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Was ist deutsch?

Fröhliche Wissenschaft 105

Peter Trawny

Was ist deutsch?

Adornos verratenes Vermächtnis

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Inhalt

Einleitung. Unterm Matterhorn

Adornos Deutschland

Autobiographischer Exkurs

Thomas Manns Dämonen

Habermas und Hendrix

Sarrazins Einflüsterungen

Schluss. Asche im Haar

Anmerkungen

»Hier kam es zum Bewußtsein und erhielt seinen bestimmten Ausdruck, was Deutsch sei, nämlich: die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben.«

Richard Wagner

»Die Nationalisierung unserer Masse wird nur gelingen, wenn bei allem positiven Kampf um die Seele unseres Volkes ihre internationalen Vergifter ausgerottet werden.«

Adolf Hitler

»Ich antworte nicht
Sie fragen
sie streuen mir
Asche ins Haar«

Rose Ausländer

»Mit anderen Worten, man ist nirgends mehr zu Hause …«

Theodor W. Adorno

Einleitung. Unterm Matterhorn

Deutschland verändert sich. Es geschieht etwas, das in die Geschichte eingreift, in mein Verhältnis zu dieser Geschichte, dieser deutschen Geschichte. Etwas in Deutschland, an Deutschland, ist alt, ist schwach geworden. Es ist die Bundesrepublik, die Öffentlichkeit dieser Bundesrepublik. Man könnte es vielleicht als das Bundesrepublikanische bezeichnen, das von den dreisten Attacken seiner Feinde erstaunlich erschüttert wird.

Was untergeht, was nach einer langen Zeit der Erosion verschwindet, ist eine spezifische Gestaltung der politischen Öffentlichkeit. Es geht um die Lebensleistung Theodor W. Adornos, um das, was dieser Philosoph nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil aufbauen wollte und aufgebaut hat: eine Gesellschaft, in der es sich nach dem Schrecklichsten wieder leben ließ. Adorno – spiritus rector der Bundesrepublik.1

Seine Frankfurter Seminare und Vorlesungen in den fünfziger und sechziger Jahren, seine Präsenz in den Medien (vor allem im Rundfunk) und seine publizistische Tätigkeit haben eine Öffentlichkeit gestaltet, die noch dreißig Jahre nach seinem Tod im Jahre 1969 Bestand hatte; eine politische Öffentlichkeit, die, vom Geist der Kritik und Reflexion beseelt, stark genug war, die Vertreter eines anderen Deutschland in Schach zu halten.

Adorno und die Kritische Theorie haben Generationen von Universitäts- und Schullehrern, Journalisten, Herausgebern und Kulturschaffenden im weitesten Sinne geprägt. Für sie waren die kritischen und stets gut formulierten Ansichten ihres Philosophen ein »Modell« (Adorno verwendete den Begriff gern), an dem sie ihre Meinungen orientieren konnten. Selbst die sich radikalisierenden Studenten am Ende der sechziger Jahre wollten sich auf ihn berufen. Dass er es sich verbat, dass er keine Sympathie mit dem pseudo-revolutionären Terror teilte, hat noch mehr zu seiner integrativen Bedeutung beigetragen. Jene »Adorniten« und ihre Nachfahren treten nun ab.

Man kann sich den Einfluss dieses Philosophen nicht recht vorstellen, wenn man ihn mit dem öffentlichen Status der Philosophie heute vergleicht. Adorno war eine Instanz. Seine pädagogischen Ideen wurden in den Institutionen (Universitäten und Schulen) realisiert. Menschen aus allen Bevölkerungsschichten schickten ihm Briefe, die er zu beantworten versuchte.2 Die Frankfurter Schule, die auf Adorno folgte und sich den Anstrich gab, in seinem Sinne zu operieren, hat nicht daran angeknüpft. Sie hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um der Pflicht des Professors und seiner Wissenschaft zu genügen. Es herrscht ein Diskurs-Vakuum.

Adorno, der sich »vom ersten bis zum letzten Tag« »als Europäer empfand«3, hat sich 1965, anlässlich einer Radiosendung, zur Frage »Was ist deutsch?« geäußert. In den Stichworten, den Kritischen Modellen 2, hat er seine Ausführungen dann publiziert. Es sollte das letzte von ihm veröffentlichte Buch sein. Siegfried Unseld hat sich auf der ersten Seite dieses Bändchens 347 der edition suhrkamp dazu geäußert. Adorno habe noch »die Fahnen sorgsam korrigiert, den Umbruch konnte er nicht mehr imprimieren«.4 Am 6. August 1969 starb Adorno im Krankenhaus von Visp an den Folgen eines Herzinfarkts. Ungefähr dreißig Kilometer südlich von Visp befindet sich Zermatt. Im Schatten des Matterhorns hatte der Philosoph seine Sommerferien verbringen wollen. Gut dreißig Jahre früher hatte Luis Trenker dort seinen Film über die Erstbesteigung »Der Berg ruft« gedreht. Urdeutsche Landschaft, die dann, 1983, auf einem Cover der englischen Band »Depeche Mode« erscheint – »Everything Counts in Large Amounts« war der erfolgreichste Song des Albums. Alles zählt, was in großen Mengen erscheint: das Matterhorn in seinen Bildern, der Song und je nachdem auch das Buch, das Sie gerade lesen. Adorno hätte diesen Zusammenhang verstanden.

»Was ist deutsch?« – eine Frage, die Adorno zu einer Zeit zu beantworten suchte, in der durchaus vieles, wenn nicht alles, was als deutsch galt, auf dem Spiel stand. Nach dem politischen und moralischen Bankrott des »Dritten Reichs« hatte das, was als deutsch galt, seine Selbstverständlichkeit verloren. Wie sehr die weit verbreitete Verdrängung alles Deutschen dann in den sechziger Jahren selbst einen deutschen Charakter hatte, ist häufig betont worden.5 Doch Adorno wählte einen anderen Weg. Er differenzierte. Man hätte ihm besser zuhören sollen.

Heute, gut ein halbes Jahrhundert nach Adornos Beantwortung der Frage, stellt sich die Frage erneut. Ja, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in einer Zeit, in der von einem Buch mit dem Titel »Deutschland schafft sich ab«6 nach Auskunft des Verfassers in achtzehn Monaten einundzwanzig Auflagen gedruckt worden sind, diese Frage wieder wichtig geworden ist. Klar, heute geht es um anderes, um die Migrationsbewegungen, die nicht nur Europa fordern, um die mit ihnen verbundenen Verunsicherungen, die aus einer unsicheren Zukunft entspringen. »Was ist deutsch?« – so zu fragen wird unvermeidlich, da die Deutschen in ihrem Land sich mit einer wachsenden Anzahl von Menschen beschäftigen müssen, die offenbar keine Deutschen sind und möglicherweise auch keine Deutschen sein wollen.

Nun ist allerdings für viele, die inzwischen die politischen Diskurse beherrschen, die Frage schon beantwortet. Das Deutsche soll wieder eine »Identität« sein. Deutschland soll sich wieder auf seine »Kultur« besinnen. Allerdings handele es sich um eine prekäre »Identität«, denn Deutschland sei dem Untergang geweiht, wenn nicht … Ich werde mich am Ende meines Versuchs mit Thilo Sarrazins Buch beschäftigen. Ich werde zeigen, inwiefern Sarrazin die Frage, was deutsch ist, – nicht stellt.

Und doch kann kaum daran gezweifelt werden, dass der immense Erfolg dieses Buches – und nicht nur er – eine Veränderung, einen Bruch, einen Zusammenbruch, anzeigt: Adornos Konstruktion einer moralisch-politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik kollabierte. Das ist keineswegs seine Schuld. Die Differenziertheit seiner Antwort auf die Frage, was deutsch sei, ist nur ein weiterer Beweis für die hohe Kunst seines Denkens. Vielmehr wird man die Verantwortung für den Zusammenbruch einer Öffentlichkeit à la Adorno seinen Schülern sowie den Schülern dieser Schüler anrechnen müssen. Mit anderen Worten: Ein Buch wie das von Sarrazin kann nur erfolgreich sein in einer Zeit, in der der politische Diskurs, wie ihn die Intellektuellen an den Universitäten und in den Medien führen, sein argumentatives Überzeugungsprofil verloren hat. Was Peter Sloterdijk bereits 1999 diagnostizierte, nämlich dass die »Kritische Theorie tot« sei, gilt leider für unsere Zeit erst recht.

Doch anders als Sloterdijk bin ich der Ansicht, dass Adorno für diesen Tod nicht zur Verantwortung zu ziehen ist. Im Gegenteil, eine Relektüre der »Stichworte« von 1969, besonders aber des Textes »Auf die Frage: Was ist deutsch« sowie der beiden ihn einrahmenden Aufsätze, kann zeigen, was den aktuellen Repräsentanten einer kritischen und aufgeklärten Öffentlichkeit abgeht, was ihnen in den letzten drei Jahrzehnten abstarb. Dass nun das, was Adorno vielleicht als »Neo-Barbarei«7 bezeichnet hätte, wie ein Schwarm von dunklen Vögeln über die deutsche, ja europäische Öffentlichkeit hereinbrechen kann und die Diskussionsherrschaft beansprucht, ist nur die Konsequenz eines Versäumnisses, das noch jetzt, wo die intellektuelle Erstarrung überdeutlich geworden ist, kaum eingestanden wird.

Adornos Deutschland

Was ist deutsch? – Adorno will die Frage »reflektieren«. Der Begriff der Reflexion ist für Adorno zentral. Er hat darauf bestanden, dass Philosophen reflektieren müssen, ja, Denken heißt überhaupt Reflektieren. Dabei meint der Begriff weniger den bloß formalen Vollzug, sich noch einmal zu überlegen, was man sich gerade überlegt. Die reflexive Denkbewegung kommt vielmehr von selbst dazu, das Gedachte zu differenzieren. Sie verhält sich kritisch zu sich selbst. Reflexion und Kritik hängen zusammen.

Das geht über die Klärung des semantischen Gehalts von Aussagen hinaus. Reflexion ist für Adorno Denk-Ehrlichkeit. Stets reflektiert ein Selbst sich selbst angesichts des Anderen. Der Kritiker hat sich über den Ast zu unterrichten, an dem er sägt. Das hat Adorno recht weit getrieben. Für ihn hatte z. B. der Universitätslehrer den Zustand der Institution, die ihn ja immerhin nährte, widerständig zu durchleuchten. Kritik wird dann unvermeidbar Selbstkritik. Kein Ort der Kritik, der nicht ihr selbst ausgesetzt ist. Sie legitimiert sich einzig und allein reflexiv. Philosophie ist in weiten Teilen gar nichts anderes als das.

Doch es gibt gewiss noch einen anderen Grund für Adornos nicht unironische Bemerkung, dass »zuvor« »über die Frage selbst zu reflektieren«8 sei. Insofern die Reflexion eine Tätigkeit des Intellekts und Intellektuellen ist, wurde die Tätigkeit zur Zeit des »Dritten Reichs« als undeutsch und d. h. als »jüdisch«9 betrachtet. Adorno war sich von Anfang an bewusst, dass ein Pochen auf der Reflexion viele Deutsche störte. Noch heute klingt das Wort nach Untätigkeit, nach überflüssiger Vorsicht, nach Zögerlichkeit. »Kritische Selbstbesinnung« hatte damals, zwanzig Jahre nach dem Kriegsende, den Charakter der »Nestbeschmutzung«10. Nicht nur die »Äußerung unbequemer Gedanken, sondern diese selbst« sollten verhindert werden. Welcher Deutsche kritisierte das Deutschsein? Auf Defätismus stand im Krieg die Todesstrafe – Nibelungen sind treu.

Resultat der Reflexion war eine Kritik der Frage. Die »Bildung nationaler Kollektive« gehorche einem »verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewußtsein«. Sie halte sich »innerhalb jener Stereotypen, die vom Denken gerade aufzulösen wären«. Das »Wahre und Bessere in jedem Volk« sei »wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich« einfüge, »womöglich ihm widerstehe«.11 »Stereotypenbildung« fördere den »kollektiven Narzissmus«, vor allem dann, wenn die Stereotypen von der Überlegenheit des Eigenen über das Andere erzählen.

Ein der Erfahrung zugängliches Bewusstsein bewege sich nicht in kollektiven Zuschreibungen wie denen, dass die Deutschen pünktlich, sauber und redlich seien. Abgesehen von der Ambivalenz solch »deutscher Tugenden«, die vor kurzem noch besonders im Fußball gefeiert wurden12, wird die konkrete Praxis der Gemeinsamkeit durch eine Vielheit von Charakteren geprägt, die sich nur unter Preisgabe ihrer Individualität auf eine solche Identität festlegen ließen. Das Leben mit einem Anderen, das ich erfahre, erfahren muss, kristallisiert sich nicht in einer wie auch immer gearteten Nationalität. Mache ich aus meinem russischen Freund den Russen, habe ich das, was uns verbindet, schon aus den Augen verloren. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass ich das potenziell Russische im Charakter dieses Freundes übersehe oder gar leugne.

Doch obwohl Adorno mit dieser Reflexion der Frage, was deutsch sei, ihre Legitimität abzusprechen scheint, nimmt er eine Definition des Deutschen auf, von der nun alle seine Erklärungen ausgehen. Die Bereitschaft dazu ist allerdings überaus wichtig. Sie bezeugt, dass Adorno der politischen Möglichkeit, in der deutschen Geschichte mehr zu sehen als nur eine Katastrophe, nicht ausgewichen ist. Richard Wagner war es nämlich, der feststellte: »deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun«.13 Kein Zufall, dass Adorno gerade Wagners berühmten Satz wählte. Wagners Welt ragte in seine Kindheit hinein. Mit ihr ist der Philosoph aufgewachsen. Zugleich galt Wagner weithin als ein Repräsentant jenes Deutschland, das man hinter sich lassen wollte.

Adorno unterscheidet zunächst zwischen dem »imperialistischen Oberton, der den reinen Willen der Deutschen dem vorgeblichen Krämergeist zumal der Angelsachsen« entgegensetzt und dem »Richtigen«, »daß das Tauschverhältnis, die Ausbreitung des Warencharakters über alle Sphären, auch die des Geistes«, »in Deutschland nicht so weit gediehen war wie in den kapitalistisch fortgeschritteneren Ländern«. Das habe »zumindest der geistigen Produktion einige Resistenzkraft« verliehen.