Der Zucker-Schneemann

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Hei – wie das draußen schneit!

Weiße Schneeflöckchen tanzen vom Himmel herunter, immer mehr, viele tausend. Ein wunderschönes, weißes Kleid hat die Erde jetzt an.

Brüderchen und Schwesterchen gucken artig aus dem Fenster.

»Lauter Zucker«, ruft die kleine Leni und streckt begehrlich die Zunge aus dem roten Mäulchen.

»Muttchen, dürfen wir in den Garten hinaus, ach bitte ja«, bettelt der Heini.

»Na lauft«, sagt Muttchen lächelnd, »aber schön warm vermummen«.

Brüderchen und Schwesterchen klettern in ihre Pelzgummischuhe, da sehen sie beide wie kleine Bären aus. Eine warme Mütze kriegt der Heini auf, und die Leni ein rotes Käppchen.

Hu – ist das kalt draußen!

Aber Brüderchen und Schwesterchen sind mollig verpackt, die frieren nicht.

Der ganze große Garten, jeder Baum und jedes Zweiglein ist heute aus lauter Zucker. Leni macht den Mund auf und fängt die Zuckerflöckchen, die vom Himmel herunterfliegen, mit der Zunge auf. Die schmecken aber fein!

»Zucker-Schneemann machen, großen Zucker-Schneemann machen«, bittet Schwesterchen.

Da holt der Heini viel, viel Schnee herbei und kullert ihn, bis es ein ganz großer Kloß wird. Die Leni hilft auch. Sie macht einen kleinen Zuckerkloß. Das wird der Kopf von dem Schneemann. Zwei schwarze Kohlenaugen hat er und eine lange Mohrrübennase.

Die Leni hat zuerst ein bißchen Angst und traut sich nicht recht an den großen Zucker-Schneemann heran. Aber Brüderchen nimmt sein Schwesterchen an die Hand, da fürchtet es sich gar nicht mehr.

»Guten Tag, lieber Zucker-Schneemann«, sagt es mutig und macht einen artigen Knicks.

Nun holt der Heini seinen kleinen Schlitten herbei.

Die Leni wird heraufgesetzt und mit einer warmen Decke eingemummt. Brüderchen spannt sich als Pferdchen vor und hui – da fliegt der Schlitten durch den weißen Zucker. Schwesterchen klatscht vor Freude in die Hände, und der Zucker-Schneemann guckt mit seinen schwarzen Kohlenaugen zu. Er möchte auch gar zu gerne Schlitten fahren.

Da – aufgepaßt – ein großer Stein – pardauz, der Schlitten kippt. Brüderchen und Schwesterchen, alle beide liegen im Schnee. Und als sie wieder herauskommen, sehen sie auch wie zwei kleine Schneemänner aus. Der große Zucker-Schneemann aber steht da und lacht.

Da kommt die Minna und bringt den Kindern schöne, heiße Milch in den Garten. Ei – die tut gut!

Der Zucker-Schneemann trinkt einen großen Schluck und macht ganz freundliche Kohlenaugen. Leni leckt inzwischen ein bißchen an seinem Arm, ob er auch wirklich aus Zucker ist.

Aber als Brüderchen und Schwesterchen am nächsten Morgen wieder in den Garten hinauslaufen, da steht kein Zucker-Schneemann mehr da. Nur die liebe Sonne, die vom Himmel herunterguckt, weiß, wo er hingekommen.

Die Weihnachtsrute

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Bis zur Decke reicht der große Weihnachtsbaum. Ei – blitzt das und funkelt das! Hunderttausend Lichter brennen daran. Auf jedem Zweiglein hopst eins. Ach, und die vielen blanken Kugeln und die goldenen Ketten! Das Allerschönste aber liegt unter dem Weihnachtsbaum. Suschen weiß gar nicht, wonach sie zuerst greifen soll.

Die große Lockenpuppe ist fast so groß wie Suschen selbst. Da die feine Puppenstube hat eine richtige kleine Tür, und die Kochmaschine blitzblanke Töpfchen. Aber dahinter – nanu – was ist denn das? Eine Rute – eine Rute mit blauen und roten Fähnchen – nein, die mag Suschen nicht sehen.

»Suschen will die alte Rute nicht«, ruft die Kleine und stößt die Rute fort.

Aber Mutti lacht.

»Das ist keine alte Rute, Suschen, das ist ja eine Weihnachtsrute. Eine Weihnachtsrute haut nicht gleich, die nickt erst dreimal mit dem Kopf hinter dem Spiegel hervor und sagt: ›Sei artig, kleines Mädchen, damit ich nicht hauen muß‹.«

»Suschen ist artig,« sagt die Kleine, »und Suschens Püppchen ist auch artig.«

Ja, Weihnachten sind alle Kinderchen und alle Püppchen artig. Aber nachher vergessen sie das Bravsein auch manchmal.

Nun ist es schon lange her, daß der Weihnachtsbaum gebrannt hat. Suschens Püppchen sieht gar nicht mehr so schön neu aus, und die Puppenstube hat keine kleine Tür mehr. Die ist längst entzwei.

Heute ist Suschen recht unartig. Sie ist eigensinnig und will abends ihre Spielsachen nicht fortkramen. Denke nur mal, das ungezogene Mädchen trampelt mit den Füßchen und schreit: »Suschen will nicht – Suschen will aber nicht!«

»Suschen muß alles schön forträumen, sonst ist Mutti traurig«, sagt die Mutti.

Aber Suschen schreit und trampelt weiter.

»Suschen, es gibt Haue«, droht Mama.

Die Kleine schaut erschreckt zum Spiegel. Da wohnt die Weihnachtsrute und jetzt – Suschen reißt die verweinten Guckaugen auf – jetzt steckt die Weihnachtsrute die roten und blauen Fähnchen hervor und nickt dreimal ernst mit dem Kopf.

Da hört Suschen gleich auf zu trampeln und räumt artig die Spielsachen fort. Die Weihnachtsrute aber geht wieder in ihr Haus hinter dem Kinderstubenspiegel.

Als es Sommer wird, bringt Mutti schöne Kirschen mit vom Markt. Sie legt sie auf den Kinderstubentisch.

Suschen ist allein in der Kinderstube. Sie steht vor der großen Tüte mit Kirschen. Das Fingerchen kratzt am Papier. Ach, wie rot sie sind. Bis zum Abendbrot ist noch schrecklich lange. Nur ein einziges Kirschlein möchte Suschen in den Mund stecken, es sind ja noch so viele da! Schon hält sie eine feine Ohrringkirsche im Händchen. Aber ehe Suschen sie in den Mund schiebt, guckt sie noch ganz geschwind nach dem Spiegel.

Da nickt jemand mit dem Kopf, die Weihnachtsrute schaut wieder aus ihrem Haus heraus.

»Artige Kinder dürfen nur essen, was Mutti ihnen gibt; Kinder, die naschen, haue ich!« Hat das wirklich eben die Weihnachtsrute gesagt?

Suschens Händchen läßt schnell die Kirsche wieder in die Tüte fallen. Artig spielt sie bis zum Abendbrot. Da schmecken die Kirschen, die Mutti gibt, nochmal so gut.

Jedesmal, wenn Suschen unartig sein will, steckt die Weihnachtsrute ihren Kopf hervor. Dann ist Suschen gleich artig. Und als der Weihnachtsbaum wieder brennt, da ist Suschen das ganze lange Jahr immer brav gewesen und hat keine Haue bekommen. Ja, daran ist nur die Weihnachtsrute schuld!

Nesthäkchen und ihre Puppen

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1. Puppenmütterchen
2. Was der Osterhase bringt
3. Wie es Puppe Gerda bei Nesthäkchen gefiel
4. Wir reisen nach Amerika – hurra!
5. Nesthäkchen macht schlechtes Wetter
6. Maikäfer, fliege
7. »Herr Doktor, mein Kind ist so krank!«
8. Dudel-Dudel-Leierkasten
9. »Morgen wird gefegt!«
10. Der Mohrenkopf
11. Knabber – knabber – Mäuschen
12. Schiffer-Lenchen
13. Nesthäkchen geht auf Reisen
14. Kikeriki – der Hahn ist schon wach
15. »Kommt ein Vogel geflogen«
16. Im Kindergarten
17. Tap – tap – Knecht Ruprecht kommt
18. Puppenweihnachten
19. Die neue Schulmappe

Kapitel 1.
Puppenmütterchen

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Habt ihr schon mal unser Nesthäkchen gesehen?

Es heißt Annemarie, Vater und Mutti aber rufen es meistens »Lotte«. Ein lustiges Stubsnäschen hat unser Nesthäkchen und zwei winzige Blondzöpfchen mit großen, hellblauen Schleifen. »Rattenschwänzchen« nennt Bruder Hans Annemaries Zöpfe, aber die Kleine ist ungeheuer stolz auf sie. Manchmal trägt Nesthäkchen auch rosa Haarschleifen, und die Rattenschwänzchen als niedliche, kleine Schnecken über jedes Ohr gesteckt. Doch das kann es nicht leiden, denn die alten Haarnadeln pieken. Sechs Jahre ist Annemarie vor kurzem geworden, ihre beiden Beinchen stecken in Wadenstrümpfen und hopsen meistens. Keinen Augenblick stehen sie still, geradeso wie ihr kirschrotes Mäulchen. Das schwatzt und fragt den ganzen lieben Tag, das lacht und singt, und nur ganz selten mal verzieht es sich zum Weinen.

So sieht unser Nesthäkchen aus, und wenn ihr in Berlin lebt, könnt ihr es jeden Tag mit Fräulein in den Tiergarten gehen sehen.

In einem schönen, großen Hause wohnt Klein-Annemarie, in einer langen Straße, durch die elektrische Bahnen bimmeln. Ein Gärtchen ist vor dem Hause, aber keiner darf hinein, das erlaubt der Portier nicht. Er selbst aber kann sooft darin herumspazieren, wie er nur Lust hat, das Gras schneiden, die Beete begießen und sogar das Gitter mit schöner neuer Ölfarbe anstreichen. Darum glaubt Annemarie, daß der Portier beinahe so viel ist wie der Kaiser. Und wenn sie nicht Muttis Nesthäkchen wäre, dann würde sie am allerliebsten Portier sein. Manchmal aber auch Konditor.

Zwei größere Brüder hat Annemarie, den wilden Klaus, der nur zwei Jahre älter ist als sie, und den großen Quartaner Hans, der sogar schon Latein kann. Ihr Hänschen liebt die Kleine über alles, wenn er sie auch öfters mal neckt, während es mit Kläuschen nur allzuoft Krieg gibt.

Ach, was ist das für ein schönes, warmes Nest, in dem das Nesthäkchen daheim ist. Wenn der Vater abgespannt von der Praxis nach Hause kommt, denn Annemaries Papa ist ein viel beschäftigter Arzt, und sein kleines Mädchen springt ihm jubelnd an den Hals, dann hat er alle Müdigkeit vergessen. Er lacht und scherzt mit ihr, ja, er setzt sie sogar auf seine Schultern und reitet mit dem jauchzenden Ding durch sämtliche Zimmer. Sagt Mutti dann: »Du verwöhnst unsere Lotte zu sehr, Vater, sie ist schon viel zu groß dazu«, dann drückt er seinen Liebling nur um so fester ans Herz und meint lächelnd: »Es ist doch unser Kleinstes!«

Wenn aber der Vater mal davon anfängt, daß es nun auch für Annemarie bald Zeit sei, in die Schule zu gehen, dann breitet Mutti ihre Arme um das Töchterchen und bittet: »Laß sie mir doch noch ein Weilchen zu Hause, sie ist ja so zart und doch unser Nesthäkchen!«

Ja, Nesthäkchen wird von allen Seiten ein wenig verwöhnt. Wenn Fräulein auch noch so viel zu tun hat, sie wird nicht müde, Annemies tausend Fragen zu beantworten. Dafür hat die Kleine aber auch ihr Fräulein ganz schrecklich lieb.

Hanne, die Köchin, schmunzelt über das breite, rote Gesicht, wenn Annemie ein bißchen zu ihr in die Küche herauskommt, weil sich die Hanne so ganz allein am Ende langweilen könnte. Ob das kleine Fräulein ihr auch noch so zwischen ihren Töpfen, Löffeln und Quirlen kramt, Hanne wirft Annemarie nicht raus. Dabei macht sie doch mit den beiden Jungen nicht viel Umstände und bringt sie öfters mal auf den Trab.

Auch Frida, das Stubenmädchen, läßt sich die Gesellschaft der Kleinen beim Plätten, Maschinenähen und Stubenbohnern gern gefallen.

Der gute Bruder Hans findet trotz seiner vielen Schularbeiten noch Zeit, dem Schwesterchen Schiffchen zu machen und Kreiselstöcke zu fabrizieren.

Nur Klaus meint, daß Annemie zu sehr verwöhnt wird und ist für strengere Erziehung. Aber meistens endigt diese mit einer Balgerei.

Puck, das niedliche Zwerghündchen, und Mätzchen, das zitronengelbe Vögelchen, zeigen ebenfalls eine besondere Vorliebe fürs Nesthäkchen. Puck läßt sich geduldig von ihm Ohren und Schwänzchen zausen und ist stets zu allen Spielen bereit. Mätzchen aber singt jubelnd mit der Kleinen um die Wette.

Wer aber, glaubt ihr wohl, hat Klein-Annemarie am liebsten im ganzen Hause? Vater und Mutti natürlich, und dann – alle ihre Puppen.

Die ziehen den Mund vor Freude von einem Ohr zum andern, sobald das kleine Mädchen in die Kinderstube tritt. Was ist Annemie aber auch für ein gutes Puppenmütterchen! Jedes Kind ihrer zahlreichen Puppenfamilie hat sie in ihr zärtliches Herz geschlossen.

Da ist zuerst Irenchen, das ist ihre Älteste, denn sie besitzt schon eine Schulmappe mit Schiefertafel und Heften. Irenchen macht ihrer kleinen Mama jetzt viel Sorge. Sie hat ihre schönen roten Backen verloren, seitdem Nesthäkchen ihr neulich das Gesicht mit Bimsstein abgescheuert hat. Das Puppenkind sollte zum erstenmal mit Tinte schreiben, und hatte dabei die Nase zu tief in das Schulheft gesteckt, über und über hatte sie sich mit Tinte eingeschmiert, das unbedachtsame Irenchen, und die weiße Schürze ihrer kleinen Mama dazu. Annemarie schalt auf Irenchen, und Fräulein schalt auf Annemie. Fräulein begann Annemies Tintenschürze mit Zitrone zu bearbeiten, und Annemie das Tintengesicht ihres Irenchens mit Bimsstein. Au – tat das weh! Irenchen schrie wie am Spieß. Aber energisch rubbelte Nesthäkchen weiter, denn »wer nicht hören will, muß fühlen«. Ganz blaß ist das arme Puppenkind noch davon, und Annemie meint bekümmert zu Fräulein: »Ich glaube, die Schulluft bekommt dem Kinde nicht!«

Auch um Mariannchen, das zweite Töchterchen, sorgt sich Nesthäkchen. Die Kleine hat seit einigen Tagen eine schwere Augenkrankheit und muß sicher nächstens in eine Puppenklinik. Die Schlafaugen sind fest zugeklebt und gehen nicht mehr auf. Und das schlimmste ist, daß die kleine Mama selbst die Schuld an der Krankheit trägt. Oder vielmehr Klaus, denn der hat ihr geraten, dem Kinde richtige Wimpern mit flüssigem Gummi anzukleben. Und nun sind Mariannchens Augen ganz verkleistert, oder vielmehr »vereitert«, wie der vierbeinige Doktor Puck mit bedenklichem Schwanzwedeln feststellte.

Ja, solch kleines Puppenmütterchen hat schon seine Sorgen mit soviel Jören! Der Puppenjunge Kurt ist ein furchtbar wilder Strick, kein Tisch ist ihm zu hoch, um davon herunterzuspringen. Bald zerschlägt er sich die Nase, bald hat er ein tiefes Loch im Kopf, und einen halben Fuß hat er sich auch schon abgeschlagen, der Schlingel.

Die schwarze Lolo, das Negerkind, muß wohl die Unsauberkeit und Unordentlichkeit aus ihrer Heimat Afrika mitgebracht haben. Wenn Annemarie sie eben erst sauber angezogen hat, im nächsten Augenblick hat sie sich schon wieder schmutzig gemacht. Bald verliert sie einen Schuh, bald einen Strumpf. Neulich sogar die Höschen! Mitten im Tiergarten war’s, Klein-Annemarie hat sich schrecklich geschämt, denn sehr weiß waren sie auch nicht mehr.

Am bravsten ist noch Baby. Das läßt seine Mama die ganze Nacht ruhig schlafen, höchstens am Tage schreit es mal, aber auch nur, wenn es allzusehr auf den Bauch gedrückt wird. Annemie verzieht Baby ein bißchen, na, dafür ist es ja auch ihr Nesthäkchen.

Aber trotz aller ihrer Fehler liebt Annemarie ihre Kinder wie eine richtige kleine Mama. Den ganzen Tag plagt sie sich für sie. Kaum hat sie morgens früh Irenchen in die Schule gebracht und die anderen angezogen, verlangt Baby auch schon nach seinem Fläschchen. Dann sind die Betten der Kinder zu machen, die beiden Großen schlafen in dem weißen Himmelbett, die beiden Kleinen, Lolo und Baby, im Wagen, und Kurt in der umgekippten Fußbank. Die ist wenigstens nicht so hoch, wenn er rausfällt.

Beim Aufräumen der Kinderstube hilft Nesthäkchen Fräulein fleißig; es hat einen kleinen Besen mit Schaufel und einen Schrubber nebst Eimer und Scheuertuch. Auswischen tut Annemie für ihr Leben gern. Aber Fräulein erlaubt es nicht oft, denn sie setzt die ganze Stube dabei unter Wasser, es gibt jedesmal eine Überschwemmung. Beinahe wäre neulich ihr Kurt, der sich unterm Spielschrank versteckt hatte, dabei ertrunken.

Eine reizende Puppenküche hat Klein-Annemarie, mit Kohlenkasten, Wasserleitung und Spiritusherd, aber Mittagbrot kochen kann sie ihren Kindern nur, wenn’s regnet. Die Puppen sind auch so vernünftig, bei schönem Wetter keinen Hunger zu haben. Sie wissen, daß ihre kleine Mama, wenn die Sonne scheint, in den Tiergarten spazierengehen muß. Oft nimmt Nesthäkchen eins oder zwei ihrer Kinder mit und fährt sie in dem feinen weißen Puppenwagen mit der rosa Seidendecke aus. Dann setzt sie ihnen Spinat vor, frisch gepflückt vom Rasen. Auch Kieselsteinbraten vertragen sie merkwürdig gut, wenn er auch noch so zäh ist.

Die armen Zuhausegelassenen aber werden in ihr Gärtchen, aufs Blumenbrett, gesetzt, damit sie auch ein bißchen Luft schnappen. Nur Kurt nicht, der Bengel ist zu wild und würde sicher in den Hof herunter Purzelbaum schießen.

Auch waschen und plätten muß Annemie für ihre Kleinen, ja, sie verbrennt sich sogar die Händchen dabei vor lauter Eifer. Denn das kleine Plätteisen wird auf dem Herd heiß gestellt, anders tut das Hausmütterchen es nicht.

Nächstens soll auch große Puppenschneiderei stattfanden, Annemarie hat zu ihrem Geburtstag eine allerliebste kleine Nähmaschine bekommen. Fräulein will ihr zeigen, wie man darauf näht. Dabei hat sie auch noch den Kaufmannsladen und die Mehlhandlung zu bedienen, wenn Klaus gerade keine Lust dazu hat, oder wenn sie sich beide gezankt haben.

Und Mutti will ihr Nesthäkchen doch auch ein bißchen um sich haben, wirklich, Annemarie weiß oft gar nicht, was sie von all ihren vielen Arbeiten zuerst machen soll.

Sie kann sich gar nicht denken, daß es kleine Mädchen gibt, die sich manchmal langweilen.

Kapitel 2.
Was der Osterhase bringt

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Es war am Ostersonntag, ganz früh am Morgen. Golden schien die liebe Sonne vom Himmel, gerade in Nesthäkchens Kinderstube hinein.

Die Puppen lagen alle noch in festem Schlaf. Kurt schnarchte wie ein Murmeltier, und auch Lottis Fräulein schlief noch.

Nanu – die Sonne begann erstaunt zu blinzeln – was sollte denn das bedeuten?

Aus dem weißen Kinderbett in der Ecke sprang, vorsichtig nach dem schlafenden Fräulein herüberschauend, ein kleiner Hemdenmatz mit zwei blonden Rattenschwänzchen. Eins, zwei, drei, huschte er leise durch das Zimmer, geradeswegs zum Fenster, und kletterte dort behutsam auf den Kinderstuhl.

Was hatte denn Nesthäkchen bloß in aller Herrgottsfrühe schon auf den Hof hinunterzugucken? Die Portierkinder, mit denen sie gut Freund war, schliefen doch noch alle.

Die Sonne machte ein mißbilligendes Gesicht. Den Tod konnte sich das barfüßige kleine Ding ja bei seiner Frühpartie holen oder doch wenigstens einen tüchtigen Schnupfen.

Nein, das gab die liebe Sonne nicht zu, daß Klein-Annemarie an den Osterfeiertagen krank im Bette liegen mußte.

Schnell nahm sie ein paar ihrer spitzen Goldstrahlen und begann Fräulein damit unter die Nase zu krabbeln, einmal und noch einmal.

»Hatschi!« nieste Fräulein und schlug die Augen auf. Da sah sie zu ihrer Verwunderung am Fenster auf dem Kinderstuhl ein ausgekniffenes Hemdenmätzchen thronen, das Stubsnäschen gegen die Scheiben gepreßt.

»Kind – Annemie – willst du wohl gleich wieder ins Bett, es ist ja noch nicht mal sechs!« rief sie ärgerlich.

»Ach, Fräulein,« Annemarie fuhr erschreckt zusammen, »warum bist du bloß aufgewacht! Ich wollte doch so schrecklich gern mal den Osterhasen sehen, ob er auch recht viel Eier für mich hat.«

»Wenn du so unartig bist und heimlich aus dem Bett kletterst, bringt dir der Osterhase überhaupt keine Eier. Der kommt nur zu artigen Kindern. Flink zurück ins Bettchen, Annemie, daß du nicht etwa krank wirst«, mahnte Fräulein.

»Woher weiß der Osterhase denn, ob ich artig bin?« erkundigte sich das Barfüßchen.

»Er läßt es sich von allen Muttis und Fräuleins erzählen«, gähnte Fräulein.

»Hat er dich auch schon danach gefragt?«

»Ja–a–a–u–uh«, Fräulein gähnte herzbrechend.

»Wann denn?« Nesthäkchen spitzte die Ohren.

»Hör’ jetzt endlich mit dem ewigen Gefrage auf und gehe in dein Bett, Annemie, oder soll ich erst böse werden?«

»Nein, nein, aber mein liebstes, bestes, allersüßestes Zuckerfräulein, sag’ mir doch bloß noch, wann der Osterhase dagewesen ist, dann gehe ich auch gleich wieder artig ins Bett«, schmeichelte die Kleine.

»Heute nacht.« Fräulein konnte den Bitten der kleinen Schmeichelkatze nicht widerstehen.

»Heute nacht, da hast du wohl mit ihm aus dem Schlaf gesprochen, Fräulein?« verwunderte sich die Kleine.

Aber als Annemie jetzt endlich den Rückzug in ihr Bettchen antreten wollte, da jauchzte sie plötzlich laut auf, daß sämtliche Puppen entsetzt aus dem Schlaf hochfuhren, und Kurt vor Schreck fast aus seiner Fußbank gekegelt wäre.

»Fräulein, der Osterhase, da ist er, ganz deutlich habe ich ihn gesehen.« Die Kleine wies aufgeregt aus dem Fenster. Schwarz war er, und einen langen Schwanz hat er gehabt, und mit einem Satz ist er drüben über das Dach gesprungen.«

»Du Schäfchen, das war sicher der schwarze Kater von unserm Portier.« Jetzt mußte Fräulein doch lachen.

»Der Kater – bewahre – das war der Osterhase!« Annemie ließ sich so leicht nicht etwas ausreden. Auch als sie wieder im Bett lag und ihre Blauaugen gerade müde zuklappen wollten, murmelte sie noch im Einschlafen: »Und es war doch der Osterhase!«

Ein Weilchen darauf spähte die liebe Sonne aufs neue in die Kinderstube hinein, ob dort nun endlich Ruhe herrschte. Da schlief die ganze Gesellschaft wieder, und der richtige Osterhase konnte, unbeobachtet von neugierigen Kinderaugen, all seine Schokoladen-und Marzipaneier verstecken.

Das war eine schwierige Sache für Fräulein, heute Nesthäkchen anzukleiden. Sehr still hielt der kleine Wildfang ja niemals, aber heute war die Annemarie in allen vier Ecken der Kinderstube zu gleicher Zeit. Am Ende hatte Fräulein bloß nicht aufgepaßt, und der Osterhase hatte doch ein paar Eier ins Kinderzimmer gelegt.

Während Fräulein ihr die blonden Kraushärchen entwirrte, was niemals eine sehr angenehme Aufgabe war, entwischte sie ihr dreimal.

Wutsch – war sie in dem Schuhschrank drin, wo sie sämtliche Schuhe und Stiefel nach Ostereiern durchstöberte. Fräulein mit Kamm und Bürste hinterdrein.

Dann, als das erste Zöpfchen halb geflochten war, fiel es Annemie plötzlich ein, sicher würde sich etwas in der Puppenküche finden. Heidi – kramte sie auch schon dort das Unterste zu oberst, Fräulein mit Kamm und Bürste hinterdrein.

Aber als die Kleine plötzlich, gerade da die große, hellblaue Schleife das zweite Zöpfchen schmücken sollte, hast du nicht gesehen, auf den großen Tisch kletterte, um auf den Ofen nach Ostereiern zu spähen, da konnte Fräulein mit Kamm und Bürste nicht hinterdrein. Auf den Tisch konnte sie unmöglich klettern. Sie machte ein unzufriedenes Gesicht, bis Annemie sich ihrem Fräulein mit Küssen und Streicheln an den Hals hängte und versprach, sich nun aber wirklich ganz artig anziehen zu lassen. Das tat sie auch, denn so klein sie auch war, das wußte die Annemarie: Was man verspricht, muß man halten!

»Na, endlich ausgeschlafen, Lotte?« begrüßte sie der Vater, als Nesthäkchen am Kaffeetisch erschien.

»Ach, Vatchen, ich habe heute morgen schon den Osterhasen übers Dach springen sehen«, erzählte Annemarie eifrig.

»So?« fragte der Vater ernsthaft.

Der vorlaute Klaus aber rief: »Es gibt ja gar keinen Osterhasen, bist du noch ein dämliches Ding, nur ganz gewöhnliche Hasen gibt es.«

»Das ist nicht wahr, du lügst!« begehrte das Schwesterchen auf.

So etwas wollte sich der Klaus nun wieder nicht sagen lassen, er griff nach Annemies frisch geflochtenen Zöpfchen, und es wäre an dem schönen Ostersonntag wohl zu einer regelrechten Schlacht gekommen, wenn Mutti nicht gerade das Zimmer betreten hätte.

»Ei, Kinder, ist das unser Feiertagsfrieden?« fragte sie vorwurfsvoll.

Da ließen die kleinen Kampfhähne beschämt voneinander ab, und Nesthäkchen sprang zu Mutti, um sich ihren Gutenmorgenkuß zu holen.

Gibt es wohl noch etwas Schwereres im Leben, als zwei große Tassen Kakao austrinken zu müssen, während man ganz genau weiß, daß im Nebenzimmer die schönsten Ostereier auf einen warten?

Endlich – endlich war die Tasse leer, und nun war Klein-Annemarie auch nicht mehr zu halten.

»Mutti, dürfen wir jetzt – bitte, bitte, laß uns gleich Ostereier suchen!«

Und kaum hatte Mutti der kleinen Ungeduld nur ein ganz klein wenig zugenickt, bautz – da lag Nesthäkchen auch schon der Länge nach drin im Wohnzimmer unterm Sofa und strampelte vor Aufregung mit beiden Beinen.

»Hurra – hurra, drei Stück, halt, dort unterm Notenschrank ein ganz großes, da – unter der Blumentreppe wieder eins!« Annemarie blieb in einem Jubel. »Nein, Klaus, das hier habe ich zuerst gesehen, das gehört mir!« Diesmal ging es ohne Kampf zwischen den beiden ab, aber nur, weil der große Hans inzwischen eifrig weitersuchte, und dem wollten die zwei doch nicht alle andern Eier überlassen.

Gerade als Annemie ein wunderhübsches grünes Nest mit kleinen Marzipanküken bewunderte, bei dessen Auffinden der gute Vater ein wenig geholfen hatte, und als er ihr vorlas, daß auf dem angehefteten Zettelchen stand: »Für unser Nesthäkchen«, hörte man nebenan einen lauten Krach.

Klirr – da lag Muttis schöne Vase in Scherben. Der ungestüme Klaus war mit dem Kopf dagegengestoßen. Zur Strafe wurde er vom Ostereiersuchen ausgeschlossen und in sein Zimmer geschickt.

Nesthäkchen aber dachte heimlich: »Sicher hat der Osterhase das so eingerichtet, weil Klaus gesagt hat, daß es gar keinen gibt.«

Doch Annemie hatte jetzt lange nicht mehr die Freude an dem lustigen Suchen wie vorher, obgleich sie noch so viele schöne Eier fand, sogar eins mit Murmeln und eins mit Puppentäßchen gefüllt. Sie mußte immerfort daran denken, wie traurig der arme Klaus jetzt wohl im Jungenzimmer sitzen mochte. Er tat ihr ganz schrecklich leid, trotzdem er doch stets mit ihr Streit anfing.

Als kein Winkelchen mehr undurchstöbert war, und Annemarie in ihrem Körbchen fünfzehn Ostereier zählte, eine ganze Mandel, wie Fräulein sagte, schlich sie sich heimlich in das Jungenzimmer.

Klaus saß an seinem Arbeitspult und hatte die Fäuste in beide Augen gebohrt.

»Kläuschen,« die Kleine kam schüchtern näher, »sieh mal, wieviel Ostereier ich habe, da, suche dir welche davon aus, weil ich doch solche Menge gefunden habe.«

Der Junge sah erstaunt auf. Zuerst glaubte er, Annemie mache nur Spaß, aber als das gute Schwesterchen ihm wirklich ihr Körbchen hinhielt, nahm er sich das Ei mit den Murmeln heraus und streichelte Annemies rundes Gesichtchen.

»Du bist ein guter Kerl!« sagte er dabei.

Nun erst hatte Nesthäkchen volle Freude an den Gaben des Osterhasen, weil auch Klaus sich freuen konnte. Jubelnd tanzte das kleine Mädchen durch die ganze Wohnung.

»Hanne, ich habe eine ganze Mandel Ostereier gefunden!« so klang es zur Küchentür hinein, und im nächsten Augenblick sprang Annemie der mit dem Besen vorüberfegenden Frida huckepack auf den Rücken: »Fridachen, wenn Sie mich ein bißchen mit der Teppichmaschine auskehren lassen, schenke ich Ihnen eins von meinen fünfzehn Ostereiern.«

Aber sie hatte keine Zeit mehr, Fridas Antwort abzuwarten, denn Puck mußte doch erfahren, daß sie zehn Schokoladeneier, vier aus Marzipan, eins mit Puppentäßchen, und dazu noch das süße Kükennest gefunden hatte. War der arme Wicht doch schon den ganzen Morgen aus dem Zimmer gesperrt worden, damit er nicht auf eigene Faust Ostereier suchen sollte und sie am Ende gar belecken.

»Puckchen, sieh mal, was ich hier habe.« Lachend kauerte Annemarie sich zur Erde und wies dem Hündchen ihre süßen Schätze. Aber Nesthäkchens Lachen wandelte sich plötzlich in Weinen, denn der undankbare Puck begnügte sich nicht mit Anschauen – schnapp – hatte er das größte Schokoladenei im Maul und verkroch sich damit unters Sofa.

»Du abscheulicher Puck!« Annemie raste weinend hinter ihm her, um ihm seinen Raub wieder abzujagen.

Aber Bruder Hans, der den kühnen Diebstahl mitangesehen und sich die Seiten vor Lachen hielt, zog sie an einem Wadenstrümpfchen wieder unter dem Sofa hervor.

»Laß der Hundetöle das Osterei, Annemie, du kannst es ja jetzt doch nicht mehr essen«, tröstete er.

Doch als Nesthäkchens Tränen weiterflossen, holte der gute Hans eins von seinen eigenen Ostereiern und legte es in Schwesterchens Korb.

Nun war endlich wieder Sonnenschein bei Klein-Annemarie. Spornstreichs ging es in die Kinderstube, um den Puppen ihre Ostereier zu zeigen. Die fraßen ihr sicher nichts weg.

Da klingelte es.

Mutti hatte streng verboten, daß Annemie selbständig die Eingangstür öffnete, weil viele Patienten zum Vater kamen. Aber da das kleine Fräulein recht neugierig war, spähte es durch den Türschlitz, durch den die Briefe geworfen wurden. Da sah es denn einen dunkelgrünen Damenmantel und eine Hand mit einem silbergrauen Täschchen, das ihr merkwürdig bekannt vorkam. Und da die Hand überdies ein verheißungsvolles Paket hielt, fragte Nesthäkchen ganz leise durch die Tür:

»Wer ist da?«

»Der Osterhase«, klang es ebenso leise mit verstellter Stimme zurück.

»Frida – schnell – Frida, der Osterhase ist draußen!« Die Kleine konnte es nicht erwarten, bis die Tür geöffnet wurde.

Da stand zwar nicht der Osterhase, aber eine, die Annemie ebenso lieb war – Großmama.

»Guten Tag, mein Herzchen, warum läßt du denn den Osterhasen nicht rein?« Zärtlich hob Großmama das federleichte Dingelchen zu sich empor.

»Weil Mutti es nicht erlaubt, und du ja auch gar keiner bist«, lachte das Enkelchen.

»So – wenn ich kein Osterhase bin, dann kann ich dir wohl auch kein Osterei bringen?« Großmama versteckte scherzend das Paket auf dem Rücken.

»Ach, du bist meine liebste, beste Osterhasen-Großmama, aber nun zeige mir auch, bitte, bitte, was in dem Paket drin ist.« Annemie unterstützte ihre Bitten mit Streicheln und Küssen auf Großmamas grünem Mantel.

Aber dessen hätte es gar nicht einmal bedurft, denn wer in Nesthäkchens bettelnde Blauaugen sah, konnte nicht widerstehen, wenn er auch keine Großmama war.

Dauerte das lange, bis das dumme Papier endlich ab war. Ein großer Karton kam zum Vorschein. Halb ängstlich, halb erwartungsvoll hob Nesthäkchen den Deckel.

»Eine Puppe – eine Osterhasenpuppe, ach, ist die süß!« Annemie nahm die große Puppe, die ein weißes Osterhasenkäppchen mit rosaseidenen Ohren trug, glückstrahlend aus der Schachtel und gab ihr einen zärtlichen Willkommenskuß.

»Ich glaube, du freust dich gar nicht mit deinem neuen Töchterchen, du hast am Ende schon zuviel Kinder!« neckte Großmama, als sie Annemies Mutterglück sah.

»Ach, Großmuttchen, ich danke dir tausendmal,« jetzt endlich fand Nesthäkchen auch Zeit, an Großmama zum Dank emporzuangeln, »das ist mein aller-, allerschönstes Osterei!« Glückselig streichelte sie die roten Bäckchen, die blonden Löckchen und das weiße Stickereikleid mit der rosa Schärpe.

»Mutti, du hast ein neues Enkelchen bekommen.« Mit der einen Hand zog Annemarie Großmama ins Zimmer, mit der anderen streckte sie der Mutter das neugeborene Kind entgegen. Mutti wußte nicht, wen von beiden sie zuerst begrüßen sollte.

»Wie wird denn mein neues Urenkelchen heißen?« fragte Großmama.

»Nenne es doch Gertrud, nach Großmama«, schlug Mutti vor.

»Ach nee, Gertrud heißen doch nur alte Damen!« wandte Nesthäkchen ein.

»So nenne es Gerda!« Mutti wußte doch immer einen Ausweg.

Und dabei blieb es. Gerda wanderte auf Annemaries Arm in die Kinderstube und wurde Fräulein und sämtlichen Schwestern und Brüdern vorgestellt. In der Nacht aber durfte sie bei ihrer neuen Mama im weißen Kinderbett schlafen, da diese sich keine Minute von der Kleinen trennen wollte.

Baby war abgesetzt – und Gerda war von nun an Annemies Nesthäkchen.

Kapitel 3.
Wie es Puppe Gerda bei Nesthäkchen gefiel

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Als Gerda, das Puppenkind, am nächsten Morgen ihre Schlafaugen aufschlug, schlief ihre neue kleine Mama noch. Neugierig sah Gerda sich ihr Mütterchen näher an. Mit roten Bäckchen lag es auf dem stickereibesetzten Kissen und lachte im Schlaf. Gewiß träumte es von dem neuen Kinde. Die hübsche kleine Mama gefiel dem Puppenkinde sehr, sicher würde sie es gut bei ihr haben. Gerda nahm sich vor, immer brav zu sein und Annemie nie zu ärgern. Dann aber faltete sie ihre Zelluloidhände und flüsterte: »Lieber Gott, ich danke dir, daß du mich zu einem so guten Mütterchen gebracht hast!«

Klein-Annemarie schlief noch immer, und Puppe Gerda begann sich allmählich zu langweilen.

Surr – surr – da summte eine Fliege über dem Kinderbett und setzte sich der Puppe gerade auf die Nase.

»Surr – surr – wie kommen Sie denn hierher, Fräulein?« begann die Fliege die Unterhaltung. »Ich wohne doch schon schrecklich lange, zwei ganze Tage, in der Kinderstube, aber Sie habe ich hier noch nicht erblickt.«

»Ich bin erst gestern hier eingezogen«, antwortete die Puppe schüchtern und schielte herzklopfend auf ihre Nase. Denn sie hatte in ihrem Leben noch niemals eine Fliege gesehen.

»Surr – surr – wo haben Sie denn früher gewohnt?« erkundigte sich die Fliege.

»In einer großen Pappschachtel, aber da war es lange nicht so hübsch wie hier. Stockdunkel war es darin, und die Luft war auch nicht besonders«, erzählte Puppe Gerda ein wenig zutraulicher. Und da sie sah, daß die Fliege es gut mit ihr meinte, setzte sie noch hinzu: »Ich habe es doch fein getroffen, daß ich hierher gekommen bin, nicht?«

»Sum – sum«, sagte die Fliege mal zur Abwechslung, legte eins der dünnen Vorderbeinchen an die Stirn und dachte nach. »Ja, es sind recht anständige Leute, sie geizen nicht mit Zuckerkrümelchen und hängen an die Kronen keine heimtückischen Leimbänder, an denen wir armen Fliegen zappelnd unser Leben lassen müssen. Sum – sum.«

»Nicht wahr, die kleine Annemarie ist gut?« fragte die Puppe, denn das lag ihr mehr am Herzen als Zuckerkrümel und Leimbänder.

»Freilich,« surrte es zurück, »die Annemie tut keiner Fliege etwas zuleide. Aber der Klaus, ihr älterer Bruder, vor dem nehmen Sie sich in acht, Fräulein. Das ist der gefährlichste Mensch, den ich kenne. Wenn der Sie mal fängt, quetscht er Sie zu Apfelmus, oder er reißt Ihnen mindestens ein Bein aus. Mit meiner guten, alten Tante hat er’s gerade so gemacht, der Tunichtgut!«

»Ich werde ihm möglichst aus dem Wege gehen«, nahm sich die Puppe furchtsam vor. »Doch ich sah gestern abend noch einen jungen Herrn, treibt der’s auch so schlimm?«

»Sum – sum – wie man’s nimmt! Ganz so arg ist der Hans wohl nicht. Aber er hat manchmal eine große, bauchige Glasflasche in der Hand, damit rückt er uns armen Fliegen zu Leibe. Spiritus ist darin, der steigt uns so zu Kopf, daß wir geradeswegs in die große Flasche hineinfliegen müssen. Und wer erst einmal drin ist, der kommt nicht wieder heraus, elendiglich muß er in dem Spiritus ersaufen! Hüten Sie sich vor der Fliegenflasche, Fräulein, surr – surr!« Die Fliege summte so laut vor Empörung, daß Nesthäkchen sich zu bewegen begann.

Husch – war das Fliegchen auf und davon und Puppe Gerdas Nase leer.

Annemarie aber streckte sich und reckte sich, und dann schlug sie endlich die Augen auf.

Gerade als Puppe Gerda überlegte, ob es nicht das gescheiteste wäre, vor den bösen großen Brüdern Reißaus zu nehmen und davonzulaufen, ehe Annemie noch erwachte, fühlte sie sich von zwei weichen Kinderarmen innig umschlungen. Ein rotes Mündchen preßte sich auf den ihren, und ein warmes Herzchen pochte gegen ihren kalten Zelluloidkörper. So lieb und zärtlich, daß alle Angst vor dem fürchterlichen Klaus und vor der großen Fliegenflasche bei Gerda verflog. Wohl behütet und geborgen fühlte sich Puppe Gerda bei ihrem Mütterchen.

»Guten Morgen, mein einziges Gerdachen – hat mein Nesthäkchen denn auch schön geschlafen?« klang es ihr liebevoll entgegen.

Die Puppe nickte, denn ihr Kopf war mit Gummischnur befestigt.

»Wollen wir uns denn nun anziehen und süße Zuckermilch trinken?« fragte das sorgsame Mütterchen weiter.

Puppe Gerda lächelte erfreut. Sie hatte schon großen Durst, und Zuckermilch war ihr Leibgericht. Aber vorläufig mußte sie sich noch etwas gedulden. Denn Fräulein trat ins Zimmer, um erst mal Annemarie aufzunehmen.

Die schnitt ein Gesicht. Das dumme Anziehen – sie hatte sich so darauf gefreut, noch ein bißchen mit ihrer Gerda im Bett zu spielen.

Da neigte sich Fräulein zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Das kleine Mädchen wurde rot und sah verlegen auf ihr Puppenkind.

Hatte es Gerda auch bloß nicht gehört, was Fräulein soeben gesagt hatte? Ob sie sich denn gar nicht vor ihrem neuen Kinde schäme, und daß sie jetzt immer sehr artig und gehorsam sein müsse, um ihrer Gerda ein gutes Beispiel zu geben.

Nein, die Puppe machte ein ganz harmloses Gesicht und sah respektvoll zu ihrer kleinen Mama auf.

Eins – zwei – drei – war die aus den Federn, Fräulein sollte sie nicht umsonst gemahnt haben. Gerda wurde in die Bettecke gegen das Stickereikissen gesetzt und durfte bei Annemies Toilette zugucken.

Und das war gut, denn Annemie nahm sich vor ihrem neuen Kinde zusammen. Das sollte doch nicht wissen, daß seine Mama noch ab und an beim Waschen schrie, wenn das Wasser mal besonders naß war. Fest biß die Kleine die Zähnchen zusammen, daß ihnen kein Laut entschlüpfte, während Fräulein den großen Schwamm in Bewegung setzte und eklig rubbelte. Aber als Nesthäkchen selbst beim Kämmen nur ein einziges kleines »Au!« hören ließ, trotzdem der alte Kamm gerade heute tüchtig ziepte, schloß auch Fräulein Puppe Gerda in ihr Herz. Denn die ganz allein hatte das Wunder zuwege gebracht.

Gerda mochte sich von ihrer kleinen Mama nun auch nicht beschämen lassen. Als Annemarie endlich Zeit fand, sie anzukleiden, biß auch sie ihre niedlichen Porzellanzähnchen fest zusammen. Denn Annemie rubbelte noch viel ekliger als Fräulein und riß noch viel toller an den goldblonden Flachshärchen. Aber nein – nur nicht schreien, was hätten denn auch die anderen Puppen bloß von ihr gedacht!

Die waren dem neuen Ankömmling sowieso nicht sehr freundlich gesinnt.

»Ich will angezogen werden, ich muß in die Schule, sonst kriege ich einen Tadel!« rief Irenchen schon zum drittenmal hinter der weißen Mullgardine ihres Himmelbettes hervor. Aber die Kleine hatte heute nur Auge und Ohr für ihre Gerda.

»Annemie hat mir heute noch gar keinen Umschlag auf meine schlimmen Augen gemacht, trotzdem Doktor Puck es verordnet hat«, jammerte auch Mariannchen.

»Ja, sie hat sich heute überhaupt noch nicht um uns gekümmert, aber den Zieraff mit dem blonden Flachskopf, der erst gestern gekommen ist, küßt sie in einemfort«, berichtete Irenchen, durch die weiße Mullgardine lugend, eifersüchtig. »Dabei habe ich doch viel schönere und vor allem ganz echte Zöpfe.«

»Wie sieht denn die Neue aus, ist sie denn wenigstens hübsch?« erkundigte sich Mariannchen angelegentlich. Gar zu gern hätte sie ihre verklebten Augen aufgemacht, um Puppe Gerda zu betrachten.

»Ich finde, sie sieht recht gewöhnlich aus«, meinte Irenchen geringschätzig.« Rote Backen hat sie wie ein Bauermädel; wenn man vornehm sein will, muß man so blaß sein wie ich!«

Auch in dem weißen Puppenwagen murrte es.

Lolo, das Negerkind, hatte mit der steifen Porzellanhand die Wagengardine ein wenig zur Seite geschoben, um besser sehen zu können.

Unerhört war das doch, da wusch und kämmte die kleine Puppenmama das Neugeborene, und sie selbst, die doch tausendmal schmutziger aussah und einen Struwwelkopf aus schwarzer Wolle hatte, sie mußte so liegen.

Aber plötzlich schrie Lolo, die ein kleines Wutteufelchen war, erbost los und trampelte sogar mit den Füßen gegen die Wagenwand.

»Meine Spitzenschürze – mein hübsches Sonntagsschürzchen bindet sie dem fremden Balg um – wirst du mir wohl meine Schürze nicht mausen!« rief sie so laut, daß auch Baby neben ihr im Steckkissen die Äuglein aufmachte und das Mündchen weinerlich verzog.

»Mama – Mama,« rief Baby, »ich will mein Fläschchen mit süßer Zuckermilch.«

Aber Klein-Annemarie hörte nicht das Weinen und Rufen ihrer Kinder. Die fütterte gerade Puppe Gerda mit der süßen Zuckermilch, die eigentlich Baby sonst bekam.

»Schmeckt es dir, mein Gerdachen?« fragte sie liebevoll und tat noch einen Löffel Zucker aus der Puppenküche zu.

Die Puppe schüttelte den Kopf.

Nein, es schmeckte ihr gar nicht, trotzdem sie Zuckermilch so gern trank, und trotzdem Annemie ihr schönstes rosa Täßchen mit Goldrand dazu genommen hatte. Wie sollte es der Gerda auch munden, da Baby unausgesetzt nach ihrer Zuckermilch schrie? Da Lolo immer noch über ihre gemauste Sonntagsschürze schimpfte, die Annemie noch dazu mit Milch bekleckert hatte. Auch Irenchen gab keine Ruhe und rief in einemfort, daß sie heute bestimmt in der Schule nachbleiben müsse. Am liebsten hätte sich Gerda die Ohren zugehalten, um all die häßlichen Worte, die ihr galten, nicht zu hören. Aber das konnte sie nicht, obgleich sie eine Gelenkpuppe war.

Sie machte sich steif und wollte nicht mehr trinken, um dem armen, durstigen Baby noch ein bißchen übrigzulassen. Aber Annemarie war eine ebenso gute wie strenge Mutter.

»Wenn du nicht austrinkst, wirst du nicht groß und stark, mein Liebling«, sagte sie in demselben bestimmten Ton, mit dem Mutti sprach, wenn sie selbst mal nicht ihren Kakao trinken wollte.

Da trank Puppe Gerda gehorsam ihr rosa Täßchen aus, aber es schmeckte ihr kein bißchen.

Und als sie jetzt in den Puppenstuhl gesetzt wurde, da ward sie auch dort ihres Lebens nicht froh. Aus der umgekippten Fußbank zu ihren Füßen hob sich ein kurzlockiger Puppenjungenkopf mit einem großen Loch, und Kurt, der Nichtsnutz, bläkte ihr die Zunge heraus, soweit er nur konnte. Aber nur, weil Annemie gerade aus dem Zimmer gegangen war, um selbst ihren Kakao zu trinken.

Da kam das kleine Mädchen zum Glück zurück, und auch Fräulein mit Annemaries blauem Matrosenmantel und weißem Hütchen. Fräulein machte Annemie zum Spazierengehen fertig, und das Puppenmütterchen setzte ihrer Gerda die Osterhasenkappe mit den rosa Ohren auf.

»Nun bist du fein, mein Liebling, nun wollen wir in den Tiergarten fahren.« Damit warf Nesthäkchen Lolo aus ihrem Puppenwagen heraus, und Baby wanderte hinterdrein auf die harte Puppenkommode. Nicht einmal, daß Babys gestrickte Windelhöschen naß waren, sah die Annemarie!

In den weißen Wagen wurde Gerda gesetzt. Sie wurde sorgsam mit der rosa Seidendecke zugedeckt und bekam Irenchens schönen roten Sonnenschirm in die Hand. Noch auf der Treppe hörte Gerda das empörte Irenchen hinter sich her schimpfen.

Da war ihr auch die Freude am Spazierengehen gestört.

Ihre kleine Mama aber schwatzte und lachte in einemfort. Die dachte mit keinem Gedanken an die armen, vernachlässigten Puppenkinder zu Hause. Sie zeigte ihrer neuen Gerda die Sehenswürdigkeiten von Berlin: Den Portier vor der Haustür, der beinah soviel war wie der Kaiser, die tutenden Autos, die Schokoladenautomaten und die goldene Puppe hoch oben auf der Siegessäule.

»Nicht wahr, es ist fein auf der Welt?« fragte sie ihre Puppe mit strahlendem Gesicht.

Die lächelte gezwungen.

O ja, es konnte einem schon gefallen, wenn nur die übrigen Puppen nicht so häßlich zu ihr gewesen wären!

»Ei, Annemie, hast du denn ganz vergessen, deine anderen Kinder heute in ihren Garten aus das Blumenbrett zu schicken?« fragte Fräulein, als sie wieder nach Haus gekommen waren.

»Ach, die alten,« lautete die gleichgültige Antwort, »ich habe ja jetzt ein neues, süßes Nesthäkchen!«

Das hörte Mutti, die gerade ins Kinderzimmer trat.

»Denk’ mal, Lotte,« sagte sie ernst, »wenn ich mich nicht mehr um Hans und Klaus kümmern würde, weil ich ja dich, mein Nesthäkchen, habe! Das wäre doch traurig für die beiden, nicht?«

Die Kleine nickte und wurde rot. Dann griff sie stillschweigend nach ihren alten Puppen und spedierte eine nach der anderen in den Garten auf das Blumenbrett hinaus, sogar Kurt, den Schlingel. Aber die rechte Liebe fehlte dabei.

Auch als nachmittags, während Annemie mit ihrer Gerda Großmama besuchte, ein Platzregen herniederprasselte, blieben die Ärmsten da draußen in dem Hundewetter, und noch dazu ohne Schirm. Erst Frida, welche die Fenster schloß, brachte die Puppen ganz durchweicht wieder in das Kinderzimmer zurück. Irenchen nieste, sie hatte sich einen tüchtigen Schnupfen geholt, Mariannchen zitterte vor Kälte, Lolo bekam Schüttelfrost, Kurt klagte über Gliederreißen, und Baby hustete.

Aber Annemie, die sonst solche gute kleine Puppenmutter gewesen, sah sich nicht einmal nach ihren kranken Kindern um. Sie mußte ja ihrem Nesthäkchen das Abendbrot bereiten. Muttis Mahnung war wieder vergessen.

Gerda allein vernahm das Niesen und Husten, das Weinen, Jammern und Schimpfen der armen Puppen.

»Die Neue muß wieder aus dem Hause – hatschi – hatschi! So’n Kiekindiewelt – so’n Dreikäsehoch!« räsonierte Irenchen. »Kaum hat sie ihre Nase hier in die Kinderstube gesteckt, da hat sie uns auch schon Annemaries Liebe gestohlen. Wir wollen sie so lange ärgern, bis sie Reißaus nimmt, die fremde Krabbe – hatschi – hatschi.«

»Ich geh’ ja ganz von selbst«, wollte Puppe Gerda traurig antworten, aber da schob ihr Annemie gerade einen Bissen Apfel in den schon geöffneten Mund.

Am Abend, als die zwei, Nesthäkchen und ihre Gerda, wieder zusammen in dem weißen Gitterbettchen lagen, wälzte sich die Puppe ruhelos hin und her. Annemie schlief längst, aber die arme Gerda fand keinen Schlummer.

Sollte sie heimlich davonlaufen, damit Klein-Annemarie sich wieder um ihre andern Kinder kümmern konnte? Ach, sie hatte ja ihr Mütterchen selbst schon so lieb, so lieb – die Trennung brach ihr fast das Herz.

Laut auf schluchzte die Puppe. Annemie regte sich.

»Warum weinst du, mein Liebling?« fragte sie im Traum.

»Ich muß wieder fort von dir«, jammerte Gerda.

»Weshalb denn bloß?« Ganz erschreckt fragte es Klein-Annemarie. »War ich schlecht zu dir, war ich liederlich mit deinen Sachen, oder habe ich dich am Ende zu sehr geziept?«

»O nein,« flüsterte die Puppe ihr ins Ohr, »du warst sehr gut gegen mich, viel zu gut! Aber du hast deine andern Kinder, die dich doch auch liebhaben, ganz über mich vergessen. Die sind traurig und schimpfen auf mich, darum ist es das beste, ich gehe wieder.« Eine Träne kullerte Gerda über das Porzellangesicht.

»Nein, nein – ich lasse dich nicht weg«, rief Annemie im Traum und preßte ihr Nesthäkchen fest ans Herz. »Ich will ja wieder gut gegen meine andern Puppen sein, Mutti hat ja auch all ihre Kinder lieb. Nur bleibe du bei mir!«

Da nickte Puppe Gerda und lächelte unter Tränen.

Und dann schliefen sie alle beide.

Kapitel 4.
Wir reisen nach Amerika – hurra!

Inhaltsverzeichnis

Zwei Wochen war Puppe Gerda nun schon bei ihrer kleinen Mama, und von Tag zu Tag gefiel es ihr besser.

Annemarie hatte gehalten, was sie ihrer Puppe im Traume versprochen: sie war auch für ihre andern Kinder wieder ein gutes, treusorgendes Mütterchen geworden. Die Puppen waren voll Dankbarkeit gegen sie, und sie übertrugen diese auch auf Gerda. Ob sie das nächtliche Gespräch der beiden belauscht hatten, oder ob Puppe Gerdas Bescheidenheit und Freundlichkeit ihr das Herz der andern fünf gewonnen, darüber äußerten sie sich nicht.

So war wieder Frieden in die Kinderstube eingekehrt, alle hatten sie die gute Gerda liebgewonnen, und diese hätte ganz glücklich in ihrer neuen Heimat sein können, wenn – ja wenn es nicht einen im Hause gegeben hätte, vor dem sie ganz schreckliche Angst gehabt hätte. Das war nicht etwa Puck, trotzdem sie den kleinen Vierfüßler auch stets mißtrauisch von der Seite anblickte. Sogar, wenn er ihr die Hand leckte, um seine freundschaftliche Gesinnung kundzutun, sah sie ängstlich nach, ob er ihr auch keinen Finger abgebissen.

Das war auch nicht Bruder Hans mit der großen Fliegenflasche. Die konnte Gerda nicht bange machen, sie war ja viel, viel größer als die! Und Hans hatte sie und ihre kleine Mama neulich freundlich gestreichelt und hatte ihnen allen beiden Helme aus Zeitungspapier gemacht.

O nein, vor denen hatte Gerda keine Angst. Ihre Furcht galt einzig und allein demjenigen, vor dem die Fliege sie gleich am ersten Morgen gewarnt hatte: dem achtjährigen Klaus, dem gefährlichsten Menschen auf Erden.

Sobald der die Kinderstube betrat, hätte sich die Puppe am liebsten in den äußersten Winkel verkrochen, denn es gab jedesmal Streit und Geschrei.

Gleich der Empfang war wenig verheißungsvoll. Als Klaus die neue Puppe erblickte, verabfolgte er ihr erst als Willkommensgruß einen Nasenstüber. Darauf setzte er sie auf sein großes Schaukelpferd und ließ es in solch rasendem Galopp laufen, daß der armen Gerda Hören und Sehen verging. Sie wäre unfehlbar herabgestürzt und hätte sich das Genick gebrochen, wenn nicht ihr Mütterchen Annemarie sie mit lautem Geschrei errettet hätte.

Ein andermal war es ihr noch viel schlimmer ergangen. All seine Soldaten mit Pferden und Kanonen hatte der Bösewicht gegen das Puppenkind aufmarschieren lassen.

»Feuer!« kommandierte er mit Feldherrnstimme, die Puppe Gerda durch Mark und Bein drang. Da donnerten die Kanonen, und die Papierkugeln pfiffen dem verängstigten Puppenkind nur so um den Kopf.

»Ich bin tot – mausetot geschossen!« rief sie und verlor die Besinnung.