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Dagmar Hafner
Der Schatz der Mannheimer Hugenotten
Roman

DAGMAR HAFNER

DER
SCHATZ DER
MANNHEIMER
HUGENOTTEN
ROMAN

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Verlag Waldkirch

Alle Fotos: Dagmar Hafner
Hugenottenkreuz: Syryatsu

ISBN Taschenbuch 978-3-86476-077-8

ISBN E-Book EPUB 978-3-86476-638-1

ISBN E-Book PDF 978-3-86476-639-8

image Verlag Waldkirch KG
Schützenstraße 18
68259 Mannheim
Telefon 0621-12 91 50
Fax 0621-12 91 599
E-Mail: verlag@waldkirch.de
www.verlag-waldkirch.de

© Verlag Waldkirch Mannheim, 2016
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.

Der Roman beinhaltet tatsächliche, historische Ereignisse, jedoch wurde Dichtung und Wahrheit miteinander verwoben.

Inhalt

FLUCHT NACH VORN

ANKUNFT

EIN NEUES LEBEN

HAUSBIBEL

ZARTE BANDE

AUF NACH FRANKREICH

EIN SCHATZ MACHT VON SICH REDEN

IN AUFGEREGTER ERWARTUNG

DIE EREIGNISSE NEHMEN IHREN LAUF

DIE ZINNTAFEL

NEUE ERKENNTNISSE

DER BRUNNEN

NOCH EIN BRUNNEN

EIN SCHRITT NACH VORNE

BESUCH AUS FRANKREICH

IRRWEGE

NOCH MEHR VARIANTEN

AUSSPRACHE

ERKENNTNIS

DAS DENKMAL

ERNEUTES TREFFEN

SCHATZSUCHE

SCHLUSSAKKORD

DIE AUTORIN

FLUCHT NACH VORN

Tess saß von Gewissensbissen geplagt im fahrenden Zug. Sie fächelte sich nervös mit einer Zeitschrift Luft zu und zappelte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Ihr schlechtes Gewissen schlug in Wut um und in ihrer Magengrube begann es zu brodeln. Tess atmete tief durch und stieß einen lauten Seufzer aus.

Damit zog sie die Aufmerksamkeit ihrer Mitreisenden auf sich, einem älteren Ehepaar, das sie jetzt verwundert musterte. Beide waren vermutlich schon jenseits der Siebzig. Die Frau war verhältnismäßig groß, sehr korpulent mit einem riesigen Busen. Ihr schlohweißes, dichtes Haar mit altmodischen Wellen wirkte gepflegt, wie frisch vom Friseur. Auf ihrer Nase thronte eine goldene Nickelbrille mit munter blitzenden Augen dahinter und ihr rosiges Gesicht wirkte erstaunlich frisch. Ihr Mann jedoch, dessen Kopf von einem abstehenden, grauen Haarkranz gekrönt wurde, wirkte wie ein zerstreuter Professor. Er war bestimmt einen ganzen Kopf kleiner als seine Frau, recht faltig und dünn. Er wuselte im Zugabteil herum und probierte jeden Sitzplatz aus, um dann nörgelnd festzustellen, dass es überall furchtbar ziehe. Schließlich zog er seine Jacke an, knöpfte sie bis obenhin zu und stellte den Kragen auf, obwohl es ziemlich warm im Abteil war.

Tess schüttelte insgeheim den Kopf, denn das ständige Gejammer und Gewusel machte sie wahnsinnig. Die Wut in ihrem Bauch wurde heftiger, sie konnte spüren, wie sie sich langsam einen Weg nach oben bahnte und als Hitze im Kopf ankam.

Als unvermutet ihr Handy laut klingelte, schrak Tess zusammen, kramte ungeduldig in ihrer Handtasche, förderte es schließlich zutage und schaute verblüfft auf das Gerät. Auf dem Display stand, ausgerechnet, der Name ihres Mannes! Die Schrift verschwamm vor ihren Augen und in ihrem Kopf schien etwas zu explodierte. Einem inneren Impuls folgend, knallte sie ihr Handy mit solcher Wucht auf den Fußboden, dass dieses in alle Einzelteile zerbrach. Das Ehepaar schaute erschrocken zu ihr hinüber. Die Frau ließ einen kleinen Schrei fahren und Tess begann haltlos zu weinen und zu schluchzen.

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Da sie heftig zitterte, griff sie nach ihrer Strickjacke, doch auch das half nicht gegen die Kälte, die von innen kam. Sie begann regelrecht mit den Zähnen zu klappern. Die Wut auf ihren Mann und auch auf sich selbst war nach ihrem Ausbruch verraucht und hatte einer inneren Zerrissenheit Platz gemacht. Ihre Gedanken rotierten. Die Tristesse ihrer erkalteten Ehe war ihr in den letzten Wochen in aller Schärfe schmerzlich bewusst geworden, deshalb hatte sie ihren Mann ohne ein weiteres Wort verlassen. Hatte sie richtig gehandelt, nach so vielen Ehejahren, und wie sollte es nun weiter gehen? Sie wusste es nicht.

Ihre großen, dunklen Augen spiegelten die innere Zerrissenheit und Trauer wider. Normalerweise lachte sie gerne und viel. Im Moment jedoch konnte sie die Tränen nicht unterdrücken.

Die ältere Dame reichte ihr ein Päckchen mit Papiertaschentüchern und fragte leise: „Können wir Ihnen helfen, junge Frau?“ Tess schaute verwirrt auf und sah in wache, lebhafte Augen, die sie mitfühlend ansahen. Sie nahm dankend die Taschentücher entgegen, wischte sich die Tränen ab und schüttelte traurig den Kopf. „Ich glaube nicht“, antwortete sie mit zittriger Stimme. Sie putzte sich die Nase und blickte die beiden bedrückt an. „Jetzt beruhigen Sie sich erst mal“, sprach die ältere Dame weiter sanft auf sie ein. „Vielleicht möchten Sie uns dann erzählen, was Sie bedrückt. Manchmal hilft es, wenn man völlig Fremden seinen Kummer erzählt. Wir heißen übrigens Franz und Gerlinde Wacker und reisen zu unserem Sohn und unseren Enkelkindern nach Hanau.“

Herr Wacker nickte ihr aufmunternd zu. Tess tat sich Fremden gegenüber immer etwas schwer. Sie runzelte die Stirn und sah zu beiden hinüber. Intuitiv spürte sie, dass sie es gut mit ihr meinten. „Ich heiße Tess, eigentlich Theresa Maier. Tess nannte mich immer mein kleiner Bruder und später auch alle anderen“, fügte sie hinzu. Nach einer langen Pause flüsterte sie leise: „Ich habe meinen Mann verlassen.“ „Franz, ich glaube, Frau Maier braucht erst einmal einen Kaffee. Würdest du einen holen gehen?“, sagte Frau Wacker bestimmt und blinzelte ihm zu.

„Wenn es sein muss“, sagte er gedehnt. „Im Flur zieht es bestimmt schrecklich, da brauche ich aber meinen Schal“, jammerte er und erhob sich. Er fingerte seinen Schal aus der Reisetasche, wickelte ihn zweimal um den Hals und verließ das Zugabteil. Frau Wacker sah Tess aufmunternd in die Augen, ohne sie zu drängen. Tess begann stockend zu erzählen: „Unsere Ehe ist im Laufe der Jahre schrecklich lieblos und stumm geworden. Wir können schon lange nicht mehr miteinander reden. Mein Mann hat mir nie körperliche Gewalt oder ähnliches angetan. Nur hat unser gemeinsames Leben irgendwann begonnen, in unterschiedliche Richtungen zu laufen, haben sich Kälte und Lieblosigkeit eingeschlichen, dass man schon morgens beim Aufstehen Frostbeulen bekam. Und dann habe ich mich gefragt: Soll das nun die nächsten 20 oder 30 Jahre so weitergehen? Der einzige Grund, weshalb ich bei ihm geblieben bin, waren meine Kinder. Nun sind sie erwachsen und brauchen mich nicht mehr. Ich bin jetzt 51 Jahre und fühle mich alt und ausgebrannt. Ich habe das Gefühl, an einem Tiefpunkt angelangt zu sein.“

Tess schossen wieder die Tränen in die Augen und Frau Wacker streichelte beruhigend ihre Hand. Schniefend fuhr Tess fort: „Heute habe ich meinen Mann verlassen, einfach so, ohne ein Wort. Er weiß es noch gar nicht, denn er ist noch bei der Arbeit. Und nun sitze ich hier von Zweifeln geplagt im Zug.“

Frau Wacker sah ihr mitfühlend in die Augen. Ihr sympathisches Gesicht war von Falten durchzogen und ihre Augen von einem faszinierenden, strahlend kräftigen Blau mit vielen Lachfältchen in den Augenwinkeln. „Sie armes Ding“, begann sie vorsichtig, „und nun weinen Sie sich die Seele aus dem Leib. Ich finde es richtig, dass Sie für sich beschlossen haben, Ihren Mann zu verlassen. Ich hätte es bestimmt nicht so lange ausgehalten.“ Sie schluckte kurz bevor sie fortfuhr: „Allerdings hätten Sie vorher mit ihm darüber reden sollen.“

Heftiger, als sie es wollte, entgegnete Tess: „Für mich war dieser plötzliche Ausbruch die einzige Möglichkeit, sonst hätte ich mich nie mehr getraut!“

Sie atmete tief durch. „Jetzt habe ich allerdings Bauchschmerzen, und stelle mir die Frage, ob ich alleine zurechtkommen kann“, setzte sie leise hinzu. Einen Moment lang trat Stille ein, dann redete ihr Frau Wacker gut zu: „Natürlich können Sie das. Das Buch des Lebens hat verschiedene Kapitel und nun beginnt für Sie ein neues. Nur Mut!“ Tess sah sie dankbar an und putzte sich nochmals die Nase.

Sie blickte kurz aus dem Fenster in Richtung Himmel, wo die Sonne eine Wolkenlücke gefunden hatte. Die Düsternis war einer wohltuenden Helligkeit gewichen. Sie wandte ihr Gesicht erneut Frau Wacker zu und sagte gepresst: „Ich weiß allerdings nicht, wo ich mein neues Leben beginnen werde.“ Frau Wacker schüttelte ungläubig den Kopf: „Im Ernst, Sie wissen nicht, wohin Sie wollen?“ Tess nickte. „Ich bin im Hamburger Hauptbahnhof einfach einer jungen Familie mit zwei Kindern gefolgt und in denselben Zug gestiegen. Es hat mich irgendwie an früher erinnert, als meine Kinder noch klein waren. Wir sind oft mit dem Zug nach Bayern gefahren, um meine Eltern zu besuchen. Als der Schaffner vorbei kam, musste ich mich erst einmal erkundigen, wohin der Zug überhaupt fährt. Dieser sah mich total verwundert an und ich kaufte schnell eine Fahrkarte bis Stuttgart. Der Schaffner hat bestimmt gedacht, ich ticke nicht ganz richtig.“

Tess schmunzelte ein wenig und ihr sorgenvolles Gesicht hellte sich etwas auf. Frau Wacker schüttelte den Kopf. „Da haben Sie, glaube ich, den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht.“ „Stimmt“, meinte Tess. „Ich habe total unüberlegt reagiert. Ich hatte nur diesen einen Gedanken, so schnell wie möglich weg! Weg! Im Grunde ist es mir egal, wo ich lande. Dann fahre ich eben nach Stuttgart und suche mir erst mal eine Übernachtungsmöglichkeit. Alles andere wird sich finden!“

Sie hatte sich etwas beruhigt und fühlte sich mit einem Mal sehr mutig. Sie setzte sich aufrecht hin und hob den Kopf. In ihren dunklen Augen blitze eine starke Entschlossenheit auf. Frau Wacker bemerkte die Veränderung und sah sie überrascht an: „Weiter so! Sie schaffen alles, was Sie möchten. Sie sind stark!“

Herr Wacker öffnete gerade mit einer Hand die Tür des Zugabteils und mit der anderen Hand balancierte er vorsichtig ein Tablett, auf dem drei Tassen heißen, dampfenden Kaffees standen. „Im Flur hat es fürchterlich gezogen, ich hoffe, ich bekomme keine Erkältung“, sagte er mit weinerlicher Stimme zu seiner Frau. Er reichte Tess eine Tasse Kaffee, die sie dankend annahm. Sie trank ihn langsam und genüsslich in kleinen Schlücken. Der Kaffee wirkte sofort belebend und Tess spürte die aufsteigende Wärme. „Vielen Dank nochmal. Der Kaffee wirkt wahre Wunder“, begann sie, doch Herr Wacker winkte ab. „Hauptsache, es geht Ihnen dadurch wieder etwas besser“, meinte er und wandte sich fragend an seine Frau.

„Hast du Nasentropfen, Fiebermittel und Magentabletten eingepackt?“ „Franz, jetzt mach mal einen Punkt! Von ein wenig Wind wird man doch nicht gleich krank. Außerdem fahren wir zu unserem Sohn und nicht nach Sibirien!“, wies sie ihn zurecht und dabei bebte ihr großer Busen genervt. Sie holte demonstrativ ein Buch aus ihrer Reisetasche.

„Ich möchte jetzt lesen. Versuche doch, dich ein bisschen auszuruhen“, fügte sie milder hinzu. Sie zwinkerte Tess zu und begann, sich in ihr Buch zu vertiefen. Herr Wacker setzte sich bequem hin, wechselte schnell nochmals den Sitz und schloss tatsächlich die Augen. Seinen Schal behielt er an. Tess verspürte eine gewisse Dankbarkeit gegenüber ihren Mitreisenden, die so viel Takt und Mitgefühl besaßen. Das Gespräch mit Frau Wacker hatte sie beruhigt und bestärkt. Sie kuschelte sich tiefer in ihren Sitz und schloss müde die Augen, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. In Gedanken ließ sie die letzten Tage Revue passieren.

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Nachdem sie beschlossen hatte, ihren Mann zu verlassen, begann sie, das ganze Haus heimlich auf den Kopf zu stellen. Sie suchte nach dem gemeinsamen Sparbuch, das Manfred immer sorgsam vor ihr versteckte. Zimmer für Zimmer ging sie akribisch durch. Im Schlafzimmer hinter seinem Nachttisch wurde sie schließlich fündig. Auf dem Sparbuch befanden sich 60.000 Euro! Sie konnte es nicht fassen, da sie immer mit allem hatte geizen müssen. Tess hatte nicht einmal eine konkrete Vorstellung davon, wieviel er eigentlich verdiente. Davon, so beschloss sie, gehörte ihr die Hälfte. Sie wollte schließlich nur das, was ihr zustand. Schnell steckte sie das Sparbuch wieder zurück in das Versteck. Als Manfred ihr ein paar Tage danach mitteilte, dass er in zwei Tagen länger als sonst arbeiten müsse, fand sie, das sei der perfekte Zeitpunkt, um ihn zu verlassen. Sie rief heimlich bei der Bank an und teilte mit, dass sie 30.000 Euro am übernächsten Tag in bar abheben möchte. Danach setzte sie ein Schreiben an ihren Arbeitgeber auf, mit dem Inhalt, dass sie fristlos kündige. Zwei Tage später war Manfred am frühen Morgen zur Arbeit gefahren und sie begann, sorgsam einen Koffer und eine Reisetasche zu packen. Tess fiel es schwer zu entscheiden, was sie mitnehmen und was sie da lassen sollte. So dauerte das Packen länger, als sie angenommen hatte. Als sie endlich alles Nötige beisammen hatte, durchwanderte sie noch einmal das ganze Haus. Jedes Zimmer und jedes Möbelstück war ihr so unendlich vertraut. Sie nahm von allem Abschied, denn sie wusste, sie würde nie mehr zurückkehren. Wie in Trance zog sie im Flur ihren Mantel über, nahm ihr Gepäck und eilte schnell zur Tür. Die Türklinke in der Hand dachte Tess einen Moment daran, ein paar Zeilen für ihren Mann zu hinterlassen. Doch nach kurzem Nachdenken entschied sie sich dagegen und zog die Tür zu. Vor dem Haus hielt sie kurz inne und sah wehmütig auf ihr Zuhause zurück, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Dieses kleine, unscheinbare Haus mit dem gepflegten Vorgarten strahlte eine gewisse Geborgenheit aus, der sie sich schwer entziehen konnte.

Eine Windböe streifte ihr Gesicht und ein paar Blätter flatterten vorbei. Die Sonne blitzte aus den dunklen Wolken auf und ließ das Haus in goldenem Licht erstrahlen. Dies dauerte nur einen kurzen Augenblick, bevor die Sonne wieder hinter dunklen Wolken verschwand. Abrupt drehte sich Tess um. „Jetzt bloß nicht sentimental werden“, dachte sie und ging entschlossen weiter. Sie hastete zuerst zur Bank, um die Hälfte des Geldes abzuheben. Nervös und zittrig betrat sie die gepflegte Kassenhalle und schaute sich um. Sie war die einzige Kundin. „Gott sei Dank, es ist sonst keiner hier“, dachte sie bei sich. Der Zweigstellenleiter im korrekten grauen Anzug begrüßte sie freundlich und fragte, was er für sie tun könne. Als Tess ihm mitteilte, sie wolle die bestellten 30.000 Euro vom Sparbuch abheben, war es mit seiner Freundlichkeit vorbei. Er versuchte sogar, sie davon zu überzeugen, das Geld lieber gewinnbringend anzulegen. Als er merkte, dass sie auf eine Barauszahlung beharrte, wollte er unverzüglich ihren Gatten kontaktieren. Tess erschrak zunächst und spürte, wie ihr heiß und kalt wurde. Doch nur für einen kurzen Augenblick, dann riss sie sich zusammen, machte den Rücken gerade und hob energisch das Kinn.

Was er sich denn anmaßen würde, das Sparbuch laufe immerhin auf die Eheleute Maier und was sie mit ihrem Geld vorhabe, das ginge ihn dreimal nichts an, machte sie dem Zweigstellenleiter deutlich. Inzwischen hatten einige Leute die Kassenhalle betreten. Verwundert und amüsiert schauten sie zu Tess hinüber. Dem Zweigstellenleiter war die Situation sichtlich peinlich. Schnell lenkte er ein und versuchte sich zu entschuldigen: „Es tut mir leid, ich wollte Sie nur gut beraten und…“ Weiter kam er nicht. Sie setzte sich kerzengerade auf, hob die Brust, bog die Schultern nach hinten. „Am besten, Sie sagen jetzt gar nichts mehr, sonst werde ich mich bei Ihrem Chef über Sie beschweren“, sagte Tess langsam und deutlich in ruhigem Ton und fixierte seine Augen. Das zog. Wortlos zahlte er die 30.000 Euro aus. Tess verstaute alles sorgfältig in ihrer Handtasche, wünschte einen schönen Tag und verließ erhobenen Hauptes die Bank. Draußen blieb sie stehen und atmete tief durch.

„So, das wäre erledigt. Damit kann ich irgendwo einen Neuanfang wagen. Jetzt geht’s zum Bahnhof, nicht dass ich es mir doch noch anders überlege“, dachte sie sich. Sie winkte einem Taxi und ließ sich zum Bahnhof fahren. Als sie dort ankam und das Taxi bezahlte, ging ihr auf, wie viel Geld sie einfach so in ihrer Handtasche mit sich trug. Verunsichert sah sie sich um. Ihr fielen sofort Erzählungen von Bekannten ein, die am Bahnhof oder im Zug bestohlen worden waren. Guter Rat war da teuer. Doch dann kam ihr eine zündende Idee. So schnell es ihr Koffer samt Reisetasche zuließen, strebte sie in Richtung Bahnhofstoilette. Diese fand sie glücklicherweise menschenleer. Dort verstaute sie die meisten Euroscheine erst einmal in ihrem BH. Tess musste kichern, als sie sich ihr T-Shirt wieder überstreifte. Schnell zog sie den Mantel darüber, damit es nicht so auffiel. Als sie vor die Tür der Toilette trat, streiften ihre Blicke die beiden Etagen der sogenannten Wandelhalle des Hamburger Hauptbahnhofs, auf denen sich Läden und mehrere gastronomische Betriebe befanden. Sie begann, an den Läden vorbeizuschlendern. Vor einem kleinen Ledergeschäft blieb sie schließlich stehen und betrachtete interessiert das Schaufenster. „Das ist genau das Richtige“, dachte sie und betrat den Laden. Sie kaufte sich einen Brustbeutel und einen Gürtel, in dem man Geldscheine verstauen konnte. Flugs eilte sie danach wieder auf die Toilette und bestückte Brustbeutel und Gürtel mit Geld. Beruhigter strebte Tess nun zu den acht Fernbahngleisen, allerdings ohne zu wissen, wohin sie wollte. Sie schaute auf die Anzeigetafeln, ohne diese wirklich zu lesen und auf ihre Armbanduhr, ohne die Uhrzeit wahrzunehmen. Sie kam sich unendlich verloren vor zwischen all den Reisenden. Da fiel ihr eine Familie mit zwei kleinen Kindern auf, die sie an früher erinnerte, als ihre Kinder noch klein waren. Sie folgte ihnen, ohne zu wissen warum, bis sie in einen Zug einstiegen. Wie unter Zwang stieg auch sie ein.

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Der Zug ruckelte und Tess öffnete die Augen. „Hallo! Glücklicherweise sind Sie ja aufgewacht!“, rief Frau Wacker. „Wir wollten Sie nicht wecken, aber wir würden uns gerne von Ihnen verabschieden. Wir sind in Hanau angekommen und müssen jetzt aussteigen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft!“ Sie reichte Tess die Hand. Herr Wacker streckte ihr ebenfalls die Hand hin. An seine Frau gewandt bemerkte er: „Auf dem Bahnhof wird es wieder ganz schön ziehen, hast du nicht eine Kappe für mich?“ Frau Wacker zog wortlos eine Baseballkappe aus der Tasche und reichte sie ihm. Tess sah vom einen zum anderen. „Vielen lieben Dank für alles“, sagte Tess leise. „Sie waren genau im richtigen Moment für mich da. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich. Auf Wiedersehen und viel Spaß mit Ihren Enkelkindern.“ Die Eheleute nickten ihr noch einmal zu, dann verließen sie das Abteil und Tess blieb alleine zurück. Sie stand auf und öffnete das Fenster, von dem aus sie auf den Bahnsteig des Hanauer Bahnhofs sehen konnte. Reisende hasteten eilig vorbei, bepackt mit Koffern und Taschen. Herr und Frau Wacker drehten sich um und winkten ihr nochmals zu. Tess winkte zurück. Plötzlich sausten zwei Kinder auf die beiden zu. „Oma, Opa!“, riefen sie wie aus einem Munde. Die Kinder wurden hoch genommen und im Kreise geschwenkt. War das ein Gejohle! Die Eltern der Kinder kamen dazu und umarmten beide zur Begrüßung. Tess wurde es ganz warm ums Herz bei dieser Szene, aber es kam auch ein bisschen Neid auf. Sie seufzte tief, dann schloss sie das Fenster und ließ sich auf den Sitz fallen. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und verließ den Hanauer Bahnhof.

Die Tür des Abteils öffnete sich und eine blonde, junge Frau fragte: „Ist hier noch frei?“ „Ja“, antwortete Tess.

„Tina! Tina!“, brüllte sie auf den Gang hinaus. „Jetzt komm endlich her!“ Sie wuchtete zwei Reisetaschen ins Abteil und verstaute sie notdürftig. Ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren rannte wie ein kleiner Wirbelwind in das Zugabteil. Ihr Kopf war voller kleiner blonder Löckchen und sie hatte rosige Wangen. „Hallo“, plapperte sie fröhlich. „Ich heiße Tina und das ist meine Mama. Wie heißt du denn?“ „Tina, sei nicht so aufdringlich“, ermahnte sie die Mutter. „Ist schon in Ordnung“, beeilte sich Tess zu sagen. „Ich heiße Tess.“ „Habe ich ja noch nie gehört, ist aber schön. Wir fahren zu meiner Tante Pia nach Frankfurt. Wohin fährst du?“, fragte sie. Tess wand sich verlegen: „Ich… ich habe eine Fahrkarte bis Stuttgart und mache da Urlaub“, beeilte sie sich zu sagen. Etwas anderes war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Tinas Mutter lachte: „Jetzt hast du die Tante genug ausgefragt. Komm setze dich neben mich und wir schauen uns das neue Bilderbuch an.“ Tess lauschte eine Weile auf das Geplapper der kleinen Tina, dann blickte sie aus dem Fenster auf die vorbeirasende Landschaft. Der Regen hatte sich gelegt und die dunklen Wolken waren weiter gezogen. Wiesen und Felder wechselten sich ab mit kleinen Ortschaften. Tess schloss die Augen und dachte an ihre eigene Kindheit zurück.

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Aufgewachsen war sie in einer bayerischen Kleinstadt, zusammen mit drei Geschwistern, zwei Brüdern und einer Schwester. Ihr kleinster Bruder, Matthias, nannte sie immer Tess. Theresa konnte er noch nicht aussprechen. Tess fand es lustig, alle anderen auch und so wurde sie bald nur noch Tess gerufen. Ihre Eltern führten einen kleinen Lebensmittelladen, einen richtigen „Tante Emma Laden“. Alle vier Kinder wuchsen behütet auf und wurden streng erzogen. Jeden Abend wurde vor dem Einschlafen mit den Eltern gebetet. Im Radio durften sie keine Schlager hören, nur klassische Musik. Fernsehen war selten erlaubt, höchstens eine Tiersendung unter Aufsicht. Jeden Sonntag ging die Familie gemeinsam in die Kirche zum Gottesdienst. Tess und ihre Geschwister mussten die Eltern schon früh im Laden unterstützen, daher waren Kinobesuche oder Treffen mit Freunden selten. Im Sommer tobten sie gerne durch die saftigen Wiesen und unternahmen manchmal mit dem Vater weite Wanderungen auf die Berge, im Winter fuhren sie Ski und rodelten. Tess schmökerte gerne in Büchern, war gut in der Schule und außerdem musikalisch, weshalb sie Klavier spielen lernen durfte. Als sie älter wurde, war es ihr Wunsch, Bibliothekarin zu werden, doch sie musste eine Lehre als Einzelhandelskauffrau absolvieren, um weiter im Laden ihrer Eltern helfen zu können.

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Plötzlich ertönte laute Musik und Tess öffnete erschrocken die Augen. Die kleine Tina hatte ihren CD-Player eingeschaltet. „Tina, mach sofort leiser und zieh deine Kopfhörer an!“, schalt ihre Mutter. „Entschuldigen Sie, jetzt haben wir Sie geweckt“, sagte sie zu Tess gewandt. „Ist nicht so schlimm. Ich wollte sowieso etwas essen gehen. Wären Sie so nett und würden ein Auge auf meinem Gepäck haben?“ fragte Tess. „Aber natürlich, gerne“, lautete die Antwort. Tess nahm ihre Handtasche und machte sich auf den Weg in den Speisewagen. In den Gängen des Zugs war es drangvoll eng und sie musste sich durch Menschen und Gepäckstücke schlängeln. Der Speisewagen war ebenfalls proppenvoll und alle Tische besetzt. Sie blieb an der Tür stehen und ließ ihren Blick durch den ganzen Raum schweifen. In einer Ecke wurde gerade ein Einzeltisch frei, darauf steuerte sie zielstrebig zu. Sie winkte der Bedienung und bestellte ein Kännchen Kaffee und frische Waffeln.

Um sich die Wartezeit zu vertreiben, begann sie, sich im Speisesaal umzusehen. Am Nebentisch fiel ihr ein Paar mittleren Alters auf. Er trug einen recht konventionellen Anzug samt Krawatte, seine Begleiterin war ziemlich „aufgebrezelt“. Die Dame trug grelle Kleidung und war über die Maßen geschminkt. Tess bemerkte, dass die „Aufgebrezelte“ sie geringschätzig von oben bis unten musterte. „Das kann ich auch“, dachte sie und begann ebenfalls, sie auffällig zu mustern und außerdem sah sie ihr direkt ins Gesicht. Die Frau am Nebentisch wurde rot und drehte schnell den Kopf weg. „Ätsch“, dachte sich Tess und schmunzelte. Sie sah sich weiter interessiert um. Zwei Tische weiter saßen vier junge Leute zusammen, die laut herumalberten. Die restlichen Tische waren von Familien mit Kindern besetzt. Die Bedienung brachte Tess ihren Kaffee und heiße, duftende Waffeln mit Kirschkompott und Sahne. Hungrig machte sie sich über die Waffeln her. Dazu trank sie langsam ihren Kaffee. Ihr fiel erst jetzt auf, wie hungrig sie war. Vor lauter Aufregung hatte sie heute glatt vergessen, etwas zu essen. Gesättigt lehnte sie sich dann zurück und ihr Blick streifte abermals über die vier jungen Leute. „So herrlich jung war ich auch mal und so voller Leben.“ Ihre Gedanken schweiften wieder in die Vergangenheit.

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Nach ihrer Abschlussprüfung zur Einzelhandelskauffrau hatte sie sich entschlossen, ihre Freundin in der Großstadt zu besuchen, wofür sie auch die Zustimmung ihrer Eltern bekam. Sie war 18 Jahre alt und noch reichlich naiv, ein richtiges Landei eben. Freudig erregt fuhr sie mit dem Zug der Freiheit auf Zeit entgegen. Mit ihr im Zugabteil saß damals ein junger, stattlicher Mann. Er sah gut aus, vielleicht ein wenig zu gut. Mit seinem schwarzen Haar und dem dunklen Teint wirkte er wie ein Südländer. Sie bemerkte verwundert, dass er sie unverwandt lächelnd ansah. Sie lächelte schüchtern zurück und bekam heiße Ohren, das konnte sie genau spüren. Verlegen schaute sie aus dem Fenster auf die vorbeirasende Landschaft. Tess war es nicht gewohnt, Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie genoss es. „Wie weit fahre Se denn?“, fragte sie der junge Mann im schwäbischen Dialekt, den Tess spontan lustig fand. „Oh, noch ein ganzes Stück, bis Hamburg“, antwortete Tess und spürte, dass jetzt auch ihre Wangen glühten. Es war ihr ein bisschen peinlich. Der junge Mann schien es nicht zu bemerken und meinte: „Schade, ich fahre nur bis Mannheim. Ich heiße übrigens Fred, Fred Springer. Ich finde es aber schön, dass wir doch noch ein gutes Stück zusammen fahren.“ Tess beeilte sich zu entgegnen: „Ja, das finde ich auch. Ich heiße Theresa Redlich, aber alle nennen mich Tess.“

Er sah ihr tief in die Augen. „Tess, das passt zu Ihnen, es klingt so heiter und fröhlich. Sie haben so lustige Grübchen, wenn Sie lachen und außerdem eine Stupsnase!“ Erst zog Tess die Stirn in Falten, dann musste sie doch lachen. „Von wegen Stupsnase“, protestierte sie. Die Bahnfahrt gefiel ihr immer besser. Sie unterhielten sich prächtig und alberten ausgelassen herum. Kurz bevor er aussteigen musste, tauschten sie die Adressen aus. Sie gab ihm die Telefonnummer und Adresse ihrer Freundin, zu der sie fuhr. Nach so kurzweiliger Gesellschaft war es Tess erst etwas langweilig, doch dann holte sie ihr Buch hervor und vertiefte sich darin.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr der Zug endlich in den Hamburger Bahnhof ein. Ihrer Freundin Maria stand strahlend auf dem Bahnsteig und umarmte sie zur Begrüßung stürmisch. „Hallo Tess, ich freue mich so, dass du mich endlich besuchst. Wir fahren am besten gleich zu meiner Wohnung, ich habe dir so viel zu erzählen.“ Auch Tess freute sich unbändig, Maria endlich wiederzusehen. Sie fand sie kein bisschen verändert seit ihrem letzten Treffen. Maria war klein, wie Tess, nur etwas rundlicher. Die dunklen Haare umrahmten ein herzförmiges Gesicht mit fast schwarzen Augen, die lustig funkelten. Sie und Tess stammten aus dem gleichen Dorf. Vor einem Jahr war Maria einfach so in die Großstadt gefahren und dort geblieben. Ihre Wohnung entpuppte sich als nicht besonders groß, aber urgemütlich. „Bring deinen Koffer in das Zimmer hier links“, sagte Maria, „dann komm erst mal in die Küche. Ich habe Kaffee gekocht.“ Tess stellte ihren Koffer ab und ging in die Küche, die aus zusammengeschusterten Möbeln bestand. Trotzdem strahlte dieser Raum eine spürbare Wärme aus. Maria hatte den Tisch mit Blumen und Kerzen schön gedeckt. Die beiden Freundinnen plauderten ausgelassen, tranken Kaffee, scherzten und lachten. Es gab ja so viel zu erzählen. Tess erfuhr, dass Maria eine gute Stellung als Technische Zeichnerin gefunden und außerdem seit zwei Monaten einen festen Freund hatte. „Morgen wirst du Michael kennenlernen“, sagte sie fröhlich. „Bleib solange du willst, schau dir alles in Ruhe an.“ „Würde ich gerne machen“, meinte Tess stirnrunzelnd, „aber was werden meine Eltern dazu sagen, wenn ich länger als eine Woche bleibe?“ Tess wirkte auf einmal eingeschüchtert. „Du liebe Zeit, schließlich bist du volljährig!“, warf Maria ein, „komm schon, entspann dich.“ „Du hast ja Recht“, seufzte Tess und nahm sich vor, nicht mehr fortwährend an ihre Eltern zu denken.

Sie besichtigte in der darauffolgenden Woche ganz Hamburg und die Zeit verging wie im Flug. Aus einer Woche wurden vier und Tess wollte nicht mehr zurück in die Enge ihres Elternhauses. Es gab zwar einen Riesenkrach mit ihren Eltern, aber das erste Mal in ihrem Leben setzte sie sich durch. Sie fand bald eine Anstellung in einem großen Kaufhaus und begann, in ihrer Freizeit in einem Chor zu singen. Dort gab es einen stillen, jungen Mann, der sie immer besonders nett anlächelte und ihr immer öfter tief in die Augen sah. Hals über Kopf verliebte sich Tess, die noch ganz unerfahren war, in seine blauen Augen und ein Jahr später heiratete sie ihren Manfred. Die ersten Jahre verliefen recht glücklich und Tess war zufrieden und vollauf mit ihren beiden Töchtern, die kurz nacheinander kamen, beschäftigt. Die Töchter wurden älter und sie begann, wieder halbtags in dem großen Kaufhaus zu arbeiten. Maria hatte ihren Michael geheiratet und war nach Berlin gezogen. Die früheren Freundschaften waren größtenteils eingeschlafen, da sich Tess’ Mann zum Stubenhocker entwickelte. Manfred ging nie mit ihr aus, weder zum Essen noch ins Kino. Er ging nicht mal mit ihr und den Kindern gemeinsam spazieren. Außer in die Chorprobe einmal pro Woche kam sie nicht von zu Hause fort. Abend für Abend saß sie zu Hause bei Manfred, der immer schweigsamer wurde. Auch im Bett spielte sich schon lange nichts mehr ab. Tess entwickelte langsam eine immer stärker werdende Wut auf ihren Mann. An manchen Tagen konnte sie ihn einfach nicht mehr sehen, doch sie hielt tapfer durch, um ihren Töchtern eine unbeschwerte Kindheit zu erhalten.

ANKUNFT

Tess war in Gedanken noch ganz weit weg, als sie bemerkte, dass die Bedienung vor ihr stand. „Entschuldigen Sie, ich habe Sie schon zweimal angesprochen. Ich müsste dann kassieren. Wir fahren in den nächsten Bahnhof und da ist meine Schicht zu Ende. Da kommt dann eine neue Kollegin.“ Tess sah sie entschuldigend an: „Tut mir leid, ich war in Gedanken. Was macht es denn?“ „Acht Euro siebzig“, war die Antwort. Tess beeilte sich zu bezahlen. Sie stellte erst jetzt fest, dass sich der Speisewagen merklich geleert hatte. Rasch ging sie zurück in ihr Abteil. „Hallo, Tante“, wurde sie von Tina lachend begrüßt. In der Hand hielt die Kleine ein belegtes Brötchen, in das sie gerade herzhaft hineinbiss. „Willst du auch mal beißen?“, fragte sie. „Das ist lieb von dir, aber ich war gerade etwas essen. Lass es dir schmecken“, lehnte Tess dankend ab und setzte sich auf ihren Platz am Fenster. Der Regen hatte wieder eingesetzt und trommelte auf die Scheiben. Die sanfte Bewegung des Zugs und das stetige Trommeln des Regens ließen sie bald einnicken.

Sie erwachte erst, als eine laute Durchsage aus einem Lautsprecher dröhnte. »Achtung, Achtung! Der Zug aus Hamburg fährt soeben auf Gleis drei ein und hat zehn Minuten Aufenthalt!« Verwirrt schrak sie hoch. Sie hatte so fest geschlafen, dass sie nicht einmal mitbekommen hatte, wann die junge Mutter mit der kleinen Tina ausgestiegen war. Tess blickte aus dem Fenster. Der Zug stand in einem großen, modernen Bahnhof. Dieser gefiel ihr gut und so beschloss sie spontan, hier auszusteigen. Flink schnappte sich Tess ihren Koffer und ihre Reisetasche und wuchtete beides aus dem Zug. Wo war sie eigentlich gelandet? Suchend schaute sie sich um. Sie entdeckte ein Schild, auf dem stand: »Hauptbahnhof Mannheim«. „Ist das jetzt Zufall oder Bestimmung, dass ich in Mannheim gestrandet bin?“, murmelte sie halblaut vor sich hin. „Bei meiner ersten Bahnfahrt ist der hübsche, junge Mann hier in Mannheim ausgestiegen. Das hat eine gewisse Komik.“ Sie stand kichernd auf dem Bahnsteig und kam sich doch ein bisschen verloren vor, inmitten der vielen Reisenden. Stumm eilten sie an ihr vorbei, keiner beachtete sie. Ziemlich ratlos schaute sie umher.

Der Bahnhof war modern und großzügig angelegt mit vielen Läden und kleinen Cafés auf zwei Ebenen. „Was tue ich jetzt bloß als nächstes?“, seufzte Tess leise. Entschlossen nahm sie ihren Koffer und die Reisetasche auf: „Ok, ok, ich brauche erst mal eine Unterkunft!“ Sie ging langsam den Bahnsteig entlang, erreichte die große Schalterhalle und verließ durch den Haupteingang das Bahnhofsgebäude. Einsam stand sie auf dem Bahnhofsvorplatz. Plötzlich schnupperte sie überrascht. Diese Stadt roch völlig anders als Hamburg. Die frische Brise Seeluft fehlte, dafür roch sie, ja was war das denn? Schokolade? Mannheim begrüßte sie tatsächlich mit Schokoladenduft! Woher kam das nur? Überrascht sah sie sich um, aber sie konnte nichts entdecken. Da traf ihr Blick das Schild mit der Aufschrift »Touristeninformation«. Dort würde man ihr bestimmt weiterhelfen können. Sie steuerte zielstrebig darauf zu und fragte am Außenschalter des kleinen Pavillons etwas schüchtern nach einem Hotel. Die geschäftige Dame hinter dem Tresen begrüßte Tess mit einem strahlenden Lächeln und überreichte ihr sofort einen Prospekt, in dem alle Hotels der Stadt verzeichnet waren. Unentschlossen blätterte Tess vor und zurück. „Welches Hotel hier in der Nähe könnten Sie mir denn empfehlen?“, fragte sie. „Na, vielleicht das Hotel »Goldene Gans«, hier ganz in der Nähe, nur eine Querstraße entfernt vom Bahnhof. Sie gehen geradeaus und biegen an der nächsten Straße rechts ab. Sie können es nicht verfehlen“, bekam sie prompt Auskunft. Tess druckste ein bisschen herum, doch schließlich siegte ihre Neugierde. „Darf ich Sie noch etwas fragen? Spielt mir meine Nase einen Streich, oder riecht es tatsächlich nach Schokolade?“ meinte Tess. „Ihre Nase ist ganz in Ordnung. Das ist unsere Schokoladenfabrik. Je nachdem aus welcher Richtung der Wind weht, kommt der Schokoladenduft bis hierher. Ja, ja, Mannheim riecht nach Schokolade“, antwortete sie und lachte herzlich. Tess lachte mit, bedankte sich und machte sich, umweht vom intensiven Schokoduft, auf den Weg zur »Goldene Gans«. Nach wirklich kurzer Stecke erreichte sie das empfohlene Hotel. Von außen, so fand sie, wirkte es unscheinbar, doch beim Eintreten, fühlte sie sich auf Anhieb wohl. In der Hotelhalle standen gemütliche Sitzgruppen, umgeben von großen Pflanzen. Alles wirkte gepflegt und hell. Sie wurde freundlich begrüßt und hatte Glück, das letzte freie Zimmer auf der vierten Etage zu ergattern. Mit dem Lift fuhr sie bequem nach oben. Ihr Zimmer war geschmackvoll eingerichtet, mit einem großen Bett, einer kleinen, blauen Couch samt Sessel, einem Fernseher und daneben ein Toilettentisch mit großem Spiegel. Im Vorraum befanden sich der geräumige Wandschrank und ein angrenzendes Badezimmer. Tess beschloss, sich ein Bad zu gönnen. Sie ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen und fügte duftendes Badeöl, das auf der Ablage bereitstand, hinzu. Während die Wanne sich füllte, packte sie schnell einen Teil ihrer Kleidung aus und stieg dann in das wohlig warme, duftende Schaumbad. Genüsslich schloss sie die Augen. Das tat gut nach der langen Bahnfahrt und sie begann, sich zu entspannen. „Ich hätte nicht gedacht, dass es letztendlich so einfach sein könnte. Ich habe mich endlich, endlich getraut, Manfred zu verlassen“, dachte sie stolz. Sie döste vor sich hin, aber immer wieder tauchten Bilder aus ihrer Ehe vor ihrem geistigen Auge auf.

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Es war ihr Hochzeitstag und Tess hatte zum ersten Mal im griechischen Restaurant, zwei Straßen weiter, zur Feier des Tages einen Tisch reservieren lassen. Sie wollte Manfred, der sonst nie mit ihr ausging, damit überraschen. Sie freute sich wie eine Schneekönigin. Als er wie immer um 16.30 Uhr von der Arbeit nach Hause kam, hatte sie rote Wangen vor Aufregung. Er gab ihr ein flüchtiges Begrüßungsküsschen und pflanzte sich gleich vor den Fernseher. Tess war enttäuscht, er hatte mit keinem Wort ihren Hochzeitstag erwähnt, aber sie hatte auch ihren Stolz. Zwei Stunden später wunderte er sich, dass das Abendessen nicht wie gewohnt auf dem Tisch stand. „Gibt es heute nichts zu essen?“, fragte er vorwurfsvoll. „Nein“, antwortete Tess traurig und ging vor lauter Frust früh schlafen. Er fragte nicht einmal, warum es kein Essen gab, sondern setzte sich ohne ein Wort zu verlieren wieder vor den Fernseher. Nicht das Vergessen des Hochzeitstags, sondern diese Missachtung ihrer selbst, diese Kälte und auch das Nichtreden zermürbten Tess.

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Sie öffnete leicht deprimiert die Augen. „Heute habe ich dieses Leben abgestreift, wie einen drückenden Schuh. Gott sei Dank.“ Mit einem Mal fiel ihr auch ihr langjähriger Arbeitsplatz wieder ein. „Mein Arbeitgeber wird sich bestimmt wundern, dass ich so plötzlich gekündigt habe. Da kommen garantiert Nachfragen per Telefon. Wie ich meinen Mann kenne, ist ihm alles schrecklich peinlich, aber das gönne ich ihm“, dachte sie gehässig und musste kichern. Immer noch vor sich hin kichernd stieg sie aus der Badewanne und zog einen flauschigen Bademantel über. Entspannt und wohlig durchgewärmt legte sie sich aufs Bett und war sofort eingeschlafen.

Als Tess wieder erwachte, war es draußen schon dunkel und sie fühlte sich wunderbar erholt und ausgeschlafen. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch und dachte an ihren Ehemann. Inzwischen müsste er von der Arbeit nach Hause gekommen sein. Sie stellte sich vor, wie er nach ihr rief und dann das ganze Haus absuchte, um verwundert festzustellen, dass sie nicht zu Hause war. Sein Essen war nicht gekocht. „Soll er doch vor seinem Fernseher versauern!“, dachte sie böse. Auf einmal spürte sie, dass sie Hunger hatte, schließlich hatte sie den ganzen Tag nicht viel gegessen. Schnell zog sie frische Kleidung an, kämmte ihr Haar, schminkte sich dezent und ging nach unten. Das Hotel besaß einen gemütlichen kleinen Speisesaal und eine Weinstube. Sie setzte sich an einen freien Tisch im Speisesaal, in dem nur zwei Gäste saßen.

Bei der sogleich herbeieilenden, etwas rundlichen Bedienung bestellte sie ein kleines Menü, das aus Karottensuppe, Lendchen mit Pilzen und Obstsalat bestand. Sie orderte auch noch ein Glas Rotwein und eine kleine Flasche Mineralwasser. Gleich darauf wurden die gewünschten Getränke gebracht. Bis das Essen kam, hatte Tess das Glas Rotwein geleert und spürte prompt den ungewohnten Alkohol in den Knien. Heißhungrig machte sie sich über das Essen her und bestellte danach gleich noch ein Glas Rotwein, um sich etwas Mut anzutrinken. „Schließlich muss ich noch Manfred anrufen und über mein Weggehen informieren“, dachte sie. Jedoch hatte sie nach dem zweiten Glas Rotwein absolut keine Lust mehr auf eine Auseinandersetzung am Telefon. Sie beschloss, stattdessen die nach Schokolade duftende Stadt zu erkunden.

An der Rezeption fragte sie, ob es weit wäre bis zur Innenstadt. Überhaupt nicht, bekam sie zur Antwort. Sie solle bis zur nächsten Ecke gehen, dort rechts abbiegen, dann immer geradeaus bis zum alten Wasserturm. Dort über die Straße und schon wäre sie in der Fußgängerzone mit vielen Läden und Kaufhäusern. Die nette Dame an der Rezeption erklärte ihr auch, dass Mannheims Innenstadt in Quadrate eingeteilt sei, mit einer Ringstraße drum herum. Die Straßen der Innenstadt hätten keine Namen, sondern Buchstaben und Zahlen, z. B. F 2 oder A 3, 1-7. Vom Schloss aus schneide die sogenannte „Breite Straße“ alles nochmals in zwei Hälften. „Das hört sich ja ulkig an“, sagte Tess, „Mannheims Innenstadt ist in Quadrate eingeteilt, genau wie New York?“ „Ja, aber New York genau wie Mannheim, nur ist Mannheim etwas kleiner und älter“, antwortete die Dame an der Rezeption spitzbübisch. Tess schmunzelte. „Sie sagten, Mannheim habe ein Schloss. Ist das Schloss groß und kann man es besichtigen?“ fragte Tess weiter. „Ich habe noch nie davon gehört.“ „Unser Schloss ist das zweitgrößte Barockschloss Europas, doch auch viele Deutsche wissen nichts davon. Etliche Räume sind als Museum hergerichtet und sehr interessant. Allerdings wird das Schloss zum größten Teil als Universität genutzt“, erklärte sie stolz. „Mannheim hat immer noch einen schlechten Ruf als schmutzige Industriestadt. Dabei gibt es hier sehr viel Grün und auch sehr schöne Parkanlagen, wie den Luisenpark und den Herzogenriedpark. Auf Mannheimer Gebiet liegen sogar noch kleinere Wälder“, fuhr sie wie aus der Pistole geschossen fort. „Vielen Dank für diese ausführliche Beschreibung“, beeilte Tess sich zu sagen. „Aber bitte, gerne geschehen!“

Tess drehte sich um und verließ das Hotel. Die Stadt war hell erleuchtet und so fand sie trotz Dunkelheit leicht den beschriebenen Weg bis zum Mannheimer Wasserturm. Staunend stand sie bald auf dem Vorplatz des Wasserturms vor einem schmucken Brunnen mit Tieren als Wasserspeier, die von Tritonen gehalten wurden. Hinter dem Wasserturm konnte sie ebenfalls einen riesigen Brunnen ausmachen, in dem viele bunt beleuchtete Fontänen sprudelten. Dahinter konnte sie schemenhaft schöne, alte Häuser mit Arkaden ausmachen, in denen kleine Läden oder gemütliche Kneipen untergebracht waren. „Das muss ich mir bei Tageslicht genauer ansehen.“ Dann überquerte sie die noch immer lebhaft befahrene Straße und gelangte in die Fußgängerzone. Hier reihte sich Geschäft an Geschäft und eine Menge Leute waren unterwegs. Sie flanierte an den schön dekorierten, hell erleuchteten Schaufenstern vorbei, bis sie zu einem Platz kam, den wieder ein Brunnen zierte. Eine kleine Grünanlage rundete das Ganze ab. Umringt wurde dieser Platz von großen Kaufhäusern. Spontan bummelte Tess durch verschiedene Kaufhäuser. Bald jedoch fühlte sie sich total erschlagen, müde und ausgelaugt. Der aufregende Tag hatte mehr an ihren Kräften gezehrt, als sie sich eingestehen wollte. Schleunigst trat sie den Rückweg ins Hotel an. In ihrem Zimmer angekommen, zog sie sogleich ihre Kleidung aus und ihr Nachthemd an, putze sich kurz die Zähne und fiel wie tot ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen dachte sie noch: „Der heutige Tag war, genau wie mein Seelenleben, ziemlich anstrengend!“

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Am nächsten Tag wachte Tess nach wirren Träumen früh auf. Die Sonne schien diffus durch die nur halb zugezogenen Vorhänge. Tess blinzelte verschlafen und sah sich noch schläfrig um. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Dann jedoch fiel ihr ein, dass sie sich in einem Hotel befand und gestern fluchtartig ihren Mann verlassen hatte. „Es gibt heute kein Frühstück, Manfred. Jedenfalls nicht von mir, ätsch!“, sagte sie laut vor sich hinkichernd.

Es schien ein sonniger Tag zu werden. „Heute werde ich mir bei Tageslicht die Innenstadt ansehen und mich fühlen, als ob ich im Urlaub wäre“, nahm sie sich vor. Sie stand langsam auf, duschte lange, zog sich an und frühstückte ausgiebig. Danach machte sie sich wieder auf, um erneut die Innenstadt zu erkunden. Ihr erster Weg führte sie zurück zum Bahnhof, wo sie sich einen Stadtplan kaufte. Jetzt war sie gerüstet und musste nicht mehr befürchten, sich in der fremden Stadt zu verlaufen.

Sie kam zunächst wieder am Wasserturm vorbei und besah sich nun alles bei hellem Sonnenschein. Staunend bewunderte sie das einzigartige Areal, die unvergleichliche Jugendstilanlage des Friedrichsplatzes und des umgebenden Ensembles. Tess war fasziniert von diesem harmonischen Ambiente. Auch die Springbrunnen und die reich bepflanzen Blumenrabatten um den gepflegten Rasen gefielen ihr sehr. Sie setzte sich eine Weile an den Brunnenrand und genoss die Morgensonne. Dann erhob sie sich und bog abermals in die Fußgängerzone ein. Tess schlenderte langsam weiter. „Aha, das ist laut Stadtplan der Paradeplatz“, las sie. Sie bog nach rechts ab und stieß nach kurzer Strecke auf den Marktplatz.

Nun stand sie beeindruckt vor dem historischen Doppelgebäude mit dem gemeinsamen Turm in der Mitte, das den Marktplatz auf der westlichen Seite abschloss. Auf der rechten Seite des Gebäudes befand sich eine Kirche, auf der linken das Standesamt. Der Platz davor war bestückt mit bunten Marktständen, die allerlei Waren feilboten. Hier herrschte schon geschäftiges Treiben. Obst-, Gemüse- und Blumenstände überwogen, sie sah aber auch welche mit Landbrot, Pfälzer Wurstspezialitäten, Käse, Eiern und Gewürzen, als sie sich dazwischen hindurch schlängelte. Lauter heimische Produkte, vereinzelt gab es auch griechische und türkische Spezialitäten. „Hallo, Frolleinsche, wolle Se emol brobiere wie safdisch mei Erdbeere schmegge?“, wurde sie angesprochen. Verdutzt blieb sie stehen. „Wie bitte“, fragte sie verdattert, „ich habe leider nichts verstanden.“ Die Marktfrau lachte lauthals: „Sie sinn scheins net vun doo, des is halt die Monnemer Sprooch!“ Als sie Tess’ fragendes Gesicht sah, wiederholte sie alles nochmals in Hochdeutsch. Jetzt lachte auch Tess aus vollem Hals: „Das ist für mich schwierig zu verstehen. Ich komme aus Hamburg, aber ich werde mich schon daran gewöhnen. Ihr Dialekt gefällt mir gut. Bitte packen sie mir doch ein halbes Pfund Erdbeeren ein.“ Sie schlenderte weiter über den Markt und hörte jetzt überall genauer hin, ganz begierig auf den ungewohnten Dialekt. Tess ließ sich treiben und genoss den schönen Tag. „Wann bin ich das letzte Mal so unbeschwert durch die Stadt gelaufen? Das ist schon lange her“, dachte sie, „aber es macht Spaß und Spaß will ich in Zukunft öfter haben.“ In einem kleinen Lokal gönnte sie sich ein einfaches, aber schmackhaftes Mittagessen. Auch hier sprach sie die Bedienung im Mannheimer Dialekt an und sie musste zweimal nachfragen, ehe sie verstand. Tess dachte schmunzelnd: „Wenn ich hier bleiben will, werde ich wohl lernen müssen, diesen besonderen Dialekt zu verstehen.“

Am Nachmittag hatte sie die ganze Innenstadt kreuz und quer durchkämmt. Sie sah auf ihre Armbanduhr, da fiel ihr Manfred wieder ein, der jetzt bald von der Arbeit käme und sein Essen wollte. „Da kann er lange warten. Von jetzt ab bin ich nur noch für mich da.“ Trotzdem ließ sie der Gedanke an ihren Mann nicht los. Wie in Trance lief sie langsam den Weg zurück ins Hotel. In ihrem Zimmer angekommen, setzte sie sich auf die Couch und zog sich sogleich die Schuhe aus. Ihre Füße schmerzten höllisch. Sie massierte sie eine Weile und schaute das Telefon an, als habe es eine eklige Krankheit. Schließlich griff sie seufzend und widerstrebend nach dem Telefonhörer. Immer noch seufzend und mit wiederaufflammenden Gewissensbissen wählte sie die Telefonnummer, die bisher auch ihre eigene gewesen war. Aufgeregt hörte sie es etliche Male klingeln, dann meldete sich Manfred. „Maier“, bellte er ins Telefon. „Hallo, hier ist Tess…“, weiter kam sie nicht. „Was ist denn in dich gefahren, wo steckst du bloß?“, schrie er ins Telefon, „ich komme von der Arbeit nach Hause und du bist nicht da. Keine Zeile, was überhaupt los ist. Du bleibst sogar über Nacht weg, ohne anzurufen, oder ist etwas mit den Kindern?“, fragte er plötzlich. „Nein“, antwortete Tess, „mit mir.“ „Wieso mit dir, bist du krank?“ „Nein, im Gegenteil, mir geht es richtig gut, Manfred. Ich habe dich verlassen, ich komme nicht wieder nach Hause.“ „Was soll das, was sind das für Spielchen, bist du verrückt?“, brüllte er mit schriller, sich überschlagender Stimme. „Nein, ich bin endlich aufgewacht und habe festgestellt, dass ich keine Lust mehr auf ein Leben habe, das absolut eintönig vor sich hin rinnt. Tag für Tag dasselbe. Ich bin entschlossen, erst einmal auf Abstand zu gehen. Du hörst zu gegebener Zeit wieder von mir.“ Damit legte Tess schnell den Hörer auf. Eine geraume Weile stand sie unbeweglich im Zimmer. Sie hatte das Gefühl, die Wände würden sie erdrücken. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Dann holte sie ein paarmal tief Luft und atmete kräftig durch. Sie konnte spüren, wie sie sich langsam entkrampfte und sich Erleichterung breitmachte. „So, das war es erstmal. Ich bin stolz auf mich“, lobte sich Tess selbst. „Jetzt muss ich mir nur überlegen, wie es weitergehen soll.“ Nachdenklich runzelte sie die Stirn und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Schließlich reifte schon nach kurzer Zeit ein Gedanke in ihr. „Ich glaube, ich bleibe hier in Mannheim. Die Menschen scheinen nett und aufgeschlossen zu sein. Ich werde mir eine kleine Wohnung suchen, denn auf Dauer ist das Hotel zu teuer. Danach sehe ich mich nach einer geeigneten Arbeit um, von der ich leben kann. Das wird sicher nicht so einfach, aber eine Weile reicht mein Geld aus. Bis dahin wird sich etwas ergeben haben. Ich bin jetzt einfach mal zuversichtlich“, dachte sie. „Früher hätte ich mich das nicht getraut, aber seit gestern ist das anders, außerdem wer A sagt, der muss auch B sagen. Nur Mut!“, murmelte Tess leise vor sich hin.

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