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P. Howard

(Jenő Rejtő)


Ein Seemann aus der

Neuen Welt


Ein analoger Revuekrimi


Aus dem Ungarischen übersetzt von
Vilmos Csernohorszky jr.



Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1940

unter dem Titel »Piszkos Fred közbelép«

bei Nova, Budapest.



»P. Howard« ist ein Pseudonym von Jen
ő Rejtő.



Vom selben Autor erschienen bereits in
den Übersetzungen von
Vilmos Csernohorszkys jr.
die Romane

»Ein Seemann von Welt« (2004)

»Ein Seemann und ein Gentleman« (2008)

»Ein Seemann in der Fremdenlegion« (2012)

»Ein Seemann und ein Musketier« (2014)



© 2016 Elfenbein Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-93-0 (E-Book)

ISBN 978-3-941184-53-4 (Druckausgabe)

erstes kapitel


ICH MÖCHTE WELTBERÜHMT WERDEN!

Habe viel Geld, aber keine Einfälle!

Für jede gute Idee bedankt sich

ein reizender Junge, der die Lebenslust verloren hat.


Folgende Antworten hatten den Weg zum Wasserschloss in einem nach italienischen Vorbildern angelegten Privatgarten San Franciscos gefunden:


Antwort Numero 1


Habe Ihre Anzeige gelesen und fühle mich geehrt, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass ich der ehrliche Finder Ihrer verlustig ge­gan­genen Lebensfreude bin, die Sie sich, nebenbei gesagt, an den Hut stecken dürfen. Ich war, mit Verlaub gesagt, sechs Jahre lang ein glücklich verbeamteter Stromeinschalter am elektrischen Stuhl zu Boston, bis an einem schicksalsverhangenen Tage meine schicke und glänzende Kautschukmanschette einen völlig unvorhergesehenen Kurzschluss verursachte, so dass der verurteilte Delinquent infolge eines völlig unvorhersehbaren elektrostatischen Stromausfalls nicht entschlummerte beziehungsweise am Leben blieb. Leider gibt es keine definitive Hinrichtung ohne Opfer, weshalb ich unerwartet sofort aus meiner ruhigen Stellung geschasst wurde. So viel zu meiner seligen Kautschukmanschette. Danach versuchte ich natürlich, beim kinematografischen Film unterzukommen, da ich ausgebildeter Sattlermeister bin und als solcher im Westerngenre universal einsetzbar. So wurde ich bei Paramount Laufbursche auf dem Dreirad, heiratete jedoch unverhofft bald, so dass ich heute eine blühende, aber erstaunlich wenig einträgliche Gärtnerei in Oklahoma betreibe. Ich heiße Sokrates Schwachta oder Knapp (nach Belieben). Bin ein 45-jähriger, verwitweter Scharfrichter, der das untrügliche Gefühl hat, das Leben hätte für ihn noch einige Überraschungen der unerwarteten Art auf Lager. Habe Ihr freundliches Inserat gelesen, und mein sensationelles Angebot lautet wie folgt: Sie können weltberühmt werden, wenn Sie mich adoptieren und spontan mit Ihrem Vermögen beglücken, dann zu Fuß oder auf einem Tretroller nach Kalkutta pilgern und unterwegs durch ein Megafon unaufhörlich durch die Gegend brüllen, dass die Rohkost unerhörte Wunder wirkt! Diese haarsträubende Idiotie würde in der ganzen Welt bekannt werden und damit auch Ihr durchaus werter Name, denn die Menschheit würde sagen: »Sieh mal einer an …« Geben Sie mir Bescheid, mit welchem Zug Sie einen 45-jährigen, verwitweten Scharfrichter erwarten, der das untrügliche Gefühl hat, das Leben hätte ihm noch einiges zu bieten, und mit einer Ausnahme 72 vorschriftsmäßig vollstreckte, amtlich beglaubigte Hinrichtungen vorweisen kann und dem der Präsident während eines gemeinsamen Besuchs im Flohzirkus bescheinigt hat, ohne mich sei er nichts weiter als eine unglaubliche Null. Also? Ich bin Ihr Mann!


Mit freundlichen Grüßen


SOKRATES SCHWACHTA

oder Knapp (nach Belieben).



Antwort Numero 2


Mein Herr!

Weltberühmt zu werden ist kinderleicht. Ich habe ein vielseitiges Kinderspielzeug erfunden, verwendbar unter anderem als Spielzeugeisenbahn, Rassel oder Fliegenklappe. Das Gewicht zweier Fliegenkinder genügt, damit der patentierte Fliegenhammer niedersaust! Finanzieren Sie mich, und die gesamte Kindheit wird meinen Namen neben Edisons und Ihrem im kindlichen Gedächtnis bewahren, denn diese kunstreiche Apparatur vernichtet nicht nur zwei Fliegen mit eine Klappe, sondern macht Sie auch weltberühmt …



Antwort Numero 3


WOLLEN SIE WELTBERÜHMT WERDEN? MÖCHTEN SIE, DASS MAN SIE BEWUNDERT UND ACH­TET? DASS MILLIONEN IHREN NAMEN KEN­­NEN? SIND SIE BEREIT, DAFÜR GROSSE SUM­MEN ZU OPFERN? ICH MEINE, DAS IST DER GRÖSS­TE SCHWACHSINN DES JAHRHUNDERTS!


Ohne jede Hochachtung


B. Knox

Naturanbeter, Mormonenprediger, Bariton im Chor des Maz­daz­nan-Vereins



Antwort Numero 4


FÜR EINE BESCHEIDENE GEGENLEISTUNG KÖNNEN SIE WELTBERÜHMT WERDEN! WAS IST DAS GEHEIMNIS DES ERFOLGS?!


Ich habe das Leben Napoleons, Tolstojs, Chaplins und D. S. Windthorns sorgfältig studiert. Diese großen Männer sind unsterblich geworden, weil sie das »Zauberchen« genannte Flachsöl gegen Haarausfall benutzten.

Wollen Sie ein Begriff werden wie Rasputin, Beethoven, Shaw, Pasteur und D. S. Windthorn?

VERWENDEN SIE DAS FLACHSÖL »ZAUBERCHEN«! HERSTELLER:

Ingenieur D. S. Windthorn, Brooklyn.



Antwort Numero 5


Wenn Sie schnell und günstig weltberühmt werden wollen, lesen Sie mein Hauptwerk


WIE KÖNNEN WIR REICH, ERFOLGREICH UND GESUND LEBEN?


Ihre freundliche Bestellung erwarte ich im Hospiz für kranke Obdachlose, ja ich rechne sogar damit, denn es ist Ihre Pflicht, Ihrem Nächsten zu helfen, der seit fünf Monaten auf seinem verlausten Elendslager darniederliegt und eine nach Brot schreiende Familie zu ernähren hat!


Mit vorzüglicher Hochachtung

E. HUBERTON

Autor des Werkes Wie können wir reich, erfolgreich und gesund leben?


P. S.: Mein anderes Hauptwerk,
Karriere, Kraft und Ge­sundheit durch Atemübungen und Schwe­denturnen, können Sie ebenfalls im oben ge­nann­ten Hospiz bestellen.«


Und so weiter und so weiter! Schrecklich … Eine Antwort unmöglicher und dümmer als die andere.

»Leider ist nicht eine zu gebrauchen«, seufzte Theobald Lincoln, kaum dass er die letzte gelesen hatte. Vor seinem Lehnstuhl stapelte sich ein Berg von Briefen, unter dem gerade sein ächzender Sekretär hervorkroch:

»Ich habe es geahnt. Die Menschen sind nicht besonders erfinderisch, Mr. Theo«, tröstete ihn der Aufgetauchte.

Ja, Sie haben richtig gehört, so nannte er ihn: »Mr. Theo«, denn der junge Mann wurde auch von seinen Angestellten nur mit diesem zutraulichen Fragment des erhabenen Namens »Theobald« angesprochen. Dass sie trotzdem jedes Mal ein »Mister« davorschoben, war nur dem Umstand zu­zuschreiben, dass seitens seiner selbstlosen, ergebenen und jedweder Heuchelei abholden Umgebung eine gewisse Ach­tung, wenn auch nicht ihm persönlich, so doch seinen Mil­lionen gezollt wurde.

Der junge Mann war nämlich … Ja! Er war ein Millio­när! Bei diesem Aphrodisiakum von einem Wort fühlen wir uns gleich besser, vergessen den ranzigen Alltag und beginnen zu träumen, denn dieses Phänomen hat eine Menge mit der schwarzen Magie zu tun und saugt jede kleine, graue Motte, die ihr zu nahe fliegt, in ihr Feuer hinein. Frau Welt vermag beinahe jeden von uns zu bezirzen, denn von vorne gesehen ist sie wunderschön, auch wenn sie von hinten verfault und voller Maden ist. Aber wer macht sich die Mühe, hinter ihre Fassade zu schauen, wenn sie nur so umwerfend lügen
kann?

Mr. Theo hatte jedoch auch einen Charakter! Und der setzte sich aus drei prägnanten Zügen zusammen, die da wären: ein sommersprossiges Gesicht, erdbeerrote Haare und ein tiefsitzendes Vorurteil gegenüber jeder Art nutzbringender Tätigkeit. Tja, was soll ich es beschönigen, ich sage es lieber freiheraus: Dieser junge Mann war mordsfaul.

Sonst aber galt er als ein abgrundtief angenehmer Jüngling. Seine stets fröhliche Miene, seine oberflächliche Lebensphilosophie, die breiten Schultern und die heiteren, blauen, einschmeichelnden Augen machten ihn ungemein sympathisch, was sich auch oder besonders in dem Fall als vorteilhaft erwies, wenn sich seine Damenbekanntschaften mit dem Ratespiel vergnügten, ob sie ihn lieben würden, auch wenn er arm wäre. Rührend, nicht wahr?

Langer Rede kurzer Sinn: Schließlich war eine Braut ge­funden! Natürlich müssen wir auch den Stapel unsinniger Briefe auf sie zurückführen. Das war so: Die Erwählte hieß Charlotte Dusan, eine aus Frankreich importierte, erstklassige Künstlerin, die im »Tohuwabohu«, dem vornehmsten Varieté der Stadt, mit ihrer berückend synkopischen Bühnenagonie »Totentanz« so viel künstlerisches Interesse erregte, dass der Champagnerverbrauch besagten Kulturbetriebs um dreißig Magnumflaschen pro Tag stieg.

Mr. Theo war als Sohn des Generaldirektors des Pacific Ocean Trust geboren worden, und damit war ihm von Anfang an klar, dass es für ihn genügend Tagewerk und Lebensinhalt wäre, wenn es ihm gelang, die manchmal schon sehr lästige Langeweile irgendwie zu vertreiben. Anfangs wollte er auch mit Charlotte Dusan dieser strapaziö­sen Hauptbe­schäftigung nachgehen, aber dann wurde er von seinen gefühlvollen Gefühlen veranlasst, nächtelang zu zechen.

»Charlotte! Ich nehme Sie zur Frau!«, eröffnete ihr eines Tages unser leichtsinniger Millionär. Leider entsprach die Antwort der Magnumkünstlerin keineswegs den kühnen Er­wartungen des ebenso jungen wie oberflächlichen Herrn:

»Was soll ich mit einem Kerl anfangen, der nur Millionär ist? Meinst du, das reicht?«

»Ja«, antwortete der junge Mann aufrichtig, da ihm diese Überzeugung in Fleisch und Blut übergegangen war.

»Da bist du schiefgewickelt, Kleiner!«, erwiderte die Vam­­pirin. »Niemand soll meinen Mann als Geldsack bezeichnen. Was ich will, ist ein richtiger Großkopferter. Geh doch malochen!«

»Das kann ich nicht«, antwortete Mr. Theo bescheiden. »Wer Geld hat, soll nicht selbst arbeiten und andere dabei stören.«

»Dann darfst du nicht mal von mir träumen!«, knallte sie ihm militant ins Gesicht.

Die noch von jeder Altersschwermut und Herzensverhärmung ungeschmälerte Leidenschaft des Jünglings kannte jedoch keine Hindernisse. Er suchte vielmehr nach einem gang­baren, barrierefreien Mittelweg zur Ehrbarkeit, ohne jedoch die anrüchige Notwendigkeit zu arbeiten.

»Mr. Thorn«, fragte er seinen Sekretär an einem dieser niederdrückenden Informationsabende, »was soll jemand tun, wenn er nicht arbeiten und dennoch seine ständige An­wesenheit auf der Welt möglichst einleuchtend begründen will.«

Der Sekretär rieb sich das markante, zerfurchte Gesicht. Emanuel Thorn war ein trockener, magerer Mann mit einer phlegmatisch müden Stimme.

»Sagen wir«, riet er besonnen, »Sie gründen einen Verein mit dem Namen Arbeit ist keine Schande, aber langweilig. Der Verein würde sein Programm Tag und Nacht verbreiten: Niemand soll arbeiten, dessen Arbeit nicht gebraucht wird, oder der kein Geld zum Überleben braucht. Wenn das erreicht ist, dann bedeutet das den Beginn bedeutender Fortschritte für die Welt, einen Segen für die Menschheit, und der Name Theobald Lincolns stünde neben dem Gali­leis, der meiner Ansicht nach auch nichts arbeitete, denn nur weil es ihm furchtbar langweilig war, konnte er auf die idiotische Idee verfallen, dass die Erde um ihre eigene Achse rotiert und unbeholfen um die Sonne kreiselt.«

»Halt!«, rief Theo begeistert. »Hallooo! Sie sind doch der nützlichste Mann in meinen Diensten! Welchen Blödsinn Sie auch immer erzählen, Sie bringen mich doch immer auf eine Idee, die Hand und Fuß hat.«

»Yes …«, nickte der Sekretär und schloss zufrieden seine matten Augen. »Hauptsache ist doch, dass man irgendwie unverzichtbar ist. Ergebnisse machen den Wert der Arbeit aus, denn auch die wertvollste Arbeit ist keine Ausrede und entschuldigt nicht die Ergebnislosigkeit. Ich glaube, jetzt habe ich etwas sehr Gutes gesagt.«

»Ja! Vielleicht haben Sie sich irgendwo verkühlt. Meine Idee ist jedenfalls erstklassig! Ich werde weltberühmt! Das ist die einzige Möglichkeit, ohne Arbeit gut zu leben und von Tadel verschont zu bleiben. Wen interessiert es, ob Edison arbeitete, wenn er nicht gerade die Glühbirne, das Grammofon und ähnliche Dinge erfand? Oder wen kümmert es, ob Darwin unaufhörlich tätig war, nur weil er der Meinung war, unsere Körper seien entfernt mit den Affen verschwägert? Sie geben morgen eine Anzeige auf.«

Die Idee gefiel dem Sekretär gar nicht.

»Ich finde es entsetzlich, dass ein Gentleman vor die Öffentlichkeit tritt. Aber Sie sind ein hartnäckiger Mensch, Mr. Theo. Ich gebe also den Kampf und die Anzeige auf.«

So geschah es. Als sich aber – wie wir bereits festgestellt haben – niemand von Belang meldete, beschloss Mr. Theo, sich mit jenem hartherzigen Vater in Verbindung zu setzen, der hinsichtlich der Notwendigkeit einer nützlichen und gewinnträchtigen Tätigkeit schon viel früher als Charlotte Dusan deren verschrobene Ansichten vertreten hatte. Der junge Mann war zu allem entschlossen und bereit, sich endlich überreden zu lassen, in die Firma einzutreten.

»Mr. Thorn! Verbinden Sie mich mit der PACIOCI

Auch das war typisch für Mr. Theos Charakter, dass er das mächtige Unternehmen Pacific Ocean Trust kurz PA­CIO­CI nannte, ähnlich den widerlichen Zungengeräuschen, mit denen man ein nettes Kätzchen heranlockt.

Er zündete sich schlechtgelaunt eine Zigarre an, denn die Aussicht auf harte Arbeit warf bereits ihre morbiden Schatten voraus: Sein Leben würde zwar bleiben wie zuvor, aber man würde ihn täglich zu Recht kritisieren.

»Die PACIOCI, Mr. Theo!«, zischte der Sekretär und übergab den Hörer.

Der junge Mann plapperte wie immer unüberlegt ­drauflos:

»Bitte den Papa! Hier spricht Theo!«

Die hausinterne Vermittlung verstand »Leo« und verband ihn mit dem Pförtner, der einen zwanzigjährigen Sohn dieses Namens hatte. Grob schrie der Pförtner in den Hörer:

»Warte nur, du Nichtsnutz! Ich sitze hier schon seit einer Stunde ohne Hose herum!«

»Aber wie ist das nur möglich?«, erwiderte Mr. Theo höf­lich, woraus der geneigte Leser ersehen kann, dass eine gute Erziehung Gold wert ist.

»Was soll ich ohne die Hose anfangen! Willst du, dass ich mich erkälte?!«

»Nein, um Himmels Willen!«, verneinte der Millionär erschrocken, da er seine Mitmenschen liebte.

»Ich habe bereits einen Schnupfen!«, beschwerte sich Leos Vater.

»Gibt es dort gar keine Bettdecke, um sich warmzuhalten?«, erkundigte sich Mr. Theo besorgt.

»Dummer Kerl! Mit einer Bettdecke kann ich doch nicht in die Empfangshalle!«

»Das leuchtet mir ein!«

»Wenn ich in fünf Minuten immer noch ohne Hose dasitze, setzt’s was!«

»Nur die Ruhe. Bin schon dabei.«

»Hallo! Und lass den Aufschlag verstärken, weil er sonst bei Regenwetter ausfranst. Und die Bügelfalte muss scharf wie eine Rasierklinge sein, sonst kannst du mich kennenlernen!«

Sobald der Pförtner wütend und entsprechend laut den Hörer aufgelegt hatte, klingelte Mr. Theo, worauf der Lakai Sigorski erschien.

»Sie bringen sofort eine Hose von mir zur PACIOCI«, befahl der Millionär, »aber mit einer Bügelfalte, scharf wie eine Rasierklinge, denn die Hose ist für den Pförtner, und wenn er nicht zufrieden ist, wird man uns körperlich züchtigen. Lassen Sie den Hosenaufschlag mit einem Stoßband versehen, weil er sonst ausfranst. Grüßen Sie den Pförtner von mir, und er soll mich ruhig wieder anrufen, wenn er auch einen Mantel braucht.«

Sigorski, der Lakai, hatte einmal eine Eisenbahnkata­stro­phe überlebt, hierbei jedoch ein Auge und etliche Gehirnzellen eingebüßt. Aus seinen gesunden Tagen waren ihm nur seine Unzuverlässigkeit und eine gewisse Schlampigkeit geblieben.

»Mr. Theo«, näselte er langsam und erhobenen Hauptes, »warum sollte die Hose ausfransen? Bei solchem Wetter verkehrt man doch mit dem Automobil.«

»Aber der Pförtner der PACIOCI besitzt wahrscheinlich gar keinen Wagen … Stimmt! Das ist auch nicht in Ordnung! Spring unterwegs bei Duesenberg vorbei und kauf dem armen Mann einen niedlichen Sportwagen.«

Mr. Baruch T. Livingstone war ungemein verblüfft, als der seh- und denkbehinderte Sigorski mit einer eleganten Hose und den Papieren eines sechszylindrigen Roadsters sei­ne Loge betrat. Der zornentbrannte Pförtner war inzwischen Mr. Theos Rat gefolgt und saß mit einer Bettdecke umhüllt am Fenster und hielt ein Schild in der Hand: »besprechung, NICHT STÖREN!«, in der Absicht, es seinem Sohn Leo gegen den Kopf zu knallen, sobald dieser zwar verspätet, aber trotzdem das ersehnte Kleidungsstück brächte. Er hatte keine Ahnung, dass ihm diese Gefahr nicht drohte, nachdem der missratene Bengel um die Mittagsstunde als Matrose angeheuert und das Geld für den Schneider vertrunken hatte, bevor er sich mit der Hose nach Hawaii aufmachte, wo die Nächte duftend und die Frauen glutäugig sind, und außerdem die Gitarre klingt, wenn man den Tangodichtern glauben darf, was ich zu bezweifeln wage.

»Mein Chef lässt Ihnen ausrichten«, meldete Sigorski, »Ihre Hose werde in Zukunft nicht mehr ausfransen, da er Ihnen einen Personensportwagen mit fünftausend Kubikzentimetern gekauft hat.«

Der Pförtner staunte, sofern dieses Wort jenem besonderen Zustand zwischen Verwunderung und Ohnmacht hin­reichend gerecht wird.

»Wer … sind Sie?«, stotterte er.

»Roland Sigorski, mit Verlaub. Sie haben mit meinem Chef in der Angelegenheit einer Hose konferiert, Sir.«

»Ich habe nicht das Vergnügen … Könnten Sie vielleicht Näheres über Ihre Person …?«

»Bitte, wie Sie wünschen, Sir.« Sigorski nickte kühl und begann auch schon aufzusagen: »Ich wurde in Odessa geboren, zähle zweiundvierzig Lenze und gelangte als ehemaliger Hauptrittmeister des im Ruhestand befindlichen griechischen Stationsvorstehers Papagalos in die Neue Welt. Hier Ihre Hose. Nehmen Sie, Sir.«

»Entschuldigen Sie bitte, aber hier liegt ein Irrtum vor …«, staunte Leos Vater. »Ich habe nie mit dem Herrn Stationsvorsteher gesprochen …«

»Er hat es nicht übel aufgenommen, Sir. Zumindest hat er mir gegenüber diesbezüglich nichts verlauten lassen. Der alte Herr ist ein durchaus wortkarger Mann gewesen: Bitte, Sir … Hier sind Ihre Wagenpapiere. Vorsicht, Sir, die Bügelfalte Ihrer werten Hose ist besonders scharf.«

»Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht irren?«

»Ich habe mir erlaubt, Sir, sie selbst zu bügeln. Wenn Sie aber wünschen, bügele ich sie noch einmal, da mein Chef die von Ihnen in Aussicht gestellten Tätlichkeiten ver­meiden möchte. Nehmen Sie, Sir.«

Der Pförtner taumelte. Sigorski teilte ihm noch mit, wel­che Nummer er wählen müsste, wenn er auch einen Man­tel brauchen sollte. Dann entfernte er sich. Baruch T. Livingstone blieb der Mund o-förmig offen, er selbst aber stand da mit der Hose in der einen Hand, mit den Wagenpapieren in der anderen, zu seinen Füßen die Bettdecke, und kein moderner Maler hätte eine so dekorierte und doch erschlagende Vision auf die Leinwand bannen können. Da aber erschien der Personalchef mit einem dicken Mann.

»Ich möchte Ihnen den neuen Aushilfspförtner vorstellen, Livingstone«, sagte der Personalchef. »Wie sehen Sie eigentlich aus?! Das ist ja skandalös! Lassen Sie sich umgehend Ihr Gehalt auszahlen und verschwinden Sie!«

»Umgehend geht das nicht.«

Und er zog umgehend die neue Hose an. Diese war mit gewissen grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Physik bestens vertraut und zerriss infolgedessen mit gleichgültiger Leichtigkeit. Der durchtrainierte Mr. Theo hatte vergessen, dass der Pförtner wegen seiner sitzenden Tätigkeit ein kraftvolles Mannsbild war. Somit konnte Baruch T. Livingstone nichts anderes tun, als die Bettdecke um seine Hüfte zu schlingen, und der neue Pförtner sah staunend, wie sein Vorgänger ein schnittiges Luxusfahrzeug bestieg und davonfuhr.

»Sehen Sie, Marved?«, brüstete sich der Personalchef. »Un­sere Angestellten scheiden schon nach wenigen Jahren so aus der Firma.«

Der neue Pförtner wusste nicht, wie er das verstehen sollte: Gefeuert und ohne Hose oder mit Auto? Oder geisteskrank? Das gehört jedoch nicht mehr zum engeren Themenbereich unseres Revuekrimis, und der Episode kommt nur insoweit Bedeutung zu, als die Hose die logische Folge der Ereignisse störte und Mr. Theo daran hinderte, mit seinem Vater über seine ehrenwerten Absichten zu sprechen, die er als Mann von Charakter nicht mehr aufgeben wollte. So aber verschob er das falsch verbundene Gespräch und ging in sein Schlafzimmer, um sich ein wenig hinzulegen, womit sein Leben einen raketenschnellen Verlauf nahm, und zwar unwiderruflich und endgültig, auf einer schnörkelreichen Bahn voller wahnwitziger Abenteuer: Um 10.45 Uhr hatte er beschlossen, schlafen zu gehen, und um 11.20 Uhr nahm er bereits ein wohlschmeckendes Frühstück ein, und zwar in Gesellschaft eines zu Staub zerfallenden Toten, der sich schon bald als die beharrliche Ursache ungezählter Wirrungen entpuppen sollte.

zweites kapitel


Dem notorischen Toten begegnete Mr. Theo in seinem rie­sigen Schlafzimmer, als er auf das zudringliche Schnarchen dieses verblichenen Herrn aufmerksam wurde. Mit ge­sträubten Haaren beugte er sich nieder, um unter das Bett zu spähen, und erblickte besagte Leiche, die heftig schlafend in Frieden ruhte.

»Hallo! Sie! Was soll denn das? Kommen Sie sofort unter meinem Bett hervor!«

Die sterbliche Hülle zuckte die Achseln, wie jemand, der es nicht mag, wenn jede Kleinigkeit gleich übertrieben wird, und knurrte mit beschwichtigendem Spott:

»Bitte, bitte … Warum regen Sie sich denn so auf, werter Herr?«

Er kroch hervor, wobei er mit seinen Schultern die Lampe mit dem weinroten Seidenschirm umstieß, stand auf und öffnete das Fenster. Dann streckte er seine rechte Hand hinaus, als wollte er die zahmen Hirsche des Schlossparks segnen, und bemerkte schließlich mit einem säuerlichen Ge­sicht:

»Es regnet … Erstaunlich, dass es in San Francisco jeden Mitt­woch regnet. Daran sind wohl die Fabriken schuld. Wie spät ist es?«

Der rothaarige Millionär setzte sich sofort in einen Fau­­teuil, um das Geschehen bei vollem Komfort und mit sei­nem breitesten Grinsen zu genießen. Solche Menschen sammelte er – im Gefühl, dass auf der Welt jeden Tag so viel Widersinniges geschah, selten jedoch amüsanter Natur, dass man für jede Ausnahme dankbar sein musste.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Egon Small, Vertreter für Staubsauger und Eisenbahnfahrkarten. Sehr erfreut. Darüber hinaus bin ich schon seit einigen Jahren aus dem Leben geschieden, was nebenbei nicht ausschließt, dass Sie mir eine Zigarette anbieten dürfen.«

»Zigaretten habe ich keine. Wollen Sie vielleicht eine Zigarre?«

»Nein. Lassen Sie Zigaretten bringen. Einem Gast macht man keine Angebote, die nach einem Ultimatum klingen.«

»Werden Sie aber verzeihen, dass ich gewagt habe, mein Schlafzimmer aufzusuchen?«

»Natürlich. Das nehme ich Ihnen ja gar nicht übel. Aber was war denn so dringend, dass Sie mich unbedingt wecken mussten? Wir leben nicht in Zeiten, mein Herr, in denen ein intelligenter Mensch jeden wecken kann, besonders wenn man gerade einem wohlverdienten Nickerchen nachgeht … Schnaps haben Sie natürlich auch keinen, wie?«

»Einen Portwein kann ich Ihnen gern anbieten.«

»Typisch …«, brummte der Unbekannte mit spitz-bitterem Hohn. »Ein Millionär … Ja, typisch!« Er winkte mit der Hand, als ließe er sich nur von seiner resignierten Höflichkeit daran hindern, eine vernichtende Meinung zu äußern, und nahm vom Spiegeltisch einen Zerstäuber mit Kölnischwasser, mit dem er sein jäh verklärtes Gesicht besprengte.

»Ich lasse sofort Schnaps bringen«, rief Mr. Theo begeistert. »Und auch Zigaretten! Sie sind von nun an mein Freund!«

»Hm … Erlauben Sie, dass ich mich in diesem Fall nach Ihren familiären Umständen erkundige?«, entgegnete der mysteriöse Gast und fragte mit der Barschheit eines tadelnden Beamten, der aus dem Grabe steigt, um sich sogleich in ein unübersichtliches, aber nichtsdestoweniger gnadenloses Formblatt zu verwandeln:

»Name Ihres Vaters?«

»Walter Lincoln.«

»Sind sie entfernt mit dem seligen Abraham verwandt?«

»Insofern wir hoffen, eines Tages in seinem Schoße zu ruhen.«

»Ich meinte den großen Präsidenten, der in einer Theaterloge erschossen beziehungsweise niedergestochen wurde.«

»Wir sind unschuldig! Meine Ahnen haben in keinem Theater der Welt jemals einen Präsidenten umgebracht. Dieser Art Vergnügung huldigten sie nicht.«

»Eine hübsche Familie …«, höhnte der Besucher und kostete von einem puddingähnlichen Etwas, spuckte es aber wieder aus, als es sich als Pomade erwies.

»Ich würde gern kalten Aufschnitt essen, aber ich warne Sie: Wenn Sie antworten, Sie hätten nur warmes Schweinekotelett im Haus, dann werde ich Ihnen auf der Stelle und ohne zu zögern eine ausgewachsene Kränkung zufügen.«

»Wieso glauben Sie, es wäre meine Pflicht und Schuldigkeit, Sie zu verwöhnen?«

»Weil ich in der Anzeige las, dass Sie in monetärer Hinsicht ein ziemliches Schwergewicht darstellen. Daran beginne ich übrigens zu zweifeln, da Sie mir bezüglich des Ankaufs von Spirituosen und Tabakwaren ständig Versprechungen machen, nur damit Sie dieselben mit voller Absicht gleich wieder brechen und vergessen.«

Nach diesen zynischen Äußerungen verschwand er bis zur Hüfte im Schrank.

»Würden Sie irgendwo mit mir zu Mittag essen?«, lautete die spontane Einladung Mr. Theos, dessen Laune immer mehr einem Höhenflug glich. »Wann haben Sie gefrühstückt?«

»Es sind keine zwei Tage her«, antwortete der böse Gast.

»Die Hemden finden Sie zwei Schubladen weiter unten …«

»Bücken muss man sich auch noch …«, brummte der seltsame Unbekannte missmutig und wurde zusehends ner­vöser, während er unter den Hemden des Millionärs kram­te, wobei er die Schlafanzüge ohne Umstände auf den Boden warf. »Ich muss schon sagen, Sie haben hier ja lauter geschmackloses Zeug. Wie kann man nur rote Krawatten tragen? Das Einzige, was diese Farbe erträgt, ist ein zweireihiger, moosgrüner Seidenblazer.«

»Haben Sie mich ausschließlich zu dem Behufe aufgesucht, um meine Garderobe herunterzuputzen?«

»Nein, das nicht … Ich habe Ihre etwas völlig bekloppte Anzeige gelesen. Ich dachte mir mal, ich komme allen zuvor, wenn ich mich persönlich präsentiere, statt zu schreiben; außerdem ist es sparsamer, da ich mich selbst nicht frankieren muss. Oder ist das zu weit hergeholt?«

Er nahm einen zur Hose passenden Gürtel, warf die anderen auf den Boden und strich sich das wirre Haar nach hinten.

»Na, kommen Sie endlich?«, drängte Theo ungeduldig.

Als sie im Auto saßen, wurde er wieder zutraulicher:

»Wenn Sie allen Ihren Mitbewerbern zuvorkommen wollten, haben Sie bestimmt eine erstklassige Idee für mich.«

»Natürlich … Keine Frage! Ich mache einen zweiten Stanley aus Ihnen! Na, ist das etwa nichts?!«

»Sie deprimieren mich!«, erwiderte Theo enttäuscht. »Ich habe nicht einmal vom ersten Stanley gehört.«

»Die Abneigung Ihrer Vorfahren gegen die Schauspielkunst hat sich anscheinend so weit vervollkommnet, dass Sie nicht mehr lesen können und daher ungebildet sind wie ein Teddybär aus dem Kaufhaus.«

»Wenn Sie so weitermachen, ist es möglich, dass ich Sie nach dem Essen verprügle«, drohte Mr. Theo, der langsam, aber sicher die Fassung verlor.

»Es wird Ihnen auch nicht auch der Patsche helfen, dass ich Sie dann für einen rabia­ten Tölpel halte. Über Stanley nur so viel: Es war seine wunderbare Leistung, Livingstone aufzuspüren, den großen Entdecker und Forscher, der am Kongo verschollen war.«

»Hoppla«, rief Theo. »Warten Sie! Genau, jetzt erinnere ich mich. Wir hatten das in Geografie. Reden Sie weiter.«

»Da bin ich aber froh! Nun, wie die Dinge liegen, Sir, könnten auch Sie die Ehre haben, einen verschollenen Forscher aufzuspüren. Hören Sie gut zu! Vor genau zwei Jahren ging die Nachricht durch die Weltpresse, der berühmte Kartograf der pazifischen Inselwelt, Gustav Bahr, Mitglied der Königlich-Geografischen Gesellschaft, wäre von seiner Fahrt ins schwüle Herz Polynesiens nicht zurückgekehrt. Zuletzt kursierte sein Name auf der Speisekarte eines geschmäcklerischen Menschenfresserstammes, in Verbindung mit irgendeiner sauren Beilage, und seitdem fehlt jede Spur von ihm.«

»Ich denke, ich bin auf der richtigen Fährte, wenn ich aufgrund der Speisekarte vermute …«

»Reden Sie nicht weiter!«, winkte Egon Small ab. »Sie vergessen, man kritzelt in billigen Gaststätten oft vornehme Gerichte auf die Speisekarte, ohne sie je mit Butterbröseln zuzubereiten.«

»Ihrer Meinung nach ist Gustav Bahr also noch am Leben, da er in Wirklichkeit niemals zubereitet und mit Butterbröseln aufgetischt wurde?«

»Es ist auch höchst unwahrscheinlich, dass er auf Rost gegrillt und mit Gurkensalat serviert wurde, oder gar in Bärlauchpesto gesotten, mit Frühkartoffeln und frischer Petersilie«, antwortete der Tote und lächelte eigenartig verschlafen und milde, während er in die Ferne blickte und schluckte. »Keines dieser Küchenrezepte hätte ihm nämlich erlaubt, am Leben zu bleiben. Und er ist am Leben! Auf der Insel Tsiui. Vor dem Kap Farör, nördlich von Fidschi. Dort können Sie ihn finden, wenn Sie nur wollen.«

»Das interessiert mich«, antwortete Theo lebhaft. »Und Sie sind ganz sicher, dass sich Gustav Bahr auf der Insel Tsiui aufhält?«

»Warum sollte ich sicher sein? Gustav Bahr befindet sich auf gar keiner Insel.«

»Ja, aber wo finde ich ihn dann?«

»Hier, in San Francisco und nirgendwo anders!«

»Was?!«

»Haben Sie sich nie die Frage gestellt, wie viel Mühen sich Stanley erspart hätte, wenn er Livingstone schon bei der Abfahrt bei sich gehabt hätte, im Handgepäck der Karawane sozusagen? Unglaublich töricht und ein Armutszeugnis für die gesamte zivilisierte Menschheit, dass man dieses einfache Verfahren noch nie angewendet hat. Sie werden der Erste sein … Vorsicht, Mann, das da in Ihren Händen ist ein Lenkrad!«

Mr. Theo dachte nach. Wenn Gustav Bahr tatsächlich hier irgendwo lebte, dann war das Patent gefunden, wie man gegen Nachnahme einen Weltruf ans Haus geliefert bekommt.

»Und wo hält sich Gustav Bahr in diesem Augenblick auf?«

»Sie meinen: jetzt? …« Die rätselhafte Leiche überlegte einen Augenblick. »Welchen Tag haben wir heute? Wissen Sie das zufällig?«

»Mittwoch.«

»Dann ist alles in Ordnung. Gustav Bahr sitzt hier neben Ihnen im Auto, ist hungrig und langweilt sich Tode … He! Sie fahren auf dem Bordstein …«