Die Kurfürstenklinik 26 – Schön, aber ein bisschen verrückt

Die Kurfürstenklinik –26–

Schön, aber ein bisschen verrückt

Roman von Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER DIGITAL GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert, Oliver Melchert, Mario Melchert

Originalausgabe: © KELTER DIGITAL GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.kelterdigital.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-143-0

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»Schade, daß Sie uns schon wieder verlassen wollen, Schwester Ira«, sagte Dr. Adrian Winter zu der schönen jungen Frau, die soeben den Aufenthaltsraum der Notaufnahme betreten hatte, in dem er gerade eine kurze Kaffeepause einlegte. Adrian Winter war der jüngste Chefarzt der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg, und zugleich leitete er die Notfallambulanz. Er hatte mit chronischem Personalmangel zu kämpfen und bedauerte den Weggang der außerordentlich kompetenten Irina Kaufman daher sehr.

Sie schüttelte ihre langen dunklen Locken und lächelte. »Mir tut es nicht leid«, sagte sie erstaunlich offen. »Ich bin nämlich am Ziel meiner Wünsche.«

Er war ein wenig gekränkt, daß sie so wenig Bedauern zeigte. Immerhin hatten sie sehr gut zusammen gearbeitet, da hätte ihr der Abschied ruhig ein wenig schwerer fallen können, fand er. Seiner Stimme war anzuhören, was er dachte, als er nun feststellte: »Beim Grafen von Berningen sind Sie am Ziel Ihrer Wünsche? Sie werden niemanden als diesen sehr schwierigen Mann zu betreuen haben, Schwester Irina! Wir kennen ihn schließlich, da er regelmäßig hierher zur Untersuchung kommt. Von jetzt an wird er der einzige Mensch sein, um den Sie sich kümmern müssen. Keine Abwechslung mehr, keine interessanten medizinischen Fälle – und vor allem keine reizenden Kollegen! Werden Sie uns wirklch überhaupt nicht vermissen?«

Sie lachte hell auf – sie lachte überhaupt gern, und das war es unter anderem, was sie bei ihren Kolleginnen und Kollegen schnell beliebt gemacht hatte. Sie war ein fröhlicher Mensch, und manchmal hatte sie ausgesprochen verrückte Ideen. Für einen Spaß war sie immer zu haben, der Schalk blitzte ihr aus den dunklen Augen. »Sie sind beleidigt, Herr Dr. Winter, geben Sie es zu! Ich sollte am besten in Sack und Asche gehen, bittere Tränen vergießen und allen versichern, wie ungern ich weggehe – stimmt’s?«

Er ließ sich von ihrer Fröhlichkeit anstecken und stimmte in ihr Lachen ein. »Ertappt«, stellte er fest. »Ich finde wirklich, Sie sollten es bedauern, daß Sie von hier weggehen. Und ganz verstehen werde ich es wohl nie.«

Sie wurde unvermittelt ernst. »Das weiß ich«, erwiderte sie, »und deshalb werde ich es Ihnen erklären – dann werden Sie es schon verstehen. Es gibt einen guten Grund, warum ich die Stelle bei Graf von Berningen angenommen habe.«

»Einen guten Grund?« wiederholte er verwundert. »Sie meinen, einen Grund, von dem ich noch nichts weiß? Denn daß er besser bezahlt als die Kurfürsten-Klinik, ist mir natürlich schon klar.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich mache es doch nicht wegen des Geldes«, sagte sie. »Nein, der Grund ist ein ganz anderer.«

Sie schwieg, und Adrian wartete neugierig auf die Fortsetzung. Natürlich hatte er sich Gedanken darüber gemacht, was eine lebenslustige junge Frau wohl bewegen mochte, sich auf einem gräflichen Schloß zu vergraben, das zwar idyllisch auf dem Lande lag, irgendwo in Niedersachsen, aber zugleich auch weit ab von allem, was sie hier in Berlin offenbar sehr genossen hatte: Kontakte zu Gleichaltrigen, Kino, Theater, Konzerte, gemütliche Kneipen und vieles mehr. Sie war so ungeheuer lebhaft, daß es ihm sehr schwer fiel, sie sich als Pflegerin eines launischen Mannes in mittleren Jahren vorzustellen, in dessen Gegenwart sie von nun an die meiste Zeit verbringen würde.

»Der Graf ist mein Onkel«, sagte Irina in diesem Augenblick. »Ich bin Irina von Berningen, die Tochter seines Bruders. Deshalb will ich unbedingt auf das Schloß. Der Graf weiß allerdings nichts von unserer Verwandtschaft, ich möchte ihn zuerst kennenlernen.«

O nein, dachte Adrian, nicht auch das noch!

Die Geschichte der verschollenen Nichte des Grafen von Berningen beschäftigte die Boulevardpresse seit längerem. Der Bruder des Grafen hatte das väterliche Schloß in jungen Jahren im Streit verlassen, man hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Das Einzige, was vor einiger Zeit durchgesickert war, war die Nachricht, daß dieser Bruder und seine Frau angeblich ums Leben gekommen waren und daß sie eine Tochter hinterlassen hatten – etwas Genaueres wußte niemand, da der Graf über seine Familiengeschichte eisern schwieg.

Immer mal wieder war aber, seit es diese Gerüchte gab, eine junge Frau aufgetaucht, die behauptete, die Nichte des Grafen von Berningen zu sein. Bisher war noch jede von ihnen als Hochstaplerin entlarvt worden. Und jetzt also Irina…

»Hören Sie, Irina«, begann

Adrian zögernd, »ich will Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, aber…«

»Glauben Sie mir nicht?« rief sie.

Er entschloß sich, aufrichtig zu sein. »Sie sind nicht die erste, die behauptet, die Nichte des Grafen zu sein, das wird Ihnen bekannt sein.«

»Nein!« rief sie, und ihre dunklen Augen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren. »Ich bin doch erst seit einem halben Jahr in Deutschland, und ich wußte ja vor dem Tod meiner Eltern überhaupt nicht, daß Kaufman der Name meiner Mutter und nicht der meines Vaters ist. Von dieser ganzen Familiengeschichte weiß ich noch immer so gut wie nichts! Wie soll ich da auf die Idee kommen, daß fremde Frauen behaupten, sie seien ich!«

Adrian wurde unsicher. Sie wirkte sehr überzeugend, aber dennoch klang die Geschichte einfach zu unwahrscheinlich. Wieder setzte er an: »Irina, Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze, aber diese Geschichte taucht hier in Deutschland regelmäßig in bestimmten Illustrierten wieder auf. Es ist ein bißchen so wie bei Anastasia, der Zarentochter.«

»Das wußte ich nicht«, erwiderte sie nachdenklich. »Jedenfalls sage ich die Wahrheit!«

»Können Sie das beweisen?« fragte er vorsichtig.

»Wie soll ich etwas beweisen, wenn bei diesem schrecklichen Brand alles vernichtet wurde, was uns gehört hat?« rief sie aus. Sie hatte ihm, als sie eingestellt worden war, erzählt, daß ihre Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen waren, der alles zerstört hatte, was die Familie besaß. Irina selbst war nur deshalb mit dem Leben davongekommen, weil sie an diesem Abend nicht zu Hause gewesen war. Dieses Unglück hatte sich vor fast drei Jahren ereignet – in den USA, wo Irina aufgewachsen war.

»Und wie haben Sie dann erfahren, daß Sie die Nichte des Grafen sind?«

»Mein Vater hat es mir gesagt, bevor er starb. Er hat ja noch drei Tage gelebt, allerdings konnte er kaum sprechen und war meistens ohne Bewußtsein. Er wollte mir noch mehr sagen, aber er hat es nicht mehr geschafft. Das Einzige, was ich noch erfahren habe, ist, daß sein Bruder von seinem Tod benachrichtigt wurde, das hat er irgendwie veranlaßt.«

Sie machte eine Pause und sah Adrian offen an. »Aber das alles hat mich damals nicht besonders interessiert, Herr Dr. Winter, ich war doch halb wahnsinnig vor Angst und Trauer. Meine Mutter war schon tot, und ich hoffte, daß wenigstens mein Vater gerettet werden könnte. Aber er ist dann auch gestorben, und für mich brach eine Welt zusammen. Warum hätte ich mich da für einen Onkel interessieren sollen, von dem ich bis dahin noch nie gehört hatte? Das ist erst viel später gekommen.« Sie schwieg, ihr Gesicht wirkte ungewöhnlich ernst, und er fragte sich, wie sie es geschafft hatte, trotz dieses Verlusts ein so heiteres Gemüt zu entwickeln.

»Zuerst einmal«, fuhr sie fort, »habe ich mich entschlossen, Krankenschwester zu werden. Die Geschichte mit meinem Onkel habe ich damals nicht weiter verfolgt. Ich mußte mit meinem Kummer fertig werden. Aber dann habe ich angefangen nachzudenken…«

Es fiel Adrian schwer, sie darauf hinzuweisen, wie unglaubwürdig ihre Geschichte war – zumindest der Teil, in dem es um ihre Verwandtschaft zu dem Grafen ging – aber er hielt es für seine Pflicht, das zu tun. Denn wenn er es nicht tat, würde es jemand anders machen, jemand, der es vermutlich weniger gut mit ihr meinte als er.

»Niemand wird Ihnen glauben, Irina!« erklärte er ruhig. »Alle werden sagen, daß es ja sehr praktisch ist, einen Brand zu erfinden, bei dem alle etwaigen Beweise zerstört wurden. Die jungen Frauen, die schon vor Ihnen im Schloß aufgetaucht sind und behauptet haben, die Nichte des Grafen zu sein, hatten alle ähnliche Geschichten auf Lager.«

Sie schwieg, ihre großen dunklen Augen waren wortlos auf sein Gesicht gerichtet: »Sie glauben mir wirklich nicht«, sagte sie schließlich, und die Trauer in ihrer Stimme berührte ihn tief. Sie streckte ihm die rechte Hand zum Abschied entgegen und fügte steif hinzu: »Komisch, auf die Idee, daß ausgerechnet Sie mir nicht glauben würden, bin ich gar nicht gekommen, Herr Dr. Winter. Auf Wiedersehen. Eigentlich wollte ich die Kurfürsten-Klinik bald wieder besuchen – der Graf wird zu seiner halbjährlichen Untersuchung nach Berlin kommen, und ich werde ihn dann begleiten. Aber unter diesen Umständen ist es vielleicht besser, wenn ich mich nicht hier in der Notaufnahme blicken lasse. Wie können Sie mich nur für eine Hochstaplerin halten!«

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Ich habe Ihnen gesagt, wie die Dinge liegen, Irina«, meinte er. »Es stimmt, daß mir das, was Sie erzählen, ein wenig phantastisch vorkommt, aber das hat mit der Vorgeschichte zu tun – nicht mit Ihnen als Person. Ich dachte, das hätten Sie verstanden.«

Sie nickte und zog ihre Hand zurück. »Auf Wiedersehen«, sagte sie leise. Er hörte ihre leichten Schritte auf dem Gang, als sie die Notaufnahme verließ.

Er blieb regungslos mitten im Raum stehen und murmelte: »Verflixt und zugenäht!«

»Was ist denn passiert?« fragte der Assistenzarzt Bernd Schäfer von der Tür her. »Die schöne Schwester Irina sah überhaupt nicht so vergnügt aus wie sonst, als sie hier herausgeschossen ist – und jetzt stehst du da und fluchst leise vor dich hin. Gab es etwa einen Zusammenstoß?«

»So ungefähr«, brummte Adrian. Obwohl ihn mit seinem jüngeren Kollegen, der ständig einen vergeblichen Kampf gegen seine überzähligen Pfunde führte, ein freundschaftlich-kollegiales Verhältnis verband, kam er nicht auf die Idee, ihm Irinas Geheimnis

zu erzählen. Ob es nun stimmte oder nicht, was sie ihm gesagt ­hatte – er würde es für sich behalten.

»Mit Irina kann man sich doch gar nicht streiten«, wunderte sich Bernd jetzt. »Sie ist nicht nur schön, sondern auch fast immer gut gelaunt. Außerdem ist sie ein bißchen verrückt, das finde ich besonders anziehend. Wirklich jammerschade, daß sie nicht bleibt.«

»Ja, das finde ich auch«, stimmte Adrian zu und zwang sich zu einem Lächeln. »Nun mußt du dich schon wieder in eine andere Frau verlieben, Bernd.«

»Ach, hör auf, ich verliebe mich überhaupt nicht mehr«, wehrte Bernd ab. »Das führt ja doch zu nichts. Kommst du? Ich habe einen Patienten, bei dem ich deine Hilfe brauche.«

Adrian fogte ihm froh darüber, daß er sich von den sorgenvollen Gedanken um Schwester Irina ein wenig ablenken konnte.

*

»Graf von Berningen kommt also nach langer Zeit wieder einmal nach Berlin?« fragte Stefanie Wagner und sah blitzschnell unter dem gewünschten Datum nach. »Doch, Herr von Hohwerder, da ist die Fürsten-Suite frei, wir freuen uns sehr, den Grafen hier zu haben. Werden Sie ihn begleiten?«

Stefanies Stimme klang so liebenswürdig, daß niemand ihre Gedanken hätte erraten können. Der Graf war ein übellauniger, verbitterter Mann von Mitte

Fünfzig – einer der schwierigsten Hotelgäste, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Sie würde das gesamte Personal auf seine Ankunft vorbereiten und während seine Anwesenheit jeden Tag viele Wogen glätten müssen.