Elisabeth Bürstenbinder

Ein Gottesurteil (Historischer Roman)

e-artnow, 2016
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7019-7

INHALTSVERZEICHNIS

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

ERSTES KAPITEL

Inhaltsverzeichnis

Es hatte die ganze Nacht hindurch gestürmt. Erst mit Tagesanbruch wurde es ruhiger in den Lüften, und auch die hochgehenden Wogen der See begannen sich allmählich zu legen.

Der Dampfer, der draußen auf dem Meere einen ziemlich ernsten Kampf mit Wind und Wellen bestanden hatte, lief soeben in die schützende Bucht ein, und am Ende derselben tauchte das Ziel der Fahrt auf, ein malerisch gelegener Hafenort, der von einem starken Kastell auf felsiger Höhe überragt wurde.

Am Vorderteil des Schiffes stand ein junger Offizier in der Uniform der österreichischen Kaiserjäger, der mit dem Fernglase in der Hand die Umgebung musterte. Die leichte Feldmütze, unter der sich das dichte, hellbraune Haar hervordrängte, beschattete ein Gesicht, das vollkommen zu der echt männlichen Erscheinung paßte. Jeder Zug darin war ernst, fest, geschlossen, und die klaren, lichtbraunen Augen mit ihrem ruhig prüfenden Blick entsprachen gleichfalls diesem Antlitz. Man hätte ihm nur etwas mehr Leben und Feuer wünschen mögen, die ernste, leidenschaftslose Ruhe berührte fast erkältend in den noch so jugendlichen Zügen.

Auf der Kajütentreppe ließ sich ein wuchtiger Schritt vernehmen, und gleich darauf tauchte dort ein junger Soldat auf, der die gleiche Uniform trug. Er hatte bei den noch immer schwankenden Bewegungen des Schiffs einige Mühe, über das Verdeck und zu dem Offizier zu gelangen, der jetzt das Fernglas sinken ließ und sich umwandte.

»Nun, Jörg, was machen die Leute?« fragte er. »Wie steht es da unten?«

»Zum Erbarmen, Herr Leutnant«, lautete die Antwort. »Die Seekrankheit setzt ihnen noch immer so zu, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Sie und ich, wir sind die einzigen, die auf den Beinen geblieben sind.«

»Du bist wohl sehr stolz darauf, daß wir beide allein uns als seefest bewährt haben?« sagte der Leutnant mit einem flüchtigen Lächeln.

»Ich denk' schon«, meinte Jörg. »Wenn man so sein Lebtag nur die Berge geschaut hat, dann ist es nichts Kleines, sich mit dieser verwünschten, blitzblauen See herumzuschlagen wie wir seit drei Tagen und Nächten. Dies Cattaro liegt ja beinahe am Ende der Welt!«

Er sprach im reinsten Tiroler Dialekt und pflanzte sich jetzt dicht hinter seinem Leutnant auf mit einer Vertraulichkeit, die auf ein näheres Verhältnis schließen ließ als das des Untergebenen zu seinem Vorgesetzten.

Jörg war ein hübscher, stämmiger Bursche mit schwarzem Kraushaar und einem frischen, sonnverbrannten Gesicht, aus dem ein paar schwarze Augen keck und fröhlich in die Welt hinausblickten. Gegenwärtig aber musterten sie mit offenbarer Neugierde das Ziel der Reise, dem man sich immer mehr näherte.

Die offene See entzog sich bereits den Blicken, und näher und dunkler stiegen die riesigen Felshäupter auf, die seit Tagesanbruch in der Ferne sichtbar gewesen waren. Von allen Seiten schienen sie aus der Flut emporzuwachsen und dem Schiffe den Weg zu verlegen. Jetzt öffnete sich wie ein mächtiges, düsteres Tor eine schmale Felsenenge, und nun tat sich die ganze Weite der Bucht auf vor dem Dampfer, der in ihre Tiefe hineinsteuerte. Die schäumende, stürmende Flut war jenseits zurückgeblieben, und leise wogend lag die Wasserfläche im Kranze der Berge, die sie schützend umgaben.

Schon kämpfte die Sonne mit dem abziehenden Sturmgewölk, einzelne goldige Strahlen zuckten daraus hervor und tanzten auf den Wellen, und breite schimmernde Lichtstreifen erglänzten in dem Nebel, nur über der Stadt ballte es sich noch schwer und finster zusammen, und das Kastell war kaum sichtbar in den Wolkenschatten, die es umlagerten.

»Ein prachtvoller Anblick, diese Bocche!« sagte der junge Offizier halblaut und mehr für sich als zu seinem Gefährten, aber dieser nahm eine äußerst geringschätzige Miene an.

»Pah! Es sind doch nicht unsere Tiroler Berge! Kein Wald, kein Gießbach, keine Menschenwohnung da oben! Freilich, hier fängt ja die Wildnis an, und wenn wir da hineinkommen, wird es uns wohl Kopf und Kragen kosten!«

Er stieß einen so lauten Seufzer aus, daß der Leutnant die Stirn runzelte und ihn mit einem unwilligen Blick streifte.

»Was soll das heißen, Jörg? Willst du etwa verzagt sein? Daheim gehörtest du doch keineswegs zu den Friedfertigen. Wo es irgend etwas zu raufen gab, war leider der Georg Moosbacher immer dabei.«

»Ja, das war er!« bestätigte Jörg mit großer Genugtuung. »Aber das blieb in der Freundschaft. Wenn es gegen ehrliche Christenmenschen ginge, hätte ich gar nichts dagegen, auch einmal im Ernste zu raufen. Man ist dabei doch wenigstens unter sich, und wenn man sich wirklich einmal totschlägt, gibt es ein christliches Begräbnis, aber bei diesen Wilden hört der Spaß auf. Wie ich mir habe sagen lassen, schneiden sie jedem Feinde die Nase ab – wenn sie ihn nämlich haben – und beide Ohren dazu, und das ist doch eine häßliche Angewohnheit.«

»Torheit! Du und deine Kameraden, ihr habt euch alle möglichen Märchen aufbinden lassen und schwört nun darauf, wie das eure Art ist.«

»Die gnädige Frau von Steinach war aber doch auch in tausend Ängsten, als die Marschordre kam. Sie hat mich eigens noch einmal auf das Schloß rufen lassen und mir Wort und Handschlag abgenommen, Ihnen nicht von der Seite zu weichen, Herr Gerald – bitt' um Verzeihung, Herr Leutnant wollt' ich sagen.«

»Nun, laß es nur bei dem altgewohnten Namen, wir sind ja jetzt nicht im Dienst,« sagte Gerald abwehrend, »der Respekt vor deinem Leutnant verträgt sich schon mit den Erinnerungen an unsere Knabenzeit, wo wir Spielgefährten waren. Also meine Mutter hat dich rufen lassen? Ja, sie bangt immer um das Leben ihres einzigen Sohnes und kann sich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß zu dem Beruf des Soldaten die Gefahr gehört. Doch da kommt schon der Hafen in Sicht! Geh jetzt zu deinem Kameraden, sie werden sich wohl nachgerade erholen, die Wellen legen sich ja vollständig hier in der Bucht.«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!« versetzte Jörg, indem er sich militärisch aufrichtete und abmarschierte, während Gerald von Steinach seine Beobachtungen mit dem Fernglase wieder aufnahm.

*

Drüben am Ufer war inzwischen auch der Dampfer in Sicht gekommen, und sein Erscheinen rief eine lebhafte Bewegung in der Nähe des Hafens hervor. Es kamen zwar jetzt täglich Schiffe an, die Truppen nach dieser äußersten Grenze des Reichs brachten, aber es war doch immer ein Ereignis; und eine bunte Menge, in der jedoch die Uniformen vorherrschend waren, drängte sich am Landungsplatze, um die Ankommenden zu begrüßen.

Nicht weit vom Ufer lag ein stattliches Haus, das die Aussicht auf den Hafen gewährte. Es war die Wohnung des Kommandanten der Garnison, und an dem geöffneten Fenster stand eine junge Dame, die mit gespannter Aufmerksamkeit dem Schiffe entgegenblickte, das durch die immer lichter werdende Ferne heranzog.

In dem Rahmen des Fensters hob sich die anmutige Erscheinung wie ein Bild auf dem dunklen Hintergrund des Zimmers ab, ein Bild, an dem alles licht und sonnig war, das rosige, lachende Antlitz, die blonden, lockigen Haare, die blauen Augen voll strahlender Heiterkeit. Es lag sehr viel Übermut und sehr viel Eigensinn in dem reizenden Gesichtchen, und die äußerst elegante Kleidung, die hier an dem entlegenen Orte die neueste Mode der Residenz zeigte, verriet, daß auch die Eitelkeit der jungen Dame nicht ganz fremd war. Trotzdem lag etwas Berückendes in der kleinen Elfengestalt, die so graziös an der Fensterbrüstung lehnte und sich jetzt mit allen Zeichen des Unmuts umwandte.

»Der Dampfer kommt heute gar nicht von der Stelle!« sagte sie ungeduldig. »Schon seit mehr als einer halben Stunde ist er in Sicht. Er müßte längst am Landungsplatze sein und schwimmt noch immer draußen auf den Wellen. Danira, ich bitte dich um Gottes willen, lege dies langweilige Buch beiseite! Ich halte es nicht aus, wenn du so gleichgültig dasitzest und liesest, während ich vor Neugierde fast vergehe.«

Die Angeredete ließ das Buch sinken und warf einen flüchtigen Blick durch das Fenster. Sie mochte ungefähr in dem gleichen Alter stehen; die beiden Mädchen konnten höchstens siebzehn Jahre alt sein, aber es gab nicht leicht zwei schärfere Kontraste als diese beiden Gestalten.

In Daniras Erscheinung lag etwas Fremdartiges, das zu ihrer gleichfalls modernen Kleidung und zu der ganzen Umgebung nicht zu passen schien. Das Antlitz war dunkel wie vom heißen Sonnenbrand und doch bleich, denn es zeigte sich kaum eine Spur von Röte auf den Wangen. Die überreichen Flechten vom tiefsten, bläulichen Schwarz schienen sich nur widerstrebend dem Zwange zu fügen, der sie auf dem Haupte festhielt; es war, als müßten sie durch ihre eigene Schwere herabsinken, um dann fessellos niederzuwallen. Die langen, dunklen Wimpern waren meist gesenkt, wenn sie sich aber einmal hoben, dann entschleierten sie ein Paar große, schwarze Augen mit feuchtem Glanze. Sie blickten sehr kalt und gleichgültig, und doch barg sich in ihrer Tiefe ein Strahl, heiß und glühend wie die Sonne des Südens, die unverkennbar diese Augen und dies Antlitz geküßt hatte.

Auch die Stimme des Mädchens hatte einen eigentümlichen Klang, tief, aber melodisch, und das Deutsch, das sie vollkommen fließend sprach, verriet eine leise Beimischung jenes Fremdartigen, das die ganze Erscheinung kennzeichnete.

»In einer Viertelstunde wird der Dampfer hier sein,« sagte sie. »Er kommt zur gewöhnlichen Zeit. Bist du so ungeduldig, deinen Bräutigam zu sehen, Edith?«

Edith warf das Köpfchen zurück. »Nun, und wenn ich es wäre! Wir sind uns ja beinahe fremd geworden. Ich war ein Kind, als wir die Heimat verließen, und Gerald kam eigens von der Kriegsschule, um uns Lebewohl zu sagen. Hübsch war er schon damals, das weiß ich noch ganz genau, aber etwas pedantisch, etwas langweilig und mit einer ganz entsetzlichen Anlage zum Hofmeistern. Nun, das werde ich ihm gründlich abgewöhnen.«

»Nimmst du dir schon vor, deinen künftigen Gatten zu ›gewöhnen‹, noch ehe du ihn gesehen hast?« fragte Danira mit leisem Spott. »Vielleicht ist er nicht ganz so nachgiebig wie dein Vater.«

Edith lachte. »O, der Papa ist auch bisweilen streng gegen andere – ich mache mit ihm, was ich will, und genau so werde ich es mit Gerald machen. Gefällt dir sein Bild?«

Sie nahm eine große Photographie vom Schreibtische und hielt sie Danira hin, die mit einem flüchtigen Blick darauf kurz und entschieden antwortete:

»Nein!«

Ediths blaue Augen öffneten sich weit vor Erstaunen.

»Wie, dies Bild gefällt dir nicht? Dies Gesicht mit den schönen, regelmäßigen Zügen –«

»Und den eisigen Augen! Der Mann kann überhaupt nicht lieben, das sagt sein Blick.«

»Nun, so muß er es lernen! Das soll meine Sorge sein. Freilich in der ersten Zeit werde ich wenig genug haben von diesem Herrn Leutnant, den man auf die Kriegsfahrt und die Brautfahrt zugleich geschickt hat. Jetzt soll er sich da oben in den Bergen erst wochenlang mit deinen Landsleuten herumschlagen, anstatt mir Ritterdienste zu leisten. Hoffentlich dauert es nicht gar zu lange, diese Insurgentenbanden werden ja bald zersprengt und vernichtet sein. Ich werde Gerald erklären, daß er sich beeilen muß mit dem Siege und mit der Rückkehr bei meiner Ungnade!«

Es lag ein übermütiger Scherz in den Worten, nichts weiter, aber Danira schien es anders aufzufassen. Ihre Augen flammten auf, und mit einer Stimme, die fast schneidend klang, erwiderte sie:

»Sage ihm lieber, er soll sich wahren, daß ihm dort oben nicht Rückkehr und Hochzeit verleidet werden – für immer!«

Edith blickte sie einige Sekunden lang ganz bestürzt und erschrocken an, dann aber brach sie empört aus:

»Ich glaube, du bist imstande, das zu wünschen! Ist es denn möglich, daß du noch immer an jenen Halbwilden hängst, die sich seit deiner Kindheit nicht um dich gekümmert haben? Papa hat nur zu sehr recht, wenn er behauptet, daß du keine Anhänglichkeit, keine Dankbarkeit kennst, trotz allem, was er für dich getan hat!«

Ein halb bitterer, halb schmerzlicher Ausdruck zuckte um Daniras Lippen bei diesen Vorwürfen. »Dankbarkeit!« wiederholte sie leise. »Du weißt nicht, welch eine schwere Pflicht die Dankbarkeit ist, wenn sie gefordert wird.«

Trotz des herben Tones lag etwas in den Worten, was Ediths Zorn entwaffnete. Sie stahl sich an die Seite ihrer Gefährtin und legte ihre Hand auf deren Arm.

»Und ich?« fragte sie vorwurfsvoll und schmeichelnd zugleich, »gelte ich dir gar nichts?«

Danira blickte nieder auf das rosige, blühende Antlitz, das in diesem Augenblick einen flüchtigen Ernst zeigte, und ihre Stimme milderte sich unwillkürlich.

»Du giltst mir viel, Edith, sehr viel! Aber – wir verstehen uns nun einmal nicht und werden uns nie verstehen.«

»Weil du unzugänglich und verschlossen bist wie ein Buch mit sieben Siegeln. Ich bin dir stets eine Freundin, eine Schwester gewesen. Du hast es mir nie sein wollen.«

Der Vorwurf mußte wohl treffen, denn Danira senkte wie schuldbewußt das Haupt.

»Du hast recht,« sagte sie gepreßt, »es ist meine Schuld allein. Aber du weißt nicht, kannst nicht wissen –«

»Was weiß ich nicht?« fragte Edith unbefangen und neugierig. Danira antwortete nicht, aber sie strich leise mit der Hand über das lockige Haupt, das an ihrer Schulter lehnte, und sah in das blaue Auge, in dem eine Träne glänzte. Vielleicht empfand das junge Mädchen doch ernster und tiefer, als sie glaubte.

Da ertönte das Signal des Dampfers, der soeben an der Landungsbrücke anlegte. Edith fuhr auf, die Träne versiegte ebenso schnell, wie sie gekommen war, Kränkung und Vorwurf waren vergessen, und die junge Dame stürzte an das Fenster mit dem Eifer und der Neugier eines Kindes, dem ein neues Spielzeug versprochen ist, und das nun den Augenblick nicht erwarten kann, wo es ihm gezeigt wird.

Über Daniras Lippen zuckte wieder jener herbe Ausdruck. Sie schob das Bild, das noch auf dem Tische stand, mit einer Bewegung des Widerwillens zur Seite, und ihr Buch wieder ergreifend, kehrte sie dem Fenster den Rücken zu.

Die Ungeduld der jungen Braut war im Grunde sehr verzeihlich, denn das Bild, das sie von ihrem Verlobten in der Erinnerung trug, datierte noch aus ihren Kinderjahren. Ihr Vater, Oberst Arlow, stand vor seiner Versetzung nach der fernen dalmatinischen Festung mit seinem Regimente in der Hauptstadt Südtirols, die nur wenige Stunden von Schloß Steinach entfernt lag, und schon damals ward jener Plan gefaßt. Geralds Vater hatte noch sterbend seinem Sohne diesen Lieblingswunsch an das Herz gelegt, und Edith wurde ausdrücklich dafür erzogen. Während der junge Offizier die ersten Grade seiner militärischen Laufbahn durchmachte, wuchs seine Verlobte, welche früh die Mutter verloren hatte, im Hause ihres Vaters auf, dessen verzogener und vergötterter Liebling sie war. Die weite Entfernung hatte bisher ein Wiedersehen des jungen Paares verhindert, als beim Ausbruche des Aufstandes Geralds Regiment ganz unerwartet nach Cattaro beordert wurde. Der Zufall fügte es in der Tat, daß er mit seiner ersten Kriegsfahrt auch die Brautfahrt machte.

*

Am Landungsplatze hatte inzwischen die Ausschiffung begonnen, aber in dem allgemeinen Durcheinander der Ankommenden und Begrüßenden ließ sich kaum irgendeine Einzelheit unterscheiden. Endlich löste sich eine Gruppe von Offizieren aus dem Gewühl und schlug die Richtung nach der Stadt ein, aber es verging noch eine halbe Stunde, bis der Kommandant mit seinem Gast in das Zimmer trat.

Oberst Arlow, eine stattliche militärische Erscheinung in den besten Mannesjahren, führte den jungen Offizier seiner Tochter zu, indem er scherzend sagte:

»Herr Gerald von Steinach, Leutnant bei den Kaiserjägern, wünscht dir vorgestellt zu werden, mein Kind. Sieh, ob du in diesem jungen Kriegsmanne die Züge des ehemaligen Gespielen wiederfindest. Du, Gerald, wirst freilich das Kind von damals nicht wiedererkennen, es hat sich doch einigermaßen verändert im Laufe der Jahre.«

Es lag ein glücklicher Vaterstolz in den letzten Worten und in dem Blicke, der über die Tochter hinglitt, und der Stolz war in der Tat berechtigt, Edith sah unendlich reizend aus in diesem Augenblick.

Gerald trat in voller Unbefangenheit auf sie zu und streckte ihr mit einem einfach herzlichen »Grüß Gott, Edith!« die Hand entgegen. Der alte Gruß aus der Heimat klang so vertraut in seinem Munde, als hätte er gestern erst von seiner kleinen Braut Abschied genommen. Edith sah zu der hochgewachsenen Gestalt des jungen Offiziers empor, sie begegnete seinen Augen, die ernst, aber freundlich auf ihren Zügen ruhten, und urplötzlich ging ihr die ganze Haltung verloren. Eine glühende Röte überflutete ihr Antlitz, das Begrüßungswort erstarb ihr auf den Lippen, und stumm und verwirrt stand sie da, ohne zu wissen, wie lieblich sie gerade in dieser Befangenheit aussah.

Gerald küßte ritterlich die kleine Hand, die in der seinigen lag, doch nur für einen Augenblick, dann gab er sie wieder frei. Er empfing offenbar einen sehr angenehmen Eindruck von seiner jungen Braut, aber tieferen oder gar leidenschaftlichen Eindrücken war seine Natur nicht zugänglich.

Er bemerkte jetzt erst, daß sich noch eine zweite Dame im Hintergrunde des Zimmers befand, und wandte sich mit einer fragenden Bewegung an den Obersten.

»Meine Pflegetochter Danira!« sagte dieser leichthin. Er schien eine weitere Vorstellung nicht für notwendig zu halten, und es lag auch eine gewisse Nachlässigkeit in dem Tone.

Der junge Offizier verneigte sich, und dabei streifte ein halb verwunderter Blick die seltsam düstere Erscheinung des Mädchens, das mit kalter Gemessenheit seinen Gruß erwiderte, ohne das Auge emporzuheben.

Gerald überbrachte Grüße und Briefe seiner Mutter, und damit war der Anknüpfungspunkt zu einem Gespräche gegeben, das äußerst lebhaft wurde und schon nach wenigen Minuten den letzten Rest von Fremdheit beseitigte, der noch zwischen dem jungen Paare lag. Edith hatte ihre augenblickliche Befangenheit überwunden und nahm nun auch ihrerseits den alten, vertraulichen Ton der Kinderjahre wieder auf. Sie sprühte von Heiterkeit und Übermut, wie das ihre Art war, aber all ihre Lebhaftigkeit vermochte es nicht, Gerald mit fortzureißen. Er war artig, ritterlich, herzlich sogar und gab bereitwillig Auskunft auf all die Fragen nach seiner Reise, nach der Heimat und der Mutter, aber er tat es mit jener ernsten, kühlen Gelassenheit, die nun einmal unzertrennlich von seinem Wesen zu sein schien.

Endlich wandte sich das Gespräch auf den bevorstehenden Feldzug. Der Oberst nahm den Aufstand nicht von der leichten Seite wie so viele der Offiziere. Er sprach mit Ernst, ja mit Besorgnis davon, und jetzt zum erstenmal zeigte sich Gerald wirklich interessiert. Er war offenbar mit Leib und Seele Soldat, und Edith bemerkte mit ebensoviel Befremden als Mißvergnügen, daß ihrem Bräutigam die Kriegsfahrt weit mehr am Herzen lag als die Brautfahrt. Ihr war es mit all ihrer Liebenswürdigkeit nicht gelungen, einen Funken aus dieser immer gleichen Ruhe herauszulocken, jetzt aber, wo von Gebirgspässen, Verschanzungen, Angriffen und sonstigen uninteressanten Dingen die Rede war, leuchteten seine Augen, und sein Gesicht begann, sich vor Eifer zu röten.

Die junge Dame war es gewöhnt, daß man sich in erster Linie mit ihr beschäftigte, und fühlte sich sehr beleidigt, daß man in ihrer Gegenwart an solchen Dingen Interesse nahm. Ihr Mund verzog sich immer mehr zum Schmollen, und die Falte auf der sonst so klaren Stirn verkündete eine höchst ungnädige Stimmung. Leider bemerkte das Gerald nicht einmal, er vertiefte sich immer mehr in die militärischen Erörterungen mit dem Kommandanten.

Nur einmal stockte er mitten in der Rede. Er hatte eine Frage an den Obersten gerichtet und, nach den Bergen hinüberdeutend, wandte er sich mit einer raschen Bewegung dem Fenster zu, als er plötzlich Danira gewahrte, von der niemand weiter Notiz genommen hatte. Sie stand halb verborgen hinter dem Vorhange, scheinbar abgewendet, und dennoch verriet ihr Antlitz fieberhafte Spannung, atemloses Lauschen, sie las die Worte förmlich von den Lippen der Männer.

Einen Augenblick lang begegnete ihr Blick dem des jungen Offiziers. Es war das erste Mal, daß er überhaupt ihre Augen sah, aber es war etwas Drohendes, Unheimliches, das ihm aus diesen dunklen Tiefen entgegenblitzte. Was – das vermochte er nicht zu enträtseln, denn es dauerte eben nur einen Augenblick, dann senkten sich die Wimpern, und über die Züge des Mädchens legte sich wieder jene starre, eisige Ruhe, die sie gewöhnlich zeigten.

Der Oberst beantwortete jene Frage sehr ausführlich, und die Debatten der Herren wurden immer lebhafter. Fräulein Edith hörte noch einige Minuten zu, als die beiden aber gar nicht von ihren Gebirgspässen und Verschanzungen loskamen, war ihre Geduld zu Ende. Sie erhob sich mit der ganzen Freiheit und Unart eines Kindes und sagte in einem Tone, der spöttisch sein sollte und sehr gereizt klang:

»Komm, Danira, wir wollen die Herren bei ihren militärischen Gesprächen allein lassen. Wir stören sie nur in diesen interessanten Erörterungen.«

Damit ergriff sie ohne weiteres den Arm ihrer Pflegeschwester und zog sie mit sich in das Nebenzimmer. Gerald sah ihnen höchst erstaunt nach, er hatte augenscheinlich keine Ahnung von dem Verbrechen, dessen er sich schuldig gemacht. Arlow dagegen lachte.

»Ja so, wir hatten die Gegenwart der Damen vergessen! Sie nehmen sich die Freiheit, uns zu zeigen, wie sehr unsere Kriegsgeschichten sie langweilen, und sie haben am Ende recht. Du bist bei Edith in Ungnade gefallen, Gerald, und wirst dir Verzeihung holen müssen.«

Gerald schien durchaus keine Eile damit zu haben, er erwiderte mit vollkommener Ruhe:

»Ich bedauere, aber ich glaubte wirklich bei Edith einiges Interesse für diesen Feldzug voraussetzen zu dürfen, in dem ich mir die Sporen verdienen soll.«

»Vielleicht fürchtet sie, über dem Feldzug vergessen zu werden,« sagte der Oberst mit leisem Tadel. »Es hatte in der Tat beinahe den Anschein. Meine kleine Edith ist verwöhnt in dieser Hinsicht. Möglich, daß ich sie etwas verzogen habe, man ist immer schwach gegen sein einziges Kind. Ich freue mich, daß du so mit Leib und Seele deinem Berufe ergeben bist, aber junge Mädchen wollen in einem Bräutigam nun einmal vor allen Dingen den Freier sehen. Der Kriegsheld steht bei ihnen erst in zweiter Linie. Merke dir das, mein Junge, und richte dich in Zukunft danach.«

Gerald lächelte flüchtig. »Sie haben recht, vielleicht bin ich zu sehr Soldat, aber sollte mir Edith im Ernste einen Vorwurf daraus machen? Sie ist die Tochter und die Braut eines Soldaten und lebt doch hier inmitten all der Aufregungen und Vorbereitungen des Feldzuges. Ihre Gefährtin schien weit mehr Interesse daran zu nehmen.«

»Danira? Möglich, ich habe nicht darauf geachtet.«

»Wer ist diese Danira eigentlich? Es liegt etwas Eigentümliches, Fremdartiges in ihrer Erscheinung. Sie kann unmöglich aus deutschem Blute stammen. Jeder Zug an ihr verrät die Slavin.«

»Ja, dies Blut verleugnet sie nicht,« sagte Arlow unmutig. »Du hast ganz recht gesehen, das Mädchen entstammt dem Volke, das uns jetzt so viel zu schaffen macht, und da hast du gleich ein Bild dieses Volkes vor Augen. Als Danira in mein Haus kam, war sie ein Kind, das noch gar keine tieferen Eindrücke der Heimat aufgenommen haben konnte. Sie hat die gleiche Erziehung genossen wie Edith, ist wie eine Tochter des Hauses gehalten worden, hat ausschließlich in unseren Kreisen gelebt, und doch ist diese wilde, trotzige Slavennatur die gleiche geblieben. Sie ist weder mit Güte noch mit Strenge zu beugen.«

»Aber wie kam diese Pflegetochter denn in Ihr Haus? Haben Sie sie freiwillig aufgenommen?«

»Ja und nein, wie man es nehmen will! Als ich auf meinen hiesigen Posten berufen wurde, war der Aufstand, den man damals endgültig zu unterdrücken glaubte, und der jetzt wie ein Funke aus der Asche wieder auflodert, eben im Erlöschen begriffen. Es gab aber noch täglich Gefechte in den Bergen; bei einem derselben fiel ein Führer der Insurgenten schwer verwundet in unsere Hände und wurde als Gefangener hierher gebracht. Nach einigen Tagen erschien sein Weib mit ihren beiden Kindern und begehrte ihn zu sehen und zu pflegen, was ihr auch gewährt wurde. Der Mann erlag seinen Wunden, die Frau, die sich in unserem Lazarett das damals leider herrschende bösartige Fieber geholt hatte, folgte ihm in kurzer Zeit, und die Kinder, Danira und ihr Bruder, waren völlig verwaist.«

Gerald hörte mit steigender Teilnahme zu; die junge Slavin wäre ihm wahrscheinlich gleichgültig gewesen, aber ihre Herkunft fesselte sein Interesse, und er folgte aufmerksam der Erzählung des Kommandanten, der jetzt fortfuhr:

»Es war eine Pflicht der Menschlichkeit und zugleich eine Ehrensache, sich der Waisen anzunehmen, ich und meine Offiziere waren einig darin, und daß es höheren Orts nicht ungern gesehen wurde, wenn die Sprößlinge eines der gefürchtetsten Insurgentenhäuptlinge in unserer Obhut und Erziehung blieben, wußten wir. Ausgleich und Versöhnung waren ja damals die Parole. Einstweilen nahm ich die Kinder in mein Haus, aber schon nach wenigen Wochen war der Knabe eines Morgens verschwunden.«

»Er war entflohen?«

»Das glaubten wir anfangs, aber es zeigte sich bald, daß er von seinen Stammesgenossen entführt worden war. Danira entging demselben Schicksal jedenfalls nur dadurch, daß sie in dem gleichen Zimmer mit Edith schlief. Die Weiber gelten ja überhaupt nicht viel bei diesem Volke. Den Sohn ihres Häuptlings in unseren Händen zu lassen, galt ihnen für eine Schande, das Mädchen hatte keinen Wert für sie.«

»Und so blieb es also in Ihrem Hause?«

»Ja, auf ausdrücklichen Wunsch meiner verstorbenen Frau. Ich war von Anfang an dagegen, und der Erfolg hat mir recht gegeben. Alle Mühe und alle Freundlichkeit waren verschwendet an diesem Mädchen, das uns noch jetzt, nach Jahren, so fremd und, ich möchte beinahe sagen, so feindselig gegenübersteht wie am ersten Tage. Wüßte ich nicht, daß die heitere, sonnige Natur meiner Edith instinktmäßig solche Einflüsse abwehrt, ich würde wegen dieses Umganges besorgt sein und hätte ihm längst ein Ende gemacht.«

»Mir sind solche rätselhafte Naturen auch nicht sympathisch,« sagte Gerald rasch und mit einem Ausdruck, der fast Widerwillen verriet. »Es liegt etwas Unheimliches in dieser Erscheinung. Ich sah ihre Augen vorhin nur während eines Augenblickes, aber es war, als blickte ich in eine dunkle, drohende Gewitternacht. Dagegen erscheint Edith nun freilich wie ein heller Frühlingstag, allerdings mit etwas – Aprilwetter.«

Der Oberst lachte laut auf bei dem Vergleiche.

»Hast du das schon herausgefunden? Ja, sie ist launisch wie ein Apriltag. Regen und Sonnenschein in einer Minute! Aber ich kann dir den Trost geben, daß der Sonnenschein überwiegt, du mußt es nur verstehen, ihn hervorzulocken. Und nun geh zu ihr, damit euer erstes Wiedersehen nicht gleich mit einem Mißklange endigt. Ihr macht das am besten allein miteinander aus.«

Er winkte seinem künftigen Schwiegersohn freundlich zu und ging. Gerald schien gar nicht an ein Einlenken gedacht zu haben, diesen Wink konnte er aber füglich nicht unbeachtet lassen, und übrigens hatte der Vater recht, diese erste Stunde des Zusammenseins durfte nicht mit einem Mißklange endigen. Der junge Mann wandte sich daher nach dem Nebenzimmer, wo die beiden Mädchen sich vermutlich noch befanden.

Sein Kommen war wohl erwartet worden, denn bei seinem Eintritte flatterte etwas davon wie ein aufgescheuchter Vogel, und er sah noch Ediths helles Sommerkleid hinter der Tür des anstoßenden Gemaches verschwinden. Das Verbergen aber schien nicht sehr ernstlich gemeint zu sein, denn außer jenem Kleide blieb auch noch ein Füßchen sichtbar, das die Stellung der Lauschenden verriet. Gerald wandte sich an Danira, die ihren Platz nicht verlassen hatte.

»Ich wünschte, Edith auf einige Minuten zu sprechen. Ich glaubte, sie noch hier zu finden.«

»Edith hat Kopfschmerz und wird erst bei Tische wieder erscheinen, sie wünscht jetzt ungestört zu bleiben.«

Während Danira sich gleichgültig ihres Auftrages entledigte, trat sie etwas zurück, als erwarte sie, der junge Offizier werde das Verbot nicht beachten, sondern sich trotzdem Eingang verschaffen. Er mußte ja seine Braut in ihrem Versteck gewahren und einsehen, daß ihm die Absolution nur erschwert werden sollte. In der Tat warf Gerald einen Blick dorthin, dann aber richtete er sich stramm und militärisch auf.