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Der Autor

Martin Musiol (Jahrgang 49) ist als Student ins Hamburger Schanzenviertel, in die Susannenstraße, gezogen, hat dann dort 25 Jahre gelebt, geheiratet, Kinder bekommen. Als Lehrer hat er zeitweise auch in der Schanze gearbeitet, sich dort in einer Elterninitiative und im Sanierungsbeirat engagiert, Anwohner interviewt, die Stadtteilgeschichte erforscht, dokumentiert und fotografiert. Ergebnis sind die beiden Bücher : „Das Buch zur Schanze mit Musik“, 2000 und „Die Wände der Schanze“, 2013.

Jetzt lebt der Autor als freischaffender Künstler in Pinneberg, macht aber regelmäßig Führungen durch sein altes Viertel: „600 Meter und eine Stunde Kriminalgeschichte in der Schanze“

www.mamu-art.net

© 2016 Martin Musiol

Umschlag, Illustrationen, Fotos, : Martin Musiol

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback ISBN 978-3-7345-7192-3
Hardcover ISBN 978-3-7345-7193-0
e-Book ISBN 978-3-7345-7194-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Martin Musiol

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KOPFSTEINPFLASTER
SUSANNENSTRASSE

Geschichte und Geschichten einer Straße im Hamburger Schanzenviertel

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Vorwort

Es begann damit, dass ich mit alten Nachbarn in der Susannenstraße ins Gespräch kam, die mir von früher erzählten und ich hab nachgefragt. Ich versuchte mir die Generationen von Menschen vorzustellen, die vor mir in meiner Altbauwohnung und in der Straße gelebt haben. Vor meinem inneren Auge erschienen die Hafenarbeiter, die Pferdekutscher, Menschen mit dem Judenstern und fallende Fliegerbomben. Damit begann meine Materialsammlung ( 2 Meter Ordner mit Zeitungsartikeln und andere Veröffentlichungen zum Schanzenviertel ) viele Fotos aus 40 Jahren und Interviews.Zwei Bücher über das Schanzenviertel in Hamburg waren Zwischenergebnisse :Das Buch zur Schanze mit Musik, 2000 und Die Wände der Schanze, 2013

Für dies vorliegende Buch entschied ich mich, die vielen Episoden und Geschichten, die alle am selben Ort, der Susannenstraße im Hamburger Schanzenviertel, aber zu verschiedenen Zeiten sich ereignet haben, lebendig zu erzählen. Dafür hab ich Personen und Dialoge erfunden, aber so oder so ähnlich kann es sich zugetragen haben. Jede Geschichte endet in einem „Fakten-Check“, der die jeweilige recherchierte Grundlage zeigt. Personen der Zeitgeschichte und Zeitzeugen treten auf, andere sind erfunden und Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Menschen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für viele Ereignisse bin ich selbst auch Zeitzeuge, da ich von 1973 bis 1998 in der Susannenstraße gelebt habe. Die „Schanze“, wie das Schanzenviertel genannt wird, ist auch über Hamburg hinaus bekannt, einige sagen „berüchtigt“, denn sie ist immer ein „linkes“, aufmüpfiges Viertel gewesen, schon zu Kaisers Zeiten. Entstanden ist ein Hamburger und ein deutsches Geschichtsbuch der letzten 200 Jahre, denn viele Ereignisse haben und hatten Bedeutung über das Kopfsteinpflaster der Susannenstraße hinaus.

Martin Musiol Hamburg, 2016

Inhaltsverzeichnis

Ballermann Mai 2012

Der alte Bebauungsplan 2012

Vorweg zum Schanzenfest

Der lächelnde Mao 1999

Der Volkszähler April 1987

Der Sülzeaufstand 25. Juni 1919

Die Hülsenbeckschen Kinder 1806

Nazizeit, eine Zeitzeugin erzählt bis 1945

Trabi, hellblau 12. November 1989

Null Uhr dreiunddreißig 25.7.1943

Undercover in der Vorweihnachtszeit 21.12.2013

Die Schlacht an der Sternschanze 7.9.1930

Schluss mit dem Theater April 1988

Schwarzer Markt November 1947

Ein gedanklicher Spaziergang ca. 1937 bis 1940

Der letzte Coup des Lords 29.9.1920

Die Unschuld der Krähen 1998

Tulpen und Testosteron 1995

Panzer in der Straße 31. Juli 1977

Fackeln und Trillerpfeifen 11. März 1986

Susanne zeigt sich Januar 1998

Der bläuliche Tod 1892

Ein Weggezogener 2000

Impressionen aus der Susannenstraße

Ballermann Mai 2012

Susanne, langsam werden wir ja zum Spezialfilmteam für die Schanze, das ist jetzt unser dritter gemeinsame Dreh hier.“ Behäbig schultert Peter K. die große Kamera mit dem NDR-Emblem. Die angesprochene Susanne B. schaut nur kurz auf von ihren Karteikarten: „Lebensgefühl im Schanzenviertel, Kneipenszene, Konflikte zwischen Anwohnern und … ja, wem? Ballermänner, das sind die Stich- und Schlagwörter, die wir mitgekriegt haben,“ nuschelt die Journalistin. Wo fangen wir an, jetzt am Sonntag Vormittag?“

„Lass es uns doch ein bisschen enger fassen, ..Wie lebt es sich in ….in der Susannenstraße hier, Susanne, dir zur Ehren, ist doch lustig.“ Peter grinst und tut so, als würde er mit der Kamera Susanne zu einer extremen Nahaufnahme heranzoomen.

Sie hatten ihren NDR-Transporter in der Bartelsstraße geparkt und nun stehen sie auf dieser merkwürdigen Knochenkreuzung in der Susannenstraße. Von links kommt eine Susannenstraßeneinbahnstraße, von rechts kommt eine Susannenstraßeneinbahnstraße und kurz bevor sie zusammenprallen, biegt jede Einbahnstraße vor dem Knochen in einen Bartelsstraßeneinbahnstraßenflügel.

„OK, Peter, mir zu Ehren, du bist nur zu faul, das ganze Schanzenviertel abzulaufen! Geh mal rum und fang ein paar Bilder ein für den Schnitt, aber bitte nicht so viele Schwenks und Unschärfen, etwas Ruhiges, die Wände hier sind schon unruhig genug.“

Sie streckt das Kinn vor und schaut ihn humorlos an und dann hinterher, wie der Kameramann sich etwas breitbeinig mittig auf das Kopfsteinpflaster stellt und eine Totale der Straße filmt.

„Jetzt macht er doch wieder einen Schwenk die Straße entlang!“ stöhnt unsere Journalistin. Sie selbst begibt sich auf die Suche nach einem geeigneten Background für ihre Interviews, bleibt an einem Torweg zu einem Hinterhof stehen, beide Wandseiten die reinsten Kunstwerke aus Graffiti-Tags, Schmierereien, Plakatresten und Streetartpaperkleber. Mittendrin eine große Papiermutter, wie einem Kochbuch der 50iger entsprungen mit einer Sprechblase „Pass bloß auf!“

„Hey, Peter, ich hab den Hintergrund fürs Bild!“

Mehrere Menschen bleiben schon auf der anderen Straßenseite stehen, neugierig, wer hier wohl was filmt.

Unsere Susanne spricht eine blonde Frau an, um die 40, die einen Kopf größer ist als die Filmerin. „Würden Sie mir ein paar Fragen vor der Kamera zur Susannenstraße beantworten?“ „Warum nicht!“ Die Frau hat eine angenehme, tiefe Stimme.

Peter K. ist inzwischen herangekommen und dirigiert die beiden Frauen unter die Papiermutter ins Licht.

„Hier in der Susannenstraße ist die Fläche für die Außengastronomie immer größer geworden, Anwohner befürchten, dass die Straße immer mehr zur Partyzone wird. Kein Ballermann in der Susannenstraße .. steht dort an der Wand.“ moderiert die NDR-Mitarbeiterin in die Kamera. Ihren Kopf hat sie weit in den Nacken geschoben, ihre sonst so leicht arrogant erscheinende „Hochnäsigkeit“ wirkt jetzt grotesk, da ihre Interviewpartnerin so groß ist.

Die Frau, die sich als Mieterin aus der Straße auf dem Weg zum Bäcker zu erkennen gibt, kommt schnell in Fahrt: „ Wir schlafen nach hinten raus, im 2. Stock, wenn hier dann junge Leute stehen und trinken und lachen, dann hat man das Gefühl, die stehen bei uns im Schlafzimmer. Hier wird doch die ganze Spaßgesellschaft reingelotst aus der Metropolregion!“

Unbemerkt hat sich ein älterer, untersetzter Mann mit runzeligem, roten, rundem Gesicht von hinten der Moderatorin genähert und drängt sich ins Bild. Susanne B. wirkt erfreut, vielleicht, weil sich ihre Nackenmuskulatur entspannt und sie den kleineren Eindringling nun von oben herab anschauen kann.

„Diese alten Pisser pissen uns doch dauernd in den Hausflur und zerdeppern Flaschen, ich bastel gerade an so einer Art Elektrozaun, da werden die ihr blaues Wunder erleben“, stößt das Rotgesicht hervor. Die Moderatorin schaut sich etwas hilfesuchend nach ihrem Kameramann um, der ist gerade damit beschäftigt, sich in das Runzelgesicht hinein zu zoomen, deshalb entgeht ihm auch dieser Halbwüchsige mit der FC St. Pauli-Kapuzenjacke und der Schirmmütze mit den Buchstaben ACAB vor dem Frontalhirn. Sein Ins-Bild-Springen und Blöken lassen Peter K. die Kamera hochreißen. Susanne B.´s „ Lass uns aufhören … für heute!“ geht fast unter in der Kakophonie der sich vergrößernden Menschenmenge.

Stefanie F., unsere Anwohnerin aus der Interviewszene hat den kleinen Fernseher im Nähraum ihrer Boutique im Karoviertel aufgestellt, ihn angestellt und Svenja, ihre Tochter, die ab und zu im Laden hilft, nach hinten bestellt. „Heute muss der Beitrag im NDR-Hamburg-Journal kommen, wenn sie ihn nicht ganz gestrichen haben! Ah, da ist sie ja, diese Tussi .“

Die Moderatorin steht erkennbar in der Susannenstraße, es ist abends. Während sie Wörter wie Wandel, Gentrifizierung, Verdrängung, Mietenexplosion spricht, strömen dichtgedrängt meist junge Leute durch den Lichtkegel um Susanne B. herum, viele schauen sich kurz um und feixen in die Kamera, mehrfach bekommt Susanne von hinten „Hasenohren“ und mit der Bierflaschenhand wird gegrüßt. „ Wenn ich in die Schanze ziehe, dann weiß ich doch, was mich erwartet, hier ist eben Party.“, „ Nein, ich wohn hier nicht, hier treff ich meine Leute, irgendwie ein gutes Gefühl und wir mittendrin.“

„Mama, da bist du ja!“ Svenjas Satz lässt Stefanie zusammenzucken und stöhnt: „Wie sieht denn meine Frisur aus? Und hinter mir steht ja Lenny mit seiner AllCopsAreBastards-Käppi, so.... und das war der ganze Beitrag? Das waren doch höchstens 30 Sekunden Susannenstraße!“

Nach der Gebietsreform von 2008 ist das Bezirksamt Altona für das ganze Schanzenviertel und somit auch für die Susannenstraße zuständig. Dem Trend zu mehr Außengastronomie und Partyszenenviertel bediente das Bezirksamt Altona mit einer Vergrößerung der Draußenstellfläche in der Susannenstraße auf das Dreifache. Nach Protesten 2010 von Anwohnern über Lärmbelästigungen bis in die Nacht („Kein Ballermann in der Susannenstraße“) wurde diese Fläche wieder etwas verringert („Ermöglichen des Kinderwagendurchschiebens auf dem Fußweg“). Die Kneipenwirte bekamen dazu die Auflage, Schallschutzschirme anzuschaffen und aufzustellen. Die Belästigungssituation für die Anwohner veränderte sich dadurch aber kaum, da die Geräuschkulisse in der Nacht besonders durch feiernde Szenebesucher entsteht, die sich ihre alkoholischen Getränke aus den offenen Kiosken auch in der Susannenstraße kaufen und umherwandern.

 

Taz 28.01.2010

Elbe-Wochenblatt Mai 2010

Eigenes Erleben

Quartiersnachrichten der STEG Schanzenviertel 45/ 2007

Hamburger Abendblatt , 'Susannenstraße – der Streit geht weiter' ,

26.4.2007

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Der alte Bebauungsplan 2012

Er streicht den alten vergilbten Bebauungsplan glatt und legt den Zollstock genau über die fraktur geschriebene Zeile 'St. Pauli 34 Susannenstraße', liest ab und murmelt: „Zwölf Zentimeter, also beim Maßstab 1:1000, ist die Susannenstraße 120 Meter lang und, wart mal, sieben Meter siebzig breit.“

Er hatte sich hier im Staatsarchiv schon länger in die alten Landkarten über das ehemalige Gelände des Rosenhofs, Pachtgelände des Klosters Harvestehude, eingearbeitet und den Staub eingeatmet. Er hatte erfahren, dass diese Hamburger Straße im ersten Bauabschnitt 1860 angelegt wurde, danach gründerzeitlich bebaut und erst um 1900 Jugendstil beeinflusst bis zum Schulterblatt durchstochen wurde. Im Plan von 1834 war hier nur eine gestrichelte Linie eingezeichnet, ein Feldweg durch die Weiden des Rosenhofs Richtung Altona.

Über die Namensgeberin Susanne fand er eine handschriftliche Randnotiz auf der Karte von 1888 : 'Susanne Bieber, geboren 1846, Tochter des Grundeigentümers Clas Julius Bieber'. Dieser hat also sich selbst in der Juliusstraße und seine Tochter in besagtem Straßenzug verewigt, bevor beide wieder im Dunkel der Geschichte verschwanden, dachte unser Kartenleser, Susanne nur eine Randnotiz.

Die Entdeckung, dass die Susannenstraße von der Bartelsstraße gekreuzt wird, empfand er fast als Kreuzigung, denn das Hamburger Schanzenviertel galt schon zu Kaisers Zeiten als aufmüpfiges, linkes Viertel, nur gab es die Begriffe 'Schanzenviertel' und 'links' noch gar nicht.

Links, linker, am linkesten, auch bei den letzten Bürgerschaftswahlen (2015) wurde hier „Die Linke“ die stärkste Partei, gefolgt von den „Grünen“, SPD knapp dahinter, die CDU bekam weniger Stimmen als die satirische „Partei“, nämlich 2,9 %. Eben hier ist Johann Heinrich Bartels verewigt, der Hamburger Bürgermeister von 1820 bis 1850, der dafür sorgte nach der Franzosenzeit die alte Oberaltenverfassung wieder herzustellen und jegliche Reformbewegung, auch 1848, mit Polizeigewalt im Keim ersticken ließ.

Aber von den heutigen Partygängern in der Schanze erkennt wohl kaum jemand diesen Stachel im Fleisch, sinniert der Suchende im Staatsarchiv. Dabei entdeckt er auf dem knittrigen Papier der Landkarte eine gepunktet-gestrichelte Linie, die sich an der einen Häuserseite entlang der Susannenstraße hinzieht. Die Legende liefert die Erklärung 'Bezirksgrenze', mit einem Mal wird ihm auch klar, warum die Hausnummern so merkwürdig vergeben sind, die eine Straßenseite, die St. Pauli-Seite wird von 1 bis 21 durchgezählt, die Eimsbüttler Seite von 23 bis 43 wieder zurück. Ein schnelles Googeln auf seinem Laptop zeigt ihm, dass selbst google earth damit nicht klar kommt.

Die Susannenstraße mündet oder stößt in den Schulterblatt, hier findet er beim Durchblättern in den unterschiedlichen Kartenwerken mal eine durchgezogene ___________, mal schraffierte //////////, gepunktete …........., gestrichelt-gepunktete .-.-.-.- Grenzlinie quer über die Mündungsschnauze der Susannenstraße am Schulterblatt, das macht ihn neugierig.