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°luftschacht

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Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom
Flämischen Literaturfonds
(Vlaams Fonds voor de Letteren – www.flemishliterature.be)

Copyright: © 2010 Yves Petry.
Originally published with De Bezige Bij, Amsterdam.
Titel der Originalausgabe:
De maagd Marino

© Luftschacht Verlag – Wien
Alle Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten

1. Auflage 2016

www.luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuß –www.matthiaskronfuss.at
Satz: Luftschacht
ISBN: 978-3-902844-91-0

Yves Petry

In Paradisum

Roman

aus dem Niederländischen von Gregor Seferens

Luftschacht Verlag

1

Die Tür geht auf, und für Marino ist es keine Überraschung, dass der Mann, der dort erscheint, nur eine Unterhose anhat. Das haben sie so verabredet. Überraschender ist der Gesichtsausdruck des Mannes. Die halb geschlossenen Augen deuten auf ein gewisses Maß von Sedierung. Seine Schritte sind ein wenig unsicher. Doch die straff angespannten Kiefermuskeln drücken eine große Entschlossenheit aus. Das Kinn ist leicht in die Höhe gereckt, die Lippen ragen herausfordernd hervor. Er sieht aus wie eine Kreuzung aus Zombie und Märtyrer, wie ein vor Kampfeslust flimmernder Schlafwandler. Höchstwahrscheinlich ist dies ein Effekt der Drogen, die er genommen hat.

Die Wohnzimmervorhänge sind sorgfältig geschlossen. Kein Schimmer ist mehr von der Außenwelt zu sehen. In einer Ecke verbreitet eine Stehlampe mit einem grobbaumwollenen Schirm ein nicht allzu helles Licht. Es könnte beinahe gemütlich sein, wenn das Zimmer nicht ansonsten leer wäre, von einem Esstisch mit zwei Stühlen und einem Sofa abgesehen.

Auf einem der Stühle sitzt Marino. Wovor er sich vorher schon gefürchtet hat, überfällt ihn plötzlich als unverrückbare Tatsache: Der Moment ist nicht gut gewählt. Nicht, weil es noch zu früh ist, nicht, weil es bereits zu spät ist, nicht, weil ein anderer Zeitpunkt besser gewesen wäre, sondern weil es falsch ist, selbst einen Zeitpunkt zu wählen.

Jetzt kann er nicht mehr zurück. Er steht auf und folgt dem Mann, der sich schweigend mit dem Rücken an eine Wand stellt. Links und rechts von ihm befinden sich, jeweils eine Armlänge entfernt, zwei Metallringe, die dort vor einigen Tagen angebracht wurden. Mit zwei kurzen Seilen, die auf dem Tisch bereitliegen, bindet Marino die Handgelenke des Mannes an den Ringen fest.

Auch was er sonst noch tun soll, haben sie vorher verabredet.

Auf dem Gesicht des Mannes liegt ein recht verträumter Ausdruck, um seine Lippen spielt sogar ein Hauch von Spott, als fände er Marinos Schüchternheit lustig. Marino zieht einen Stoffstreifen, den er aus einem alten Kleid geschnitten hat, aus der Hosentasche und verbindet damit dem Mann die Augen, der dies widerstandslos zulässt.

Marino lässt eine Hand über die Brust des Mannes gleiten. Die andere Hand fährt über Schenkel und Geschlecht. Er kennt diesen Körper. Er hat ihn schon öfter gespürt. Damals hatten sie Sex miteinander. Diesmal werden sie sehr viel weiter gehen.

Geplant ist, dass Marino sich nicht wie der Liebhaber dieses Körpers verhält, sondern wie dessen Schinder. Oder sogar wie etwas, das noch weniger menschlich, noch unpersönlicher ist: eine tödliche Krankheit, ein rein körperlicher Unfall. Aber wie glaubwürdig ist es, wenn eine tödliche Krankheit wie verabredet zuschlägt?

Marino zieht die Unterhose herab und lässt sie bis auf die Knöchel rutschen. Er geht einige Schritte zurück, und dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Mehr als die gestreckten Arme oder die gefesselten Handgelenke ist es diese Unterhose auf den Fußknöcheln, die sich ihm als Bild vollkommener Auslieferung aufdrängt.

Um den Mund des Mannes spielt immer noch das vage, mysteriöse Lächeln. Vielleicht ist dies eine Folge des Entzückens, das die Drogen in ihm hervorrufen. Möglicherweise ist es zum Teil ein Ausdruck von Angst. Aber Marino sollte nicht in erster Linie versuchen, die Gedanken des Mannes zu ergründen. Er muss sich vor allem auf seinen Part konzentrieren.

Er tritt wieder an den Mann heran. Der Körper des zweiundvierzig Jahre alten Mannes ist in hervorragender Verfassung. Wenn es Marino nicht gäbe, hätte der Tod möglicherweise noch viele Jahre benötigt, um ihn einzuholen. Nur das Pochen in der Brust ist schneller und heftiger als normal. Marinos Herzschlag beschleunigt sich dadurch auch allmählich.

„Ist das alles?“, ertönt es plötzlich in bestürzend wachem Ton, den Marino ganz und gar nicht erwartet hat, aus dem Mund dieses Schlafwandlers.

„Los, Marino. Tu was“, sagt der Mann. Es scheint fast, als müsste er lachen. Seine herausfordernden Worte hallen in dem nahezu leeren Raum und widersprechen den gemachten Vereinbarungen vollkommen. Es war verabredet, dass der Mann und Marino den Namen des anderen während der Vorstellung vergessen oder zumindest nicht aussprechen sollten. Eine Atmosphäre der Anonymität, auch wenn sie künstlich war, erschien ihnen absolut notwendig, um die Aufführung erfolgreich zu Ende zu bringen.

Nun grinst der Mann sogar, als könne er trotz der Augenbinde die Röte auf der Stirn, den verdutzten und entrüsteten Ausdruck auf Marinos Gesicht sehen.

„Mit wem sprichst du?“, raunzt Marino ihn an, woraufhin der Mann aufhört zu grinsen. Aber ein unbestimmter Zug liegt weiterhin um seine Lippen.

Wortlos lässt Marino den Mann zurück und geht in die Küche. Aus einem Messerblock zieht er das Messer, das an diesem Abend eine wichtige Rolle spielen soll. Das rechtwinkelige Dreieck der Klinge ist ungefähr zwanzig Zentimeter lang und an der Basis fünf Zentimeter breit. Er hat es, soweit er sich erinnern kann, nie zuvor benutzt. Er öffnet eine Schublade, nimmt eine Rolle Klebeband heraus und schneidet einen Streifen ab. Nachdem nun die Verabredung gebrochen wurde, ist er auf einmal fest entschlossen, sie strikt zu befolgen.

Als er wieder im Wohnzimmer ist, legt er das Messer auf den Tisch und geht dann zu dem Mann. Der scheint in geistesabwesendes Sinnieren versunken zu sein.

„Keine Namen, verstanden?“, flüstert Marino ihm ins Ohr und presst den stark haftenden Klebestreifen auf seinen Mund. Der Mann ist offenbar einigermaßen überrascht, gibt aber kein einziges Geräusch von sich, das als Zeichen des Protestes verstanden werden müsste.

Marino nimmt das Messer. Es ist, als ginge der Glanz und die Glätte des Stahls in seiner Hand auf ihn über. Jetzt ist er ebenso anonym wie dies Messer. Auch der inszenierte Charakter der Handlungen stört ihn jetzt plötzlich nicht mehr. Das Messer selbst ist wirklich genug. Es fühlt sich sogar wirklicher an, als er erwartet hat.

Er drückt die kalte, stählerne Klinge auf den Magen des Mannes. Dieser zieht in einem Reflex den Bauch ein und entspannt sich dann wieder. Doch vollkommen locker scheint er nicht zu sein. Jetzt, da sowohl Augen als auch Mund verdeckt sind, ist es noch schwieriger geworden, seinen genauen Zustand einzuschätzen.

Im Zimmer ist es ohrenbetäubend still. In Marinos Gehörgängen rauscht das Blut. Er fragt sich, ob irgendeine Musik im Hintergrund nicht besser gewesen wäre. Während er noch darüber nachdenkt, dass weder der Mann noch er Musikliebhaber sind und sie deshalb keine Ahnung gehabt hätten, welche Musik sie hätten auflegen sollen, haben seine Hände die Aufgabe bereits erledigt. Das Messer war schwer und scharf, das Fleisch war weich, es ging von selbst. Er hat kaum hinsehen müssen, wie seine Hände zu Werke gingen, die jetzt von einer warmen, klebrigen Flut überströmt werden.

Später wird dies, auch von Marino selbst, als eine Tat der ultimativen Selbstverstümmelung, durch die Hand eines anderen ausgeführt, gedeutet werden. Doch in diesem Moment ist es ein wenig anders. Es ist so, dass der Mann sein Leben beenden will: als ein Entmannter. Dies ist die Geste des Stolzes und der Weltverachtung, die ihm niemand nachmachen wird.

Marino geht einige Schritte zurück und starrt auf den triefenden Stumpf, den befleckten Boden, die sich windenden Rinnsale, die an den Schenkeln hinabfließen, die Unterhose auf den Knöcheln, die schon ganz durchtränkt ist. Ein seltsam süßer Geruch erfüllt allmählich das Zimmer. Auch dies ist eine alles andere als angenehme Überraschung.

Der Mann hat noch keinen Ton von sich gegeben. Es ist, als spüre er tatsächlich keinen Schmerz. Sein Penis sei das letzte Stückchen Fleisch, das ihn noch mit der Welt verbinde, hatte er behauptet. Und es sei an Marino, diesen Strang zu durchschneiden. Jetzt lebt der Mann nicht mehr, und zugleich ist er noch nicht tot. Er scheint ganz in sich gefangen zu sein. Möglicherweise kringelt sich seine Lebenslinie nun zu einer Spirale, zu dieser phantastischen Gleichzeitigkeit aller Bilder, aus denen das Leben besteht. Oder wer weiß, aus welchen Visionen er die Kraft schöpft, sich über den Schmerz zu erheben. Der Mann bleibt so vollkommen regungslos stehen, dass Marino sich langsam sogar ein wenig ausgeschlossen fühlt. Kurz schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dem Mann noch mehr Schmerzen zuzufügen.

Doch dann beginnt das Gesicht des Mannes zu verkrampfen, und er zerrt an den Ringen, an die er gefesselt ist. Er geht ein paar Zentimeter in die Knie und spannt die Muskeln seiner blutigen Schenkel wie ein Gewichtheber in Aktion. Er vermittelt auf einmal den Eindruck, sich kaum noch auf den Beinen halten zu können.

Marino legt das Messer und den Penis auf den Tisch. Was soll er jetzt tun? Das Sich-Krümmen des Mannes macht ihn nervös. Als dieser auch noch zu schnauben beginnt und versucht, das Klebeband auf seinem Mund wegzupusten, gerät Marino in leichte Panik.

Vielleicht will der Mann ihm etwas sagen. Marino ist zwar neugierig, was das sein könnte, aber er fürchtet, der Mann könnte am Ende einfach nur losschreien.

„Wenn es wehtut, hören wir damit auf“, artikuliert er laut und nachdrücklich, aber mit zitternder Stimme. So hatten sie es schließlich vereinbart. Er zieht das Klebeband von den Lippen. Der Mann keucht schwer. Sein inzwischen schweißüberströmtes Gesicht ist rot angelaufen. Auf seiner Stirn zeichnet sich ein Aderngeflecht ab, das Marino noch nie zuvor bei ihm gesehen hat. Er riecht wild und säuerlich.

„Bind mich los … Marino … Bind mich los“, murmelt er. Einen Moment lang ist Marino drauf und dran, ihm das Klebeband wieder über die Lippen zu spannen, doch dann beschließt er zu tun, worum der Mann ihn bittet. Wer weiß, vielleicht ist alles schneller vorbei, als sie erwartet hatten.

Er löst die Schlingen an seinen Handgelenken.

„Ein Stuhl … Bring mir einen Stuhl …“, flüstert der Mann, an die Wand gelehnt. Um seine Füße hat sich eine große Pfütze gebildet.

Es war deine Idee, denkt Marino, während er den Stuhl holt. Seine Hände zittern. In dem Moment, als er sich mit dem Stuhl in den Händen umdrehen will, hört er den Schlag, mit dem der Mann auf die Seite gefallen ist. Die Augenbinde hängt nun um seinen Hals. Die Augen hat er zugekniffen. Die Unterhose noch auf den Knöcheln, windet er sich nun in seinem Blut. Er stöhnt und schluchzt. Er presst die Hände in den Schritt. Es besteht kein Zweifel: Dies ist nur noch Schmerz. Welche mentale Kraft der Mann auch von sich aus hatte und welche Kraft er zusätzlich noch von den Drogen erhoffte – dieser Körper drückt nichts anderes mehr aus als die riesige Übermacht des Schmerzes, das unentrinnbare Zupacken seiner Meridiane.

Marino stellt den Stuhl ab. Er geht wieder zum Tisch, um das Messer zu holen. Dann geht er neben dem Mann in die Knie und versucht, sich durch Abscheu und Schrecken hindurch vorzustellen, wie er das anpacken muss. Auf soviel sich windendes Elend ist er nicht vorbereitet. Er hatte gedacht, der Todeskampf des Mannes verliefe würdiger.

Plötzlich zögert er nicht länger, er macht von einer zufälligen Bewegung des Mannes Gebrauch, um dessen Kopf nach hinten zu ziehen, und schneidet ihm mit einer schwungvollen Bewegung die Kehle durch. Das Messer ist scharf, das Fleisch ist weich. Die Kraft, mit der Marino hinlangt, wird prompt durch die Strahlkraft der Schlagader erwidert. Der Mann bewegt sich schon nicht mehr. Ein Blutschwall erobert den Wohnzimmerboden.

Stunden später hockt Marino immer noch auf dem Stuhl, den er für den Mann geholt hat. Eine Totenwache, von der ihm vor allem sein immer wiederkehrendes Erstaunen über die unglaubliche Menge an Blut in Erinnerung bleiben wird. Die gleiche Menge Wasser hätte längst keinen solch katastrophalen Eindruck gemacht. Ein ultimatives Selbstporträt, in dem der Mann seinen endgültigen Zusammenbruch dargestellt und erlebt hat, in allen nur möglichen Tönen von Rot und Braun. Wie winzig sieht im Vergleich dazu das Stückchen Penis auf dem Tisch aus. Die kleine Blutspur, die aus ihm geflossen ist, erweckt in Marinos träumerischer Wahrnehmung den Eindruck, es sei aus eigener Kraft weggekrochen, weg von dem Chaos, dem es entstammte.

Dem irrwitzigen Gerücht, Marino habe den Penis gebraten und aufgegessen, muss hier entschieden widersprochen werden. In welchem kranken Hirn diese Phantasie auch entstanden sein mag, es war auf keinen Fall das von Marino. Er hat das Ding später einfach zu dem Rest ins Grab gelegt, wie im Übrigen auch die Forensiker bestätigt haben.

In Marinos Garten haben er und der Mann einige Tage zuvor eine schmale, nicht allzu tiefe Kuhle gegraben. Marino weiß noch, dass den Mann, ungeachtet seiner entschlossenen Munterkeit, eine plötzliche Niedergeschlagenheit erfüllt hatte, und das sicher nicht nur, weil das sehnige Wirrwarr aus Baumwurzeln das Graben erschwerte. Irgendwann hatte er das Graben Marino überlassen müssen. Der Anblick seines eigenen Grabes hatte eine Übelkeit erregende Panik in ihm aufkommen lassen, die er erst nach einer langen Dusche mit viel Hydromassage und Selbstverwöhnung wieder hatte abschütteln können.

Marino weiß nun zumindest, wohin mit der Leiche. Es wird übrigens allmählich Zeit, etwas zu unternehmen, wenn er bis zum Morgen alle Spuren der Ereignisse beseitigen will.

Ehe er den Leichnam begraben kann, muss laut Absprache noch eines geschehen. Es war Marinos Idee, doch jetzt, da er das Messer in den Hintern des Mannes stecken will, ist ihm die Notwendigkeit dieser Handlung nicht ersichtlich. Dies ist leider nicht der richtige Zeitpunkt, dies ist nur der vereinbarte Zeitpunkt. Doch vielleicht wird er später erneut herausfinden, warum er dies seinerzeit tun wollte. Es fällt ihm zum Glück nicht allzu schwer. Er hat inzwischen eine gewisse Erfahrung mit dem Gewicht und der Schärfe des Messers und mit der weichen Textur des Fleisches. Er muss nicht viel dabei nachdenken. Die Handlung ruft in ihm keinen besonderen Widerstand hervor, der überwunden werden müsste.

So. Es ist gut, dass Marino dies endlich aufgeschrieben hat. Ein Vergnügen war das nicht. Hier und da wurde ein Detail weggelassen, das zu widerlich war, um es in Worte zu fassen. Eine gewisse Distanz musste beachtet werden. Doch ungeachtet dieses unvermeidlichen Grades an Abstraktion und Knappheit ist dies die genaueste Wiedergabe dessen, was an jenem Abend passiert ist. Sie weicht in einigen Punkten von der Version ab, die mit Blick auf Marinos Prozess erstellt wurde. Doch das weiß niemand, außer Marino und mir.

Es hat Monate gedauert, Marino dazu zu bringen, die Geschichte aufzuschreiben. Monatelang hat er sich an einer anderen Version festgeklammert, hat er sich aufrichtig Mühe gegeben, an eine Geschichte zu glauben, die seine Richter milder stimmen sollte. Während der ganzen Zeit musste ich mich auf wütenden, hämmernden, aber machtlosen, tonlosen Protest im Vakuum des Todes beschränken. Doch diese Worte sind für mich wie frische Luft. Sie geben mir das Gefühl, wieder zu atmen.

Ich gebe ohne weiteres zu, es ist nicht mehr als ein Gefühl. Es wäre übertrieben zu behaupten, ich lebe. Schließlich habe ich keinen eigenen Körper mehr. Aber ich habe wieder eine Stimme. Wirklich tot würde ich mich selbst nicht nennen. Ich habe unglaublich große Lust zu sprechen. Und in Marinos Körper habe ich erneut einen Zuhörer gefunden. Mehr noch als einen Zuhörer. Einen Mitverantwortlichen, genau wie damals, als ich noch einen Körper hatte.

2

Über dem Waschbecken in Marinos Zelle hängt ein Spiegel, den man von der Wand reißen kann, wenn man dazu in der Stimmung ist, den man auf den Boden werfen kann, wenn man das Bedürfnis hat, den man aber nicht zerbrechen kann. Er ist nämlich aus Plastik. Man könnte sich selbst oder andere nicht mit den Scherben verletzen. Das Gefängniswesen hat einen vorausschauenden Blick. Marino ist übrigens gar nicht in destruktiver Stimmung. Er ist nur ein wenig besorgt.

Bis vor kurzem waren sich fast alle darin einig, dass Marino Mund, siebenunddreißig Jahre alt, jünger aussieht, als er ist. Doch seine heutige Lage hinterlässt allmählich deutliche Spuren. Bei einem bestimmten Lichteinfall bekommt sein Gesicht einen körnigen Charakter, den es früher nicht hatte. Man sieht dann die Nähte in dem, was früher eine glatte Einheit war. Das blasse, zerknitterte Äußere ist vor allem eine Folge des Regimes, dem er hier unterworfen ist, dem Mangel an körperlicher Bewegung, an frischer Luft, an Tageslicht, der wenig ausgewogenen Nahrung, die man ihm hier auftischt. Zum Glück ist da noch immer der feuchte Glanz in seinen graublauen Augen, frisch und lebendig wie ein Märzhimmel. Sein Blick kann noch funkeln wie der eines Kindes, wie der von jemandem, der zum ersten Mal lebt und nicht, wie so viele seiner Altersgenossen, zum zehntausendsten Mal.

Der Mund wölbt sich in einem breiten Paar fleischiger, aber überraschend weicher, glänzender Lippen hervor, Kinderlippen im Männerformat. Sie wirken nackt in dem dunklen, stachligen Schleier, von dem sie umgeben sind und der auch auf seinen Wangen liegt, obwohl er sich täglich rasiert. An Stirn und Schläfen weicht der Haaransatz zurück. Doch sein Bartwuchs ist so kräftig, dass man meint, das Keratin knistern zu hören.

Was seine Figur angeht, muss ich mich der Ehrlichkeit halber weniger positiv äußern. Immer noch so schlank wie ein junger Mann und von Natur breitschultrig, das ja. Er verfügt über zwei beeindruckend lange Schlenkerarme. Einen Meter vierundneunzig ist er groß, doch nur wenn er kerzengerade steht, was er aber selten tut. Er trifft schließlich nicht oft jemanden von dieser Größe. Dadurch hat sich eine Krümmung in sein Rückgrat geschlichen. O, es ist ganz bestimmt kein Buckel, es ist eigentlich nicht viel mehr als ein flacher Bogen. Aber er suggeriert eine fortwährende Dienstbereitschaft, eine fast unterwürfige Anteilnahme an den Wünschen und an dem Geflüster, die von unten heraufdringen. Das wirkt fragil und ältlich und ist außerdem noch irreführend. Denn wenn man ihm etwas vorwerfen könnte, dann ist das gerade sein tiefgehender Mangel an Anteilnahme, sein Unwille und Unvermögen, die Menschen so zu verstehen, wie sie selbst verstanden werden wollen.

Ich will damit nicht sagen, dass es gute Gründe gibt, die Menschen so zu verstehen, wie sie das selbst gerne hätten. Das würde Marino am Ende nur mitschuldig an ihrem Selbstbetrug machen. Solche Mitschuldigen aber können sie überall finden, dafür brauchen sie Marino nicht. Außerdem ist er bereits mein Mitschuldiger, und ich will ihn nicht an einen anderen verlieren.

Monatelang habe ich auf ihn verzichten müssen, auf meinen Marino. Monate, in denen er sich alle Mühe gab, einen möglichst positiven Eindruck bei einem misstrauischen Publikum zu erwecken. Das war natürlich nichts für ihn. Dass eine so wenig mitteilsame Natur wie er, ein schweigsamer Bewohner dämmriger Hintergründe, in den Fokus geriet, dass er aufgefordert wurde, in den Vordergrund zu treten und sich zu verantworten, das musste wohl zu einer Menge nervösen Geschwätzes führen. Wie sollte es auch anders sein? Er war es nicht gewohnt, etwas zu sagen. Doch wir wollen jetzt, da er und ich wieder unter uns sind und das öffentliche Interesse verebbt ist, die Dinge noch einmal betrachten. Ich habe nicht vor, jedwedes Hirngespinst zu widerlegen. Aber es wäre schön, einem Teil der intimen Verbindungen, die wir miteinander hatten, neues Leben einzublasen, auch wenn dieses Leben nun nur aus Worten wird bestehen können.

Das bedeutet übrigens nicht, dass ich Marino nun zwingen werde, ich zu sagen. Das überlasse man ruhig mir. Ich bin der geborene Ich-Sager. Er ist dies nur unter Zwang. Wo er in unserer Geschichte seine Rolle spielen muss, da darf er das in der dritten Person tun, da werde ich er sagen, da kann er er schreiben. Ich diktiere, er notiert.

Diese Aufgabenverteilung scheint Marino zu gefallen. Sie lässt ihn jedenfalls lächeln. Das erinnert mich an ein auffallendes Element, das ich bei der obigen Beschreibung seines Gesichts unerwähnt gelassen habe. Wenn Marino lacht, kommt ein beeindruckendes Gebiss zum Vorschein, ein kräftiges, makelloses Beispiel für dentale Geometrie. Allerdings hat die Tektonik des Zahnfleisches im Laufe der Jahre zu einer gewissen Spaltbildung geführt, was vor allem zwischen den beiden vorderen Riesendingern in seinem Oberkiefer ins Auge springt.

Trotz seiner peniblen Lage, ist Marino immer noch zu diesem Lächeln fähig. Er tut es nicht vor dem Spiegel, er tut es nicht, wo ich ihn sehen könnte. Aber ich kann mich noch daran erinnern. Und manchmal fühle ich dies Lächeln in meinem Innern. Sie ist nicht nur auf Freundlichkeit gebaut, diese breite weiße Mauer eines Lächelns.

3

Über Marinos Mutter ist schon sehr viel gesagt worden. Wäh- rend des Prozesses wurde ausführlich über die dominierende Rolle gesprochen, die sie in seinem Leben gespielt hat. Darin musste zum Teil die Erklärung für die bizarren Abwege gesucht werden, auf die er nach ihrem Tod vor zwei Jahren geraten ist. Marino selbst hat, von seiner Rechtsanwältin dazu angetrieben, auch wiederholt Erklärungen in diese Richtung abgegeben. Das sollte auf sein weltfremdes Wesen hinweisen, auf den infantilisierenden Krampf, der ihn daran gehindert hat, zu etwas heranzuwachsen, das als normaler Mann gelten könnte. Das machte ihn natürlich noch nicht schuldlos. Aber seine Verteidigerin versuchte die Geschworenen davon zu überzeugen, dass ihm bei der Bestimmung des Strafmaßes nicht die Gelegenheit genommen werden durfte, doch noch ein gewisses Maß an Erwachsensein zu erreichen. Dass er, ungeachtet seines Alters, dazu nie eine faire Chance bekommen hat.

An ihrer Stelle hätte ich wahrscheinlich denselben Versuch unternommen. Es war ein naheliegender Schachzug. Ich habe auch Verständnis dafür, dass Marino, mit der Aussicht auf viele Jahre Haft, seine Mutter als eine Frau schildern ließ, die mit ihrem mitleidlosen Kontrollzwang sein Wachstumspotential beschnitt, und zwar auf allen Ebenen, auf denen ein gesunder Bürger sich gern als erfolgreiches Wesen betrachtet: sozial und sexuell, beruflich und beziehungsmäßig. Seine böse Mutter hatte ihn eingeengt, hatte ihn zurechtgestutzt zu einem Bonsaimännchen und eingepflanzt in den Humus ihrer rein egoistischen Pläne. Nie hatte er die Chance bekommen, im Boden einer selbständigen Existenz Wurzeln zu schlagen. Die Mutter des Monsters erwies sich selbst als ein selbstsüchtiges Scheusal. Allerlei Tatsachen sollten diese Behauptung stützen. Zum Beispiel der Umstand, dass er, als sie starb, noch bei ihr wohnte und als Verkäufer in einem Laden arbeitete, der offiziell ihr gehörte. Oder dass er bei ihrem Tod noch Jungfrau war und nicht einmal ein eigenes Konto besaß.

Was sollte aus diesem Bonsaimännchen werden, so unvermittelt seinem Schicksal überlassen? Ihr plötzlicher Tod, seine jähe Befreiung, bedeutete für ihn keine Befreiung. Jetzt, da er nicht länger beschnitten wurde, entsprangen seinem Bonsaigeist die seltsamsten Triebe. Verwilderung war eine beinahe unvermeidliche Folge. Er blieb zurück mit der Hilflosigkeit und der ungebändigten Trauer eines Zehnjährigen, jedoch ohne dessen Anpassungsvermögen und Zukunftschancen, denn er war bereits fünfunddreißig.

Bis hierhin die recht einseitigen Ausführungen seiner Anwältin, mit denen sie auf die Geschworenen einzuwirken versuchte. Die simple oder sogar simplifizierende Logik, deren Gültigkeit durch ein psychiatrisches Gutachten untermauert wurde, war in einem gewissen Maße erfolgreich. Wenn es auch nicht die vollständige Wahrheit war, so war es doch zumindest eine ansprechende Geschichte.

Es wäre unpassend, das ist mir durchaus bewusst, über das Plädoyer von Marinos Anwältin abschätzig zu reden. Er hat es zweifellos ihrer Überzeugungskraft zu verdanken, dass er noch mit einer relativ leichten Strafe davongekommen ist. Darüber hinaus hat sie ihm erleichterte Haftbedingungen verschafft. Er hat eine Zelle für sich, er absolviert den Hofgang allein, er muss nicht zusammen mit seinen Mitgefangenen essen oder unter die Dusche. Er ist kein Krimineller wie die anderen. Tatsächlich ist er überhaupt kein Mörder. Er ist zwar wegen Mordes verurteilt worden, aber das geschah zu unrecht. Aus der Erklärung, die ich vorher verfasst und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte unterschrieben habe, ging deutlich hervor, dass ich mich den Handlung, die für mich tödliche Folgen hatten und für die er sich verantworten musste, freiwillig unterzogen habe. Ich bin daher auch mit der Entscheidung einverstanden, gegen dieses Urteil der Geschworenen Berufung einzulegen, so mild das Strafmaß auch ausgefallen ist.

Nein, ganz ohne Zweifel, seine Verteidigerin ist eine Frau, die ihm von Nutzen ist, bestimmt. Zielgerichtet, kompetent, zupackend, wenn es darauf ankommt, und vertrauenswürdig. Ich verstehe sehr gut, dass ihre Besuche für ihn eine erfrischende Unterbrechung seiner ziemlich eintönigen Abgeschiedenheit darstellen. Besonders gesprächig sind die misstrauischen Schließer nicht, die ihn, ganz offensichtlich gegen ihren Willen, bevorzugt behandeln müssen. Sie bringen ihm seine Mahlzeiten, sie begleiten ihn auf den Innenhof, doch er spürt fortwährend ihre Gekränktheit, ihren stillschweigenden Protest gegen die Privilegien, die ihm zugestanden wurden. Das Bonsaimännchen mag vielleicht kranker als die anderen sein, darum ist er aber keinen Deut besser oder interessanter, so denken sie darüber. Und dies lässt so ein Bewacher einen gern spüren, wenn er, mit seinem übergroßen Bizeps schlenkernd, auf dem Weg zum Innenhof aufreizend langsam hinter Marino herschlurft. Wenn es an ihnen läge, könnte er hinter Schloss und Riegel verfaulen. Für einen Menschenfresser sieht er zu unschuldig aus, zu artig, zu gesund, zu unbeschwert. Sie misstrauen dem Leuchten in den Augen dieses Perversen. Sein Pferdegebiss ist ihnen zu makellos und zu weiß. Pass lieber auf, mein Freund, zu gern würden sie dich bei einem Vergehen erwischen. Und sie würden kaum etwas dagegen haben, wenn jemand den Entschluss fasste, deine unversehrte Visage ein wenig zurecht zu zimmern, dir ein bisschen authentische Gefängniserfahrung zu vermitteln.

Marinos Anwältin scheint sich zumindest bis zu einem gewissen Grad bewusst zu sein, mit was für einer delikaten Materie sie zu tun hat. Selbst sieht sie auch aus wie delikate Materie. Ganz zweifellos wirkt sie in ihren eckigen Kostümen, die Blick auf ein schönes Paar Beine geben, überaus sophisticated. Dreißig Jahre. Groß, blond, wogendes Haar, ein Übermaß an Gold und Spannkraft, das der Phantasie von Reklamefritzen entsprungen zu sein scheint. Doch dies ist erstaunliche Realität, ebenso wie die makellose Regelmäßigkeit ihres Gesichts, die skandinavischen Wangenknochen, die hellblauen Augen, umkränzt von schwarzen Wimpern, lang und spitz wie Spinnenbeine. Wer in ihr Blickfeld gerät, gibt sich unwillkürlich größte Mühe, einen wachen Eindruck zu erwecken. Sie hat es immer verstanden, von ihren natürlichen Gaben guten Gebrauch zu machen. Ihre schnelle Auffassungsgabe und ihr unabhängiger Geist, die Wohlgeformtheit ihrer Sprache und ihrer Figur haben ihr die notwendige Unterstützung und die erforderlichen Beziehungen verschafft, um den Widerstand zu überwinden, den diese Qualitäten ebenfalls hervorrufen. Sie gilt als ein vielversprechendes Talent vor Gericht, als ein aufsteigender Stern. Ein blauäugiger Komet voller Energie und Glanz.

Manchmal erinnert sie mich an eine bestimmte Bestsellerautorin des vergangenen Jahrzehnts. Ja, ich sehe ihren fotogenen Kopf vor mir auf den Plakaten, die in den Schaufenstern der allgegenwärtigen Buchhandelskette hängen. Auf der Rückseite ihrer Bücher ist dasselbe Gesicht abgedruckt.

Es zeigt eine Frau, die ganz offensichtlich weiß, was Liebe ist, und die garantiert noch andere Flüssigkeiten als Tinte fließen lassen kann. Doch das heißt nicht, dass sie wie die erstbeste Schlampe durch die Scheibe äugelt. Sie lächelt zum Beispiel nicht. Sie schaut sogar sehr ernst. Ihr gefühlvollbetrachtender Blick muss dafür sorgen, dass das Publikum ihr den Besitz von überdurchschnittlichen Geistesfähigkeiten zugesteht. Dieses Hirn hat Ahnung! Das Leben, die Liebe, das Frau-Sein und die Männer, die darin vorkamen, haben ihr Stoff zum Nachdenken geliefert, und der Fotograf hat sie erwischt, als sie noch vollkommen damit beschäftigt war, diesen Stoff zu verdauen. Machos werden sich bei dieser komplexen Schönheit vergeblich um ein intimes Verhältnis bewerben. Oder aber es sind ausschließlich Machos, die bei ihr eine Chance haben. Nur wer ihr vorgaukeln kann, keine anderen Beweggründe als Trieb, Instinkt und Urhormon zu haben, wird das Radar ihres Denkvermögens in die Irre führen können. Auch das ist möglich. Man weiß es einfach nicht. Man müsste tatsächlich ihr Buch lesen, um ihre intimen Triebfedern kennenzulernen. Und selbst dann. Sie sieht jedenfalls aus wie jemand, der das Recht hat Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen, mehr als sonst jemand.

Zugegeben, ich habe in der Vergangenheit schon öfter zu hören bekommen, dass ich, wenn ich das Innere oder das Äußere einer Frau zu charakterisieren versuche, leicht in Albernheit und Übertreibung verfalle. Dass ich es nie so ausdrücken kann, wie es tatsächlich ist, dass ich immer ein wenig zu dick auftrage oder im Gegenteil Abstriche mache, dass ich Frauen immer nur verzerrt beschreibe, sie schlicht nicht verstehen kann oder will. Möglicherweise klang auch das Obige weit hergeholt oder übertrieben. Denn schließlich gibt es nicht sonderlich viele Gründe, Eveline Tits mit einer Bestsellerautorin zu vergleichen. Fachliteratur und Akten mag sie in Massen verschlingen, doch darüber hinaus lässt der Terminkalender ihr keine Zeit, kommerzielle Literatur zu lesen, von schreiben ganz zu schweigen.

Gerade aufgrund ihres vollen Terminplans verwundert mich die Frequenz ihrer Besuche. Sie kommt fast wöchentlich vorbei, auch wenn sich keine besonderen juristischen Entwicklungen in Marinos Fall ergeben haben. Sie ist so ziemlich der einzige Besuch, der noch bei ihm vorbeischaut, und ihr Kommen ist für ihn stets ein Erlebnis. An einem Tisch einander gegenübersitzend, in einem separaten Zimmer, überbelichtet durch vergitterte Neonröhren an der Decke, lässt ein Wärter die beiden allein. Eveline scheint sich vollkommen sicher zu fühlen, wenn sie mit dem Kannibalen allein in dem kleinen Raum ist. In ihrem Verhalten ist nicht die geringste Spur von Unwohlsein oder erhöhter Wachsamkeit zu bemerken. Schließlich weiß sie, er würde seine Zähne niemals in Frauenfleisch schlagen, und sie ist davon überzeugt, dass es im Leben von Marino Mund nie wieder eine solche Nacht voller Gräuel geben wird wie die, deren erschütternde Details sie alle kennt oder zu kennen meint.

„Du bist doch nicht Hannibal the Canibal“, scherzt sie, und Marinos Lachen lässt den Spalt zwischen seinen oberen Schneidezähnen sichtbar werden. Er findet es angenehm, ein Gesicht zu betrachten, das Erwartungen ausstrahlt, die sich auf ihn beziehen und die, auch wenn er sie nicht ergründet, einzig durch Sympathie eingegeben zu sein scheinen. Diese Frau hat die besten Absichten mit ihm, was das auch immer heißen mag. Sie interessiert sich für seine Zukunft. Warum eigentlich? Was das angeht, macht Marino es sich nicht schwer. Es liegt nicht in seiner Natur, sich ausführlich mit ihren Motiven zu beschäftigen. Er räkelt sich in ihrer Aufmerksamkeit wie in freundlichem Sonnenschein, ohne nach dem Warum zu fragen.

Freundinnen hat Marino nie gehabt, und die einzige Frau, die er aus der Nähe kannte, war seine Mutter, deren Gesicht nicht so jung war und bei weitem auch nicht so freundlich. Die Zukunft, die seine Mutter einst in ihm sah, war keine Zukunft, die sie ihm von Herzen wünschte oder interessiert verfolgen wollte. Es war eine Zukunft, die sie ihm vorgeschrieben hatte, halb sachlich, halb irritiert, als ein Rezept gegen das, was sie für seine krankhafte Trägheit hielt.

Ja, oberflächlich betrachtet konnte Marinos Mutter den Eindruck erwecken, sehr bestimmend zu sein. Und die Verteidigung hat während des Prozesses, wie gesagt, diesen oberflächlichen Eindruck nach Kräften ausgebeutet. In Wirklichkeit war es zu einem großen Teil Marinos eigene Habsucht, die das Verhältnis bestimmte und nicht umgekehrt. Obwohl es so aussah, als würde sie ihn mit mütterlicher Habgier verfolgen, war in Wirklichkeit er es, der mit kindlicher Folgsamkeit hinter ihr herlief. Ihre Pläne mit ihm waren kein Versuch, ihn an sich zu binden. Ihre Griesgrämigkeit zielte darauf, ihn zu entwöhnen. Er wohnte nicht, bis sie starb, bei ihr als ihr ausgebeuteter Sprössling, sondern als Frucht, die nicht vom Stamm fallen wollte.

Es gibt Dinge, die Eveline Tits weiß, und es gibt noch viel mehr Dinge, die sie nicht weiß. Doch ungeachtet all dessen, was Marino verschweigt, ist auf der Grundlage von dem, was er erzählt hat, der Anschein von Vertraulichkeit gewachsen, wie er ihn nie zuvor, von mir selbst einmal abgesehen, mit einem anderen Menschen erlebt hat.

In dem kahlen Sprechzimmer, wo sie einander treffen, herrscht oft eine Atmosphäre von beinahe flirtender Schicksalsverbundenheit, als sei seine unfreie Lage zum Teil auch die ihre, als würde ihre Möglichkeit der freien Selbstbestimmung bald auch schon die seine sein. Dies ist eine Atempause für Marino, der sich seit seiner Festnahme vor allem wie ein Tier im Käfig gefühlt hat.

In ihrer Gegenwart verwandelt er sich in einen Mann, der Zukunftspläne macht und hoffnungsvoll dem Leben entgegensieht, das außerhalb der Gefängnismauern auf ihn wartet. Er schließt dann nicht einmal aus, irgendwann als normaler Mann eine Beziehung zu jemandem zu haben.

Es ist mir ein Rätsel, was eine aufgeweckte junge Frau wie Eveline Tits dazu bringt, eine derartige Luftspiegelung für eine realistische Zukunftsperspektive zu halten – oder zumindest so zu tun, als täte sie das.

Fast finde ich es wirklich schade, dass sie keine Bestsellerautorin ist, denn dann hätte sie vielleicht ein Buch geschrieben, dem der interessierte Leser hätte entnehmen können, was sie allwöchentlich ins Gefängnis führt, um dort, gleichsam gefesselt, den wirren Geschichten von Marino Mund zu lauschen, um an seinen Lippen zu hängen und sich in seinem widerstrebenden Charme zu aalen.Im Bann des Menschenfressers, An den Lippen eines Kannibalen, Das jungfräuliche Monster,um einige mögliche Titel zu nennen, mit denen sie zweifellos bergeweise Bücher hätte verkaufen können, wenn dies ihre Absicht gewesen wäre.

Meine freundlichste Hypothese ist, dass diese dreißigjährige, bis jetzt kinderlose Frau durch das Kind in Marinos graublauem Blick gerührt ist, durch das frühlingshafte, zarte Wesen, das sie unter seinem Bartwuchs vermutet. Das Kind und der Mann, das Kind im Mann ist, wie man hört, für manche Frauen in einem bestimmten Alter eine reizvolle Kombination. Könnte der Mann, der das Kind in sich selbst gehegt und gepflegt hat, später nicht auch ein fürsorglicher Vater für das Kind sein, das sie ihm gebiert?

Ich will natürlich nicht anmaßend erscheinen. Ich will auch nicht seltsam, albern oder übertrieben klingen. Ich hoffe aufrichtig, der Komplexität ihres Gefühlslebens keinen Abbruch getan zu haben. Aber ich werde mich ebenso wenig noch weiter in Spekulationen über die inneren Triebfedern von Eveline Tits ergehen.

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Es ist Juli. Früher nannte man ihn einen Sommermonat. Man aß Eis, man ging an den Strand oder ins Freibad. Man gab sich im großen Maßstab einem allgemein akzeptierten Nichtstun hin. Ferien! Währenddessen tat die Natur ihre Arbeit, summend und knisternd reiften ihre Früchte in der Sonne.

Heute reift nichts mehr in der Julisonne. Alles, was eine Haut hat, alles mit noch einem Tropfen Wasser im Leib ergreift vor ihr die Flucht. Man sucht Schutz in Kellern, Kühlräumen, in Klimabunkern. Das Tageslicht ist ein Schlachtfeld tödlicher Wellenlängen, das man möglichst meidet. Nur die Jungs mit viel Pigment oder wenig Verstand wagen sich noch auf die sonnenbeschienene Seite der Straße. Für die meisten anderen ist der Juli der dunkelste Monat des Jahres, und auch der teuerste. Es kostet mehr Energie, es im Juli kühl zu halten, als es im Januar warm zu bekommen. Ein Höllenatem aus Luftspiegelungen, Ruß und Ozon vibriert über dem Asphalt. Auf dem Land schaut die Sonne herrschsüchtig hinab auf eine Savanne aus verbrannter Erde. In der Stadt bewundert sie ihren Diamanten aus weißem Feuer in den spiegelnden Fenstern der Hochhausfassaden. Sie wird uns mal zeigen, was Kernfusion ist, sie wird uns mal spüren lassen, was es heißt, ein Stern zu sein. Während wir geduldig ihre Demonstration über uns ergehen lassen, duldet sie keine andere Aktivitäten außer ihren. Dies ist kein Sommer mehr, das sind keine Ferien, das ist pure Stagnation. Keine vorübergehende Hitzewelle, sondern ein unbeirrbares Regime solarer Selbsterhebung und knallharter thermischer Repression.

Wagenladungsweise werden aus Altenwohnungen verdorrte Menschenreste abtransportiert. All die vernachlässigten Alten, die nur noch mit ihrem Leichengeruch Aufmerksamkeit zu erregen vermochten, all die vereinsamten Menschen, die statistisch gesehen noch am Leben sein müssten.

Auch im Gefängnis herrscht eine weit verbreitete Lethargie. Es ist mucksmäuschenstill. Jeder liegt in Seiner Zelle und wartet in einem reptilienhaften Zustand der Bewegungslosigkeit darauf, dass es Nacht wird, dass ein Gewitter losbricht, dass eine Eiszeit ausbricht.

Marino muss sich über seine Eltern zum Glück keine Sorgen machen. Sein Vater hat nicht einmal ein alter Mann werden können, er starb, als Marino gerade mal zwölf war. Er wurde durch einen Herzinfarkt ausgeschaltet, ohne bei seinem Sohn ein bleibendes Gefühl der Liebe hinterlassen zu haben. Es wies im Übrigen auch wenig darauf hin, dass dies je seine Absicht gewesen wäre. Es hat nie viel Wechselwirkung zwischen Vater und Sohn gegeben.

Oft trug der Mann auch im Haus eine Sonnenbrille, was ihm das Aussehen eines bestimmten Typs von Filmgangstern verlieh. Nicht von einem Mafiapaten oder einem anderen charismatischen Gewaltverbrecher, sondern von einem launischen, zwielichtigen Kleinkriminellen am Rande der Legalität, nervös und schnell gereizt, eine wenig sympathische Nebenfigur, die für Marinos Gefühl viel zu oft ins Bild kam. Klein, von gedrungener Gestalt. Ein runder Bauch, mollige Händchen und einen Latinoschnauzer unter der stumpfen Nase. Der Mann vertrug das Tageslicht nicht, und Geräusche ebenso wenig. Er lebte fortwährend am Rande einer Migräne, und hin und wieder befand er sich im Zentrum einer solchen. Dann war absolute Stille geboten. Als Direktor einer kleinen Bankfiliale in der Brüsseler Innenstadt musste er während der Öffnungszeiten die Geräusche, die seine Untergebenen und Kunden produzierten, geduldig ertragen. Doch in seinen eigenen vier Wänden duldete er die unvermeidlichen Geräusche nur mühsam, und es galt ein striktes Verbot von überflüssigen Geräuschen. Ja, eines muss man diesem Vater lassen: Er hat seinem Kind beigebracht, was Schweigen ist. Dafür musste er nicht einmal auf den Jungen einschimpfen, Marino sorgte schon von sich aus dafür, unter der Hörschwelle zu bleiben. Ihm war auf diese oder jene Weise in frühester Kindheit eingebläut worden, dass fast alles, was er sagte oder tat, seinem Vater Übelkeit erregende Auren verschaffen oder ihm eine messerscharfe Dornenkrone unverdienten Leides auf die Schläfen drücken konnte. Das Kind versuchte mit aller Kraft zu vermeiden, dass der Vater mit gequälter Geste die Brille abnahm, um ihm einen Blick voller stechender Verwünschungen zuzuwerfen. Diesem Umstand meinten die Psychiater den sparsamen und verlegenen Wortgebrauch des späteren Marino teilweise zuschreiben zu können.

Als gleichsam chronisch an Migräne Leidender äußerte der Mann sich, in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen seiner Konstitution, meistens in Form eines reduzierten und abwehrenden Gemurmels. Und wenn es nicht unbedingt notwendig war, äußerte er sich lieber gar nicht. Wenn Marino an die Stimme seines Vaters zurückdenkt, dann erklingt vor seinem geistigen Ohr weder ein Klang noch ein Timbre. Er erinnert sich nur noch an das bedrückende Gefühl, das diese Stimme in ihm hinterließ und an die Duftspur, die sie seiner Lebenswirklichkeit anheftete und die die Botschaft beinhaltete: Was machst du hier eigentlich? Das ist mein Revier.

Natürlich hat es die Verteidigung im Prozess nicht verabsäumt, darauf hinzuweisen, dass das vorzeitige Hinscheiden des Vaters ein Faktor war, der einen ungünstigen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hatte. Danach gab es niemanden mehr, der ein Gegengewicht zur mütterlichen Zwangsherrschaft darstellte, niemanden, der ihn lehrte, sich gegen ihren manipulativen Charakter zur Wehr zu setzen.

Es ist aber auch wahr, dass Marino schon sehr bald nach dem Tod seines Vaters anfing, die befreiende Wirkung der Vaterlosigkeit zu schätzen, und er wurde alles andere als durch Gefühle des Vermissens geplagt. Er war damals noch nicht vollständig über manche elementaren Tatsachen informiert. Er wusste, dass ein Baby bei der Geburt aus dem Bauch der Mutter geholt wurde, was unzweifelhaft belegte, dass es Fleisch von ihrem Fleisch war. Dies bildete die Grundlage für eine unverbrüchliche Verbindung. Eine physische Verbindung zwischen Vater und Kind, wollte oder konnte er sich nicht vorstellen. Wenn das Kind noch in der Mutter ist, gibt die Mutter viel von sich an das Kind weiter, das war ihm bekannt. Doch wann ist das Kind im Vater? Und was gibt der Vater jemals an das Kind weiter? Er weigerte sich und war auch nicht in der Lage, sich bei dem Begriff „Samen“ ein konkretes Bild zu machen. Lieber hielt er die Vaterschaft für eine Institution, die ausschließlich auf Pflicht und Konvention beruhte, und auf der merkwürdigen, willkürlichen Wahl, die seine Mutter irgendwann einmal getroffen hatte, lange bevor es ihn gab und er ihr davon hätte abraten können, ihr Schicksal mit dem des Mannes zu verbinden, der später sein Vater sein würde.

Welch eine Erleichterung war es folglich auch, als der Mann starb und damit die emotionale Last von Marinos Schultern fiel, einer rein nebensächlichen Vaterfigur mehr Beachtung schenken zu müssen, als dieser, genau betrachtet, zustand. Endlich erlöst von einer Anwesenheit, die mit ihren Kopfschmerzen die Wohnung bis in den letzten Winkel füllte. Dieses lästige Männlein, das die übrigen Familienmitglieder fast täglich zwang, regungslos im Stauelend auf den Ringstraßen seines Nervensystems zu verharren.

Nachdem der fremde Körper zur Tür hinausgetragen worden war, konnte unser kleiner Ödipus sich ungestört auf die beiden Körper konzentrieren, die für seine Existenz eine notwendige und ausreichende Bedingung zu sein schienen, sein eigener und der seiner Mutter, die damals, in der Blüte ihrer Jahre, eine große, vollschlanke, blonde Frau war.

Als er nicht lange nach dem Tod seines Vater in der Schule Sexualkundeunterricht erhielt, kam ihm dessen Inhalt zunächst ziemlich schweinisch vor und alles andere als glaubwürdig. Nachdem er aber diese Information, vom Schulhofgerücht zum Prüfungsstoff befördert, einmal verarbeitet hatte, zeigte es sich, dass sich durch die neu entstandene Situation nicht viel verändert hatte. Dass sein Vater sein biologisch einzigartiger und nicht austauschbarer Erzeuger war, blieb für Marino eine äußerliche Wahrheit, eine Abstraktion, durch die er sich emotional nicht gebunden fühlte. Es war ganz bestimmt nichts, von dem er sein Selbstgefühl würde bestimmen lassen.

Nach dem Tod seines Vater erlebten er und seine Mutter eine schöne Zeit. Das Kind wurde lebhaft und gesprächig wie nie zuvor. Auch die Mutter zeigte sich viel empfänglicher für die Lebensfreude ihres Sprösslings, als sie es während ihrer finsteren Ehejahre gewesen war. Es war, als lernten sie einander jetzt erst kennen, und dieses Kennenlernen verlief sehr zufriedenstellend, für beide Parteien, wie Marino meinte. Er entwickelte ein Gefühl, das er vorher nicht gekannt hatte, schwer erklärbar, aber deshalb nicht weniger angenehm: Er war stolz auf seine Mama. Dieweil war der Vater nur selten Thema des Gesprächs.

Doch als seine Mutter einige Zeit später vorsichtige Versuche unternahm, einen neuen Mann ins Haus zu holen und ihr Kind allmählich an einen möglichen Stiefvater zu gewöhnen, da war es schnell vorbei mit der Idylle.

Es war ein durchaus netter Mann, den seine Mutter kennengelernt hatte. Er war knapp zehn Jahre älter als sie, so um die Fünfzig. Die Scheidung, die hinter ihm lag, hatte ihm zu einer gewissen Weisheit verholfen. Er erwies sich als ein bedächtiger, geduldiger, bescheidener und munterer Besucher. Außerdem war er für die zwei, dem Teenageralter beinahe entwachsenen Kinder aus seiner früheren Ehe ein immer noch anteilnehmender und aufmerksamer Vater. Also auch auf dem Gebiet der Erziehung versprach er, ein nützlicher Zugewinn sein zu können. Die Mutter und ihr Freund fanden es schade, dass diese Kinder bereits zu alt waren, um noch sonderlich viel Interesse für Marino aufbringen zu wollen. Was dieser selbst schade fand, war etwas anderes.