image

Lotte Minck (*1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre, halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie heftiges Heimweh nach dem Ruhrpott, als sie nach Jahren auf dem Land zum ersten Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

Besuchen Sie Lotte Minck im Internet:
www.facebook.com/lotte.minck
www.lovelybooks.de/autor/Lotte-Minck/
www.roman-manufaktur.de

Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:
Radieschen von unten
Einer gibt den Löffel ab
An der Mordseeküste
Wenn der Postmann nicht mal klingelt
Tote Hippe an der Strippe
Cool im Pool
Die Jutta saugt nicht mehr
Voll von der Rolle

Lotte Minck

Voll von der Rolle

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung einer Illustration von Ommo Wille, Berlin
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7700-4139-8

www.drosteverlag.de

Kapitel 1

Loretta trägt zum Streichen ganz besondere Kleidung, und drei Oppas kloppen kesse Sprüche

Das feucht schmatzende Geräusch der farbgetränkten Rolle auf der Mauer wirkte beinahe einschläfernd, zumal in Kombination mit der monotonen Auf-und-ab-Bewegung des Streichens.

Schlüüüüürf, schlüüüüürf, schlüüüüürf, Rolle in den Eimer tunken, Farbe am Gitter abstreifen (schlürfschlürfschlürf) und wieder schlüüüüürf, schlüüüüürf …

»Machtse gut, die Kleine«, kam es von rechts, zustimmendes Gemurmel folgte.

Na, Gott sei Dank. Ich mochte mir nicht ausmalen, was ich mir hätte anhören müssen, wenn man mit meiner Streichtechnik nicht einverstanden gewesen wäre.

Schon seit einer halben Stunde bemühte ich mich, die Tatsache zu ignorieren, dass die drei Oppas, die über viel zu viel Tagesfreizeit verfügten, jede meiner Bewegungen genau verfolgten und wortreich kommentierten. Damit musste man wohl rechnen, wenn man in aller Öffentlichkeit einen Kiosk himmelblau anmalte. Und das auch noch von außen.

Es war nämlich so, dass Franks Büdchen in frisch getünchtem Glanz erstrahlen sollte, wenn mein Kumpel es in zwei Tagen so richtig offiziell eröffnen würde. »So mit allet an Bimbamborius, wat mööchlich is«, wie er es in seiner unnachahmlichen Art ausgedrückt hatte.

Frank rief, und seine Freunde strömten herbei, um zu helfen, das war Ehrensache. Sogar heute, am »Tag der Arbeit«, an dem man ja normalerweise gerade nicht arbeitete.

Auch im Kiosk-Inneren wurde eifrig gewerkelt: Es galt, neue Regale einzubauen und alles irgendwie ein bisschen hübscher zu machen. Da ich als ausgewiesene Motorik-Legasthenikerin wahrlich nicht die erste Wahl war, wenn es darum ging, Möbel zusammenzuschrauben, hatte man mich zum Außendienst eingeteilt. Alles, was ich in meinem legendären Ungeschick hätte bekleckern können, war sorgfältig abgeklebt worden; selbst auf dem Pflaster hatten sie Folie ausgebreitet. Jetzt musste ich nur noch darauf achten, dass ich nicht darauf ausrutschte und kopfüber in den Farbeimer stürzte. Es gab wahrlich würdevollere Tode, als in himmelblauer Farbe zu ersaufen.

Um mich selbst vor großflächiger Besudelung zu schützen, trug ich einen vor ein paar Monaten erbeuteten Overall der polizeilichen Spurensicherung. Kommissarin Küpper hatte tatsächlich mal meine Hilfe benötigt und mich zur Wohnungsdurchsuchung eines Verdächtigen beordert, zu der ich diesen Anzug tragen musste. Und hinterher hatte ich ihn einfach eingesackt. Keine Ahnung, ob es erlaubt war, mit diesem Ding in der Öffentlichkeit herumzulaufen, immerhin prangte dick und fett das Wort »Polizei« auf dem Rücken. Aber bisher hatte noch kein Streifenwagen mit quietschenden Reifen neben mir gehalten, aus dem zwei Beamte gehechtet wären, um mich wegen Amtsanmaßung oder dergleichen einzubuchten. Wäre auch irgendwie lächerlich gewesen, denn was maßte ich mir schon großartig an? Allenfalls, die legitime Besitzerin eines Spusi-Overalls zu sein, die einen Kiosk strich. Na also.

Die drei Oppas waren angesichts meiner Kostümierung schier aus dem Häuschen geraten und hatten einen Schenkelklopper nach dem anderen abgefeuert, allesamt eindeutig-zweideutig, versteht sich.

Nein, ich will euch nicht von Kopf bis Fuß durchsuchen und herausfinden, was ihr in der Hose habt, und ich werde auch keinem von euch Handschellen anlegen, dachte ich bei mir. Als einzig sichtbare Reaktion auf ihre schlüpfrigen Scherze schenkte ich ihnen nur ein mildes Lächeln.

Sie ahnten es ja nicht, aber jeden ihrer Sprüche hatte ich als Telefonistin bei Dennis Kargers Sexhotline nicht nur schon Hunderte Male gehört, sondern Tausende Male selbst gebracht. Szenarien, in denen einer der beiden Protagonisten in Polizeiuniform war, erfreuten sich nämlich großer Beliebtheit bei den Kunden. Allerdings – und das war der ganz wesentliche Unterschied zur momentanen Situation – trug ich dann als Polizistin selbstverständlich eine hautenge Uniform, und mein Hemd war bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Mindestens. Keinesfalls war ich dabei in einen unförmigen Overall gehüllt, der meine sexy Kurven (die ich mir für Telefonate mit Kunden andichtete) komplett verbarg. Aber das war meinen drei Amateur-Kommentatoren vollkommen egal, ihnen reichte das Wort »Polizei« auf meinem Rücken, und sofort war ihre Fantasie auf Hochtouren.

Die Rede ist von JuppZwo, Locke und Steiger. JuppZwo hieß vermutlich so, weil der Vorbesitzer des Büdchens die älteren Rechte am Namen Jupp besaß, der Mann namens Locke hatte selbstverständlich eine Glatze, und Steiger hatte wohl im Bergbau gearbeitet, nahm ich an.

»Gut machsse dat«, sagte Frank, der herausgekommen war, um mein bisheriges Werk zu begutachten. Er musterte meinen farbbespritzten Overall und fügte hinzu: »Kannze dich gleich anne Wand stellen und bis unsichtbar, hömma. Streichen is nich so dein Ding, hm?«

Die drei Oppas belohnten diese Bemerkung mit beifälligem Gegacker.

»Is dat deine Perle, Junge?«, fragte JuppZwo.

Frank schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nee, dat is die Loretta!«

Er sagte das in einem Ton, als sei das bereits Erklärung genug: Loretta? Meine Freundin? Seid ihr irre?

»Vielen Dank auch«, murmelte ich aus dem Mundwinkel.

Frank grinste und fuhr fort: »Die kennter doch, die hat doch hier schon Dienst geschoben.«

Die Oppas nickten synchron, dann sagte Steiger: »Klar kennwa die. Aber ob dat deine Perle is, wussten wa nich. Könnte doch sein.«

Wieder schüttelte Frank den Kopf. »Die Loretta? Quatsch. Die doch nich.«

»Wieso dat denn nich?« Steiger musterte mich mit sichtlichem Wohlgefallen. »Dat Frolleinchen sieht doch gaanich so schlecht aus.«

JuppZwo und Locke machten zustimmende Geräusche.

»Dat stimmt«, entgegnete Frank, »aber meine Bärbel … Nix für ungut, Loretta, aber meine Süße is eben, na ja, meine Süße halt. Nich zu toppen, verstehsse?«

»Bärbel heißt deine Perle? Und die is ’ne echte Granate? Musste uns ma vorstellen, Junge.«

»Ich bin doch nich bekloppt und stell euch Schwerenötern meine Perle vor! Hinterher brennt die noch mit eim von euch durch! Nee, nee.«

Die Herrenriege wollte sich schier ausschütten vor Lachen, und ich beschloss, ihrem Geschwätz keine weitere Beachtung zu schenken. Schließlich hatte ich eine Aufgabe zu erledigen.

Seit mittlerweile vier Wochen war Frank nun der neue Inhaber von Jupps Büdchen, unserem langjährigen Stammkiosk. Als regelmäßiger Kunde hatte Frank mitgekriegt, dass Jupp einen Nachfolger suchte, denn er war bereits deutlich über 70. Frank hatte seiner Perle gestanden, dass er schon immer davon geträumt hatte, so ein Büdchen zu besitzen. Und Bärbel, die wunderbare Bärbel, freute sich für ihren Schatz, dass sein Traum jetzt wahr wurde. So einfach konnte es manchmal sein im Leben.

Nach einwöchiger Einarbeitung hatte Jupp endgültig die Schlüssel an Frank übergeben – und mit ihnen gleichzeitig einiges an Stammkundschaft. Dazu gehörten auch die drei alten Herren. Von Frank wusste ich, dass sie ihr Tagesprogramm nach strengen Regeln durchzogen: Zuerst liehen sie sich eine Tageszeitung aus, studierten sie sorgfältig und hechelten dann das aktuelle Weltgeschehen durch, was meist ziemlich unterhaltsam war. Danach saßen sie erst einmal schweigend und beinahe bewegungslos da, als hätte man ihnen die Batterien rausgenommen. Dann verlangte es das Ritual, dass sie ihre Energiespeicher mithilfe von belegten Brötchen und heißen Wiener Würstchen wieder aufluden. Solchermaßen gestärkt, bestritten sie die zweite Hälfte ihrer Schicht am Kiosk, indem sie eine Dreierversion der beiden hämischen Opas aus der »Muppet Show« gaben.

Wohl dem, der ihrem beißenden Humor entging – dann nämlich, wenn sie erst loslegten, wenn das Opfer außer Hörweite war.

Ihre Allgegenwärtigkeit hatte in mir die Fantasie entstehen lassen, dass Frank die drei Männer zum Feierabend in den Kiosk verfrachtete und sie morgens wieder davor aufstellte. So wie die Reklametafeln für Tageszeitungen oder die Eiscremewerbung. Aber das war natürlich Quatsch: Irgendwann am frühen Vormittag tauchten sie von irgendwoher auf und verbrachten den Großteil des restlichen Tages damit, unter dem Wellblechvordach des Büdchens zu sitzen. Anfangs hatten sie immer ihre eigenen Klappstühle dabeigehabt, aber irgendwann hatte Frank sich erbarmt und eine bequeme Holzbank vor dem Kiosk aufgestellt. Dort saßen sie nun. Tagein, tagaus.

Da ich Frank schon ein paar Stunden in seinem Lädchen ausgeholfen hatte, waren die drei alten Zausel mir wohlbekannt. Und ich ihnen, was es allerdings nicht besser machte. Stur ignorierten sie meinen Namen, obwohl ich mich ihnen natürlich damals vorgestellt hatte. Stattdessen nannten sie mich »Kleine« oder »Frolleinchen«, und in der Regel redeten sie auch in meiner Anwesenheit so, als sei ich überhaupt nicht da. »Dat Frolleinchen könnte mal Würstchen rüberwachsen lassen« oder »Die Kleine hatte auch schomma bessere Laune« – so oder ähnlich hörte sich das dann an. Wie selbstverständlich gingen sie davon aus, dass jeder wusste, wann genau sie ihren Mittagssnack wünschten (um exakt 13 Uhr) oder welche Tageszeitung man durchs Fenster hinauszureichen hatte, sobald sie aufkreuzten.

Um ehrlich zu sein: Frank hatte mich vor meinem ersten Einsatz ganz genau über die Gepflogenheiten seiner rüstigen Stammkundschaft aufgeklärt. Wozu übrigens gehörte, dass sie unser kleines Klo benutzen durften. Das allein machte sie zu etwas Besonderem, was sie auch sehr genau wussten. Und ich hatte nach diversen hitzigen Diskussionen mit ihnen einsehen müssen, dass ich ihnen auf ihre alten Tage nicht mehr beibringen würde, die Klobrille wieder herunterzuklappen, nachdem sie ihr kleines Geschäft erledigt hatten. Für das große hatte ich eilends ein Raumspray angeschafft, mit Tannenduft. Frank hatte sich kaputtgelacht und süffisant kommentiert, dass es nach dem Einsatz des Sprays auch nur »stinkt, als wie wenn einer innen Wald geschissen hat«.

Insgeheim gab ich ihm recht, sprach es aber nicht laut aus, um mein Gesicht zu wahren.

Die restliche Kundschaft bestand aus einer bunten Mischung von Leuten aus der näheren Umgebung sowie solchen, die spontan mit dem Auto anhielten, um sich mit Kippen, ein paar Flaschen Bier und einer Tüte Chips einzudecken. Das Zeitungsangebot war recht ordentlich, die Palette an Süßkram schier überwältigend. Dazu gab es eine kleine Auswahl an Lebensmitteln wie zum Beispiel Milch, Brot, abgepackten Käse oder Margarine, die sich erstaunlicher Beliebtheit erfreuten. Offenbar gingen die Leute aus der Nachbarschaft lieber mal rasch in Hausschlappen zum Büdchen ihres Vertrauens, als sich zum nächstgelegenen Discounter zu bemühen. Zumal sie in Gestalt von JuppZwo, Locke und Steiger die Informationszentrale des Viertels gleich mit dazukriegten, denn die drei wussten alles über jeden. Wenn irgendwo einer Hausfrau der benutzte Kaffeefilter heruntergefallen war: Sie wussten es. Wenn Klaus, der zwei Straßen weiter wohnte, mal wieder Ärger mit seinem halbwüchsigen Sohn hatte: In Nullkommanix war es weitergetratscht.

Das war irgendwie witzig, fand ich, aber andererseits erfuhr ich viel zu viele Dinge, die mich nichts angingen, über Leute, mit denen ich ansonsten nichts zu tun hatte. Wie über diesen Klaus und dessen offenbar außer Rand und Band geratenen Sohn, die ich beide nicht persönlich kannte.

Ein Beispiel gefällig? Eine Frau kam zum Kiosk und kaufte eine Flasche Korn. Das Dreigestirn begrüßte sie mit einem Nicken, schwieg aber ansonsten. In dem Moment wusste ich bereits: Sobald die Frau gegangen war, würde ich alles Wissenswerte über sie erfahren. Und richtig. Kaum war sie außer Hörweite, ging es auch schon los: Sie war Mitte 40, wurde gerade vom Kerl verlassen, hauste jetzt mit 5 Katzen in kleiner Wohnung, ertränkte ihren Kummer in Schnaps, war früher mal das heißeste Geschoss im Viertel gewesen, hätte nach ihrer Scheidung jeden haben können, aber musste sich ja unbedingt an diesen Schürzenjäger … und so weiter und so weiter. Manchmal hörte ich zu, meist stellte ich auf Durchzug.

Dennoch hatte das Ganze eine gewisse Faszination. Viele Leute, denen ich bisher allenfalls mal beim Spazierengehen im Park begegnet war – wenn sie mir überhaupt aufgefallen waren –, wurden plötzlich irgendwie dreidimensional. Da JuppZwo, Locke und Steiger oder wenigstens einer von ihnen beinahe jeden im Viertel von der Wiege an kannten – und je nach Alter auch noch die Eltern –, wussten sie immer allerlei zu berichten. Ich erfuhr also von glücklichen und unglücklichen Verbindungen, erfüllten und gescheiterten Träumen, Karrieren und Abstürzen sowie von Familiengeheimnissen, in der gesamten Bandbreite von düster bis peinlich, die so supergeheim dann ja wohl doch nicht sein konnten, wenn das Dreigestirn darüber Bescheid wusste. Und ich jetzt auch. Und weiß der Himmel, wer sonst noch alles.

Ich wünschte den alten Herren jedenfalls aufrichtig, dass sie nicht irgendwann einmal das eine Geheimnis zu viel herumposaunten. Manch einer war schon für viel weniger über die Klinge gesprungen, hatte ich mir sagen lassen.

Gerade, als ich die letzte Bahn gemalert hatte und ein paar Schritte zurückgetreten war, um mein Werk wohlgefällig zu betrachten, kam Pascal aus dem Kiosk.

»Sieht gut aus«, sagte er. »Dann können wir ja schon gleich das neue Schild anbringen.«

Das Prunkstück einfach nur Schild zu nennen, war eine maßlose Untertreibung, handelte es sich doch um einen von innen beleuchteten, prachtvollen Plexiglaskasten mit der Aufschrift Kropkas Klümpchenbude. Jawohl, darauf hatte mein Kumpel Frank Kropka bestanden.

Gerade noch hatte ich eingreifen können, denn ursprünglich sollte die Aufschrift Kropka’s Klümpchenbude lauten, und es hatte lange und hitzige Diskussionen gebraucht, bis er mir geglaubt hatte, dass dieser Apostroph dort nichts zu suchen hatte, auch wenn es an zahllosen Friseurgeschäften, Kiosken und weiteren Läden in der Umgebung prangte. Wie bei vielen anderen Dingen galt auch hier: Dass es viele falsch machten, machte es nicht automatisch richtig. Ein Deppenapostroph am Kiosk meines besten Freundes? Nur über meine Leiche.

Sehr süß fand ich, dass er sein Geschäft nicht Kiosk, Trinkhalle, Büdchen oder sonst wie nannte. Nein: Klümpchenbude sollte es sein, ein Wort aus seiner Kindheit, das nur noch im tiefsten Ruhrpott benutzt wurde. An der Klümpchenbude in der Nähe seines Geburtshauses hatte er als Kind immer gestanden, mit vielleicht 20 oder 30 Pfennig in der kleinen schmutzigen Faust, die er sich mit Rasenmähen, Autowaschen oder Kohleschippen verdient hatte. Dafür durfte er sich Bömsken (Bonbons), Mäusespeck, Salinos oder Lakritzschnecken aussuchen, und dann trug er den kostbaren süßen Schatz in der spitzen Papiertüte stolz nach Hause.

Machen wir uns nichts vor: Mit dem Kiosk erfüllte er sich den Traum des Kindes im Manne, das sich immer gewünscht hatte, sich irgendwann einmal eine Riesentüte mit süßen Köstlichkeiten vollzupacken, ohne vorher den Rasen mähen zu müssen.

Von der Arbeit in der prallen Sonne hatte ich ordentlich Durst bekommen. Zugegeben, auch ich fand es ziemlich cool, mir einfach ein Getränk aus dem großen Kühlschrank mit der Glastür nehmen zu können. Für uns Ruhrpottkinder waren die Kioske, von denen es hier an jeder zweiten Straßenecke einen gab, ganz besondere Orte. Dort gab es nicht nur diese unglaubliche Auswahl an losen Süßigkeiten, sondern auch Wundertüten und Sammelbildchen und vieles, vieles mehr. Wir rissen uns darum, für den Vater oder Opa zwei Flaschen Bier oder für den Onkel eine Schachtel Kippen zu holen, denn oft war der Lohn dafür nicht nur das Wechselgeld, sondern auch ein kleiner Kirschlolli, den man sich aus einem großen, schier unerschöpflichen Kirschlolli-Glas nehmen durfte. Und damals war es auch für Kinder kein Problem gewesen, an der Bude Alkohol oder Zigaretten zu kaufen.

Die Jungs hatten im Inneren einiges geschafft, während ich im Schneckentempo die Außenfassade gestrichen hatte. Schon früh am Morgen hatten Frank, Erwin, Pascal und Dennis alles leer geräumt und in den Hinterhof getragen, in dem sich jetzt das ausgemusterte Mobiliar türmte. Sie hatten einen neuen Fußbodenbelag verlegt, die Wände sonnengelb gestrichen, neue Regale aufgebaut und eine moderne Theke installiert. Durch die Umbauten wirkte der Raum plötzlich viel großzügiger. Was sich vorher irgendwie gestapelt hatte, war jetzt übersichtlich sortiert. Die Kunden hatten die Wahl, entweder über das Verkaufsfenster zu ordern oder hineinzugehen und sich in Ruhe umzusehen, was die meisten bei Kälte oder schlechtem Wetter ohnehin taten.

Als ich wieder ins Freie trat, hatten die Jungs das Schild bereits angebracht. Stolz wie Oskar stand Frank vor Kropkas Klümpchenbude und schwadronierte wortreich, wie sehr er sich auf die Eröffnungsfeier freute.

Und ich freute mich mit ihm.

Noch ahnte ich nicht, wie schnell mir das Lachen vergehen würde.

Kapitel 2

Als das Schicksal Frank Zitronen schenkt, macht Loretta einfach Limonade draus

Das Lachen verging mir bereits am nächsten Morgen, als ich mit Pascal zum Kiosk schlenderte, um zu besprechen, was vor der Party noch zu erledigen war.

Diesmal nahmen wir nicht die kürzere Strecke quer durch den Park, sondern gingen einmal um den Pudding und dann die Straße hoch. Schon von Weitem sahen wir, dass Frank mit verschränkten Armen neben seinem Büdchen stand und die Seitenwand anstarrte. Beziehungsweise irgendetwas auf der Seitenwand. Was es war, konnten wir von da aus noch nicht erkennen. Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. Hatte ich etwa gestern doch zu schludrig gearbeitet und unschöne Farbnasen hinterlassen?

»Oje«, sagte ich zu Pascal. »Vielleicht hätte doch einer von euch streichen sollen. Frank sieht gar nicht amüsiert aus. Hoffentlich ist noch was zu retten.«

Er zuckte mit den Schultern. »Mach dir keinen Kopp. Noch ist Zeit genug, um gegebenenfalls auszubessern. Ich melde mich freiwillig.«

Als wir näher kamen, blickte uns Frank mit gerunzelter Stirn entgegen.

»Das tut mir echt leid!«, rief ich. »Pascal bringt das wieder in Ordnung!«

Franks Gesichtsausdruck veränderte sich zu totaler Ungläubigkeit. »Du wars dat? Aber wieso denn bloß? Wars du besoffen oder wat?«

Hä? Besoffen? »Also hör mal, sooo schlimm kann es doch nun wirklich nicht sein. Gut, ich bin nicht gerade eine virtuose Malermeisterin, aber gestern hat es doch eigentlich ganz ordentlich ausgesehen. Zumindest hat keiner von euch gemeckert.«

Er zeigte auf etwas, das wir noch immer nicht sehen konnten. »Dat hier war gestern auch noch nich anne Wand, hömma. Dat hätte ich ja wohl gesehn.«

Ich wurde stutzig. Allmählich beschlich mich der Verdacht, dass wir aneinander vorbeiredeten. Was war gestern noch nicht an der Wand? Und wessen hatte ich mich gerade vorschnell schuldig bekannt?

Die Antwort prangte in Gestalt eines knallpinken Farbflecks an der Mauer. Ungefähr in Kopfhöhe. Na ja, in Pascals Kopfhöhe; Frank und ich mussten hochschauen. Vom Zentrum des Flecks aus hatte die Farbe sich strahlenförmig an der Wand abgesetzt. Eigentlich hätte es sogar recht hübsch aussehen können, fand ich, wenn es nicht ausgerechnet die Wand verunziert hätte, die ich im Schweiße meines Angesichts gestrichen hatte.

»Da.« Frank deutete auf einen zerfetzten Luftballon, der am Boden lag.

»Ich glaub es nicht«, sagte Pascal verblüfft, »eine Farbbombe? Wer macht denn so was? So ein Arschloch!«

Frank zuckte mit den Schultern, und Pascal besah sich den Fleck von Nahem. »Das ist Lackfarbe, oder? Das können wir nicht mal eben überstreichen, der Mist kommt immer wieder durch.«

Ach du Schreck. Ich trat einige Schritte zurück und musterte die Wand. Mit etwas Abstand und ein bisschen Fantasie sah der Fleck beinahe aus wie …

Plötzlich hatte ich eine Idee. »Sagt man nicht: Wenn das Schicksal dir Zitronen schenkt, mach einfach Limonade draus? Lasst es uns in etwas Positives und Schönes verwandeln.«

»Und dat wäre?«, schnappte Frank.

Ich konnte ihn ja verstehen. Da investierte er viel Geld in die Verschönerung seines Büdchens, und dann kam so ein dahergelaufener Proll und würgte ihm eins rein. Das gehörte sich einfach nicht. Kein Wunder, dass Frank stinksauer war.

»Vertraust du mir?«, fragte ich, und mein Kumpel nickte. »Okay, dann kümmert ihr euch jetzt um die restlichen Einkäufe. Das Ding hier«, ich deutete auf den Fleck, »überlasst ihr mir.«

Als ich eine Stunde später vom Baumarkt zurückkam, war der Kiosk verlassen. Das war mir nur recht, so konnte ich wenigstens ganz in Ruhe vor mich hin werkeln. An der Tür und im Verkaufsfenster hingen Hinweise, dass heute noch geschlossen war, morgen aber eine große Wiedereröffnungsparty stattfinden werde, zu der jeder herzlich eingeladen sei. Mein Vorschlag, daraus einen pompösen »Tag der offenen Tür« zu machen, war von den anderen lachend niedergebuht worden. Schade eigentlich.

Ich breitete eine Plane aus, dann holte ich Farbe und Pinsel aus dem Kofferraum. In Grün malte ich dem Farbfleck einen Stiel und hübsche Blumenblätter, dann setzte ich mich im Schneidersitz auf die Plane und begann damit, Grashalme zu pinseln. Ich war ganz in meine Arbeit vertieft, als plötzlich drei Schatten auf mich und die Wand fielen.

»Wat wird dat denn?«, fragte JuppZwo. »Wandgemälde oder wat?«

»Dann müsster dat Schild ändern«, fügte Steiger hinzu, »in Kropkas Künstlerbude

Dreistimmiges Gegacker.

Ich drehte mich zu ihnen um. Mit der Sonne im Rücken waren sie für mich nur schwarze Gestalten ohne Gesichter. »Sehr witzig, die Herren. Irgendein Superarschloch hat heute Nacht eine Farbbombe an die Mauer geschmissen. Und ich versuche gerade …«

»Eine Farbbombe?«, fiel JuppZwo mir ins Wort. »Wer hat die geschmissen?«

»Leider wurde keine Visitenkarte hinterlassen. Verstehe ich auch nicht. Machen die doch sonst immer«, ätzte ich. »Aber vermutlich würde sowieso nur ›Riesenarschloch‹ draufstehen. Oder nein: ›feiges Riesenarschloch‹. Schön mitten in der Nacht sich anschleichen und meinem Kumpel eins reinwürgen! Aber diesen Triumph gönne ich demjenigen nicht. Ich verwandle den Drecksfleck in etwas Schönes. Ich wünschte, ich könnte das blöde Gesicht vom Bombenwerfer sehen, wenn er das hier entdeckt.«

Das Dreigestirn nickte beifällig. »Gut machsse dat, Kleine«, sagte JuppZwo, dann marschierten sie um die Mauerecke zu ihrer Bank an der Ladenfront.

Das vermutete ich zumindest, als sie aus meinem Blickfeld verschwanden. Wenn ich allerdings gedacht hatte, sie würden sich wie gewohnt dort hinsetzen und mich in Ruhe lassen, so zerstob diese Hoffnung in dem Moment, als ich sie ächzen hörte und ein seltsames Scharren vernahm. Dann tauchten sie wieder auf, und zwar mitsamt der Bank, die sie nun so platzierten, dass sie mir bequem zuschauen konnten.

Was war ich doch für ein Glückspilz.

Stoisch malte ich weiter Grashalme. Ich hatte links angefangen und setzte nun sorgfältig einen grünen Strich neben den nächsten. Mal etwas kürzer, mal länger, mal dünner, mal dicker, damit es lebendig und natürlich wirkte. Zumindest so natürlich, wie von mir gemalte, Grashalme simulierende Striche an einer Wand halt wirken konnten. Von Zeit zu Zeit rutschte ich auf meinem Hintern ein Stückchen weiter nach rechts, und Strich folgte auf Strich.

»Paar Schmetterlinge wärn schön. Und nochn paar mehr Blümskes, sonz is dat so kahl. Mohn oder so«, sagte Locke nach einiger Zeit des wohltuenden Schweigens. »Und Hümmelkes, natürlich.«

Ja genau. Warum nicht gleich ein Monumentalgemälde mit sämtlichen Sommerblühern und Pollentransportern der westlichen Hemisphäre? »Nix da. Ich bin nicht Picasso«, fauchte ich, ohne mich beim Malen unterbrechen zu lassen.

»Gott sei Dank. Dann müssteste ja dreieckige Hummeln mit Augen aufm Aasch malen, dat will doch kein Mensch«, kommentierte JuppZwo süffisant, was beim Dreigestirn wieherndes Gelächter auslöste.

Wider Willen musste ich kichern. So nervig sie auch sein konnten, irgendwie mochte ich den Humor der drei Zausel. Während sie weitere absurde Vorschläge machten, um welche Motive ich das Gemälde noch bereichern könnte, pinselte ich weiter Grashalme, bis ich schließlich das andere Ende der Mauer erreicht hatte und aufstand.

»Wie jetz? Soll dat etwa schon fertich sein?«, fragte Locke entrüstet.

Ich wandte mich zu ihnen um und fand mich von drei Augenpaaren angestarrt.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich. »Ein paar Wolken noch, dachte ich.«

Sie berieten sich murmelnd, dann sagte JuppZwo: »Schomma nich schlecht. Und wat hälze vonnem Förderturm? So wat Typischet fürn Ruhrpott.«

»Falls jemand unserer Kunden vergessen haben sollte, wo er sich gerade befindet?«, gab ich zurück. »Warum nicht gleich die komplette Skyline vom Landschaftspark Nord? Mit sämtlichen Schloten, Türmen und Lichtinstallationen? Schmiere ich euch locker aus dem Handgelenk an die Wand, ihr Spinner.«

Die Bezeichnung nahmen sie mir nicht übel, ganz im Gegenteil: Sie amüsierten sich königlich. Ehe sie mir mit weiteren Vorschlägen den Nerv töten konnten, fügte ich hinzu: »Wolken. Und damit basta.«

Um an den oberen Rand der Wand zu gelangen, holte ich mir den zweistufigen Tritt aus dem Kiosk.

»Du has ja den Schlüssel«, sagte Locke lauernd.

Ja, den habe ich, Schnellmerker. »Allerdings. Und?«

»Dann könnteste uns doch ein Bierken holen. Und wat zu picken. Beleechtet Brötchen oder so.« Seine Kumpels nickten zustimmend und sahen mich auffordernd an.

Ich konnte es nicht fassen. Die erwarteten wirklich von mir, dass ich sie bediente. Und mal eben ein paar Brötchen schmierte. »Der Kiosk hat heute geschlossen, wie ihr sicherlich bereits gemerkt habt. Kein Bier, kein Brötchen. Und auch keine Würstchen, bevor ihr mir damit auch noch kommt. Ich hab auch gar keine Kasse da.«

»Von Bezahln hat auch keiner wat gesacht, hömma.« Sie stießen sich gegenseitig mit den Ellbogen an und grinsten unverschämt.

Aber ein Scherz war das natürlich nicht. Mir kam die Galle hoch. »Die Straße runter ist ein Supermarkt. Ihr könnt ja mal versuchen, dort etwas umsonst zu kriegen. Und überhaupt: An eurer Stelle wäre ich vorsichtig. Schnorrer kriegen von mir Platzverweis«, gab ich ungerührt zurück und klappte den Tritt auf.

»Wat?«, empörte sich JuppZwo prompt. »Schnorrer? Ich glaub, et hackt. Has du überhaupt ʼ’ne Ahnung, wie viel Schotter wir schon in diese Bude gelassen haben? Die gehört uns praktisch, verstehsse, Frolleinchen? Davon genießt der Jupp jetz sein Lebensaahmd!«

»Und was genau hat Frank damit zu tun? Der eure Bude vor ein paar Wochen übernommen hat? Ich sage euch, was er damit zu tun hat: Nix. Und trotzdem hat er für euch die Bank gekauft, auf der ihr gerade eure Ärsche platt sitzt und mich von der Arbeit abhaltet!«

Das hatte gesessen. Sie glotzten mich an und hielten die Klappe. Na also.

Ich öffnete den Topf mit der weißen Farbe, nahm den dicken Borstenpinsel und stieg auf den Tritt. Hinter mir herrschte Ruhe, während ich Wölkchen um Wölkchen auf die himmelblaue Wand tupfte. Von Zeit zu Zeit stieg ich hinunter und rückte den Tritt ein Stückchen weiter, um noch mehr fluffige Himmelsschäfchen zu schaffen.

»Reicht, hömma. Sieht echt gut aus«, sagte Locke schließlich.

Ich drehte mich zu ihnen um. »Meint ihr?«

Es wurde kollektiv genickt, und JuppZwo stand sogar auf, um mir die Farbdose abzunehmen und mir vom Tritt zu helfen. Vorbildlich.

Dann stellten wir uns mit zwei Metern Abstand vor die Wand und begutachteten mein Werk. Ich war hochzufrieden. Der grelle, pinkfarbene Klecks sah jetzt tatsächlich aus wie eine etwas merkwürdige Blume auf einer Wiese. Und ich hatte Franks Kiosk ganz nebenbei gleichzeitig in ein Unikat mit hohem Wiedererkennungswert verwandelt.

Ich hörte Franks Kombi vorfahren und war gespannt, was er sagen würde.

»Komma kucken, Frank!«, rief Locke.

»Ich hab den Scheiß schon gesehn«, brummte Frank, als er mit Pascal um die Ecke auf uns zukam.

»Hasse nich, wetten?«, gab JuppZwo zurück und deutete mit der Armbewegung einer Präsentatorin im Verkaufsfernsehen auf mein Gemälde, als hätte er selbst es gemalt. Was er vermutlich glatt behaupten würde, wenn ich nicht aufpasste.

Es war mir eine ungeheure Freude, Frank so strahlen zu sehen, und Pascal hob anerkennend beide Daumen.

»Mensch, Loretta!«, rief Frank und fiel mir um den Hals. »Dat is ja super! Sowatt hat keiner außer ich! Darauf schmeiß ich ʼ’ne Runde für alle!«

Das Dreigestirn feixte um die Wette. Hatten sie also doch noch ihr Ziel erreicht, einfach indem sie sich an die Richtige gehängt hatten – an mich. Nun, das Bier sei ihnen gegönnt. Nach dem kurzen, aber heftigen Revierscharmützel mit mir hatten sie es sich auch redlich verdient.

Es war ein Bild für die Götter, wie sie die Bank hinter Frank herschleppten, um sich dann mit ihren Pullen vor den Kiosk an ihren angestammten Platz zu pflanzen.

Pascal und ich blieben zurück, und Pascal sagte nachdenklich: »Weißt du, mir fehlt die Sonne. Vielleicht sollte ich eine gelbe Farbbombe basteln und da oben links in die Ecke pfeffern. Was meinst du?«

»Hör bloß auf. Du kannst dir im Traum nicht vorstellen, welche Vorschläge die drei Oppas hatten, um das Gemälde zu bereichern.«

Pascal lachte sich halb kaputt, als ich an der Stelle mit dem Förderturm als Standortbestimmung ankam.

»Dabei wäre es doch eigentlich viel witziger, die Kunden zu verwirren«, sagte ich. »Dann würde ich doch eher die Pyramiden von Gizeh an die Wand pinseln, damit die Leute denken: Nanu? Ich dachte, ich wäre im Ruhrgebiet und bin in Wirklichkeit in Ägypten! Wie verrückt ist das denn?«

Prompt verschluckte er sich und kriegte einen kapitalen Hustenanfall. Als er sich wieder eingekriegt hatte, schnaufte er atemlos: »Du bist verrückt! Pyramiden, um die Leute zu verwirren, also echt.«

Ich zuckte mit den Achseln. Ein bisschen Verrücktheit hatte noch nie geschadet, fand ich.

Kapitel 3

Kropkas Klümpchenbude feiert Eröffnung: eine schöne Party mit einem unschönen Zwischenfall

Bereits am frühen Mittag tummelte sich das halbe Viertel an Kropkas Klümpchenbude. Dem Anlass entsprechend lachte die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, also wurde der für den Regenfall eigens angeschaffte Faltpavillon zu unserer Freude nicht gebraucht.

Kein Zweifel: Franks Kiosk hatte einen Premium-Standort. Er befand sich auf einem kleinen gepflasterten Platz direkt am stets bevölkerten Park und gleichzeitig an einer stark befahrenen Straße mit gut ausgebauten Radwegen. Es war keiner von den lauten, vierspurigen Verkehrswegen, die den Ruhrpott kreuz und quer durchschnitten, aber jeder, der in dieses Viertel hinein- oder aus ihm hinauswollte, benutzte diese Straße. Hohe Linden und Kastanien beschatteten die breiten Bürgersteige und damit auch den Kiosk, was im Sommer sehr angenehm war. Ein paar Meter die Straße hoch gab es eine von Schulkindern und Leuten, die in der City arbeiteten, stark frequentierte Bushaltestelle.

Wie gesagt: Premium-Standort. Um genug Kundschaft würde Frank sich nie Sorgen machen müssen.

Jetzt tobten kreischende Kinder auf der für heute angemieteten kleinen Hüpfburg herum, während die dazugehörigen Erziehungsberechtigten die Bierzeltgarnituren bevölkerten oder auf den vier breiten, flachen Stufen saßen, die linksseits der Bude in den Park führten. Das Metallgeländer der Treppe wurde von den örtlichen Nachwuchs-Skateboardern immer wieder für ihre Tricks zweckentfremdet. Das nannte sich Railslide, und dabei schlidderten die Jungs mit ihren quer zur Fahrtrichtung gestellten Brettern auf dem Geländer entlang, was Frank regelmäßig auf die Palme brachte, da er befürchtete, dass sie sich irgendwann die Knochen dabei brechen würden.

Jetzt war das Geländer mit farbigen Kreppbändern geschmückt. Zwischen dem Kiosk und den beiden Kastanien rechts und links hatten wir knallbunte Fransengirlanden aufgespannt, die im leichten Wind flatterten. Für musikalische Unterhaltung sorgte ein fescher Akkordeonspieler, der das Publikum mit Gassenhauern von Adriano Celentano bis Elvis in Stimmung brachte.

Erwin und Pascal standen an zwei großen Grills und wendeten im Akkord Dutzende Würstchen, auf die die anwesenden Gäste bereits sehnlichst warteten. Während sich Bärbel und Frank um die Getränke kümmerten, hatte ich es übernommen, draußen ein wenig für Ordnung zu sorgen, indem ich von Zeit zu Zeit volle Aschenbecher gegen saubere austauschte und die leeren Gläser derjenigen einsammelte, die nicht aus der Flasche trinken wollten.

Erwin nickte mir zu, und ich holte rasch die aufgeschnittenen Brötchen aus dem Kiosk und stellte mich zu den beiden Jungs an den Grills. Dann rief Pascal: »Würstchen sind fertig!«, und innerhalb von Sekunden waren wir umzingelt. Ich nahm ein Brötchen, klappte es auf, Pascal oder Erwin legte eine Bratwurst hinein, Papptellerchen, Serviette, Senftütchen und: der Nächste bitte. Wir wussten, die Leute würden sich heute bis zum Platzen mit Bratwurst vollstopfen, denn es gab sie zum Supersonderpreis von nur einem Euro. Ich konnte nur inständig hoffen, dass die Jungs genügend eingekauft hatten, damit möglicherweise zu kurz Gekommene keinen Aufstand anzettelten.

Langsam begann sich die Menschentraube um uns herum wieder zu lichten, und Erwin sagte: »Den Rest schafft ihr allein. Ich gehe Nachschub holen. Läuft prima, oder?«

Ich nickte, und er ließ seinen Blick zufrieden über die Leute schweifen.

Plötzlich runzelte Erwin die Stirn, und dann hörte ich es auch: das lauter werdende Geräusch rollender Skateboards. Auf einmal sprintete Erwin mit wehenden Minipli-Löckchen los, umrundete einen Tisch, packte einen der Skater am Arm und zerrte ihn von seinem Brett, das ohne ihn weiterrollte.

»Hey, was soll das?«, schrie der Teenie empört. »Lassen Sie mich gefälligst los!«

Erwin schüttelte grimmig den Kopf. »Das könnte dir so passen, Freundchen.« Er streckte die freie Hand aus. »Erst gibst du mir, was du gerade vom Tisch da geklaut hast.«

»Gar nichts habe ich geklaut! Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen!«

Erwins Hand blieb ausgestreckt, während er mit der anderen weiterhin den Arm des Jungen umklammerte. »Her damit. Oder willst du, dass ich die Bullen rufe? Die werden dich durchsuchen, und dann sehen wir ja.«

Der Junge starrte Erwin hasserfüllt an, dann holte er eine Sonnenbrille und eine Schachtel Zigaretten aus der Bauchtasche seines Kapuzenpullis. »Da, zufrieden, alter Mann?«

Erwin ließ ihn los und grinste. »Nicht zu alt, um dich einzuholen, wie es aussieht. Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst. Lass dich nicht noch mal von mir erwischen, verstanden? Das gilt auch für deine Freunde.«

»Sie sind nicht die Polizei!«, schnappte der Junge und stiefelte zu seinen Freunden, die am Parkeingang auf ihn warteten. Sie steckten die Köpfe zusammen und warfen uns noch ein paar finstere Blicke zu, dann verschwanden sie in den Park.

Nein, Erwin war nicht die Polizei, aber er war es mal gewesen. Einmal Bulle, immer Bulle. Seine Sinne waren nach wie vor messerscharf, und ich staunte immer wieder, was er alles mitkriegte, selbst wenn er mit etwas ganz anderem beschäftigt schien.

Der Bengel hatte ausgenutzt, dass die meisten Leute ihre Plätze an den Tischen gerade verlassen hatten, um sich Grillwürstchen zu holen, und deshalb ebendiese Sonnenbrille und die Zigaretten unbeaufsichtigt waren. Zack, waren die Sachen eingesackt, mal eben so im Vorbeifahren. Wenn der zurückgekehrte Besitzer den Diebstahl entdecken würde, wäre der Skater längst über alle Berge. Das war zumindest sein Plan gewesen.

»Der kleine Verbrecher landet sowieso irgendwann im Knast. Du hättes den anzeigen sollen, Erwin. Oder gleich anne Haare aufs nächste Revier schleifen«, hörte ich JuppZwo sagen.

Erwin, der auf dem Weg in den Kiosk war, lachte. »Unsinn, der hat nur eine günstige Gelegenheit wahrgenommen. Reg dich nicht auf, Jupp. Wir waren doch auch mal jung. Hast du nie was geklaut?«

JuppZwo schnaubte. »Dat war wat anderet. Dat war immer nur Killefitt. Bömsken oder so. Dat war nich kriminell, so wie dat grade. Außerdem wohnt der Drecksbengel in meine Nachbarschaft. Ich kenn den, der hat nix wie Flausen im Kopp.«

Seine beiden Trabanten Locke und Steiger murmelten zustimmend. Natürlich taten sie das.

Während ich weiterhin Bratwürstchen in Brötchen verpackte, fragte ich mich, ob ich wohl auch so sein würde, wenn ich alt war. Sank mit der Zunahme der Lebensjahre gleichzeitig das Verständnis für die Jugend? War das eine natürliche Entwicklung? Selbstverständlich konnte ich so einen Diebstahl nicht gutheißen, weiß Gott nicht! Ich hätte dem Bengel vermutlich sogar ordentlich eine geschallert, hätte ich ihn erwischt. Aber Erwin hatte während seiner aktiven Zeit im Streifendienst sicherlich mit ganz anderen Kalibern zu tun gehabt.

»Das war doch gerade der Kähnu, den der Grillmeister da geschnappt hat, oder?«, fragte die Frau mir gegenüber, die auf ihre Bratwurst wartete.

»Entschuldigung – wer?«

»Na, Ihr Grillmeister. Der mit den Löckchen.«

»Sorry, da haben wir uns missverstanden. Ich meinte den Jungen. Wie heißt der?«

»Kähnu. Wie dieser Filmstar. Nachname kenn ich nicht. Der von Matrix.«

Ach so, Keanu meinte sie. Kähnu, also wirklich. Beinahe hätte ich losgekichert, aber ich riss mich zusammen. »Interessanter Name.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Finden Sie? Ernsthaft? Na, ich weiß nicht. Ich würde mein Kind nicht so nennen. Bestimmt muss er andauernd erklären, wie man das schreibt. Das weiß doch kein Mensch.«

Wie man es ausspricht, offenbar auch nicht, dachte ich. »Recht haben Sie. Aber ich habe keine Ahnung, ob das der Name des Jungen ist.«

»Bestimmt war das der Kähnu. Der Klaus kann einem leidtun. Nix wie Ärger mit dem Bengel. Alleinerziehender Vater, wissen Sie? Eine Schande. Das ist so ein Netter, der Klaus, und seine Frau brennt mit einem Busfahrer durch. Das muss man sich mal vorstellen. Fährt jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit und verguckt sich in den Fahrer!« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Dürfen die das überhaupt? Mit den weiblichen Fahrgästen anbandeln, meine ich. Da gibt es doch bestimmt Vorschriften …«

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Busfahrer in dieser Frage einer ähnlich strengen Berufsethik unterlagen wie zum Beispiel Therapeuten. Immerhin bestand zwischen Busfahrer und Fahrgast kein Abhängigenverhältnis oder wie auch immer das hieß.

»… wie gesagt: Seitdem steht der Klaus alleine da, und der Kähnu macht, was er will«, plapperte sie weiter, »und das meiste davon ist Blödsinn. Bestimmt war das gerade der Kähnu.«

»Ich habe wirklich keine Ahnung«, sagte ich. »Einen Euro, bitte.«

Seit geraumer Zeit schon hielt ich ihr eine Bratwurst hin, was sie bisher geflissentlich ignoriert hatte, da der Kähnu natürlich um einiges interessanter gewesen war. Immerhin verstand sie meine Aufforderung, zu zahlen, ganz richtig: Für mich war das Gespräch beendet, zumal die Wartenden hinter ihr allmählich unruhig wurden.

Als sie endlich abgeschoben war, versorgte ich rasch den Rest der Warteschlange, dann räumte ich den behelfsmäßigen Tresen für die nächste Runde auf.

Dabei war mir der Kähnu durchaus schon begegnet, wie mir aufging, denn der Junge gehörte zu einem Grüppchen Skater, das ich schon öfter am Kiosk gesehen hatte. Nicht selten schaute ich nach Feierabend auf ein Schwätzchen bei Frank vorbei, und sie schienen dort regelmäßige Kunden zu sein. Zumindest hockten sie manchmal auf der Treppe herum und rauchten selbst gedrehte Zigaretten.

Sie mochten zwischen 15 und höchstens 18 Jahren sein, und natürlich gaben sie sich stets besonders cool. Da sie sich untereinander ausschließlich mit »Dude« oder »Alter« anredeten, kannte ich ihre Namen nicht. Zumindest einer von ihnen musste laut Ausweis alt genug sein, um Tabak und Bier zu kaufen, aber ich hatte schon alle rauchen und trinken sehen. Ich hätte mein ganzes Hab und Gut verwettet, dass sie auch kifften – wenn sie sich auch nicht zu trauen schienen, dies in der Öffentlichkeit zu tun. Stets trugen sie viel zu weite Jeans, deren Hosenboden zwischen den Knien hing, und es war mir ein ewiges Rätsel, wieso ihnen die Schlabberbuxen nicht komplett herunterrutschten. Kapuzenpullis und Strickmützen, die beileibe nicht jedem von ihnen gut zu Gesicht standen, vervollständigten die Uniform.

Unter den Mützen oder Kapuzen kamen halblange, aalglatte Haare hervor, die straff ins Gesicht gekämmt waren und es beinahe komplett verhüllten. Wenn sie sich unterhielten, murmelte es kaum verständlich hinter den Haaren, weil sie kaum die Zähne auseinanderkriegten. Ob es als uncool galt, verständlich zu sprechen? Man wusste es nicht.

Diese seltsame Frisur war dann auch das zweite Rätsel für mich: Was konnten sie so überhaupt noch sehen? Wieso legten sie sich mit ihren Skateboards nicht fortwährend auf den Bart? Apropos Bart: Wahrscheinlich erwarteten sie sehnlich den Tag, an dem ihr spärlicher Haarwuchs am Kinn endlich stark genug war, um sich mit dem bei Hipstern zur- zeit so angesagten Rauschebart zu schmücken.

Ich fand ja, die Kerle sahen damit allesamt aus wie Taliban, aber ich hatte auch noch nie besonders auf Vollbärte gestanden. Um die Wahrheit zu sagen, war für mich schon Erwins mächtiger grauer Schnäuzer hart an der Grenze, aber andererseits konnte ich ihn mir glatt rasiert auch nicht vorstellen.

»Woran denkst du? An Kähnu?«, fragte Pascal neben mir.

»Ja. Und nein. Ich dachte an diese Truppe von Skateboardern, die hier immer herumlungert und zu der er gehört. Beziehungsweise an deren modische Vorlieben. Und ihre Verhaltensauffälligkeiten.«

»Dagegen gibt es doch bestimmt Vorschriften«, sagte er, wobei er den Tonfall der Frau gekonnt imitierte.

Kichernd stieß ich ihn in die Seite. »Psst, nicht so laut! Wenn sie dich hört!«

»Die hört uns nicht. Die hört nur sich selbst.« Mit dem Kinn deutete er unauffällig auf die Runde an einem der Tische, an dem die Frau saß: Sie hielt einen gestenreichen Monolog, dem alle anderen zuhörten.

»Aber um genau zu sein, dachte ich gerade an Erwins prachtvollen Schnäuzer, als du mich gefragt hast«, sagte ich und wischte mir die Hände an einem Küchentuch ab. Den ersten Ansturm hatten wir geschafft, jetzt musste erst einmal für Nachschub gesorgt werden.

»Ich wusste ja gar nicht, dass du auf Rotzbremsen stehst.« Pascal grinste breit. »Was meinst du – soll ich mir so ein Ding wachsen lassen?«

»Untersteh dich. Ich habe einen deutlich besseren Vorschlag: Lass dir einen dritten Arm wachsen, damit das hier ein bisschen schneller geht. Sag Bescheid, wenn die nächste Ladung fertig ist.«

»Na, bist du zufrieden?«, fragte ich Frank, als ich in den Kiosk kam.

Stirnrunzelnd sah er mich an. »Wat war denn da draußen gerade los?«

»Hat Erwin nichts erzählt?«

»Ich war beschäfticht, als er vorhin die Würstkes geholt hat. Hat der freche Rotzlöffel Ärger gemacht?«

»Wer – Erwin?« Ich feixte und klaute mir einen Kirschlolli aus dem Glas auf dem Tresen.

Franks Stirnfalten vertieften sich. »Quatsch. Du weiß genau, wat ich mein. Der Alarm da draußen. Mir is jetz nich nach Spässken, Loretta.«

Huch? Welche Laus war dem denn über die Leber gelaufen? So kannte ich ihn ja gar nicht. Bei dem Trubel, der draußen herrschte, sollte er doch eigentlich bester Laune sein. Ich suchte Bärbels Blick, und sie zuckte mit den Schultern.

Ich erzählte ihm also, was passiert war, und bemühte mich, die Sache nicht allzu sehr aufzubauschen.