VIER

 

Der ›Maulwurf‹ brauchte einige Stunden, um Nick zum Ziel zu bringen.

Mit dem Sonar navigierte er exakt und tauchte schließlich am Rande des Dschungels in unmittelbarer Nähe des Turms wieder auf, und zwar genau dort, von wo aus er ihn ausgespäht hatte.

Er beließ sein Fahrzeug im Schutz der Bäume, klemmte sich die Bombe unter den Arm und stieg über die Luke aus.

Die Morgendämmerung war noch längst nicht hereingebrochen. Noch immer herrschte dasselbe zwielichtige Abendrot vor wie vor Nicks Fahrt in den Untergrund. Nur die Luft war deutlich frischer als die aufbereitete Luft im ›Maulwurf‹, und Nick atmete sie begierig ein.

Jede Deckung ausnutzend, schlich er sich bis an den Rand der Ebene vor. Er wollte auskundschaften, was sich mittlerweile dort getan hatte.

Das riesige Diskusschiff stand unverändert an seinem Platz. Aus seiner Unterseite war ein dickes, voll bewegliches Ansaugrohr ausgefahren worden, ähnlich dem eines Staubsaugers. Und genau wie bei einem Staubsauger wurde alles, was davor geriet, eingesaugt. Das Uranerz, das von den Raupen und Transportern kurzerhand daruntergekippt worden war, verschwand so nach und nach im Rumpf. Ein ansehnlicher Haufen Gestein hatte sich inzwischen dort angesammelt. Fortlaufend wurde Material gebracht, allerdings waren die Bergbaufahrzeuge weniger geworden.

›Sie laden immer noch Uranerz ein.‹, stellte Nick fest. ›Die Arbeit scheint vollautomatisch zu gehen. Ich kann keinen Feind sehen.‹

Das passte zu dem, was er in Erfahrung gebracht hatte. Die Außerirdischen waren darauf bedacht, vor den Menschen nicht in Erscheinung zu treten und sie glauben zu lassen, ihre wahre Gestalt sei die der ›Leuchtkugeln‹. Die Menschen sollten nicht ahnen, dass ihre Gegner aus Fleisch und Blut und ebenso verletzlich waren wie sie selbst. Das erstickte jeden Widerstand bereits im Keim.

Umso besser. Wahrscheinlich koordinierte ein Elektronengehirn den Ansaugschlauch. Offenbar saß niemand an den Instrumenten. Und niemand würde Nick bei seinem tollkühnen Plan entdecken.

 

*

Mit der Bombe über der Schulter kroch Nick aus dem Dschungel. Er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Ausgerechnet jetzt, so nahe am Ziel, wollte er nicht riskieren, entdeckt zu werden.

Vorsichtig und gleichermaßen zielstrebig schleppte er sich auf allen vieren samt dem Sprengkörper auf das uranhaltige Geröll zu.

Bald schon merkte er, wie er zu schwitzen begann. Der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Unangenehm brannte das Salz in seinen Augen. Er versuchte es wegzublinzeln.

Als er den aufgetürmten Erzhaufen erreichte, presste er sich ganz dicht ans Gestein, versuchte in dessen Schatten einzutauchen, damit zu verschmelzen und unsichtbar zu werden.

Rasch legte er die Bombe zwischen zwei besonders große Klumpen, damit sie dort niemandem auffiel. Dann zog er sich auf demselben Weg wieder in den Dschungel zurück.

Von dort aus beobachtete er, was am Raumschiff passierte.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis das Ansaugrohr zu der Stelle vorgedrungen war, wo er die Bombe deponiert hatte. Zufrieden beobachtete er, wie sie zusammen mit den Erzbrocken eingesaugt wurde.

›Nach der Methode des Einladens zu urteilen, dürften sie die Bombe nicht bemerken‹, hoffte Nick inständig. ›Ich habe den Zeitzünder so eingestellt, dass sie in zwei Stunden explodiert. Hoffentlich sind sie bis dahin im Weltraum!‹

Jetzt hieß es für ihn abwarten.

 

*

Das Warten zerrte an Nicks Nerven. Je näher der Zeitpunkt der Explosion vorrückte, desto nervöser wurde er.

Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis das Schiff startete. Die Bergbaumaschinen waren längst abgezogen, die Erzlager waren leer. Der Geröllhaufen war zusehends kleiner geworden und schließlich verschwunden.

Endlich wurde das Ansaugrohr eingefahren. Nur Sekunden später erklang vom Raumschiff her ein dumpfes Grollen. Man hatte das Triebwerk aktiviert.

Ein gleißender Feuerstrahl entfuhr dem Antriebsring – so hell, dass die Luft ringsum flirrte. Sanft wurde das Schiff in die Höhe getragen. Dann fuhr man die Landestützen ein, und sie verschwanden im Rumpf.

Gemächlich hob die Scheibe ab und entfernte sich von der Oberfläche.

›Gott sei Dank!‹ Nick war erleichtert. ›In fünf Minuten geht die Bombe los!‹

Er konnte hier nichts mehr tun und ging zum ›Maulwurf‹ zurück, wartete jedoch noch mit dem Einsteigen. Er ließ seine Armbanduhr nicht aus den Augen. Ganz genau verfolgte er die kontinuierliche Bewegung des Sekundenzeigers und zählte den Countdown bis zur Zündung der Bombe mit.

Als er bei null angelangt war, zerriss ein greller Atomblitz das Dämmern der Venusnacht.

Nick musste seine Augen schließen, um von der Helligkeit nicht geblendet zu werden.

Nur wenige Sekunden später erscholl ein tiefes, rumpelndes Grollen wie bei einem Gewitter, allerdings war dieser Donner lauter, dumpfer und bedrohlicher als jeder andere. Außerdem stand der Feuerball der Explosion unverändert am Himmel. Trümmerstücke des Raumschiffs und Erzklumpen fielen vom Himmel. Wo sie einschlugen, richteten sie ein Meer der Verwüstung an.

›Es tut mir leid um die Außerirdischen‹, gestand sich Nick ein, während er sich wieder seinem Fahrzeug zuwandte. ›Aber sie wollten den Krieg! Wir wären bereit gewesen, friedlich mit ihnen auszukommen.‹

Leider hatten sie ihm keine Wahl gelassen. Sie hatten nicht einmal mit den Menschen Kontakt aufgenommen und mit ihnen gesprochen. Aus heiterem Himmel hatten sie die Station überfallen und die Besatzung versklavt.

 

*

Abermals ließ Nick den ›Maulwurf‹ sich durchs Erdreich und die Gesteinsschichten fressen. Der Bohrer im Bug drehte auf vollen Touren, zertrümmerte alles, was vor ihm lag.

Auch den Boden des Turms!

Nick lag mit seiner Vermutung richtig. Der Energieschutzschirm erstreckte sich nur auf die Oberfläche. Die Unterseite des Turms wurde davon nicht geschützt.

Er hatte einen spitzen Winkel für den Austritt gewählt. Der ›Maulwurf‹ sprang geradezu aus dem Boden und kam schwer mit den Antriebsketten auf.

Nick fand sich in einem großen Raum wieder, der offenbar die gesamte Grundfläche des Turms umfasste. Mit Hilfe der Außenkameras konnte er zahlreiche fremdartige Maschinen erkennen. Im Zentrum des Raums stand eine gelbe, metallene Säule, in der sich einige der Außerirdischen aufhielten. Über die Mikrofone des ›Maulwurfs‹ hörte Nick den Aufschrei eines Fremden.

»Was … was ist das?!«

Zu Nicks Überraschung verstand er ihre Sprache. Vermutlich, überlegte er, beruhte ihre Kommunikation auf einer Art von Telepathie.

Nick beeilte sich. Rasch sprang er aus seinem Fahrzeug, den Knauf der Strahlenpistole fest umklammert. Automatisch entsicherte er sie.

Die Außerirdischen hatten sich inzwischen in die Säule zurückgezogen. Darin befand sich eine automatisierte Schiebetür. Offenbar handelte es sich um einen Aufzug, und die Fremden wollten sich in der Spitze des Turms in Sicherzeit bringen.

In ihren grünen Overalls und den eng am Kopf liegenden Helmen ähnelten sie den Menschen. Ihre Haut hatte etwa denselben Teint. Lediglich in einem unterschieden sie sich: Aus ihren Köpfen ragten jeweils zwei Antennen, die diesen Wesen vermutlich ihre mentalen Fähigkeiten verliehen.

»Ergebt euch!«, schrie Nick, den Handstrahler im Anschlag, während er auf die Mittelsäule zulief.

Zwei der Außerirdischen zogen ihre Waffen am Gürtel, doch sie hatten keine Chance. Nick war schneller, er schoss sofort. Die beiden Fremden vergingen in lohenden Feuerbällen, in denen sie förmlich verdampften.

Einem der Fremden war es gelungen, sich hinter eine Konsole an der Säule zu schieben. Er schaltete sie ein – prompt tauchte mehr als ein Dutzend der teuflischen Kugeln auf!

Sie kamen nicht aus irgendeiner Klappe, sondern wie aus dem Nichts. Es schien so, als seien sie über einen Steuerungsbefehl von jetzt auf gleich aus Energie hergestellt – und sie kamen direkt auf Nick zu.

»Noch hast du nicht gesiegt, Erdenmensch!«, vernahm Nick, halb über sein Gehör, halb in seinem Kopf. Der Außerirdische war zu allem entschlossen. »Die Kugeln werden dich töten!«

Überrascht hielt Nick für einen Augenblick inne. Immer neue Kugeln bildeten sich und glitzerten farbenprächtig. Ihm war klar, dass es um ihn geschehen sein würde, sobald eine von ihnen nahe genug bei ihm war.

›Teufel!‹, ging es ihm angesichts der drohenden Gefahr durch den Kopf. ›Sollte mein Plan noch im letzten Augenblick scheitern?‹

Nick wusste, dass sein Strahler den Kugeln nichts anhaben konnte. Und selbst wenn er einen spitzen Gegenstand wie ein Messer dabeigehabt hätte, wären es zu viele gewesen, um ihrer Herr zu werden.

Blitzschnell traf er eine Entscheidung. Es ging für ihn jetzt um alles oder nichts, als er die Intensität seiner Waffe auf Maximalleistung stellte. Das bedeutete, dass er damit noch genau einen einzigen Schuss hatte. Dabei würde sich die Batterie abrupt entladen, und sämtliche Energie, die darin gespeichert war, würde sich auf diesen einen Schuss konzentrieren.

›Ich zerstöre die Maschinen, selbst wenn dabei der ganze Turm in die Luft fliegen sollte!‹

Ihm wollte keine andere Lösung einfallen. Die Kugeln waren bereits bei ihm. Nur noch eine Frage von Sekunden, und sie hätten Gewalt über ihn erlangt. Das galt es um jeden Preis zu verhindern.

Beherzt drückte er ab.

 

*

Der Strahl, der von seiner Waffe abgefeuert wurde, war nicht nur heller als sonst, er war auch dicker und dauerte deutlich länger an.

Nick hatte genau auf die Konsole gezielt, hinter der sich der Außerirdische verkrochen hatte, um die Kugeln auf ihn zu hetzen.

Noch bevor der Energiestrahl abbrach, explodierte die Mittelsäule des Turms mitsamt sämtlichen Geräten. Es gab eine heftige Detonation, die alles zerfetzte, die Maschinen ebenso auseinanderriss wie Nicks Feinde, die sich dort aufgehalten hatten. Trümmerstücke und Feuer wurden in alle Richtungen davongeschleudert.

 

illu-12

 

Aus einem Reflex heraus hatte Nick sich fallen lassen und presste sich gegen den Boden. Die glutheiße Druckwelle raste über ihn hinweg und versengte ihm das Haar am Hinterkopf.

Vorsichtig spähte er nach oben, die Arme schützend vors Gesicht gehalten, um nicht von herumfliegenden Splittern getroffen zu werden. Keine Gefahr mehr. Der Sturm der Explosion beruhigte sich allmählich, der Schutt legte sich, und von den ›Seifenblasen‹ war weit und breit keine mehr zu sehen.

Sein Schuss hatte ganze Arbeit geleistet.

Nick rappelte sich wieder auf und ersetzte die leere Energiezelle seiner Waffe durch eine der frischen, die er sich im Waffenarsenal der Station eingesteckt hatte. Vorsichtshalber. Auch wenn es so schien, als habe er sämtlichen Widerstand gebrochen, wollte er dem Frieden nicht trauen.

Die Außerirdischen waren tot – bis auf einen, der sich schwer verletzt stöhnend krümmte. Wunden waren an ihm nicht zu erkennen. Er musste innere Verletzungen erlitten haben.

›Diesen Burschen hat es auch erwischt. Er scheint der Letzte gewesen zu sein!‹, dachte Nick.

Er ging zu ihm hin, äußerst wachsam und seine Strahlenwaffe unvermindert schussbereit. Jederzeit rechnete er mit einem weiteren Angriff. Andererseits war dies vielleicht eine Gelegenheit herauszufinden, woher diese Fremden kamen und welche Ziele sie verfolgten.

Als er den Mann erreichte und ihn umdrehte, sah er gleich, dass von ihm keine Gefahr mehr drohte. Er war mehr tot als lebendig, jedoch bei Bewusstsein. Nick setzte ihn mit dem Rücken zur Wand.

»Ich – sterbe, Erdenmensch!« Seine Stimme klang brüchig, sie drang jetzt wirklich auf telepathischem Weg zu ihm, denn der Außerirdische bewegte seine Lippen nicht. »Aber – es ist besser so. Ich hätte die Venus doch nie mehr verlassen können, nachdem die Flugscheibe vernichtet worden ist!«

»Wie?!« Nick meinte, sich verhört zu haben. »Ihr hattet nur eine Flugscheibe?«

»Ja«, antwortete der Sterbende, und die Antennen, die seinem Kopf entsprangen, zitterten. »Wir haben diesen Planeten zufällig gefunden und wollten unsere Entdeckung für uns behalten. Uran – ist sehr selten auf unserem Heimatplaneten.«

Das war doch gar nicht möglich! Sie waren nur so wenige? Und dieser Handvoll außerirdischer Verbrecher mit nur einem Raumschiff war es gelungen, die komplette Venusstation samt Besatzung unter Kontrolle zu bringen?

Nick fasste es nicht.

Der Sterbende seufzte tief. »Wir – wollten reich – und mächtig werden …«

Abermals ein tiefer Seufzer. Es war sein letzter.

Seine Antennen senkten sich herab, die Atmung stockte, und sein Gesicht nahm eine gelbliche Farbe an.

»Er ist tot«, stellte Nick fest. Er wusste jetzt, die Gefahr war vorüber. Vermutlich waren die Männer auf der Venus frei, und die ›Leuchtkugeln‹, von denen sie manipuliert worden waren, hatten mit der Zerstörung ihres Kontrollgeräts ihre Funktion eingebüßt.

›Der Überfall dieser Gruppe ist eine Mahnung des Schicksals‹, begriff Nick, während er durch den Rauch und die Trümmer wieder zum ›Maulwurf‹ ging. ›Wenn uns die ganze Rasse angegriffen hätte, wären wir unterlegen!‹

Er hoffte, dass man in den Überresten herausfinden würde, woher sie stammten. Möglicherweise würde man noch einige technische Pläne und Maschinen finden, mit deren Hilfe man sich vor einem weiteren Zugriff schützen konnte. Immerhin waren sie den Menschen in vielem weit überlegen.

Doch das würde nicht seine Aufgabe sein. Dafür gab es weit klügere Köpfe als ihn.

›Die Uranerzminen sind für die Erde gerettet‹, dachte Nick. ›Aber bevor die Arbeiten wieder aufgenommen werden, müssen wir ein Verteidigungssystem aufbauen!‹

Sie mussten darauf vorbereitet sein, dass weitere Verbrecher die Venus fanden und ganz ähnliche Absichten hegten wie diese.

Entschlossen ballte er die Faust.

›Nur wer stark ist, darf hoffen, in Frieden zu leben.‹

 

 

ENDE

 

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Originalausgabe September 2014

Charakter und Zeichnung: Nick © Hansrudi Wäscher / becker-illustrators

Text © Achim Mehnert

Copyright © 2016 der eBook-Ausgabe Verlag Peter Hopf, Petershagen

 

Lektorat: Edelgard Mank

Umschlaggestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

Hintergrundillustration Umschlag: © Karelin Dimitriy – fotolia.com

E-Book-Konvertierung: Thomas Knip | Die Autoren-Manufaktur

 

ISBN ePub 978-3-86305-198-3

 

www.verlag-peter-hopf.de

 

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Hansrudi Wäscher wird vertreten von Becker-Illustrators,

Eduardstraße 48, 20257 Hamburg

www.hansrudi-waescher.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

 

 

Inhalt

 

JAGD AUF R 3

EINS

ZWEI

DREI

 

 

SCHIFFBRUCH IM WELTRAUM

EINS

ZWEI

DREI

 

 

ANGRIFF AUS DEM WELTALL

EINS

ZWEI

DREI

VIER

 

 

MARKUS KASTENHOLZ

Nick Sonderband

 

 

Vorwort zum Nick-Sonderband

 

Kinder und Jugendliche sind heute für die Werbung eine begehrte Zielgruppe. Sie verfügen über eine erstaunliche Kaufkraft und haben fast unbegrenzten Zugang zu allen modernen Medien.

In den 1950er Jahren war das ganz anders: Das Taschengeld, so es denn überhaupt eines gab, bewegte sich oftmals im Pfennig-Bereich. Kaum ein Haushalt hatte schon einen Fernseher. Und selbst der Besuch des örtlichen »Flohkinos« für den »Sonntagnachmittags-Western« war für den Nachwuchs jener Jahre zumeist unerschwinglich.

Eine Gelegenheit aber gab es, dem tristen Alltagsgrau Nachkriegsdeutschlands zumindest für eine kurze Zeit zu entrinnen und sich in ferne, abenteuerliche Welten zu träumen: die Piccolos, jene legendären Comichefte im Streifenformat, die vor allem der Walter Lehning Verlag seit 1953 mit großem Erfolg publizierte. Mit 32 Seiten Umfang, in Schwarz-Weiß günstig produziert und zum Preis von 20 Pfennig erhältlich, waren sie wie geschaffen für die Bedürfnisse und Möglichkeiten der kindlichen, überwiegend männlichen Leserschaft.

Von Zeit zu Zeit freilich gab es auch deutlich höherpreisige, besondere Glanzpunkte im selben Verlag: die Piccolo-Sonderbände, abgeschlossene Geschichten mit den Helden der Streifenhefte, im Großbandformat und vollständig vierfarbig, in einer Kolorierung, von der eine ganze Generation bis heute schwärmt. Ein solches Schmankerl zum schwindelerregenden Preis von 60 Pfennig bekam man damals allerdings in der Regel nur zwischen die Finger, wenn man es sich zum Geburtstag oder ähnlichen Anlässen schenken ließ oder infolge einer guten Tat oder einer Eins im Schulzeugnis einmal einen so unerhörten Geldbetrag als Belohnung erhielt …

Kam bei diesen Sonderbänden anfangs noch italienisches Lizenzmaterial zum Einsatz, so war es schnell auch hier nur noch Lehnings »Hauszeichner« Hansrudi Wäscher, der für die Gestaltung der Hefte verantwortlich war. Ja, selbst zu Importen aus Italien wie Fulgor oder Raka steuerte der beliebte Künstler Sonderbände bei!

So erschienen in den Piccolo-Sonderbänden und den Bildabenteuern, der Nachfolgereihe in den 1960ern, auch eine ganze Anzahl abgeschlossener Abenteuer mit den Helden Nick, Tibor und Falk, deren Erlebnisse gerade im Verlag Peter Hopf als Romane adaptiert werden. Peter hat sich nun entschlossen, sich auch dieser Sonderband-Geschichten anzunehmen und sie in eigens zusammengestellten Sonderbänden herauszubringen.

Zuvor galt es indes noch eine Frage zu beantworten, über die eingefleischte Wäscher-Fans seit Jahrzehnten diskutieren: Wo in der Haupthandlung der regulären Piccolos sind die Sonderband-Abenteuer jeweils chronologisch einzuordnen?

Wo findet sich eine Lücke, eine Ruhepause der Helden, in der die betreffenden zusätzlichen Erlebnisse sinnvoll eingeordnet werden können? In dem Bewusstsein, dass es da sicherlich manchmal mehrere plausible Möglichkeiten gibt, haben wir uns von zwei Kriterien leiten lassen, nämlich erstens dem Entstehungszeitraum der Sonderbände parallel zu den Piccolos und zweitens dem Bestreben nach einer möglichst stimmigen Gesamtchronologie.

Dem Ergebnis dieser Überlegungen folgend, sollen die Sonderbände jeweils zum geeignetsten Zeitpunkt zwischen den »normalen« Romanen erscheinen.

Im Fall Nick kamen die drei Piccolo-Sonderbände Jagd auf R3, Schiffbruch im Weltraum und Angriff aus dem All allesamt schon 1958, dem Startjahr der Piccoloserie, heraus, noch bevor die Helden dort zunächst mit der Reise in den Mikrokosmos und später mit der ersten interstellaren Expedition des Sternenschiffs die Grenzen unseres Sonnensystems sprengten.

Die Sonderbände hingegen spielen – deutlich erkennbar – noch im bekannten Bereich unserer Nachbarplaneten.

Um konkret zu werden, muss die erste Story um das Raumschiff R3, Jagd auf R3, und den gleichnamigen revolutionären Antrieb unseres Erachtens nach dem zweiten regulären Abenteuer eingeordnet werden, denn als die von den Marsianern zuvor zerstörte Forschungsstation in Nevada wieder aufgebaut wird und die erste terranische Raumschiffflotte entsteht, bemerkt Nick gegenüber seinem Freund Tom: »Sieh dir die Raketen an! Sie werden alle mit dem verbesserten R3-Antrieb von Professor Raskin ausgerüstet.« (Nick-Roman 2 – Umsturz, Seite 186)

Schiffbruch Im Weltraum hingegen, worin Nick und Tom die seltsamen »Unfälle« von Platin-Transportschiffen untersuchen, kann eigentlich nur während des längeren Urlaubs spielen, den die Freunde im Anschluss an die zweite Venus-Expedition (Nick-Roman 3) angetreten hatten.

Der dritte Sonderband schließlich, Angriff aus dem All, der die Gefährten ein weiteres Mal auf die Venus führt, passt perfekt in die Zwangspause, die Nick und Co. einlegen müssen, während der Strahler, mit dem man Dinge variabel dimensionieren kann, in das Sternenschiff eingebaut wird (siehe Nick-Piccolo 48, Seite 30).

Es ist also die Phase, als erste Abenteuer mit diesem Strahler und auch eine erste Expedition ins Innere eines Eisenwürfels bereits hinter den Freunden liegen (diese Ereignisse werden im regulären Roman 4 geschildert), die eigentliche Reise in das atomare Universum (Gegenstand von Roman 5) aber noch bevorsteht. Selbst die Angaben, dass die während der zweiten Venus-Expedition entstandene Station zu diesem Zeitpunkt ein Jahr besteht, lässt sich bestens mit dieser Einordnung vereinbaren.

Nach dem zweiten, dritten und vierten regulären Roman also spielen die drei Abenteuer in diesem Buch. Peter Hopf hat die goldene Mitte gewählt und schiebt sein Erscheinen nach dem dritten Roman ein. Eine gute Entscheidung, wie ich finde.

Nun aber genug der Chronologie-Debatte! Möge der Leser spannende und unterhaltsame Stunden bei der erstmaligen Lektüre oder beim Wiederentdecken der vorliegenden, weit mehr als ein halbes Jahrhundert alten Geschichten erleben, die zwar einen ganz anderen Erzählrhythmus als die langen Fortsetzungszyklen haben, auf ihre Art aber nicht weniger gelungen sind.

Hier wie dort: WÄSCHER AT HIS BEST!

 

Ingraban Ewald

 

 

 

TEIL EINS

JAGD AUF R 3

 

 

EINS

 

Der Himmel über dem Versuchsgelände in Nevada war strahlend blau. Fast so leuchtend wie ein Ozean, der sich um eine Südseeinsel schmiegt. Nur wenige Wolken zogen knapp über dem Horizont ihre Bahn. Auf das Wetter würden sie keinen Einfluss nehmen. Auch nicht auf das Klima. Das würde weiterhin angenehm warm sein und nicht zu heiß.

Der Minister für Weltsicherheit, der sich soeben der Anlage in einem gepanzerten, doppelrotorigen Hubschrauber näherte, wusste, woran das lag: Aufwendig war das Land bewässert und dadurch urbar gemacht worden. Ganz ähnlich wie bei der Großstadt Las Vegas, deren Silhouette man in weiter Entfernung, umgeben von Dunst, eher erahnen denn erkennen konnte.

Dass es sich bei diesem Gebiet um Wüste handelte, war eindeutig. Darüber konnte auch nicht hinwegtäuschen, wie viel sich hier getan hatte. Wo sich verbrannte Grasbüschel und kleine, verdorrte Sträucher unter der erbarmungslosen Gluthitze zusammengekauert hatten, breitete sich nun eine Graslandschaft aus. Bis in die nahen Berge erstreckte sie sich, um dort in üppige Vegetation überzugehen. Mit dem Wasser, das man aus tiefen Brunnen an die Oberfläche gepumpt hatte, waren auch die Pflanzen zurückgekehrt. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis auch größere Tiere dieses Land bevölkerten.

Im Gegensatz zu früher war es hier nicht mehr unerträglich heiß. Die Pflanzen sowie das Wasser sorgten für eine gewisse Verdunstungskälte, die das Quecksilber der Thermometer längst nicht mehr so hoch ansteigen ließ.

Damit wollte man Professor Raskin, dem Leiter der Anlage, und den vielen Menschen, die zusammen mit ihm hier arbeiteten, möglichst optimale Bedingungen schaffen. Immerhin, hier griff man tagtäglich aufs Neue nach den Sternen. Hier wurde die Zukunft gemacht.

Der Minister für Weltsicherheit kam gelegentlich hierher, denn das Versuchsgelände fiel in sein Ressort. Immer wieder gab es mit dem Professor etwas zu besprechen. Extrem wichtige Themen – und geheim noch dazu. Dafür wollte keiner von beiden die üblichen Kommunikationskanäle nutzen. Die Nationen der Erde mochten geeint sein; Spione eines anderen, rivalisierenden Staates gab es schon seit über dreißig Jahren nicht mehr. Andererseits ließ sich nicht leugnen, dass es noch andere Mächte gab, auf die es achtzugeben galt. Mächte außerhalb des Parlaments: Banditen! Es hätte fatale Folgen haben können, wäre es ihnen gelungen, jene Gespräche abzufangen. Manches davon war nur für ihre vier Ohren bestimmt.

Nein, verbesserte sich der Minister in Gedanken. Nicht für vier, sondern für sechs.

Meistens konferierten sie zusammen mit Nick. Er besaß ihr uneingeschränktes Vertrauen, vor ihm hatten sie keine Geheimnisse. Mit seiner teils umsichtigen, teils tollkühnen Art war er ihnen beiden eine unersetzliche Hilfe und im besten Sinne des Wortes ein Mann der Tat, der nie den Überblick verlor.

Wann immer er hierherkam, staunte der Minister. Jedes Mal aufs Neue hatte er den Eindruck, das Versuchsgelände sei noch ein wenig größer geworden, ein wenig imposanter – und futuristischer.

Dann fühlte er sich plötzlich wieder wie der kleine Junge, der er einst gewesen war. Dessen kindliche Phantasie ihn davon hatte träumen lassen, Astronaut zu werden, sobald er erwachsen wäre, und in einer vom blanken Stahl glitzernden Rakete zu sitzen, durchgeschüttelt zu werden von den Feuer speienden Triebwerken unter sich und die Sterne zu bereisen – jene fremden Sonnen, die am nächtlichen Himmel über seinem Elternhaus funkelten, Diamanten gleich, die auf ein dunkles Tuch geworfen worden waren.

Nur ein Traum, der wohl nie Wirklichkeit werden würde …

Dennoch meinte er in diesem Moment, da er mit großen Augen dicht am Fenster des Hubschraubers saß und hinaussah, er sei wieder der kleine Junge von damals.

Allein der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn dazu werden: ein riesiges Areal, das sich unter ihm erstreckte. Teilweise war es betoniert, teilweise gab es zahlreiche Grünflächen zwischen den Landebahnen, den Straßen und den sechs durchnummerierten ›Bahnen‹, wie man die Plätze nannte, von denen aus die Raumschiffe starteten.

Dazwischen erhoben sich Gebäude: Kontrolltürme, Treibstofftanks, Lagerhallen, Hangars sowie Dutzende einstöckiger Häuser. Darin befanden sich unter anderem die Büros der Mitarbeiter, in einem davon auch das von Professor Raskin. Ganz zu schweigen von den unterirdischen Anlagen …

Der Minister entdeckte Gerüste, Kräne und Abschussrampen. An einem Raumschiff wurde gerade gearbeitet: ein titanenhaft erhobener Finger, fast mahnend gen Himmel gereckt, wie um die Menschheit zu warnen, niemals wieder dem Wahnsinn des Wettrüstens zu verfallen und damit ihre eigene Existenz zu bedrohen.

Ein Funkspruch kam herein:

»Landen Sie auf Bahn vier! Professor Raskin erwartet Sie! Ende!«

Die Stimme aus dem Tower ließ die fragile Seifenblase der Nostalgie platzen. Während der Hubschrauber das vorgesehene Feld ansteuerte, wurde aus dem kleinen Jungen von einst wieder der Minister für Weltsicherheit von heute.

 

*

Kurz nach der sicheren Landung des Hubschraubers brachten zwei Uniformierte der Werkspolizei den Minister zu Professor Raskins Büro. Es lag in einem der zahlreichen einstöckigen Gebäude auf dem Gelände. Eine breite Treppe führte auf eine dem Eingang vorgelagerte Terrasse.

Keine hundert Meter entfernt erhob sich das Raumschiff, das er aus der Luft gesehen hatte. Aus der Nähe wirkte es noch faszinierender: ein spitz zulaufender Torpedo, der im Winkel von sechzig Grad nach oben gerichtet war. Vier Stummelflügel ragten am unteren Drittel hervor, die wiederum in raketenförmigen Auswüchsen endeten. Sie dienten als Landestützen und zur Stabilisierung des Flugs. Für den Schub sorgte das gewaltige Triebwerk im Heck.

Aufrecht gehalten wurde das Schiff von Gerüsten und Stahlklammern. Die Mannschaften in den fahrbaren Kränen schienen Wartungsarbeiten an dem Weltraumkoloss vorzunehmen.

Zusammen mit Nick erwartete Professor Raskin den Minister vor dem Eingang zu seinem Büro. Beide schienen sichtlich erfreut, ihn zu sehen, hatte er sich doch als zuverlässiger und rechtschaffener Partner für ihre gemeinsame Sache erwiesen.

»Was führt Sie zu mir, Exzellenz?«, begrüßte ihn der Professor, als der Minister das obere Ende der Treppe erreicht hatte. »Hat Nick bei seinen Probeflügen gegen irgendwelche Raumvorflugsrechte verstoßen?«

Dazu lachte er herzlich, ebenso wie Nick, der neben ihm stand: ein groß gewachsener, athletisch wirkender Mann mit schwarzem Bürstenhaarschnitt. Er trug einen roten Overall und – wie es die Vorschriften verlangten – ein Holster mit Strahlenpistole am Gürtel. Am auffälligsten an Nick waren seine Augen. Sein aufmerksamer Blick schien überall zu sein. Nichts schien ihm zu entgehen.