KLARE KANTE

DIE BESTEN KOLUMNEN VON KAPITÄN SCHWANDT

7719-001.psd

HIER SPRICHT DER KAPITÄN

/

WIE AUS DEN GEDANKEN DES ALTEN SEEMANNS JÜRGEN SCHWANDT EINE KULT-KOLUMNE WURDE, DIE MENSCHEN IN GANZ DEUTSCHLAND BEGEISTERTE.

Alles begann mit dem Hafengeburtstag in Hamburg – und einem typischen Kommentar des alten Käptens. »Achten Sie mal darauf: Je kleiner das Boot, desto größer der ›Labskaus‹ mit goldenen Stickereien und Abzeichen an der Mütze des Schippers«, so endet der erste Beitrag von »Hier spricht der Kapitän« in der Hamburger Morgenpost (MOPO).

Anfangs war es nur ein Test, und verabredet war mit der Redaktion, nach einigen Kolumnen zu schauen, wie die Leser die Rubrik annehmen und ob es allen Seiten Spaß macht. Nach der dritten Folge schrieb ein Leser einen Brief: »Ein Leben ohne seine Kolumne ist möglich, macht aber keinen Sinn.« Nach einem Jahr zählte diese Facebook-Seite mehr als fünfzigtausend Freunde, die Fernsehredaktion von Frank Elstner rief an. Als sich Kapitän Schwandt nach Folge 126 aus gesundheitlichen Gründen von seinen Lesern verabschiedete, war die Kolumne nicht nur im Norden Kult.

Mehr als 155 000 Menschen folgen Kapitän Schwandt auf Facebook, er war zu Gast bei Markus Lanz und in der NDR Talk Show, die Biographie Sturmwarnung stand länger als ein halbes Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die Ankündigung, dass sich »Käpt’n Rückgrat« (stern), »Kapitän Mutig« (dpa) oder »Kapitän Klare Kante« (MOPO) aus der Öffentlichkeit zurückziehen muss (»Das Alter ist ein Arschloch«), sorgte bundesweit für Schlagzeilen – und für große Anteilnahme seiner Fans.

Das Beste aus 126 Kolumnen haben wir für dieses Buch ausgewählt. Es sind Geschichten von See darunter, Erlebnisse aus dem Alltag, politische Kommentare. Oft sind wir gefragt worden, welches Thema für den Samstag ausgesucht wurde – meist entschied der Kapitän dies Mitte der Woche, wenn die wichtigsten Nachrichten der Woche klar waren. Manchmal überlegten wir, was in die Mischung der vergangenen Wochen passte – nicht zu ernsthaft sollte es werden, aber auch nicht zu beliebig. Und überraschend sollte es bleiben.

Was hat die Kolumne eines 80-jährigen Seemanns so erfolgreich gemacht? »Kapitän Schwandt ist die knorrige Eiche im Sturm der Oberflächlichkeit«, sagt Frank Niggemeier, Chefredakteur der Hamburger Morgenpost. Nordisch klar, nicht immer politisch korrekt, aber immer mit einem Augenzwinkern und einem großen Herz für Schwache und die »kleinen Leute« – das zeichnet die Kolumnen des Seemanns aus. Es gab ihnen eine Relevanz, die den Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern veranlasste, Schwandt auf ein Schiff in Travemünde einzuladen. Hamburgs Regierender Bürgermeister Olaf Scholz traf Schwandt in der Haifisch Bar. »Jetzt mal ehrlich, Herr Scholz« hieß die Titelgeschichte der MOPO. Der alte Seemann hakte nach und schaffte es, im Gespräch auch den Menschen Scholz zu zeigen, was bislang nicht vielen Journalisten gelungen ist.

Oft ging es in den Kolumnen um etwas, das man »Common Sense« nennen kann, um die Fähigkeit, Dinge mit dem gesunden Menschenverstand in Perspektive zu setzen. Besonders in einer schnelllebigen, hektischen Zeit, getrieben von Facebook-Klicks und Twitter-Feeds, in der mancher erst schreit, um dann nachzudenken, wirkte Schwandts Kolumne irgendwie beruhigend, ohne einzuschläfern. Er ordnete Gedanken ein, ohne schulmeisterlich klingen zu wollen. Er regte zu eigenen Gedanken an, ohne dabei aufgeregt zu wirken – und sich selbst zu ernst zu nehmen. »Ich bin kein Senior – ich bin ein alter Mann«, schreibt er.

»Der Käpt’n«, wie er im Norden nur genannt wird, regte sich über jene auf, die gegen Flüchtlinge hetzen. Dem AfD-Politiker Alexander Gauland, einem Mann seiner Generation, schrieb er zwei offene Briefe, die in den sozialen Netzwerken fast eine Million Mal verbreitet wurden. Als er las, dass sich im feinen Hamburger Stadtteil Harvestehude eine Initiative gegen eine Flüchtlingsunterkunft gegründet hatte, war dies sofort sein Thema für den nächsten Samstag: »Demnächst werden Frau Zahnärztin und Herr Immobilienmakler wieder Geld für Bedürftige in Not sammeln, zu Dinners einladen, für den guten Zweck golfen oder Polo spielen. Für arme Allergiker in Peru oder blinde Katzen in Malawi. Hauptsache aber: Peru bleibt in Peru und die Katzen in Malawi.«

Große Wellen schlug eine Aktion gegen die Pegida-»Patrioten« in Dresden, die Schwandt aus tiefstem Herzen verachtet. Die Rechtsaußen hatten auf Facebook ein Foto gepostet, das ein Schlauchboot in Seenot zeigte, darunter einen menschenverachtenden Spruch, der mit einer »Mittelmeerbreite Abstand« zu tun hatte. Schwandt war außer sich, als er anrief.

»Stefan, was können wir da machen?«, fragte er mich.

»Wir könnten den Shitstorm auf deren Seite bringen.«

»Klingt gut. Wie machen wir das?«

Er kommentierte zu einer festgelegten Uhrzeit diesen Post – und hatte seine Freunde vorher aufgefordert, ihn in diesen Minuten zu unterstützen. Keine Stunde verging, bis mehrere tausend Anhänger den Beitrag geteilt hatten – und der Administrator der Pegida-Seite den alten Seemann blockierte. Der Mut, sich so offen mit den Rechtsextremen anzulegen – und mit den erwartbaren Konsequenzen in Form von Pöbeleien und Beschimpfungen klarzukommen –, war am Tag darauf vielen Zeitungen eine Geschichte wert. In einem anderen Fall nutzte er die Reichweite seiner Facebook-Seite, um auf einen menschenverachtenden Kommentar im Kreisverband der AfD Rottweil aufmerksam zu machen. Der anschließende Aufschrei quer durch die Republik führte zum Rücktritt des Verantwortlichen und zu einer öffentlichen Entschuldigung des Kreisverbandes.

Offen einzustehen gegen rechte Tendenzen ist eine Konstante in den Kolumnen gewesen, der Einsatz für Minderheiten, für Schwache und Menschen am Rande eine andere. Schwandt schrieb für die Belange von Obdachlosen, für die er bessere Unterbringungsmöglichkeiten fordert, vor allem im Winter, er beschreibt die Folgen der innerstädtischen Gentrifizierung – und er hatte früh ein besonderes Anliegen. Er wollte in »Santa Fu« lesen, dem bekannten Hamburger Hochsicherheitsgefängnis, inspiriert von Johnny Cash und dessen Konzert im Folsom Prison. Etwas mehr als ein halbes Jahr dauerte es, bis die Genehmigung vorlag – die Lesung im Kirchenraum wurde einer der Höhepunkte der Kolumnen-Reihe.

Zu den Schwachen, deren Interessen er immer wieder vertrat, gehörten auch die Seeleute. Ihre Situation hatte sich in einem Maße verschlechtert, das Schwandt an die eigenen Anfangsjahre erinnerte. Viele wandten sich in Briefen an Kapitän Schwandt mit der Bitte um Rat und Hilfe. Reeder gehörten nicht zu den Fans der Kolumne – so viel steht fest.

Schwandt empfand es als Leidtragender des Dritten Reichs, der mit seiner Familie selbst vor den anrückenden Russen nach Hamburg zurückgeflohen war, als seine Pflicht, sich für Flüchtlinge einzusetzen. Die Geschichte von vier Brüdern aus Damaskus, die er kennengelernt hatte, beschäftigte ihn immer wieder. Dass es die vier geschafft hatten, nach kurzer Zeit Jobs zu finden beziehungsweise einen Schulabschluss zu meistern, freute ihn so sehr, dass er ihnen seine hundertste Jubiläumskolumne widmete. Privat lud er sie zur Feier seines 80. Geburtstags auf eine Barkasse auf die Hamburger Alster ein. Integration, findet Schwandt, soll nicht nur ein Wort sein.

Doch es waren nicht nur gesellschaftspolitische Themen, die Schwandt beschäftigten – er wollte seine Leser vor allem eines: unterhalten. Samstagmorgens in Hamburg, bei einer Tasse mit schwarzem Kaffee und einem Franzbrötchen, ging es oft auch um leichte Dinge. Um Maulwurf »Muli« zum Beispiel, der völlig außer Kontrolle Schwandts Gartenparzelle verwüstete; um das vorweihnachtliche Dekorations-Wettrüsten der Nachbarn, um die »Schamanen von Pinneberg« oder seltsame Kindernamen: »Wenn der Vorname einiges über die gesellschaftliche Herkunft seines Trägers verrät – was sagt uns das über ›Verleihnix Waldmeister‹ (von den Behörden genehmigt)? Nix Gutes. Dein Weg, mein lieber Sioux (ebenfalls genehmigt), wird ein steiniger sein.« Oft genug steckte hinter dem Spaß aber auch ein ernster Kern. Wer die Gedanken zur »Generation Wischfinger« las, konnte sich ebenso ertappt fühlen wie bei Schwandts Gedanken zum Selfie-Wahn und dem Hang mancher, die eigenen Essgewohnheiten öffentlich zu zelebrieren.

Immer wieder verbrachten wir während der zweieinhalb Jahre, in denen wir an den Kolumnen arbeiteten, Zeit auf See, denn nirgendwo sonst lässt sich mit einem alten Seemann so gut reden und philosophieren. Wir reisten mit der MS Hamburg nach Kopenhagen, nach Sylt und Helgoland, wir fuhren auf der »Truckerfähre« nach Litauen und vom Norden Dänemarks über die Färöer-Inseln nach Island. Eine Konstante gab es auf diesen Reisen: schlechtes Wetter. Sobald wir gemeinsam an Bord eines Schiffes gingen, braute sich – als handele es sich um ein geheimes Naturgesetz – ein Sturm zusammen. Der alte Seemann genoss die Dünung, besonders jene auf dem Nordatlantik, wo sich das Schiff nach dem durchgezogenen Sturm sanft senkte und hob.

Es hat Spaß gemacht, mit ihm an den Kolumnen zu arbeiten. Es war lehrreich, es war unterhaltsam und es war eine Freude zu sehen, wie viele Menschen er mit diesen kurzen Beiträgen zum Nachdenken bringen konnte.

Viel Vergnügen mit den besten Beiträgen: »Hier spricht der Kapitän.«

Stefan Kruecken

Verlagsleitung Ankerherz

Kol/1

LEINEN LOS!
DER KÄPT’N ÜBER DEN HAFENGEBURTSTAG

A

Als Seemann war ich ein großer Freund der Freuden im Hafen. Wir ließen keine Bar aus und wir mochten das rote Licht. Den »Silbersack« auf Sankt Pauli, »El cadro negro« in Bilbao oder »Susi’s Rolling Bar« in Shanghai, einen umgebauten Doppeldeckerbus, der für den zügigen Verkehr gleich an der Pier parkte. Später dann, als ich verheiratet war und Leiter des Zollkommissariats Hamburg-Hafen, hatte sich meine Motivation verändert. Heute ist das alte Feuer ganz weg. Hafengeburtstag? Ist mir zu voll. Was für ein Gedränge! Aber ich freue mich, wenn sich andere freuen. In diesem Sinne: Ich wünsche allen viel Spaß!

Es gibt aber etwas, das mich stört, wenn Politiker und andere Süßwassermatrosen sich in Hamburgs selbst feiern. »Tor zur Welt«, »Perle«, »Seefahrtsmetropole«, dies werden wir wieder zu hören bekommen. Aber eine Seefahrtschule haben wir in Hamburg schon lange nicht mehr, und ehrlich: Das geht gar nicht. Wer Offizier werden will, muss in die Provinz. Nach Flensburg oder nach Lehr, das liegt irgendwo in Ostfriesland. Einen echten Seemann kann auch das nicht erschüttern. Aber was heißt das für Hamburg, dass wir hier so lange schon keine Kapitäne mehr ausbilden? Ich erinnere mich noch gut, wie wir damals auf der Dachterrasse der alten Seefahrtschule das Navigieren lernten. Vorbei.

Ich muss auch an die Peking denken, die legendäre Viermastbark, ein Schwesterschiff der Pamir und Passat, die in New York an einer Museums-Pier vor sich hinrottet. »Heimathafen Hamburg« steht noch am Heck. Das Museum will die alte Dame loswerden und sogar verschenken. Doch die Überführung über den Atlantik kostet Geld und die Restaurierung auch. Knapp 20 Millionen Euro. In Hamburg will das keiner bezahlen, wir brauchen das Geld ja für die Elbphilharmonie. Ich habe mal nachgerechnet: Vom Geld, was uns diese begehbare Ruine kostet, könnten wir uns 37 Pekings in den Hafen legen, Stand heute.

Ein Tipp noch für alle, die zum Hafengeburtstag auf die Landungsbrücken gehen. Achten Sie mal darauf: Je kleiner das Boot, desto größer der »Labskaus« mit goldenen Stickereien und Abzeichen an der Mütze des Schippers.

So ist das heutzutage.

Kol/2

EIN ALTER SEEMANN UND DAS KREUZ MIT DEN BERGEN

J

Jetzt raten Sie mal, wohin ein pensionierter Kapitän in den Urlaub fährt?

Genau: ans Meer. Einmal, drei Jahre ist das her, habe ich etwas anderes ausprobiert. Österreich, Kärnten, die Berge. Ich bin ein begeisterter Reiter und hatte einen Sattel in die Gegend verkauft. ›Mal sehen‹, dachte ich, doch was mir dann vor Ort durch den Kopf ging, kann man nicht in die MOPO schreiben. Ich sah den ganzen Tag diese grauen Wände. Es regnete ununterbrochen. Als Hamburger ist man Schietwetter zwar gewohnt. Diese tropfenden Fichten aber hielt ich nicht aus. Alles kam mir so furchtbar eng vor. Wir sind früher nach Hause zurückgekehrt.

Was mir auch auffiel bei diesen Berglümmeln: Die setzen sich im Restaurant tatsächlich alle an einen Tisch. Auch dann, wenn alle anderen Stühle frei sind! Ich verstehe das nicht. Vielleicht liegt es daran, dass die in den Bergen einsam sind, weil selten einer vorbeikommt. Ich jedenfalls setze mich nirgendwo dazu. Fremdes Gesabbel ist nicht meine Sache.

Am Meer habe ich meine Ruhe. Die See bedeutet für mich Heimat. Ich muss regelmäßig hin, sonst fehlt mir etwas. Als Seemann habe ich alle Meere und alle Kontinente bereist, mit Ausnahme von Australien. Mein liebstes Ziel war die Ägäis. Nach dem Krieg waren wir auf alten Dampfschiffen unterwegs, die maximal acht Knoten liefen. Bei Gegenwind sechs. Mit dem Tretboot wären wir schneller in Griechenland gewesen. Es lief alles sehr gemütlich. Wir luden Wein ein, Tabak, mal eine Ziege. Stress war für uns ein fernes Land am anderen Ende des Ozeans. Im Hafen der Insel Karpathos mussten wir Erz an Bord bringen. Die hatten dort nur eine kleine Lore. Es dauerte ewig, wir waren mindestens zwei Wochen beschäftigt. Meist saßen wir mit den Fischern auf der Hafenmauer und tranken Ouzo. Ohne Geschnacke versteht man sich bestens. Das einzige Problem auf Karpathos war, dass es dort nur zwei Huren gab. Man kann ja nicht alles haben.

Nächste Woche werde ich einen Schwur brechen. Ich habe immer gesagt, dass mich keine zehn Gäule auf ein Kreuzfahrtschiff bringen. Diese komischen, schwimmenden Spaßfabriken, mit denen kein Seemann etwas anfangen kann. Jetzt mache ich eine Ausnahme als Gast auf der MS Hamburg: Heimathäfen heißt die Tour von Ankerherz. Wir fahren über die Ostsee, haben Inselbewohner an Bord und Henning Baum, den »letzten Bullen«. Falls es zu schlimm wird, packe ich eine Perücke ein und eine Pappnase.

Damit mich keiner erkennt.

Kol/3

GENERATION WISCHFINGER

D

Die große WM-Party ist vorbei, die Löwparade gefeiert, der Alltag hat uns wieder. Was mir auffiel, als ich die Bilder von der Siegesfeier am Brandenburger Tor sah: wie oft die Spieler ihre Handys zückten und sich selbst fotografierten. »Selfies« heißt dieses Selbstporträt, wie ich gelernt habe. Alle Selfies von Podolski, Özil und Müller nebeneinander gelegt ergäben vermutlich die Strecke von Berlin nach Rio und retour. Auch da sind die Jungs Weltmeister.

Anfang der Woche hatte ich in der Hamburger Innenstadt zu tun. Ich lasse dann das Auto stehen und nehme die S-Bahn. Als ich in der S21 am Dammtor vorbeikam, wo viele Studenten einsteigen, dachte ich: »Was zum Teufel ist hier los?« Jeder, aber wirklich jeder im Waggon starrte auf ein Smartphone, Tablet oder einen Laptop. Jeder Zweite hatte Stöpsel in den Ohren. Kein zwischenmenschlicher Kontakt, kein Blick, keine Frage nach einer Zeitung, gar nix. Vermutlich würden sie dem Mitreisenden lieber eine SMS schicken, als ihn anzusprechen. Verrückt.

Mich beschäftigt das Verhalten der »Generation Wischfinger«, wie ich sie nenne. Wo führt es hin, wenn Kommunikation nur noch elektronisch abläuft? Ich warte ja auf die Ersten, die beim Kinderzeugen ein Selfie schießen, für die Pinnwand von Facebook: »Schau mal, Karl-Heinz, so haben wir dich gemacht.« Viele junge Leute, so scheint mir, bewegen sich in einer Scheinwelt, in der sie sich ein »Schein-Ich« zulegen, um andere zu beeindrucken. Schon Zehnjährige verbringen jede freie Minute mit diesem virtuellen Mist. Komisch auch: Erst regen sich alle darüber auf, wenn die NSA und andere Geheimdienste Daten sammeln – doch dann stellen sie jeden noch so privaten Kram ins Netz.

Ich jedenfalls weigere mich, diesen Irrsinn mitzumachen. Das Mobiltelefon nutze ich zum mobilen Telefonieren. Will ich fotografieren, nehme ich die Kamera. Als ich meiner Frau den Entwurf zu dieser Kolumne zeigte, meinte sie: »Schön. Kann die Generation Wischfinger nicht ein vollautomatisches Gerät zum Staubwischen erfinden?« Also: Strengt euch mal an!

Kol/4

DIE ZEITMASCHINE NAMENS HAIFISCH BAR

I

In der kommenden Woche breche ich zu einer Zeitreise auf. Eine Taxifahrt in meine Vergangenheit, runter in den alten Hafen. In der Haifisch Bar liest jemand vom Ankerherz Verlag aus meinen Geschichten und ich erzähle Döntjes dazu. Ich war schon einige Zeit nicht mehr im »Hai« – und ich freue mich drauf, denn dieser Ort ist wie eine Oase für mich.

In den 1950er-Jahren, als junger Seemann, galt die Gegend um den Fischmarkt für uns Frachtschiffmatrosen als Tabuzone. Unser »Hai« befand sich damals auf der Reeperbahn, wo auch die Mädchen hübscher waren. Wenn sich die Besatzung eines Frachters rund um die Fischauktionshalle blicken ließ, gab es sofort ein paar aufs Maul. Matrosen und Fischer vertragen sich traditionell nicht, und sobald wir in Cuxhaven anlegten, der Fischerstadt, wussten wir, dass es ordentlich etwas auf die Mütze geben würde. Ich will Gewalt nicht glorifizieren, doch sie gehörte damals einfach zum Landprogramm, wie die zahllosen Biere und Schnäpse.

Viel hat sich seither verändert, auch der Hafen selbst. Veranstaltungen wie der großartige »Blue Port« des Lichtkünstlers Martin Balz? Damals völlig undenkbar! Der Hafen war zum Arbeiten da, nicht zum Flanieren. Es roch auch nicht in allen Ecken fein und über das Design des Bürgersteigs zerbrach sich niemand den Kopf. Was die Lokale betrifft, haben in der Nachbarschaft der Haifisch Bar diverse Cafés eröffnet, in denen man einen gepflegten Latte Macchiato serviert. Früher verlegte mancher Matrose das Pissoir der Einfachheit halber an den Tresen. Hans Albers statt Justin Bieber. Rollkragenpulli statt Anzug, Labskaus statt Sushi. Es ist ein Verdienst von Wirt Gert Schlufter und seiner Familie, dass ein Stück alte Hafentradition weiterlebt.

Was ist denn von der Seefahrt meiner Tage geblieben? Riesige Containerkisten, die von Computern halb ferngesteuert über die Ozeane schieben und weitab der Innenstädte in Terminals halbautomatisch entladen werden. Früher lagen wir auf Trampfahrt wochenlang irgendwo rum, drei Wochen Rio, vier Wochen London. Ich werde noch ganz melancholisch. Wir sehen uns dann im Hai.

Kol/5

EIN ALTER KÄPT’N IST KEIN FRAUENVERSTEHER

I

Ich bin ein gelernter Macho, seit meiner Zeit als Matrose. Die längste Reise ging von Südamerika über Europa nach Kanada und dauerte 14 Monate. So lange unterwegs zu sein in einer schwimmenden Männer-WG, mit miserablen Manieren und einem rauen Ton – was soll da rauskommen? Sie schmunzeln jetzt vielleicht, aber lustig ist das nicht immer. Die Seefahrt prägt einen jungen Mann einseitig. Ich habe einige Zeit gebraucht, um in einer jungen Frau nicht nur ein Sexobjekt, sondern auch eine Gesprächspartnerin zu sehen. Heute achte ich auf Manieren: Höflichkeit und kleine Gesten gehören dazu. Einen Stuhl heranschieben, ein nettes Wort. So soll sich ein Gentleman benehmen.

Mit meiner Frau Gerlinde bin ich nun seit 43 Jahren verheiratet. Sie ist eine großartige Lebenspartnerin. Sie macht mit mir schon was mit, aber sie hat ein großes Selbstbewusstsein. Aber auch zu Hause gilt: Auf jedem Schiff gibt es nur einen Kapitän. Auf meinem Dampfer bin ich das. Ich glaube auch, dass Frauen, ob sie das zugeben wollen oder nicht, sich einen Macho wünschen. Was heißt denn Macho? Ein Kerl, der eine Meinung hat und für sie einsteht. Nicht diese verständnisvolle Waschlappigkeit, die man heute so oft beobachtet. Warum hat zum Beispiel dieser Henning Baum als »letzter Bulle« solch einen Quotenerfolg? Genau.

Als ich die Seefahrt aufgab und zum Wasserzoll kam, half mir meine direkte Art. Meine natürlichen Feinde saßen in der Oberfinanzdirektion, graue Schlipsträger. Als man auf den Schiffen der Zolldirektion neue Toiletten einbaute, musste auch ein anderes Klopapier bestellt werden. Nun wollte eine dieser sprechenden Büroklammern von mir wissen, wie viel wir denn brauchten. Sparen sollten wir. Kostendruck. Erst glaubte ich an einen Scherz, aber er ließ nicht locker. Ich legte also einen Aktenvorgang an. »O« stand bei uns für Organisation, »P« für Personal. Ich nannte den Vorgang »K«, wie »Kacken«. Und fragte dann auf dem offiziellen Dienstweg nach, ob ich die Besatzungen der Zollkreuzer zum Testhocken bitten sollte. Es gab nie eine Antwort.

Kol/6

RUDI RAUBMÖRDERS RADIESCHEN-SALAT

M

Manchmal lese ich morgens meine MOPO und schüttele so heftig den Kopf, dass ich beinahe meinen Kaffee verschütte. Diese Geschichte des US-amerikanischen Häftlings Meeks zum Beispiel, der wegen seines Häftlingsfotos eine Internetsensation wurde: Gibt es doch gar nicht! Tausende Frauen himmeln ihn an, angeblich ist ein Modelvertrag in Arbeit, angeblich sind Hollywoodagenten an ihm interessiert. Die Produktion einer Puppe mit seinem Konterfei hat er selbst gestoppt.

Der Knabe ist, nicht ganz so hübsch, ein verurteilter Räuber, Mitglied einer berüchtigten Verbrecherbande und wurde mit einem Arsenal automatischer Waffen im Gepäck festgenommen. Ein Schwerverbrecher, dem zehn Jahre Haft drohen, möglicherweise lebenslang. Doch er hat ja so blaue Augen! Und dieser Mund! Und, hach, diese exotischen Tattoos!

Auch hierzulande driftet der Schwachsinn in immer neue Galaxien. In Henssler hinter Gittern steht ein Koch mit diversen Schwerverbrechern am Herd: Vergewaltiger, Raubmörder, darunter sogar ein siebenfacher Mörder. Um einen »authentischen Blick hinter Gefängnismauern« gehe es ihm, säuselt Henssler, diese Dumpfbacke, und darum, das interne Bistro der JVA aufzubauen. Jeder Insasse habe das Recht auf Resozialisierung. Na klar, auch ein siebenfacher Mörder hat ein Recht auf eine anständige Sauce Bernaise! Ich nehme ihm kein Wort ab.

Als passionierter Hobbykoch habe ich mir überlegt, was Henssler für eine Top-Quote alles auftischen könnte. Die Vorspeise: »Rudi Raubmörders Radieschen-Salat«, angemacht mit einem leichten E605-Dressing. Zum Hauptgang reichen wir »Toni-Totschläger-Steak«, authentisch gegrillt auf echtem Gefängnisgitter. Dazu eine Blutsauce der Gruppe A, ist etwas kräftiger und nussiger im Geschmack. Beilage: »Pauls Pädophilen-Porree«, al dente, mit ganzer Stange. Und als Dessert servieren wir dann »Viktors Vergewaltiger-Vanille«, wahlweise mit feiner, locker aufgeschlagener Methadon-Haube à la Hauptbahnhof.

Wäre gespannt, was die Opfer zu all diesen Leckereien sagen würden. Aber Moment, so ein Quatsch: Wen kümmern denn die Opfer, solange sich die Täter gut in Kochmontur machen?

Kol/7

DER ALTE BABO RÄT:
EINFACH MAL ABCHILLEN

I

Ich habe im Internet den Beitrag einer zugezogenen Australierin gelesen, die über ihre Erlebnisse in Norddeutschland schrieb. Am meisten wunderte sich die Dame vom anderen Ende der Welt, dass die Leute bei uns mit drei Worten auskommen. Mit »Moin«, mit »Jo« und einem gegrunzten »Hm«. Das ist natürlich Blödsinn.

»Moin« reicht vollkommen aus.