, als sie feststellt, dass sie schwanger ist ...

›Lady Chatterley und ihr Liebhaber‹ ist ein Klassiker der erotischen Literatur und menschlichen Psychologie, und enthält zeitlose Wahrheiten über das Zusammensein von Mann und Frau. Und gleichzeitig ist es ein Skandalbuch erster Güte, das viele Jahre lang in den meisten Ländern Europas auf dem ›Index‹ stand und nur versteckt gehandelt werden konnte. Auch in Australien, Indien, Japan und China war das Buch zeitweise verboten.

 

Über den Autor: David Herbert Lawrence (1885–1930) war ein englischer Schriftsteller. – Der Sohn eines Bergmanns und einer Lehrerin studierte Pädagogik und nahm in London eine Stelle als Lehrer an. 1911 erkrankte er an Tuberkulose und musste den Schuldienst quittieren. Er begann ein Verhältnis mit der Ehefrau seines ehemaligen Lehrers und heiratete sie später. Das Paar bereiste Europa, Mexiko, Australien und die Vereinigten Staaten, wo sie im Tausch gegen ein Manuskript eine Ranch in New Mexico erwarben. Als Autor war Lawrence hochproduktiv. Neben Romanen schrieb er Gedichte, Essays, Reiseberichte und Theaterstücke. Ein Großteil seines Schaffens thematisiert die Beziehung zwischen den Geschlechtern. – Als sich die Tuberkulose wieder verschlimmerte, kehrten er und seine Frau 1920 nach Europa zurück, wo sie sich in Italien niederließen. Im Alter von nur 44 Jahren starb D. H. Lawrence am 2. März 1930 während eines Kuraufenthalts in der Nähe von Cannes.

© Redaktion CloudShip, 2016

 


Neuntes Kapitel

Connie war erstaunt über ihr Gefühl der Abneigung gegen Clifford. Und mehr noch, sie fühlte, dass sie ihn nie wirklich gemocht hatte. Man kann es nicht Hass nennen, denn das Gefühl war leidenschaftslos, aber es war eine tiefe physische Abneigung. Ihr kam es nun beinahe so vor, als hätte sie ihn geheiratet, weil sie ihn auf eine geheimnisvolle, physische Art nicht leiden konnte. In Wirklichkeit hatte sie ihn natürlich geheiratet, weil er sie geistig anzog und erregte. Sie hatte ihn gewissermaßen als ihren Meister betrachtet, als jemanden, der ihr überlegen erschien.

Nun hatte sich die geistige Erregung erschöpft und war kollabiert, und sie war sich nur noch der physischen Abneigung bewusst. Die stieg aus ihrem tiefsten Innern empor, und sie wurde sich ihrer bewusst; wie sie auch begriff, wie sehr diese Abneigung an ihrem Leben gezehrt hatte.

Sie fühlte sich schwach und völlig verloren. Sie wünschte, es würde ihr von außen irgendeine Hilfe zukommen. Aber in der ganzen Welt gab es keine Hilfe. Die Gesellschaft war schrecklich, weil sie wahnsinnig war. Die zivilisierte Gesellschaft war wahnsinnig. Das Geld und die sogenannte Liebe waren ihre zwei großen Obsessionen; aber das Geld kam weitaus an erster Stelle. Das Einzelwesen behauptete sich in seinem konfusen Wahnsinn durch diese beiden Elemente: Geld und Liebe.

Michaelis, zum Beispiel! Sein Leben und seine Tätigkeit waren einfach Wahnsinn. Seine Liebe war eine Art Wahnsinn.

Und mit Clifford war es das gleiche. All dieses Gerede! All das Geschreibe! Und all das wilde Strampeln, um sich vorwärtszuschieben! Es war einfach Wahnsinn. Und es wurde immer ärger, wirklich manisch.

Connie fühlte sich ausgelaugt von Furcht. Aber wenigstens verlegte Clifford seinen Halt von ihr auf Mrs. Bolton. Er bemerkte es nicht. Wie bei vielen Wahnsinnigen konnte sein Wahnsinn an den Dingen gemessen werden, deren er sich nicht bewusst war, an den großen Brachland-Flächen in seinem Bewusstsein.

Mrs. Bolton war in vieler Hinsicht bewundernswert. Aber sie besaß jene seltsame Art der Herrschsucht, das endlose Hervorkehren ihres eigenen Willens, das bei den heutigen Frauen eines der Zeichen von Wahnsinn ist. Sie glaubte, sie gehe völlig in ihrem Dienst auf und lebe für andere. Clifford faszinierte sie, weil er stets oder sehr oft ihren Willen wie durch ein feineres Werkzeug vereitelte. Er hatte einen feineren, gewandteren Willen zur Selbstbehauptung als sie. Darin lag für sie sein Zauber.

Vielleicht war das auch sein Zauber für Connie gewesen.

»Es ist ein herrlicher Tag heute!« sagte Mrs. Bolton etwa mit ihrer schmeichelnden, überredenden Stimme. »Ich glaube, eine kleine Fahrt in Ihrem Motorstuhl würde Ihnen Freude machen, der Sonnenschein ist einfach wunderbar.«

»Ja? Wollen Sie mir das Buch dort geben – dort drüben, das gelbe. Und ich glaube, ich werde diese Hyazinthen aus dem Zimmer bringen lassen.«

»Aber sie sind doch so wunderschön!« Sie legte einen gezierten Nachdruck auf das Wort. »Und der Geruch ist einfach herrlich.«

»Der Geruch ist es eben, den ich nicht leiden kann«, sagte er. »Er erinnert einen zu sehr an ein Begräbnis.«

»Sie glauben wirklich?« rief sie überrascht und betroffen, und ein klein wenig gekränkt. Und sie trug die Hyazinthen aus dem Zimmer, beeindruckt von seiner feineren Empfindlichkeit.

»Soll ich Sie heute rasieren, oder wollen Sie es lieber selber tun?« Stets die selbe schmeichelnde, unterwürfige und doch befehlshaberische Stimme.

»Ich weiß nicht. Vielleicht warten Sie noch ein wenig. Ich werde klingeln, wenn ich bereit bin.«

»Sehr wohl, Sir Clifford«, antwortete sie sanft und fügsam und zog sich still zurück. Aber jede Zurückweisung staute neue Willenskraft in ihr auf.

Wenn er hierauf nach einiger Zeit klingelte, kam sie sogleich. Und dann sagte er: »Ich glaube, es wäre mir lieber, wenn Sie mich heute Morgen rasierten.«

Ein kleiner Freudenschauer durchzuckte ihr Herz, und sie erwiderte mit besonderer Sanftheit: »Sehr wohl, Sir Clifford.«

Sie war sehr geschickt mit ihren weichen, zögernden, ein wenig langsamen Händen. Anfangs empfand er Widerwillen gegen die unendlich weiche Berührung ihrer Finger auf seinem Gesicht. Nun aber hatte er dies mit einer zunehmenden Wollustigkeit gern. Er ließ sich fast jeden Tag von Mrs. Bolton rasieren, ihr Gesicht dem seinen nahe, ihre Augen so gespannten Blicks, achtsam, dass sie es recht mache. Und allmählich kannten ihre Fingerspitzen seine Wangen und Lippen, seinen Kiefer und sein Kinn und seine Kehle vollkommen. Er war wohlgenährt und sah gut aus, sein Gesicht, sein Hals waren hübsch genug, und er war ein Gentleman.

Auch sie war hübsch: blass, das Gesicht eher länglich und vollkommen still, die Augen glänzend, aber ohne etwas zu verraten. Allmählich, mit unendlicher Sanftheit, beinahe mit Liebe, erwischte sie ihn an der Kehle, und er ergab sich ihr.

Sie tat jetzt beinahe alles für ihn, und er fühlte sich nun ihr gegenüber ungezwungener als gegenüber Connie, er schämte sich weniger, ihre Dienstleistungen anzunehmen. Sie liebte es, mit ihm zu hantieren, sie liebte es, seinen Körper in ihrer Obhut zu haben, vollkommen, bis zu den niedrigsten, gewöhnlichsten Dienstleistungen. Zu Connie sagte sie eines Tages: »Alle Männer sind kleine Kinder, wenn man ihnen auf den Grund kommt. Du lieber Gott! Ich habe manche der zähesten Burschen behandelt, die je in den Tevershall-Schacht eingefahren sind, aber es braucht ihnen bloß was weh zu tun, sodass man sie pflegen muss, und sie sind wie kleine Kinder – einfach wie kleine Kinder. Oh, es gibt nicht viele Unterschiede zwischen Männern!«

Anfangs hatte Mrs. Bolton gedacht, es gebe wirklich einen Unterschied bei einem Gentleman, einem wirklichen Gentleman wie Sir Clifford, gegenüber einem gewöhnlichen Mann. Und daher war Clifford ihr überlegen gewesen. Aber allmählich, als sie ihm – um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen – auf den Grund kam, fand sie, dass er wie die übrigen war, ein kleines Kind, das zu den Maßen eines Mannes herangewachsen war, aber ein kleines Kind mit einem wunderlichen Temperament und feinen Manieren und der Macht, sie selbst zu beherrschen; und mit allerhand seltsamem Wissen, von dem sie sich nie hatte träumen lassen – Wissen, mit dem er sie noch immer einzuschüchtern vermochte.

Connie fühlte sich manchmal versucht, ihm zu sagen: »Um Gottes Willen, verfalle diesem Frauenzimmer doch nicht gar so entsetzlich!« Aber sie fand, dass ihr mit der Zeit nicht mehr so viel daran lag, als dass sie es ihm sagen müsste.

Es war noch immer ihre Gewohnheit, den Abend bis zehn Uhr mit ihm zu verbringen. Sie sprachen oder lasen miteinander, oder arbeiteten seine Manuskripte durch. Aber die Begeisterung war entschwunden. Connie war gelangweilt von seinen Manuskripten. Doch schrieb sie sie noch immer pflichtschuldigst auf der Schreibmaschine für ihn ab. Aber mit der Zeit würde Mrs. Bolton auch das übernehmen. Sie hatte Mrs. Bolton vorgeschlagen, sie solle Maschineschreiben lernen. Und Mrs. Bolton, stets zur Stelle, hatte begonnen und übte fleißig. Also diktierte Clifford ihr nun manchmal einen Brief, und sie schrieb ihn zwar recht langsam, aber korrekt. Und er legte viel Geduld an den Tag, wenn er ihr schwierige Worte oder gelegentliche französische Phrasen buchstabierte. Sie war so begeistert davon – es war beinahe ein Vergnügen für ihn, sie zu belehren.

Connie schützte nun manchmal Kopfschmerzen vor, um gleich nach dem Abendessen in ihr Zimmer hinaufgehen zu können.

»Vielleicht wird Mrs. Bolton Piquet26 mit dir spielen«, schlug sie Clifford vor.

»Oh, sorge dich nicht um mich! Geh du nur in dein Zimmer und ruhe dich aus, meine Liebe!«

Aber kaum war sie gegangen, als er nach Mrs. Bolton klingelte und sie bat, Piquet oder Bezique27 oder gar Schach mit ihm zu spielen. Er hatte sie alle diese Spiele gelehrt. Und Connie fand es seltsam widerwärtig, Mrs. Bolton errötend und zaghaft wie ein kleines Mädchen ihre Königin oder ihren Buben mit unsicheren Fingern berühren und die Hand wieder zurückziehen zu sehen; und Clifford mit halb neckender Überlegenheit leise lächelnd sagen zu hören: »Sie müssen sagen: J’adoube!28«

Sie blickte mit glänzenden, erstaunten Augen zu ihm auf und murmelte dann scheu und gehorsam: J’adoube.

Ja, er erzog sie. Und es machte ihm Freude. Ihm gab es ein Gefühl von Macht. Und sie war begeistert. Sie gelangte Stück für Stück in den Besitz alles dessen, was die vornehme Welt wusste, alles dessen, was die Zugehörigkeit zur Oberklasse ausmachte – abgesehen vom Geld. Das begeisterte sie. Und gleichzeitig flößte sie Clifford den Wunsch ein, sie stets um sich zu haben. Diese, ihre echte Begeisterung war eine listig-feine, tief versteckte Schmeichelei für ihn.

Connie schien es, als käme Clifford erst jetzt in seinen wahren Farben zum Vorschein: ein bisschen gewöhnlich, ein bisschen alltäglich und ungeistig und dicklich. Auch Ivy Boltons Mätzchen und demütige Tyrannei waren nur allzu durchsichtig. Aber Connie wunderte sich wirklich über die echte Begeisterung, die das Frauenzimmer aus Clifford zu gewinnen wusste. Zu sagen, dass sie in ihn verliebt sei, hätte es falsch ausgedrückt. Sie war begeistert von ihrer Fühlungnahme mit einem Mann der Oberklasse, mit diesem adeligen Gentleman, diesem Schriftsteller, der Bücher und Gedichte schreiben konnte, dessen Photographien in den illustrierten Zeitungen erschienen. Sie war bis zu einer unheimlichen Leidenschaft begeistert. Und der Umstand, dass er sie erzog, erweckte in ihr eine leidenschaftliche Erregung und Erwiderung – viel tiefer, als jede Liebesaffäre es vermocht hätte. Ja, gerade die Tatsache, dass es hier keine Liebesaffäre geben konnte, gab ihr die Möglichkeit, bis ins innerste Mark von dieser Leidenschaft zu erschauern, der besonderen Leidenschaft, Wissen zu besitzen, Wissen von der Art, wie er es besaß.

Es ließ sich nicht verkennen, dass die Person auf irgendeine Art in ihn verliebt war, – was für eine Bedeutung auch immer man dem Worte Liebe beilegen mochte. Sie sah so hübsch und jung aus, und ihre grauen Augen waren manchmal wundervoll. Zugleich aber war eine versteckte sanfte Genugtuung um sie, sogar etwas wie Triumph und heimliche Befriedigung. Brrr, diese heimliche Befriedigung! Wie es Connie davor ekelte!

Aber kein Wunder, dass sich Clifford von dem Weibsbild einfangen ließ! Auf ihre beharrliche Art betete sie ihn einfach an und stellte sich ihm unbedingt zu Diensten, damit er Gebrauch von ihr mache, wie es ihm beliebe. Kein Wunder, dass er sich geschmeichelt fühlte!

Connie hörte lange Gespräche zwischen den beiden mit an, oder vielmehr, es war zumeist Mrs. Bolton, die sprach. Sie hatte ihm gegenüber den Strom des Klatsches über das Dorf Tevershall entfesselt. Es war mehr als Klatsch. Einmal in Fahrt, war Mrs. Bolton besser als jedes Buch über das Leben des »Volkes«. Sie kannte sie alle so eingehend und nahm solch besonderes, brennend eifriges Interesse an all ihren Angelegenheiten, dass es wundervoll, wenn auch ein wenig erniedrigend war, ihr zuzuhören. Anfangs hatte sie nicht gewagt, »Tevershall zu reden«, wie sie es nannte. Aber einmal begonnen, ging es weiter. Clifford suchte Stoff zu erlauschen, und er fand ihn in Massen. Connie begriff, dass sein sogenanntes Genie eben darin bestand: In einer bemerkenswerten Begabung für persönlichen Klatsch, gescheit und offenbar objektiv. Mrs. Bolton natürlich erhitzte sich sehr, wenn sie »Tevershall redete«. Ja, sie war tatsächlich hingerissen. Es war wunderbar, was alles geschah und von was allem sie wusste. Sie hätte Dutzende von Bänden reden können.

Connie war gefesselt, wenn sie ihr zuhörte, aber nachher stets ein wenig beschämt. Sie hätte nicht mit solch wunderlicher, rabiater Neugier zuhören dürfen. Schließlich war es ja so, dass man die aller geheimsten Angelegenheiten anderer Leute hören konnte, aber nur im Sinne der Achtung für das ringende, vom Schicksal geschlagene Ding einer Menschenseele, und im Sinne eines edlen, verständigen Mitgefühls. Denn sogar die Satire ist eine Art von Mitgefühl. Was wirklich unser Leben bestimmt, das ist die Art, wie unser Mitgefühl ausströmt und zurückweicht. Und hierin liegt die ungeheure Bedeutung des Romans, wenn er richtig gehandhabt wird. Er kann teilhaben lassen und den Strom unseres bewussten Mitgefühls an neue Orte lenken, und er kann unser Mitgefühl von abscheulichen, abgestorbenen Dingen weg lenken. Daher kann der Roman, richtig gehandhabt, die aller geheimsten Quellen des Lebens enthüllen, denn es sind vor allem die leidenschaftlichen, geheimen Stellen des Lebens, wo die Wogen empfindungsfähigen Bewusstseins, stets reinigend und auffrischend, ebben und fluten müssen.

Aber der Roman, ebenso wie der Klatsch, kann auch vorübergehende Sympathie und Abneigung erzeugen, mechanische, für die Seele totale. Der Roman kann die verderbtesten Gefühle verherrlichen, solange sie konventionell »rein« sind. Da wird der Roman, wie der Klatsch, endlich lasterhaft und, wie der Klatsch, umso mehr lasterhaft, weil er stets aufdringlich auf Seiten der Unschuldsengel steht. Mrs. Boltons Klatsch stand stets auf Seiten der Unschuldsengel. »Und er war solch ein schlechter Kerl, und sie war solch eine nette Frau«, wogegen Connie selbst aus Mrs. Boltons Klatsch herauslesen konnte, dass die Frau bloß von der gewissen opportunistischen Art war und der Mann von einer gewissen zornigen Ehrlichkeit. Aber bei dem lasterhaften, konventionellen Kanalisieren der Sympathie durch Mrs. Bolton machte eben zornige Ehrlichkeit einen »schlechten Mann« aus ihm und Opportunismus aus ihr eine »nette Frau«.

Aus diesem Grund war der Klatsch erniedrigend. Und aus demselben Grund sind die Romane, besonders die beliebten, auch erniedrigend. Das Publikum geht heutzutage nur auf einen Appell an seine eigenen Laster ein.

Nichtsdestoweniger erhielt man aus Mrs. Boltons Reden einen neuen Eindruck vom Dorf Tevershall. Ein schreckliches, brodelndes Durcheinander hässlichen Lebens schien es zu sein, keineswegs die flache Eintönigkeit, die es von außen gesehen darstellte. Clifford kannte natürlich die meisten erwähnten Leute vom Sehen, Connie nur einige wenige. Aber es klang wirklich mehr nach einem Dschungel in Zentralafrika als nach einem Dorf in England.

Clifford bekam einen ganz neuen Begriff von seinem eigenen Dorf. Der Ort hatte ihm stets Furcht eingeflößt, aber er hatte ihn für mehr oder weniger bodenständig gehalten. Nun jedoch ...?

»Gibt es viel Sozialismus und Bolschewismus unter den Leuten?« fragte er.

»Oh«, erwiderte Mrs. Bolton, »ein paar Großmäuler machen sich bemerkbar. Aber meistens sind es Frauen, die in Schulden geraten sind. Die Männer kümmern sich nicht. Ich glaube nicht, dass man aus unseren Tevershaller Männern Kommunisten machen kann. Dazu sind sie zu anständig. Aber die Jungen blöken manchmal. Nicht, dass ihnen wirklich etwas daran liegt. Sie wollen bloß ein bisschen Geld in der Tasche haben, um’s im Arbeiterheim anzubringen und nach Sheffield auf den Rummel zu gehen. Das ist das Einzige, woran ihnen liegt. Nur wenn sie kein Geld haben, hören sie zu, was die Roten ihnen vorposaunen. Aber in Wirklichkeit glaubt kein Mensch daran.«

»Also meinen Sie, dass keine Gefahr ist?«

„Oh nein, nicht, wenn sie genug verdienen, dann sicher nicht. Aber wenn es noch lange Zeit schlecht geht, könnten die Burschen ein bisschen komisch werden. Ich sage Ihnen, sie sind eine egoistische, verzogene Gesellschaft. Aber ich sehe nicht, dass sie je etwas unternehmen könnten. Sie nehmen nichts ernst, außer das Protzen mit Motorrädern oder das Palais de Dance in Sheffield. Man kann ihnen keinen Ernst beibringen. Die Ernsten machen sich fein und ziehen los ins Pally, um vor möglichst vielen Mädeln anzugeben und diesen neuen Charleston und was weiß ich zu tanzen. Ich bin sicher, manchmal ist der Autobus ganz voll von jungen Burschen in Abendanzügen, lauter Lackel vom Bergwerk, auf dem Weg ins Pally. Gar nicht zu reden von denen, die mit ihren Mädeln in Autos oder auf Motorrädern hinfahren. Sie verwenden keinen ernsten Gedanken auf irgendetwas, außer auf die Rennen in Doncaster und das Derby. Denn alle miteinander wetten sie bei jedem Rennen. Und Fußball! Aber auch Fußball ist nicht mehr dasselbe wie früher. Lange nicht. Eine viel zu große Anstrengung, sagen sie. Nein, sie fahren am Samstagnachmittag lieber auf dem Motorrad nach Sheffield oder Nottingham.«

»Aber was tun sie, wenn sie dort sind?«

»Oh, sie treiben sich so herum und trinken Tee in irgendeinem feinen Teehaus wie dem Mikado und gehen mit irgendeinem Mädel ins Pally oder ins Kino oder ins Varieté. Die Mädel benehmen sich genauso frei wie die Burschen. Sie tun einfach, was ihnen passt.«

»Und was tun sie, wenn sie nicht das Geld für diese Dinge haben?«

»Sie scheinen’s irgendwie zu kriegen. Und dann fangen sie an, hässlich zu reden. Aber ich sehe nicht, wie der Bolschewismus hier aufkommen soll, wenn die Burschen nichts Anderes wollen als Geld, um sich zu unterhalten, und die Mädel ebenso, nur feine Kleider obendrein, und sie sich um nichts Anderes kümmern. Sie haben nicht Hirn genug, um Sozialisten zu sein. Sie haben nicht genug Ernst, um irgendetwas wirklich anzustreben, und werden ihn nie haben.«

Connie dachte, wie außerordentlich ähnlich allen andern Klassen die unteren seien, nach dem, was sie da hörte. Es war einfach dasselbe in einer anderen Farbe, Tevershall oder Mayfair oder Kensington. Es gab heutzutage nur eine Klasse: die Geldmänner. Der Geldmann und das Geldmädchen. Der einzige Unterschied war, wie viel man hatte und wie viel man haben konnte und wollte.

Unter Mrs. Boltons Einfluss begann Clifford ein neues Interesse an den Gruben zu nehmen. Er begann zu fühlen, er gehöre zu ihnen. Eine neue Art von Selbstsicherheit entwickelte sich in ihm. Schließlich war er der wirkliche Herr in Tevershall, er selbst war das Bergwerk. Es war ein neues Gefühl der Macht, etwas, wovor er bisher ängstlich zurückgeschreckt war.

Das Flöz in Tevershall wurde immer weniger ergiebig. Es waren nur noch zwei Schächte vorhanden. Tevershall selbst und Neu-London. Tevershall war einst ein berühmter Schacht gewesen und hatte berühmt viel Geld eingebracht. Aber seine besten Tage waren vorbei. Neu-London war niemals sehr reich gewesen, kam in gewöhnlichen Zeiten gerade nur anständig vorwärts. Nun aber waren die Zeiten schlecht, und Schächte wie Neu-London wurden aufgegeben.

Es waren vor allem Mrs. Boltons Reden, die Clifford neuen Kampfmut einflößten. Sein Einkommen aus der Hinterlassenschaft seines Vaters sei, so bedeutete sie ihm, gesichert, wenn auch nicht gewaltig. An den Gruben hatte ihm früher nicht viel gelegen. Es war die andere Welt gewesen, die er erobern wollte, die Welt der Literatur und des Ruhms – die Welt der Popularität, nicht die der Arbeit. Nun wurde er sich des Unterschiedes zwischen Popularitätserfolg und Arbeitserfolg bewusst, zwischen der genießenden und der arbeitenden Bevölkerung.

Als Privatmann hatte er mit seinen Geschichten die genießende Bevölkerung unterhalten, und er hatte dabei gut abgeschnitten. Aber unter der Bevölkerungsschicht der Genießer saß grimmig, rußig und recht furchtbar die Bevölkerung der Arbeiter. Auch sie musste ihre Zulieferer haben, und es war ein viel grimmigeres Geschäft, die arbeitende Bevölkerung zu beliefern, als die Vergnügung suchende. Während er seine Novellen geschrieben und es in der Welt zu etwas gebracht hatte, war Tevershall auf ein totes Gleis geraten.

Er begriff nun, dass die hündische Göttin des Erfolges zwei Hauptappetite hatte: einen auf Schmeichelei, Liebedienerei, Streicheln und Kitzeln, was alles ihr von Schriftstellern und Künstlern zuteil wurde, aber den anderen, grimmigeren, auf Fleisch und Knochen. Und das Fleisch und die Knochen für die hündische Göttin wurden von den Männern geliefert, die sich in der Industrie Geld machten.

Ja, es gab zwei große Gruppen von Hunden, die um die hündische Göttin rauften. Die Gruppe der Schmeichler, jene, die ihr Unterhaltung, Erzählungen, Filme, Theaterstücke opferte, und die andere, viel weniger auffällige, aus einer viel wilderen Zucht, die Gruppe jener, die ihr das Fleisch, den wahren Nährstoff des Geldes gab. Die wohlgepflegten, auffälligen Luxushunde der Unterhaltung rauften und knurrten miteinander um die Wette um die Gunst der hündischen Göttin. Aber das war nichts gegen das stumme Kämpfen, bis zum letzten Atemzug, das unter den unentbehrlichen Nutzhunden, den Knochenbringern, vor sich ging.

Unter Mrs. Boltons Einfluss fühlte Clifford sich versucht, in diesen andern Kampf einzutreten und sich der hündischen Göttin durch die brutalen Mittel industrieller Produktion zu bemächtigen. Auf irgendeine Art schwoll ihm der Kamm. In gewisser Weise machte Mrs. Bolton einen Mann aus ihm, wie Connie das nie getan hatte. Connie hielt ihn abgesondert und machte ihn empfindlich und seiner selbst und seiner Zustände bewusst. Mrs. Bolton machte ihn nur äußerer Dinge bewusst. Innerlich begann er weich wie Gelée zu werden. Aber äußerlich wurde er tatkräftig.

Er raffte sich sogar dazu auf, wieder einmal die Zeche zu besuchen.

Und als er da war, fuhr er in den Schacht ein und ließ sich dann in einem Förderwagen in die Strecken ziehen. Dinge, die er vor dem Krieg gelernt und dann völlig vergessen zu haben schien, fielen ihm nun wieder ein. Er saß da, ein Krüppel in einem Förderwagen, und der Bergmeister zeigte ihm mit einer starken Lampe das Flöz. Und er redete wenig. Aber sein Geist begann zu arbeiten.

Er begann wieder seine technischen Werke über Kohlenbergbau zu lesen, er studierte die Regierungsberichte und las sorgfältig die neuesten deutschen Bücher über die Gewinnung und die Zusammensetzung von Kohle und Kohlenschiefer. Die wertvollsten Entdeckungen wurden natürlich so weit als möglich geheim gehalten. Aber sobald man einmal eine Art Forschung auf dem Gebiet des Kohlenbergbaus begann, ein Studium der Methoden und Mittel, ein Studium der Nebenprodukte und der chemischen Möglichkeiten der Kohle, musste man staunen über die Erfindungsgabe und die beinahe unheimliche Gerissenheit des modernen technischen Geistes, als hätte wirklich der Teufel selber den technischen Wissenschaften der Industrie höllischen Verstand geliehen. Es war viel interessanter als Kunst, als Literatur, – viel interessanter als dieses armselige, gefühlvolle, halbnärrische Zeug war diese technische Wissenschaft der Industrie. Auf diesem Gebiet waren die Menschen Göttern gleich oder Dämonen, zu Entdeckungen inspiriert, und sie kämpften, um sie durchzusetzen. In dieser Fähigkeit waren die Menschen weit über jedes berechenbare geistige Alter hinaus. Aber Clifford wusste, wenn es auf die sensible und menschliche Seite ankam, standen diese Selfmademen in einem Alter von ungefähr dreizehn Jahren – waren sie schwächliche Knaben. Die Unstimmigkeit war ungeheuer und erschreckend. Aber mochte dem sein, wie ihm wollte. Mochte der Mensch im Gefühlsmäßigen und Menschlichen zu allgemeinem Schwachsinn hinabsinken – Clifford störte sich nicht weiter daran. Mochte das alles zum Teufel gehen. Er hatte jetzt nur Interesse für die Technik des modernen Kohlenbergbaus und dafür, Tevershall aus der Klemme zu ziehen.

Tag für Tag ließ er sich nun zum Bergwerk fahren, er studierte, er hielt den leitenden Direktor und den Werksdirektor und den Bergmeister und die Ingenieure in Atem, wie sie es sich nie hatten träumen lassen. Macht! Er fühlte sich von einem neuen Machtgefühl durchflutet. Macht über alle diese Männer, über die Hunderte und Hunderte von Bergleuten. Er machte sich schlau, und er bekam die Sache in die Hand.

Und er schien wahrhaftig wiedergeboren zu werden. Jetzt kam Leben in ihn. Mit Connie und in dem isolierten privaten Kreis von Künstlern und selbstbezogenen Wesen war er langsam abgestorben. Lass all das jetzt sein, lass es ruhen! Er spürte geradezu, wie aus der Kohle, aus dem Schacht, das Leben ungestüm in ihn einströmte. Selbst die schale Luft der Fördergänge schien ihm besser als Sauerstoff. Sie gab ihm ein Gefühl der Macht, der Macht! Er tat etwas. Und er war auf dem Weg, etwas zu leisten. Und er war auf dem Weg, zu gewinnen: Nicht, wie er es mit seinen Novellen getan, bloße Popularität, die inmitten eines ganzen Systems von Energie und Zynismus errungen werden musste, sondern eines Mannes Sieg.

Anfangs dachte er, die Lösung läge in der Elektrizität, in der Umwandlung der Kohle zu elektrischer Kraft. Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Die Deutschen hatten eine neue Lokomotive mit Selbstspeisung erfunden, die keines Heizers bedurfte und mit einem neuen Brennstoff betrieben wurde, der unter speziellen Bedingungen und großer Hitzeentwicklung in kleinen Mengen verbrannte.

Der Gedanke eines neuen konzentrierten Brennstoffes, der mit beharrlicher Langsamkeit unter starker Hitzeentwicklung verbrannte, dieser Gedanke war es, der Clifford als erstes fesselte. Es musste noch eine andere Art von Beeinflussung bei der Verbrennung solchen Heizmaterials geben als die bloße Luftzufuhr. Er begann Versuche anzustellen und holte sich einen gescheiten jungen Mann, der sich als glänzender Chemiker erwiesen hatte, damit er ihm helfe.

Und er fühlte einen Triumph. Er war endlich aus sich selbst heraus gekommen, er hatte seine lebenslange Sehnsucht erfüllt, aus sich heraus zu gelangen. Die Kunst hatte das nicht für ihn geleistet, die Kunst hatte es nur schlimmer gemacht, aber nun, nun war er so weit.

Er war sich nicht bewusst, wie sehr Mrs. Bolton die Sache beförderte. Er wusste nicht, wie sehr er von ihr abhing. Aber trotzdem war es klar, dass im Beisammensein mit ihr seine Stimme zu einem lässigen Tonfall der Vertrautheit herabsank, der beinahe ein bisschen gewöhnlich war.

Connie gegenüber benahm er sich ein wenig steif. Er fühlte, er schulde ihr alles, alles, und er bezeugte ihr die größte Achtung und Rücksichtnahme, solange sie ihm wenigstens äußerlich Respekt zollte. Aber es war offenkundig, dass er eine geheime Furcht vor ihr empfand. Der neue Achilles in ihm hatte eine Ferse. Und an dieser Ferse konnte ihn ein Weib, ein Weib wie Connie, seine Frau, verhängnisvoll lähmen. Er lebte in einer gewissen halb unterwürfigen Furcht vor ihr und benahm sich äußerst zuvorkommend gegen sie. Aber seine Stimme war ein wenig gespannt, wenn er mit ihr sprach; und er begann schweigsam zu werden, wenn sie anwesend war.

Nur wenn er mit Mrs. Bolton allein war, fühlte er sich wirklich als Herr und Meister, und im Gespräch mit ihr klang seine Stimme beinahe so unbefangen und geschwätzig wie die ihre. Und er ließ sich von ihr rasieren oder seinen ganzen Körper mit einem Schwamm abwaschen, als wäre er ein Kind – wirklich, als wäre er ein Kind.